KRIMINALGESCHICHTEN DER BIBEL - Sommerpredigtreihe 2006

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KRIMINALGESCHICHTEN DER BIBEL - Sommerpredigtreihe 2006
Sommerpredigtreihe 2006

                         Ulmer Münster, Besserer-Kapelle: Kain erschlägt seinen Bruder Abel

 KRIMINALGESCHICHTEN
       DER BIBEL
Pfarrerinnen und Pfarrer wandern mit ihren Predigten
        vom 13. August bis 10. September 2006
       durch die Ulmer Evangelischen Kirchen
                               Der Mord des Mose (Rolf Engelhardt)
                            Ein Mobbing-Opfer packt aus (Frieder Held)
                   Adam und Eva: Ein Mundraub mit Folgen (Frithjof Schwesig)
                  Brudermord: Kain, wo ist dein Bruder Abel? (Astrid Eisenreich)
                  Kriegslist oder Meuchelmord: Jael und Sisera (Isolde Meinhard)
               Liquidiert „im Auftrag seiner Majestät“: Uria (Andreas Wiedenmann)
           Ein Krimineller als Hoffnungsträger: Jakob und seine Familie (Peter Sissenich)
         Tamars Vergewaltigung und die Folgen: „Ehrenmord“ in der Bibel? (Volker Bleil)
       Das Massaker an Säuglingen: Der Kindermord des Königs Herodes (Christoph Planck)
  Kollateralschaden im Namen des Herrn: der Durchzug durchs Schilfmeer (Adelbert Schloz-Dürr)

          Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm
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KRIMINALGESCHICHTEN DER BIBEL - Sommerpredigtreihe 2006
Predigt über 1. Mose 25; 27-33
                 „Ein Krimineller als Hoffnungsträger – Jakob und seine Familie“
            Pfarrer Peter Sissenich - Bergstr. 3, 89275 Elchingen (Reformationsgemeinde)

Die eine oder andere Geschichte von Jakob werden die meisten von Ihnen kennen, aber den ganzen
Zusammenhang vermutlich nicht so gut; es sind immerhin 8 Kapitel im 1. Buch Mose. Deshalb
möchte ich zuerst einmal versuchen, die wichtigsten Stationen, die dort erzählt werden, in einer Art
Lebenslauf zusammenzufassen:
Jakob, geboren in der 1. Hälfte des 2. JT vChr, nähere Angaben sind nicht möglich. Gehört zu einer
Sippe von Nomaden, die in der Steppe des Negev umherzieht. Zweitgeborener Zwillingssohn des
Isaak und der Rebekka; Schwangerschaft und Geburt waren schwierig. Enkel von Abraham und Sara
(Extremspätgebärende), die auf Grund göttlicher Berufung und der Verheißung, von Gott gesegnet zu
werden, zahllose Nachkommen zu haben und künftig das Land Kanaan zu besitzen, von
Mesopotamien dorthin emigriert waren. Jakob eher häuslich, gut aussehend, bleibt gern bei den Zelten,
der Liebling der Mutter; sein Zwillingsbruder Esau eher ein Raubein, geht gern auf die Jagd, der
Liebling des Vaters. Verkauft sein Erstgeburtsrecht für eine Mahlzeit (ein Linsengericht) an Jakob, als
er eines Tages hungrig von der Jagd kommt. Die Rechtsgültigkeit dieser Abmachung ist zweifelhaft,
kann aber ungeklärt bleiben, weil es später zu einem ungleich schwerwiegenderen und folgenreichen
Vorfall kommt.
Als der Vater Isaak sein Ende nahen fühlt, will er den göttlichen Segen an seinen Erstgeborenen, Esau
weitergeben. Die Mutter will aber, dass Jakob den Segen bekommt und überredet ihn, den Vater
hinters Licht zu führen, indem er sich dessen Altersblindheit zunutze macht und in die Rolle des Esau
schlüpft. Mit ihrer überaus kreativen Hilfe gelingt der Betrug, und Jakob bekommt den Segen Gottes
übertragen, während Esau leer ausgeht. Als der Vater die Täuschung bemerkt, ist er zutiefst bestürzt;
aber er kann nichts mehr machen, weil dieser Segen nur einmal weiter gegeben und nie mehr
zurückgenommen werden kann.
Als die Mutter erfährt, dass Esau seinen Bruder umbringen will, sobald der Vater nicht mehr lebt, rät
sie Jakob zur Flucht; sie empfiehlt einen längeren Aufenthalt bei ihren Verwandten in Mesopotamien
(heute: Irak) und versorgt ihn mit allem Nötigen. Unterwegs hat Jakob einen ganz außergewöhnlichen
Traum: Eine zum Himmel reichende Leiter, auf der Engel herauf und herunter steigen; und oben steht
Gott, der zu ihm sagt: Ich bin der Herr, der Gott Abrahams und Isaaks; dieses Land will ich dir und
deinen Nachkommen geben; und durch sie werden alle Menschen gesegnet werden. Ich will mit dir
sein, wo du auch hingehst, und werde dich wieder hierher zurückbringen. Als Jakob wieder aufwacht,
erfasst ihn heilige Furcht; er richtet ein Steinmal auf und gibt dem Ort einen Namen: Bet-El, Haus
Gottes.
Bei den Verwandten im Zweistromland wird Jakob, wie von seiner Mutter erwartet, freundlich
aufgenommen. Er lebt als Schaf- und Ziegenhirte bei Laban, einem Bruder seiner Mutter, verliebt sich
in eine seiner Töchter, Rahel, und will sie heiraten. Laban stimmt zu; der Brautpreis ist allerdings
hoch: Jakob soll sieben Jahre für ihn arbeiten. Nach 7 Jahren wird Hochzeit gefeiert; aber am nächsten
Morgen stellt Jakob fest, dass man ihm eine andere verschleierte Frau ins Brautzelt geführt hat: Lea,
die ältere Schwester Rahels. Als er seinen Schwiegervater deshalb zur Rede stellt, erklärt der ihm kühl,
bei ihnen werde die Ältere immer als Erste verheiratet; aber er könne die Jüngere auch haben, für
weitere sieben Jahre. Da er Rahel unbedingt will, muss er sich fügen; aber er findet eine Möglichkeit,
es seinem Schwiegervater heimzuzahlen: Er trifft mit ihm eine Vereinbarung, welche Jungtiere aus den
Herden, bei denen er arbeitet, in Zukunft ihm gehören sollen; und durch ganz spezielle Tricks,
verbunden mit sorgfältiger Zuchtauswahl gelingt es ihm, innerhalb weniger Jahre erstaunlich große
eigene Herden zu besitzen.
Unterdessen gibt es Streit zwischen den beiden Frauen. Lea, die natürlich weiß, dass Jakob sie
eigentlich gar nicht wollte, bringt einen Sohn nach dem anderen zur Welt; Rahel dagegen bleibt
kinderlos, zur damaligen Zeit besonders schlimm, und wird deshalb von ihrer Schwester unablässig
verhöhnt. So schickt sie ihre Leibmagd zu Jakob: Die soll von ihm Kinder bekommen, und das sind
dann ihre. Lea, die wenigstens beim Kinderkriegen die Nr. 1 bleiben will, tut dasselbe. So bekommt
Jakob viele Söhne und auch Töchter, bis endlich auch Rahel einen Sohn zur Welt bringt, Josef, der in
der folgenden Generation eine ganz besondere Rolle spielen wird. Insgesamt sind es nun 11 Söhne; der
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12., Benjamin, wird erst später geboren.
Da die Beziehung zwischen Jakob und seinem Schwiegervater sich zunehmend verschlechtert,
beschließen er und seine beiden Frauen, ohne Vorankündigung mit der ganzen Familie und allem
ihrem Besitz wegzuziehen; er will in seine alte Heimat zurück. Kurz vor der eiligen Abreise stiehlt
Rahel aus dem Zelt ihres Vaters eine kleine Götterstatue, die sie mit einer weiblichen List versteckt,
als der und seine Leute, die ihnen gefolgt sind, das Gepäck durchsuchen. Laban schließt mit Jakob
einen Vertrag über friedliche Trennung und die Grenzen der Weidegebiete, der feierlich besiegelt
wird.
Da Jakob immer noch die Rache seines Bruders Esau fürchtet, lässt er ihm seine Rückkehr
ankündigen. Als ihm berichtet wird, dass der ihm mit 400 Mann entgegenkommt, erfasst ihn Angst; er
bittet Gott um Hilfe und erinnert ihn an seine Zusagen. Zudem schickt er Leute mit einem Teil seiner
Herden in drei Gruppen voraus, als Versöhnungsgeschenk. In der Nacht vor dem Grenzübertritt
kommt es zu der rätselhaften Begegnung am Grenzfluss Jabbok, von der wir in der Lesung erfahren
haben; ein Vorfall, den bis heute weder Bibelwissenschaft noch Psychologie befriedigend erklären
können. Der Ort heißt seitdem P'ni-El, Angesicht Gottes; Jakob bekommt
den Namen: Israel, Gottesstreiter.
Die darauf folgende Begegnung mit Esau verläuft unproblematisch und versöhnlich. Jakob zieht dann
weiter zur Stadt Sichem, kauft dort ein Stück Land und errichtet einen Altar. Später zieht er an den
Ort, wo er auf seiner Flucht den Traum von der Himmelsleiter gehabt hatte; Bet-El. Er baut auch dort
einen Altar, und ihm widerfährt eine Erscheinung Gottes, in der die Verheißung des Segens, der
Nachkommenschaft und des Landes erneuert und bestätigt wird. Auf der Heimreise bringt Rahel ihren
zweiten Sohn zur Welt, Benjamin; sie stirbt bei der Geburt und wird in der Nähe des Ortes Efrata
begraben, der später den Namen Bethlehem bekommt.
Soweit die Fakten einer sehr langen Geschichte. Einer Geschichte, die uns einerseits in eine fremde
Welt entführt. Geografisch in den vorderen Orient. In Bezug auf die Lebensform: Nomaden oder
Halbnomaden, die in Zelten wohnen; mit Ziegen, Schafen und Kamelen in der Steppe unterwegs, die
Männer selbstredend alle bewaffnet, am Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit; und auch die
gesellschaftlichen Strukturen, die (anscheinend zwangsläufig) mit dieser Lebensweise verbunden sind:
Patriarchat pur. Da werden Frauen, ohne gefragt zu werden, von ihren Vätern verheiratet und primär
nach ihrer Gebärfähigkeit eingeschätzt; da sind Söhne viel wichtiger als Töchter; da gibt es
Leibmägde, die von ihren Herrinnen als Leihmütter benützt werden; da wird die sexuelle Ehre
weiblicher Familienmitglieder mit Waffengewalt geschützt, gegebenenfalls gerächt: Die älteren
Jakobsöhne bringen die Männer eines ganzen Dorfes um, weil einer von denen ihre Schwester Dina
„entehrt“ hat; dass der Mann das Mädchen heiraten will, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Eine
fremde, für uns Mitteleuropäer längst vergangene Welt. Wirklich in jedem Punkt? Und die
menschlichen Beziehungen, die persönlichen Konflikte: Da kommt uns doch manches durchaus
bekannt vor! Wie Miss Marple bei Agatha Christie zu sagen pflegt: „Die menschliche Natur ist überall
dieselbe.“ Da sehen wir einen Menschen am Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt. Er weiß, dass
er seine Vergangenheit begegnen wird; er kämpft eine Nacht hindurch mit den dunklen Schatten und
kommt danach nicht mehr so leichtfüßig daher; er bekommt sogar einen neuen Namen. Da gibt es
Rivalitäten zwischen Brüdern (Jakob und Esau) und Schwestern (Lea und Rahel); da mag eine Mutter
ihren einen Sohn viel lieber als den anderen, der Vater ebenso; auch Jakob wird später den Söhnen
seiner Lieblingsfrau Rahel viel näher stehen als den anderen. Die Mutter-Sohn-Beziehung spielt eine
ganz entscheidende Rolle (so manche heutige Schwiegertochter kennt das besser, als ihr lieb ist); und
auch die Frage, ob Frauen ebenso wichtig seien wie Männer, Töchter ebenso wichtig wie Söhne, ist im
ach so modernen Europa noch lange nicht wirklich geklärt. Gesetzlich schon; aber sonst?!
Und dann gibt es in dieser Geschichte handfeste Kriminalität! Rahel stiehlt ihrem Vater einen
Gegenstand, der ihm heilig ist, so wichtig, dass er mit seinen Leuten die Verfolgung aufnimmt; und sie
kommt damit durch! (Dass Jakob, der von dieser Sache nichts wusste, später dafür sorgt, dass alles
Götzendienerische verschwindet, ändert daran nichts). Die Tricks, mit denen Jakob zu seinem
Reichtum kommt, mag man noch als besonders gewiefte Schlitzohrigkeit hingehen lassen
(stirnrunzelnd oder auch augenzwinkernd, weil er vorher von seinem Schwiegervater hereingelegt
wurde); aber Laban sieht darin einen Raub; mit Recht, er hat nur keine Beweise. Der Hauptpunkt aber
ist der, dass Jakob den Segen des Vaters erschlichen hat. D.h. eben nicht nur den des Vaters, sondern

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durch den Vater kommt er zum Segen Gottes! Es ist also viel mehr als gewöhnliche Erbschleicherei.
Auch wenn es nicht seine Idee war, sondern die der Mutter, der die Interessen ihres Lieblingssohnes
offenkundig viel wichtiger sind als die eheliche Solidarität, und die mit erstaunlich kreativer
krimineller Energie die Details ausarbeitet: Er führt die Sache aus; er ist ja auch der Nutznießer. Also
handelt es sich, jedenfalls für mich als juristischen Laien, um gemeinschaftlichen Betrug. Und zwar in
einem besonders schweren Fall, weil zum einen die Sehschwäche eines alten Menschen schamlos
ausgenützt wird; und zum anderen, weil es sich nicht allein um irdische Güter handelt, sondern um den
übergreifenden Segen Gottes und seine Verheißung für kommende Generationen, ja für alle Menschen.
Eigentlich sollte man ja erwarten, dass Gott hier einschreitet: So nicht! Aber – und für mich ist das
eigentlich unbegreiflich – Gott lässt es zu! Er scheint dieses Spiel mitzuspielen, jedenfalls unternimmt
ER nichts dagegen. Sondern ganz im Gegenteil: Der Segen, den Jakob sich auf eine (für unser
Empfinden) gemeine Weise erschlichen hat, wird von Gott ausdrücklich bestätigt. Mehr als ein Mal!
Die biblischen Erzähler sehen es offenbar so, dass in, mit und unter all diesen sehr menschlichen,
bisweilen allzu menschlichen, auch krummen Wegen, Umwegen und Irrwegen (die in keiner Weise
gerechtfertigt werden!) – dass letzten Endes das herauskam, was im Sinne Gottes war. Darin liegt
etwas Unbegreifliches – aber: Können wir Gott jemals begreifen? Und es könnte auch etwas
Tröstliches haben: Dass nämlich auch unsere menschlichen, bisweilen allzu menschlichen, auch
krummen Wege, Umwege und Irrwege (die in keiner Weise gerechtfertigt werden!) - dass auch sie,
wenigstens hin und wieder letzten Endes zu etwas führen können, das im Sinne Gottes ist.
Und deshalb: Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt! Amen. (folgt EG 611,1-3)

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Predigt über 2.Sam.13
              Tamars Vergewaltigung und die Folgen: „Ehrenmord“ in der Bibel?
             Pfarrer Volker Bleil – Mettlachweg 2, 89077 Ulm (Reformationsgemeinde)

Liebe Gemeinde,
Kriminalgeschichten sind dunkle Geschichten: wir blicken in die Abgründe der menschlichen Seele
und der menschliche Beziehungen – fasziniert und mit Schrecken: weil wir doch aus demselben Holz
geschnitzt sind! Und selbst wenn am Ende alles aufgeklärt ist, gibt es in Kriminalgeschichten kein
wirkliches Happy End: nicht für die Täter und schon gar nicht für die Opfer. Die Gerechtigkeit erringt
in dieser Welt maximal einen Teilsieg.
Unter dem Stichwort „Ehrenmord“ begegnen uns heute zwei besonders dunkle Kriminalfälle. Beide
entstammen nicht der Phantasie eines Autors, sondern der Realität. Einer ist hochaktuell und spielt in
Berlin, der andere stammt aus der Bibel. Sie lassen sich nur erzählen und aushalten in der Hoffnung
auf die höhere Gerechtigkeit Gottes, der auf Seiten der Opfer, der Ermordeten steht. Darum möchte ich
an den Anfang dieser Predigt wie ein aufgespanntes Haltenetz zwei Seligpreisungen des Mannes
stellen, nach dem wir uns nennen und der selber Opfer eines Mordes wurde: Selig sind, die da Leid
tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit,
denn sie sollen satt werden.
Der erste Fall ist wie gesagt hochaktuell und bewegte die Nation so stark, dass „Ehrenmord“ auf Platz
2 der Unwörter des Jahres 2005 landete. Opfer war eine selbstbewusste junge Deutsche kurdischer
Abstammung, die mit ihrem kleinen Sohn Cem in Berlin wohnte. Sie stand kurz davor, ihre Berufs-
ausbildung als Elektroinstallateurin abzuschließen. Hatun Sürücü, 23, wurde an einer Bushaltestelle
erschossen – von ihrem jüngsten Bruder, in Zusammenarbeit mit den beiden älteren; im Auftrag der
ganzen Familie. Grund: nach einer von der Familie arrangierten Zwangsehe mit ihrem Cousin in der
Türkei hatte sie diesen verlassen; und Hatun Sürücü wollte mit ihrem Sohn ein eigenständiges,
westlich orientiertes Leben führen, ohne Kopftuch. Aus Sicht der Täter hatte sie damit die sogenannte
Familienehre, insbesondere die Ehre der für den Schutz der Frauen verantwortlichen Männer so
verletzt, dass diese Ehre nur durch ihre Tötung wiederhergestellt werden konnte. Inzwischen wurde
der jüngste Bruder nach Jugendstrafrecht zu 9 Jahren und 3 Monaten verurteilt; er selbst und die
Familie triumphieren unverhohlen über den Freispruch mangels Beweisen bei den beiden älteren
Brüdern – und damit auch über die vermeintliche Schwäche des deutschen Rechtsstaates; und sie
wollen das Sorgerecht für Cem bekommen.
Eine furchtbare Geschichte und ein frauenverachtender, kranker Begriff von Ehre! Laut Bericht der
UNO werden alljährlich weltweit mindestens 5.000 Mädchen und Frauen mit solchen Begründungen
ermordet. „Ehrenmord“ - dahinter steckt ein extremer Patriarchalismus, wie er heute vor allem bei der
einfachen Landbevölkerung in ärmeren, häufig islamisch geprägten Ländern anzutreffen ist.
Aber es gab und gibt auch Ehrenmorde im „christlichen“ Brasilien, Ekuador oder Italien.
Und jetzt kommt etwas, das mir ganz wichtig ist: auch wenn bei Ehrenmorden gelegentlich religiös
argumentiert wird: der Islam und der Koran haben damit nichts zu tun! So wenig wie die Bibel. Solche
Tötungen werden von Muslimen in keiner Weise befördert oder für gut geheißen, sondern auf´s
Schärfste als Mord abgelehnt! Diese abstrusen Ehrbegriffe sind noch urtümlicher als die Religion: ihre
Quelle ist wie gesagt ein extrem patriarchales, also auf reiner Männerherrschaft gegründetes Denken,
wie es ja lange dominierend war: in der biblischen Welt und auch in unserer europäischen Welt.
Beim Nachdenken über den Kriminalfall Sürücü, über „Ehrenmorde“ und Patriarchat bin ich dann in
der Bibel auf die bedrückende Geschichte von Tamar und ihren Brüdern gestoßen. Man und frau kennt
sie nicht. Auf den ersten Blick könnte es sich ebenfalls um einen Ehrenmord handeln. Es ist
bezeichnend, dass unsere ebenfalls patriarchal geprägte kirchliche Tradition diese Geschichte
Jahrhunderte lang links liegen ließ – im Buch 2. Samuel, Kapitel 13. Zusätzlich handelt sie vom
Thema sexueller Missbrauch in der eigenen Familie, der noch bis vor kurzem ein absolutes Tabu
darstellte.
Tamars Geschichte gehört in die Kategorie „Kriminelles aus den besten Familien“, denn ihr Vater war
kein geringerer als David, der König Israels. Bevor ich Ihnen die Geschichte erzähle, kurz die
wichtigsten Personen:
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Der alternde König David hatte in seinem Harem etliche Haupt- und Nebenfrauen, die ihm viele
Kinder, darunter 15 Söhne schenkten. Sein Ältester und damit in der besten Position für die
Thronnachfolge war Amnon. In der inoffiziellen Rangordnung folgte Abschalom, was sie in gewisser
Weise zu Rivalen machte.
Abschalom war ebenfalls ein viel versprechender junger Mann von dem es heißt: „In ganz Israel gab
es keinen Mann, der so schön war und so sehr bewundert wurde wie Abschalom. Vom Scheitel
bis zur Sohle war alles an ihm vollkommen.“ (2.Sam.14,25) Tamar stammte von der gleichen
Mutter, war also die leibliche Schwester von Abschalom und ebenso makellos und wunder-schön wie
er.
Und dann hatte David noch einen dritten bevorzugten Sohn, der erst ganz am Ende eine Rolle spielte:
Salomo. Aber damit verbunden war für David eine eigene Missbrauchsgeschichte mit einigen Leichen
im Keller, die vermutlich etliche von Ihnen kennen. Salomo war der Sohn von Bathseba, in deren Ehe
David eingedrungen war. Als sie von ihm schwanger wurde, hatte David ihren Ehemann Urija zur
Vertuschung umbringen lassen. Durch den Propheten Nathan von Gott konfrontierte hatte David
immerhin die Stärke, seine Schuld einzusehen und öffentlich Buße zu tun, woraufhin ihm Gott vergab.
Das Unheimliche ist nun, dass sich durch den Fluch der bösen Tat etwas von Davids Sünde in seinen
Kindern fortsetzt und wiederholt. Und dadurch gerät die ganze Familie in einen Zerstörungsprozess.
Wir hören die Geschichte in der Fassung der Guten Nachricht – und ich werde sie immer wieder kurz
kommentieren, was die Motive der handelnden Personen anbelangt:

Davids Sohn Abschalom hatte eine Schwester namens Tamar. Sie war sehr schön, und ihr
Halbbruder Amnon, einer der anderen Söhne Davids, verliebte sich in sie. Er war ganz
niedergedrückt und wurde fast krank ihretwegen; sie war nämlich noch Jungfrau und er sah
keine Möglichkeit, an sie heranzukommen. – Ist das wirklich Liebe, oder ein heißblütiger junger
Mann, der von seiner sexuellen Begierde getrieben wird und die eigenen Gefühle nicht durchschaut?
Kann man da nicht Verständnis haben? Amnon ist jedenfalls liebestoll und weiß nicht aus noch ein.
Nun hatte Amnon einen Freund namens Jonadab. Er war ein Sohn von Davids Bruder Schima
und wusste in jeder Lage einen Rat. Er sagte zu Amnon: »Warum bist du Morgen für Morgen so
niedergeschlagen, Prinz? Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?« »Ich bin verliebt in
Tamar, die Schwester meines Bruders Abschalom«, erwiderte er. Jonadab riet ihm: »Du legst
dich ins Bett und stellst dich krank. Wenn dein Vater nach dir sieht, dann sagst du zu ihm:
Meine Schwester Tamar soll kommen und mir etwas Stärkendes zu essen geben. Hier vor
meinen Augen soll sie es zubereiten, damit ich zusehen kann. Dann soll sie selbst es mir reichen.«
Was genau sich Jonadab gedacht hat, ist nicht eindeutig, aber David wird jedenfalls geschickt mit in
die Geschichte hineinverstrickt. Vermutlich ist Jonadab ohne Arg und möchte auf diese Weise nur die
Möglichkeit zum Kontakt zwischen Tamar und Amnon herstellen und damit eine Ehe unter den
Halbgeschwistern anbahnen. Uns fallen die biblischen Inzestverbote ein, aber die gab es zu dieser Zeit
wahrscheinlich noch nicht in dieser Schärfe.
Amnon legte sich also hin und stellte sich krank, und als der König ihn besuchte, sagte er zu
ihm: »Meine Schwester Tamar soll kommen und hier vor meinen Augen ein paar Küchlein
backen; von ihrer Hand werde ich sie essen.« David schickte jemand zu Tamar ins Haus und ließ
ihr sagen: »Geh ins Haus deines Bruders Amnon und mach ihm etwas Stärkendes zu essen!« So
ging Tamar ins Haus ihres Bruders Amnon; er lag im Bett. Sie nahm Teig, knetete ihn, formte
Küchlein daraus und backte sie in der Pfanne. Amnon konnte ihr dabei vom Nebenraum aus
zusehen. Dann nahm sie die Pfanne und schüttete die Speise auf einen Teller. Aber er weigerte
sich zu essen. »Die anderen sollen erst hinausgehen«, verlangte er. Als alle fort waren, sagte er zu
Tamar: »Bring mir die Speise ins Schlafzimmer! Ich mag nur essen, wenn du sie mir mit eigener
Hand gibst.« Tamar nahm die Küchlein, die sie gebacken hatte, und brachte sie ihrem Bruder
ans Bett. Als sie ihm aber etwas davon reichte, packte er sie und sagte: »Komm, Schwester, leg
dich zu mir!«
»Nein, Bruder, tu mir nicht Gewalt an!«, wehrte sie sich. »Das darf in Israel nicht geschehen!
Begeh nicht eine solche Schandtat! Was soll aus mir werden, wenn du mich so entehrst? Und du
selbst würdest in Israel wie einer von den gottvergessenen Schurken dastehen. Sprich doch mit
dem König! Er wird mich dir sicher zur Frau geben.«

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Ein Mann, der sich vor Liebe verzehrt? Spätestens in dieser Szene kann von Liebe nicht mal mehr im
Ansatz die Rede sein. Verbrannt von seiner Leidenschaft geht Amnon zum Recht des Stärkeren über,
der sich nimmt, wonach ihm gelüstet. Und er sorgt dafür, dass es keine Zeugen für seine Untat gibt.
Aber noch kann er zur Besinnung kommen. Tamar ist eine selbstbewusste Frau und
geistesgegenwärtig: sie wehrt sich mit allen Kräften und Argumenten gegen die drohende
Vergewaltigung, die ihre die Ehre und die Möglichkeit zu einer regulären Ehe, und das heißt in
damaliger Zeit: ihre ganze Existenz nehmen würde.
Sie erinnert Amnon an Gott und sein Gebot, aus dem das Gottesvolk lebt, sie appelliert an seine
Vernunft, an sein brüderliches Herz. Ja, sie eröffnet Amnon sogar die Möglichkeit, den gemeinsamen
Vater David um eine Genehmigung der Heirat zu bitten, damit der sexuelle Akt für Tamar sozial
abgesichert stattfinden kann. Tamar zeigt damit die in patriarchalen Gesellschaften häufig festgestellte
Bereitschaft von Frauen, ihre eigene Person für soziale und familiäre Zwecke preiszugeben. Das alles
wird mit großer Sorgfalt berichtet. Die Ungeheuerlichkeit von Amnons folgender Tat wird dadurch
noch unterstrichen.
Doch Amnon wollte nicht auf sie hören. Er fiel über sie her – wörtlich: er legte sie um, mit
äußerster Brutalität - und vergewaltigte sie. Hinterher aber empfand er eine solche Abneigung
gegen das Mädchen, dass er es nicht mehr ausstehen konnte. Sein Abscheu war größer, als
vorher sein Verlangen gewesen war. »Steh auf! Mach, dass du fort kommst!«, sagte er zu ihr.
»Nein, jag mich nicht weg!«, flehte sie ihn an. »Das wäre ein noch größeres Unrecht als das
erste.« Aber Amnon wollte nicht auf sie hören. Er rief seinen engsten Diener und befahl ihm:
»Wirf mir die da hinaus und verriegle die Tür hinter ihr!«
In Israel gab es das Gesetz, dass ein Mann, der eine Jungfrau vergewaltigte, sie danach offiziell als
seine Frau anerkennen musste – ohne sich von ihr jemals scheiden lassen zu können. So absurd das auf
uns wirkt: dieses Recht schützte im patriarchalen Denkschema die Frau. Es sicherte ihr wenigstens
noch einen sozial anerkannten Status und die Versorgung.
Gedemütigt wie sie ist, ist Tamar perverser Weise gezwungen, den Bruder, der sie soeben missbraucht
hat, genau darum anzuflehen. Doch nach Befriedigung seiner Gier schlägt Amnons Verlangen um in
Überdruss und Abneigung, wie das häufig ist, wenn Gier und Begierde mit Liebe verwechselt werden.
Da ist keine Liebe, nicht einmal Mitleid, nur noch Ekel und grenzenloser Hass gegen Tamar.
Psychologisch gesehen Selbsthass und eigene Schuldgefühle übertragen auf die, die er nun
ausgebraucht hat. Er redet nicht einmal mehr mit seiner Schwester.
Wie einen lästigen Gegenstand, wie ein Stück Dreck lässt er sie durch einen Diener hinausschmeißen.
Tamar hatte ein genähtes Gewand mit langen Ärmeln an, wie es die unverheirateten Königs-
töchter trugen. Als der Diener sie hinauswarf und die Tür hinter ihr verschloss, streute sie sich
Staub aufs Haar, zerriss das Ärmelkleid, legte die Hand auf den Kopf und lief laut schreiend
davon – und versucht damit, ihr Unrecht öffentlich zu machen, zumindest im Königspalast.
Als sie zu ihrem Bruder Abschalom kam fragte er sie: »Hat Amnon dir etwas angetan? Nun,
meine Schwester, schweig still, er ist schließlich dein Bruder! Nimm dir die Sache nicht so zu
Herzen.«
Furchtbar – und so typisch für Fälle von sexueller Gewalt in der Familie! Tamar wird die Möglichkeit
genommen, ihr Unrecht zu benennen, herauszuschreien, anzuklagen. Da wird beschwichtigt und
heruntergespielt. Das kannst du unserer Familie doch nicht antun! Tamar wird zum Schweigen
verurteilt und im Stich gelassen, von Abschalom, von dem Bruder, der wie kein anderer dafür da war,
sie zu schützen. Ihre Verletzung, ihre Traurigkeit, ihr Zorn, das Unrecht, das er ihr angetan hatte: alles
ihre Sache. Sie soll es für sich behalten. In sich einschließen. Und was tut es da drin? Der Körper
streikt. Die Seele vertrocknet.
Um Gewalterfahrungen zu überwinden und Verwundungen zu heilen, müssen wir sprechen dürfen
über das, was uns weh tut, sprechen über das, was uns verletzt hat. Und Unrecht muss benannt und
verfolgt werden. Wo das nicht geschehen darf, kann es keine Heilung geben – oder nur sehr schwer.
Das Schweigegebot ist so nochmals eine andere, zweite Art von Gewalt, die den Missbrauchsopfern
den Rest gibt.
So blieb Tamar im Haus ihres Bruders Abschalom und lebte dort einsam – lebendig begraben,
von jedem weiteren Umgang und jeder Chance auf eine Ehe ausgeschlossen. Das ist so etwas wie der
soziale Tod.

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Als König David erfuhr, was geschehen war, wurde er sehr zornig. Aber er bestrafte Amnon
nicht, denn er liebte ihn, weil er sein erstgeborener Sohn war. Auch der dritte Mann in der Familie,
ihr eigener Vater, versagt. Ist es nur die Vaterliebe zum Thronfolger, oder ist er so schwach zu
handeln, weil ihn die eigene Schuld einholt und lähmt?
Abschalom aber sprach kein Wort mehr mit Amnon; so sehr hasste er ihn, weil er seine
Schwester Tamar vergewaltigt hatte.
Nichts geschieht – das Unrecht, die Wut, die Gewalt staut sich in den Seelen. Zwei Jahre später nimmt
das kriminelle Familiendrama seinen weiteren Lauf: in den Kindern Davids wiederholt sich das Muster
seiner eigenen Untaten: auf ein sexuelles Vergehen folgt ein Mord.
Abschalom inszeniert ein großes Fest, macht Amnon betrunken und lässt ihn durch seine Diener
kaltblütig erschlagen. Der König rast vor Trauer und Schmerz über den Verlust seines Erstgeborenen!
Und Abschalom flieht.
Das ist kein Ehrenmord, wie bei Hatun Sürücü in Berlin, eher ein Fall von Blutrache. Und noch dazu
ging es Abschalom wahrscheinlich gar nicht mehr vordringlich um Tamar, sondern er nutzt das ihr
angetane Unrecht nur als Mittel, um für sich selber den Weg zum Königsthron freizuräumen.
Abschalom wird von David nach drei Jahren zurückgeholt und halbherzig begnadigt. Doch der Sohn
intrigiert im Geheimen gegen den Vater, den er nur noch verachtet. Abschalom will sich jetzt die
Krone mit Gewalt holen. Er baut ein Privatheer auf und greift David offen an, so dass der Vater vor
dem eigenen Sohn aus Jerusalem fliehen muss. Demonstrativ beschläft Abschalom die
zurückgebliebenen Nebenfrauen seines Vaters. Das Ganze endet in einer furchtbaren
Entscheidungsschlacht, bei der Tausende Israeliten sterben. Auch der Brudermörder Abschalom, der
mit seinen langen Haaren in einem Baum hängen bleibt und in diesem hilflosen Zustand erstochen
wird. Danach lag in der Königsfamilie und im Volk Israel für lange Zeit alles in Trümmern.
Und die Thronnachfolge? Es ist schon sprechend: gerade Salomo, der aus der fragwürdigen Beziehung
Davids mit Bathseba stammte, wurde schließlich König. Gewiss kein Happy end dieser biblischen
Kriminalgeschichte, die sich zur nationalen Tragödie ausweitete, aber vielleicht ein Zeichen der
Vergebung und des Neuanfangs.
Vergewaltigung, Mord und Totschlag. Warum steht so eine furchtbare Geschichte wie die von Tamar,
Amnon und Abschalom in der Bibel? Und was können wir, liebe Gemeinde, davon im geistlichen
Sinne mitnehmen, über das Erschrecken hinaus?
Dazu drei Gedanken, zum Schluss:
    1. In der Bibel kommt wie sonst nirgends in der Welt die Wahrheit über unser menschliches
        Wesen ans Licht. Im Unterschied zu allen anderen Völkern genießt in Israel nicht einmal der
        König Immunität, weil er genauso wie alle anderen vor dem lebendigen Gott steht und sich
        verantworten muss. Hier wird nichts beschönigt und es siegt nicht die Macht mit dem Mittel
        der Geschichtsschreibung über das Recht. Es siegt vielmehr die Wahrheit und Gottes Gnade
        und Barmherzigkeit mit uns.
    2. Tamar hat zu Lebzeiten keinerlei Gerechtigkeit gefunden. Aber es ist bemerkenswert und kann
        nur mit dem Glauben an Gott erklärt werden, dass ihre Geschichte in einer patriarchalen
        Gesellschaft so einfühlsam und fair erzählt und in der Bibel aufbewahrt wurde. Indem sie
        bewahrt und wie heute immer wieder gepredigt wird, geschieht Tamar nachträglich Recht. Und
        es ist gleichzeitig ein Keim gelegt zur Überwindung der Männerherrschaft, woran wir ja bis
        heute arbeiten.
    3. Tamar wurde zum Schweigen verurteilt. Und nach ihr unzählige andere Frauen und Kinder,
        Opfer sexueller Gewalt. Und gar nicht so selten wurde das Schweigegebot christlich verbrämt
        und kirchlich gestützt. Doch Tamars Geschichte ist eine Einladung, das Schweigen zu brechen,
        beim Thema sexuelle Gewalt in Familien und anderswo. Denn nur dann ist Heilung möglich,
        für Opfer und letztlich sogar für Täter. Gott sei Dank geschieht das inzwischen mehr und mehr.
        Und es gibt Anlaufstellen, auch kirchliche, wo Betroffene und ganze Familien Hilfe finden.
        Etliche Initiativen nennen sich übrigens nach ihr, TAMAR. Ich finde das ein schönes, starkes
        Zeichen!
Selig sind die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind, die da hungert und
dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Das ist unsere Hoffnung in Christus: für
Tamar, für Hatun Sürücü und für alle anderen Opfer von Gewalt. AMEN.

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Predigt zu Ri. 4/5
                                   Kriegslist oder Meuchelmord?
                        Pfarrerin Dr. Isolde Meinhard – Lukasgemeinde/Arche

Liebe Gemeinde,
„Die Gott lieben, werden sein wie die Sonne aufgeht, in ihrer Pracht.“ Das ist der Schluss eines langen
und stolzen Siegesliedes im Alten Testament. Es ist zugleich der älteste Text, den wir in der Bibel
haben, im Buch der Richter, Kap. 5. Die Prophetin Deborah besingt, wie sich einige Stämme Israels
zum ersten Mal erfolgreich verbündet haben, gegen ihren Gegner, König Sisera. Deswegen kann man
das Lied als Gründungsurkunde für das Volk Israel bezeichnen.
Es preist Gott, in ähnlicher Weise wie unser Psalm zu Anfang: Ri 5,4-5
Es besingt den großen Kampf: Ri 5,19-21
Und es preist eine Frau, Jael mit Namen, die am Ende den entscheidenden Schlag gegen König Sisera
ausführte. Um diesen Schlag geht es heute in der Predigt. War es Kriegslist oder Meuchelmord, wie
Jael den Sisera überwand? Es gibt noch einen zweiten Text über diese Geschichte, das ist die
Erzählung im Richterbuch, Kap.4. Fangen wir erst einmal an, die Geschichte zu lesen. Wir beginnen,
typisch Krimi, am Ende der Ereignisse. Sehen Barak, den Führer der israelitischen Kampfscharen,
ermüdet, tropfnass und schlammverspritzt durch die Steppe jagen und bekommen mit, dass er dem
Heerführer der Kanaaniter auf der Spur ist. Im Hintergrund zerstreut sich das kanaanäische Heer zu
Fuß. Nun erreicht Barak ein Nomadenzelt. Hier weiden Keniter ihr Vieh.
Ri 4,22
Mit Baraks Augen sehen wir hier das Ende seines obersten Gegners, so schauderhaft, wie ein Krimi
nur sein kann. Siseras Schädel von einem Zeltpflock durchbohrt. Selbst für den Krieger, der mitten aus
dem Kampfgetümmelt kommt, ist das ein grausiger Anblick. Vielleicht duckt er sich, grün im Gesicht,
schweigend aus dem Zelt. Vielleicht hebt er den Blick auf Jael und fragt:„Wer war das?“ Dann
antwortet sie ihm: „Ich.“ Wir kennen die Täterin. Jael, die kenitische Frau, hat Sisera, den
kanaanäischen Heerführer, erschlagen. Die Kriminalgeschichte dreht sich darum, wie das zugegangen
ist und was für Motive die Täterin da bloß hatte.
Antworten auf diese Untersuchung gibt zunächst das große Siegeslied in Richter 5. Zu den Zeiten Jaels
waren die Straßen unpassierbar, wer reiste, schlug sich über ungebahnte Wege durch. Die Karawanen
stockten. Die Bauern konnten nicht arbeiten. Landwirtschaft und Handel kamen zum Erliegen. Wie
kam es dazu? Was passierte damals im11. Jahrhundert vor Christus?
Ein Volk Israel mit einem gemeinsamen Selbstverständnis existierte noch nicht. In den Bergländern
nördlich und südlich der Jesreel-Ebene lebten viele unterschiedliche Volksgruppen, Kleinviehzüchter,
Ziehbauern, wandernde Kesselflicker, outlaws und die Hebräer, die von Ägypten herauf gekommen
waren. Gemeinsam war ihnen, dass sie allesamt außerhalb der Städte lebten und sozial niedrig gestellt
waren. Der Gott der Hebräer, der die Sklaven befreite, begann sie in einem gemeinsamen Glauben zu
einigen und ihnen eine gemeinsame Identität zu geben.
Zwischen die bergigen Gegenden schneidet der Kischon-Bach die Jesreel-Ebene ein. Hier lagen die
kanaanäischen Städte: feste Häuser mit verziertem Tongeschirr, Statuen von Fruchtbarkeitsgöttinnen
und -göttern in Hausnischen und Tempeln, bronzene Streitwagen mit Pferden davor, ein ganzes Heer.
Die Stadtkönige wollten die wachsende Verbindung und Verbündung unter den israelitischen
Stämmen verhindern. Sie riegelten die Straßen in der Jesreel-Ebene zwischen Norden und Süden ab.
Die Israeliten wehrten sich dagegen schließlich mit Gewalt. „In den Tagen Jaels“ geschah das, so heißt
es in dem Lied. So wie man später sagte: Zur Zeit König Jerobeams. Oder wie man heute z. B. sagt: in
der Ära Adenauer. In den Tagen Jaels also begann es ein 10-Stämme-Israel zu geben. Sechs davon
haben sich zum ersten Mal erfolgreich zu einer kriegerischen Befreiung zusammengeschlossen und
den Grund gelegt für ein gemeinsames Volk mit einem gemeinsamen, befreienden Gott.
Dieses epochemachende Ereignis besingt Deborah. Das Lied ruft in den Kampf und begleitet ihn und
besingt seinen Sieg, alles zugleich. Es fordert den Heerführer an: Mach dich auf, Barak, fang deine
Fänger, Sohn Abinoams. Und zugleich besingt es das Gefecht in seinen weltumspannenden
Dimensionen: Könige kamen und stritten... vom Himmel her kämpften die Sterne. Und zugleich
fordert es Deborah auf, den Kampf zu besingen – oder den Sieg? Auf, auf, Deborah, auf, auf und singe
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ein Lied! Gemeinsam haben sie da alle gekämpft, der Gott des Himmels und der Erde, die Sterne und
Wasser, die Stämme Israels und Jael. In diesem Lied, das siegesgewiss in den Kampf führt und befreit
den Sieg feiert und voll Glaubenseifer Gott preist und die Stämme Israels zusammenschweißt mit
seiner Deutung, in diesem Lied wird auch Jael gepriesen, die Heldin, die den entscheidenden Schlag
ausführte.
Lesung Ri 5,24-27 (eigene ÜS)
In poetischer Steigerung kämpft Jael mit den Waffen, die ihr zur Verfügung stehen. Unvermittelt Aug
in Auge mit dem Haupt der Feinde, ergreift sie geistesgegenwärtig die Initiative. Der große Mann
stürzt, wird zum Kleinkind in ihrer Fürsorge, zum Neugeborenen zwischen ihren Füßen. Rückwärts
geht seine Entwicklung hinaus aus dem Leben. Wie ein Film in slow motion dehnt das Lied die
entscheidende Tat. In der Gemeinschaft des siegreichen Stämmebundes ist Jael unbezweifelt die
Heldin. Im Lied der Prophetin Deborah wird Jaels Tat zur Epoche und was geschah, zu Ereignissen „in
den Tagen Jaels“.
Liebe Gemeinde, nun haben Sie wahrscheinlich wirklich genug von der Kriegsbegeisterung. Wir teilen
sie heute nicht mehr. Wir kennen keinen Gotteskrieg. Auch Tyrannenmord können wir nicht
entschuldigen und preisen. Dietrich Bonhoeffer hat unter Hitler darum im theologischen Nachdenken
und im Gebet gerungen. Sein Ergebnis ist für uns wegweisend. Wer einen Tyrannen ermordet, macht
sich schuldig. Er selbst hat diese Schuld gewählt, weil er sich auch für schuldig befunden hätte, wenn
er tatenlos geblieben wäre. Von dieser belastenden Wahl zwischen Schuld und Schuld merkt man in
Deborahs Lied nichts.
Im Siegeslied Ri 5 hat Jael nicht gemordet, in der Zeit im 11. Jh hat sie den Feind geschlagen. Wie so
oft bei Morden vor allem im politischen Raum, kommt die Untersuchung dazu viel später. Viel später
erst kommt eine Irritation am Ereignis auf, ein Zweifel, und dann erst wird Jael unter Mordverdacht
gestellt. Das geschieht in der Erzählung Kapitel 4. Ich lese Ausschnitte.
Lesung Ri 4,4-9. 17-22(Teil 2 eigene ÜS)
Was haben die herausgefunden, die den ersten gemeinsamen Sieg der Stämme als Mordfall
untersuchten? Barak, ihr offizieller militärischer Führer, war kein Heldentyp. Von Anfang an hat er
sich ängstlich an die Prophetin Deborah gehalten. Deswegen konnte es dahin kommen, dass am Ende
eine Frau den entscheidenden Schlag versetzt. Dann meinen sie zu wissen, dass Sisera nicht ganz so
wichtig war, wie das alte Siegeslied tut. Er sei nicht selbst der feindliche König gewesen, sondern nur
der Heerführer des Königs, eines Jabin. Historisch betrachtet, ist das ganz zweifelhaft, König Jabin hat
– dem Josua-Buch zufoge – schon zu Josuas Zeiten gelebt, er war in den Tagen Jaels längst tot. Und
noch eine Verbindung stellen die Untersucher her, die nun eine Anklage gegen Jael bedeutet. Sie
behaupten nämlich, dass Heber, Jaels Mann, mit König Jabin ein Friedensabkommen hatte. Zwar,
wenn König Jabin schon längst nicht mehr lebte, ist das nicht möglich. Aber durch diese Erzählung
behaupten sie, dass Jael, als sie die Kriegspartei der Israeliten ergreift, den Friedensvertrag mit Jabin
gebrochen habe. Dazu dann dieses himmelschreiende Unrecht: Da lädt eine Frau einen
vorüberziehenden Mann in ihr Zelt ein, selbstverständlich erwartet er, in ihrer Gastfreundschaft
geborgen zu sein. Und hinterrücks erschlägt sie ihn. Das meinen nun sogar wir aus großer kultureller
Entfernung beurteilen zu können: Ein Meuchelmord.
Also, die Erzähler von Ri 4 zweifeln an Jaels Heldentum. Sie scheinen mit uns einig, dass Gewalt
keine Lösung ist, schon gar nicht für Menschen, die auf Gott vertrauen. Aber es bleibt ein schaler
Geschmack. Denn in der Erzählung geht es nicht um Glaube oder Zweifel gegenüber Gott, sondern es
geht um Ehre oder Schande von Männern. Weil eine spontan handelnde, mutige Frau den
kriegführenden Mann beschämt, den einen, weil sie ihn besiegt, den anderen, weil sie ihn um den
ruhmreichen Kampf bringt, ist die ganze Geschichte nun zweifelhaft. Das ist eine Wendung, die ich
nicht mit frommer Deutung unterstützen will. Zu oft kommt das vor, dass Männer ihre Ehre verletzt
oder bedroht finden und dann einen frommen Mantel darum hängen, dass es gegen Gottes Willen
wäre, wenn das geschehen dürfte. Wenn das Siegeslied Ri 5 nicht geeignet scheint, uns heute in
unserem Glauben zu stärken: die Erzählung in Ri 4 tut es bestimmt auch nicht.
Wie kam es überhaupt dazu, dass Jaels Geschichte später als Mordfall aufgerollt wurde? Was für
Motive hatten die Erzähler? Später heißt hier ca. 700 Jahre später. Zu der Zeit, nämlich nachdem Israel
im Exil in Babylon war, sollte das israelitische Gemeinwesen neu begründet werden. Männer
unterschiedlicher theologischer Schulen in Israel versuchten, sich auf eine Fassung der Hebräischen

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Bibel zu einigen, die zwei Zielen gleichzeitig diente: nach innen sollte sie eine soziale und religiöse
Grundlage für die Juden sein, die im Land lebten oder aus dem Exil zurückkehrten, so dass sich damit
eine Gesellschaft regieren ließe. Nach außen sollte sie bei der persischen Herrschaft keinerlei Verdacht
wecken, Israel könnte wieder ein unabhängiger, eigener Staat werden wollen. In dieser Situation
erschien Deborahs Siegeslied gefährlich. Es brauchte ein Vorwort zu seiner Abschwächung. In dieser
völlig anderen Situation und Zeit begann Jael zu irritieren. Wie konnte sie nur den machtvollen
heidnischen König besiegen! Die Erzähler von Ri 4 reißen Jael aus dem Zusammenhang der Stämme
und der Feier und der Gleichzeitigkeit von Kampf und Sieg, Gott und Menschen. Der Grund ist ein
politischer. Plötzlich war der Sieg politisch unbequem, plötzlich wird der Frau im Spiel Schlechtes
angehängt. Mit der Abwertung der einstigen Heldin ihres Volkes konnten sie punkten bei den
Besatzern der Gegenwart. Vielleicht kann man an der Erzählung in Kapitel 4 noch einen anderen Mord
beobachten, einen Rufmord an Jael nämlich.
Immerhin: obwohl der Hergang nun als Mordfall beschrieben wird, erkennt man trotzdem noch, dass
Jael auf ihre Weise mit Sisera gekämpft und ihn so besiegt hat. „Fürchte dich nicht!“ ruft sie ihm zu,
als er daher eilt. Dieser Ruf im Fall eines Krieges, normalerweise vom Priester den Kämpfern
zugesprochen, ist wie ein Signal zum Kampf. Sisera aber sieht nur eine Frau, die kann nicht kämpfen,
und ihr Zelt, da gibt es keinen Krieg. Er hat sie falsch verstanden. Dann fordert er sie auf: Gib mir
Wasser zu trinken! Das kann ganz wörtlich gemeint sein. Aber in dieser bedeutungsschweren
Begegnung schwingt auch die übertragene Bedeutung aus jener Zeit mit: Leg dich zu mir! Kümmere
dich als Frau um mich! Nicht Wasser reicht sie ihm, sondern übertrumpft ihn mit ihrer Ziegenmilch,
wörtlich oder ebenfalls übertragen kümmert sie sich mehr als erwartet. Und Sisera merkt es nicht. Er,
in Gebieterpose, ordert sie an die Tür, sagt, hier sei keiner. Wenn er wirklich um des Gastrechts willen
da wäre, wäre das völlig überflüssig. So nimmt Jael ihn beim Wort. Macht einen „keiner“ aus ihm.
Noch in der Anklageschrift also, die Jael des Mordes bezichtigt, noch in dieser die Geschichte
umschreibenden Erzählung blitzt etwas durch von der mutigen Frau, die ihre eigene Kriegslist
anwandte, um den gewaltsamen Unterdrücker der kleinen Leute zu besiegen.
Liebe Gemeinde, das Lied der Deborah, in dem Jael gepriesen wird, singt von Gott im politischen
Raum. Was glauben denn wir von Gott im Blick auf politische Entwicklungen, soziale Umwälzungen,
kriegerische Auseinandersetzungen? Dass Gott Frieden will und gewaltfreie Konfliktlösungen. Etwas
anderes kann man nicht wahrheitsgemäß vom Gott Jesu Christi behaupten. Aber der Vater Jesu Christi
ist zugleich der Gott vom Auszug aus Ägypten. Er ist der Gott, der die Ausgegrenzten, Ausgenützten,
unten Gehaltenen achtet und eint. Wir sind doch – im weltweiten Zusammenhang – den Kanaanäern in
ihren Städten zu vergleichen, nicht den Bergbauern und Kleintierhütern Israels. Deswegen müssen wir
uns prüfen: Wenn wir von Frieden und Gewaltlosigkeit reden, geht es uns dabei wirklich um unseren
Glauben oder vornehmlich um die Erhaltung unseres Status? Dieser Gott, der sich auf die Seite der
Zukurzge-kommenen schlägt, ist doch irritierend! Dieser Gott, der erwählt und bevorzugt, und zwar
nicht die, die schon nach irdischem Maßstab glänzen und ein gutes Leben haben! Und das beides zieht
sich durch, selbst wenn wir Unterschiede feststellen wollen zwischen dem Gott Deborahs und dem
Gott Jesu: hier wie dort ist Gott ein parteiischer Gott der Unterdrückten und hier wie dort ist Gott ein
Erwählender, erwählt die, die zu ihm gehören.
Nach der Untersuchung des Falles Jael sehe ich zwei Aufgaben für die, die Gott lieben. Die eine ist
eine kritische: Wo machen wir es wie die Theologen des 4. Jh vor Christus, biedern uns der stärkeren
Macht an und schreiben dafür unsere Geschichte mit Gott um? Und bewirken dabei, dass Gott
unglaubwürdig wird und unter den Menschen Unrecht für fromm erklärt wird? Die andere ist eine
praktische: Als die Kanaanäer in ihren Städten – wie setzen wir uns tatsächlich ein für Frieden und
Gerechtigkeit? Wir einzelne in unserem Kaufverhalten, in unserem Lebensstil, in unserer
Spendenpraxis. Und wir als Deutsche, in Friedenstruppen, Katastrophenhilfen, Entwicklungsprojekten,
wirtschaftlicher Zusammenarbeit in der Welt. So dass wir auch heute erfahren können: Die Gott
lieben, werden sein wie die Sonne aufgeht in ihrer Pracht. Amen.

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Predigt zu Ps. 35
                                  Ein Mobbing-Opfer packt aus
                                Pfarrer Frieder Held, Lukasgemeinde

Liebe Gemeinde!
Der Predigttext im Rahmen der Predigtreihe über Kriminalgeschichten in der Bibel steht in Ps. 35. Ich
habe ihn unter ein modernes Thema gestellt: Mobbing.
Darf man das überhaupt? Es ist natürlich nicht gesetzlich verboten, aber deshalb kann es doch vom
Inhalt her völlig daneben sein. Denn die Welt der Psalmen ist eine ganz andere als unsere, in der
Mobbing auftritt. Das Problem wird meistens im Zusammenhang mit Schule und Arbeitsplatz genannt.
Und es scheint so, dass der Druck, unter dem Menschen in Gruppen stehen, Mobbing fördert. Da geht
es um Noten, Arbeitsplätze, bessere Bezahlung, soziale Anerkennung. Da zeigt sich, dass in unserem
Leben gekämpft wird. Und eine Methode, um Menschen auf die Seite zu drängen, als Konkurrenten
auszuschalten, ist das Mobbing.
Wir wissen, wie schlimm das sein kann. Mobbing kann Menschen bis in den Selbstmord treiben. Es
geht dabei nicht um einzelne Auseinandersetzungen, so schlimm die auch sein könnnen. Sondern
darum, dass ein Mensch fortgesetzt beschimpft, erniedrigt, mit Worten oder Handlungen oder sogar
körperlich angegriffen und gedemütigt wird. Der wirtschaftliche Schaden bei Unternehmen wird allein
in der BRD auf 15 Milliarden geschätzt. Verbunden damit sind zwei entscheidende Dinge:
1. Das Mobbing-Opfer wird unsicher, verliert das Vertrauen in seine Fähigkeiten und schließlich sogar
das Gefühl für die eigene Würde, weiß nicht mehr, was es noch tun kann.
2. Die Welt und die Menschen werden unberechenbar und bedrohlich. Sie haben den Zusammenhang
von Menschlichkeit und Güte verloren.
Mitten unter uns leben Menschen, die so etwas erleiden. Ist das kriminell? Mobbing ist rechtlich gar
nicht so leicht zu fassen. Denn oft spielt sich Mobbing Situationen ab, wo es keine unabhängigen
Zeugen gibt. Der Mobber und sein Opfer stehen sich da und dann wieder bei Gericht gegenüber -
Aussage gegen Aussage. Und es gibt keinen direkten Anklagepunkt, sondern da gab es diese und jene
unschöne Szene, häßliche Einzelheiten wie in jedem Leben.
Aber es gibt Gerichte, die sagen, dass mit Mobbing die Würde und Unverletzlichkeit eines Menschen
angegriffen wird und die Verursacher für die Folgen haftbar sind. Das betrifft auch die Betriebe, die
das zulassen. Wenn ein Mobbing-Opfer dauerhaft arbeitsunfähig wird, kann das ganz schön teuer
werden.
Beispiel: (© Fiona Hanson/AP)
Umgerechnet rund 1,2 Millionen Euro für vier Jahre als Sekretärin? So ungefähr würde die verkürzte
Zusammenfassung eines britischen Gerichtsurteils lauten. Denn ein Londoner Gericht verdonnerte die
Deutsche Bank in Großbritannien dazu, einer ehemaligen Angestellten genau diese Summe für
jahrelange Schikanen am Arbeitsplatz zu zahlen. Helen Green, die Betroffene, beschrieb die Zeit als
vier Jahre "in der Abteilung der Hölle".
Die 36-Jährige sei Opfer "einer vorsätzlichen und abgestimmten Kampagne des Mobbings" anderer
Mitarbeiter gewesen, sagte der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung in London. Die
Vorgesetzten der Klägerin kannten die Vorfälle oder hätten von ihnen wissen müssen. Er kritisierte,
das Bankhaus habe sich von Beginn der Klage an kompromisslos gezeigt. "Sie haben bis zum Schluss
gekämpft. Sie haben verloren. Jetzt müssen sie den Preis zahlen", sagte er über die Vertreter der Bank.
... In dem Mobbing-Verfahren hatte die Klägerin berichtet, sie sei von "einer Bande" von Frauen
schikaniert worden. Ein Kollege habe sie zudem sexistisch und herablassend behandelt. "Wie auch
immer man es betrachtet, das Verhalten dieser Frauen war unterdrückend und unzumutbar", entschied
der Richter. Nach seiner Auffassung hat die Deutsche Bank gegen ihre Pflicht verstoßen, sich um die
Mitarbeiterin zu kümmern und solche Situationen im Vorfeld auszuschließen.
Laut Green waren die Schikanen von vier Kolleginnen ausgegangen. Diese wären ständig über sie
hergezogen. War sie im Büro, so hätten sich die Kolleginnen die Nase zugehalten und gefragt: "Was
stinkt denn da so?". Außerdem wäre offen darüber geredet worden, wie man Green zum Heulen
bringen könnte. Auch hätten die Kolleginnen ihre Akten und Unterlagen verschwinden lassen.
Nach zwei Nervenzusammenbrüchen war Greens Vertrag im September 2003 aufgehoben worden. Die
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Sekretärin hatte bereits zwei Jahre zuvor aufgehört zu arbeiten. Sie erhält insgesamt 817.317 Pfund.
Dieser Betrag umfasst unter anderem Ersatz für verlorene Gehälter, Wiedergutmachung für psychische
Schäden, den Verlust von Pensionsansprüchen sowie Arzthonorare.
Aber das Problem kommt in den allermeisten Fällen nicht bis zur Polizei oder zu den Gerichten. Auch
wenn man sich hüten muss, bei jeder Auseinandersetzung von Mobbing zu sprechen, weil das eben
gerade eine Art Modebegriff ist, so haben doch mindestens 10 Prozent der Menschen in den
Industrieländern eigene Erfahrungen damit gemacht. Wenn die alle vor die Gerichte gingen, hätten die
keine anderen Arbeit mehr. Aber dieser riesige Dunkelbereich ändert nichts daran, dass Mobbing ein
Verbrechen ist, das die Zerstörung von Menschenleben zum Ziel hat.
Und das gibt es nicht erst heute in Großraumbüro, Blockwohnungen, Schulhöfen. Dass Menschen an
den Rand gedrängt werden, keinen Platz mehr in der Gruppe haben sollen, dass man sie fertig macht
und in ihrem Selbstbewußtsein erschüttert, das gab es auch früher auf den Dörfern und in den Städten.
Das gab es anscheinend auch schon zur Zeit der Psalmen. Es war für mich eine große Überraschung,
als ich den Psalm 35 näher angesehen habe. Es sind erstaunlich viele Dinge, die für heutige Situationen
zutreffen und sogar manchmal ein neues Licht darauf werfen. Natürlich gab es den Begriff Mobbing
damals noch nicht. Aber die Erfahrung bösartiger und eigentlich unerklärlicher Angriffe gab es schon.
Und es ist ein großer Schritt, wenn ein Mensch das äußern kann, wie es in Ps. 35 geschieht. Wir hören
zunächst V. 11-16:
11 Es treten falsche Zeugen auf; sie fordern von mir, wovon ich nichts weiß.
12 Sie vergelten mir Gutes mit Bösem, um mich in Herzeleid zu bringen.
13 Ich aber zog einen Sack an, wenn sie krank waren, tat mir wehe mit Fasten und betete immer
wieder von Herzen.
14 Als wäre es mein Freund und Bruder, so ging ich einher; wie einer Leid trägt über seine
Mutter, so beugte ich mich in Trauer.
15 Sie aber freuen sich, wenn ich wanke, und rotten sich zusammen; sie rotten sich heimlich zum
Schlag wider mich, sie lästern und hören nicht auf.
16 Sie lästern und spotten immerfort und knirschen wider mich mit ihren Zähnen.
Der Mensch, der das gesagt hat, hat die ganze Feindseligkeit seiner Umwelt gespürt. Man kann
natürlich die Frage stellen, ob er das richtig gespürt und empfunden hat. Es gibt ja immer auch eine
andere Seite. Wenn man die Menschen, die ihm feindselig begegneten, gefragt hätte, hätten sie
wahrscheinlich auch von Fehlern des Betroffenen, von seiner schwierigen Art und seiner
Ungeschicklichkeit erzählen können. Vor Schwarz-Weiß-Malerei sollte man sich auch hier hüten. Und
die Bedrücker hätten sich gehütet, ihre Absichten und Verhaltensweisen offen zu legen. Manche
Menschen sind sich über die Tragweite ihrer Handlungen gar nicht bewußt. Sie werden selber ja auch
angegangen und müssen Druck aushalten. Es gibt im Leben nicht nur die edlen unschuldig Leidenden
und die bösen egoistischen Intriganten.
Was der Psalm zu sagen hat, ist auch eine Kriminalgeschichte, aber keine von außen erzählte, sondern
eine, wie sie die Opfer erzählen. Und das, liebe Gemeinde, ist für die Gemeinde Gottes die wesentliche
Perspektive.
Der Mensch, der mit den Worten des Psalms seine Not ausspricht, ist anscheinend ein empfindlicher
Mensch gewesen. Wenn seine Gegner/innen in Schwierigkeiten waren, hat er mit ihnen getrauert. Er
hatte - so würden wir heute vielleicht sagen - einen nachdenklich-depressiven Zug an sich, der ihn
auch verletzlich machte. Er konnte sich schlecht abgrenzen und wehren, wollte den Andern nahe sein,
auch wenn es ihnen schlecht ging.
Auch da merkt man, dass das mit der Realität zu tun hat. Zu Mobbing-Opfern werden gerade
Menschen, die sich von andern unterscheiden, in ihrer Herkunft, in ihrer Sprache, in ihrem Aussehen,
in ihrem Verhalten. Sie können dunkel- oder hellhäutig, dick oder dünn, hochbegabt oder geistig
schwach sein. Jede unbedeutende Kleinigkeit kann benutzt werden, um sie zu demütigen. Wenn sie
selber über eine gewisse seelische Robustheit verfügen oder wenn sie eine Clique auf ihrer Seite
haben, sind sie ein ganzes Stück weit geschützt. Aber wenn man ihre Unsicherheit und
Empfindlichkeit spürt, gibt es andere Menschen, die genau auf diese schwachen Punkte losgehen. Sie
finden Mitläufer/innen - und wenn es nur ist, damit diese Menschen nicht selber unter Druck geraten
wollen. Und dann nutzt auch alles Verständ-nis, das diese Menschen sogar für ihre Peiniger
aufbringen, nichts, ja steigert noch die Übergriffe.

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