Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Zeitschrif t der Sonnweid AG w w w. sonnweid .ch Ok tober 2020 Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
3 Sonnweid, das Heft Nr. 14 EDITORIAL INHALT 4 Wert DEFINITION Zufriedenheit (im Beruf) ist kompliziert schätzung: Mar tin Mühlegg 5 INSTITUTION War da Es braucht r Lösungen… ealitätsnahe Von Petra Knechtli etwas? 6, 10, 15, 19 UMFR AGE 8 Liebe Leserin, SYSTEMRELEVANZ lieber Leser Es ist nie genug Michael Schmieder Die Corona-Krise veränderte unseren beruflichen und 9 p rivaten Alltag. Als Leiterin der Sonnweid trug ich — ABRECHNEN gemeinsam mit unseren Mitarbeitenden — eine grosse Verantwortung. Wir waren dafür besorgt, unsere Bewoh- Bürokratie nenden vor einer Ansteckung zu schützen. Auch ausser- in der Corona-Zeit halb der Sonnweid hatten wir hohe Sicherheitsvorkehrun- Von Gerd Kehrein gen zu treffen. Wir trafen nur noch wenige Menschen und 12 hielten uns an die Regeln des Social Distancing. UNSCHARFER BEGRIFF Ich gebe zu: Ich war ein bisschen stolz, als uns von den Eine Worthülse, Balkonen applaudiert wurde. Ich fühlte Wertschätzung, als unser Berufsstand und unsere Institution als hochgra- die wir füllen müssen Andrea Mühlegg -Weibel dig systemrelevant eingestuft wurden. Ich war gerührt, als uns Firmen Geschenke überreichten, oder als uns Men- 14 schen ihre Hilfe im Ehrenamt anboten. Mich berührte NATIONALR AT das Engagement von jungen Menschen, die für ihre alten «Die Politik redet sich Nachbarn einkauften. aus der Verantwortung» Leider hielten diese positiven Gefühle nicht allzu lan- Martin Mühlegg ge an. Bald offenbarte der Ausnahmezustand Gräben, 17 die sich durch unsere Gesellschaft ziehen. Die Solidarität STELLUNGNAHME bröckelte, und wenn die Bewohnenden eines Heims an 18 Corona erkrankten, wurden Pflegende an den Pranger FILMTIPP gestellt. Am meisten Sorgen bereiteten mir die Weisungen, die uns von der Zürcher Gesundheitsdirektion auferlegt 20 EPILOG wurden. Mit dem Verbot von Spitaleinweisungen oder mit CAMPUS AK TUELL der Besucherbox-Vorschrift (mit Trennscheibe) zeigten Verwaltung und Politik wenig Fingerspitzengefühl — oder eben: Sie brachten uns wenig Wertschätzung entgegen. Im neuen Heft versuchen wir zu ergründen, wie Wert- schätzung «funktioniert» und warum sich viele P flegende nicht wertgeschätzt fühlen. Unsere Autorinnen und Autoren machten sich darüber Gedanken, wie die Lang zeitpflege nach Corona aussehen könnte. Ich wünsche uns allen, dass der Ausnahmezustand nicht mehr lange anhält. Dass wir bald wieder mehr Nor- IMPRESSUM malität erleben dürfen — vielleicht mit dem einen oder an- deren Fortschritt, der uns die Auseinandersetzung mit der HERAUSGEBER Sonnweid AG AUFLAGE 10 20 0 Exemplare Corona-Krise bringen wird. Erscheint zweimal jährlich EINZELVERK AUF 2 .– CHF Ich wünsche Ihnen eine angenehme Lektüre bei bester KONTAK T Sonnweid, Redaktion Das Heft Bachtelstrasse 68, 8620 Wetzikon Gesundheit! www. sonnweid.ch, dasheft@sonnweid.ch ADRESSÄNDERUNGEN dasheft@sonnweid.ch REDAK TION Michael Schmieder (ms), Martin Mühlegg (mm), Petra Knechtli (pk), Gerd Kehrein (gk), Andrea Mühlegg-Weibel (am) GESTALTUNG Bonbon (bonbon.li) Petra Knechtli DRUCK Druck-Team AG (druckteam.ch) FOTOGRAFIE Véronique Hoegger (ver.ch) Leiterin Sonnweid das Heim ILLUSTRATION Julia Marti (juliamarti.com)
4 DEFINITION Zufriedenheit (im Beruf ) ist kompliziert Wer Anerkennung bekommt, bleibt seiner Stelle und sei- dehnbar), gefolgt von der Führungs- und Unternehmens- nem Beruf länger treu. Doch wie funktioniert Wertschät- kultur. Auf den nächsten Plätzen dieser Rangliste fol- zung am Arbeitsplatz? Wie können wir die Treue von gen Jobsicherheit/Karriereperspektiven und Gehalt/ Mitarbeitenden positiv beeinflussen? Benefits. Bei der Stellenwahl hingegen sind Bezahlung, Von Martin Mühlegg flexible Arbeitszeiten und ein guter Standort die wich- tigsten Kriterien. Für das Wort «Wert» stehen unter anderem die Syno- Je kleiner die Firma, nyme Güte, Kostbarkeit und Qualität. Ähnlich nobel desto mehr Zufriedenheit verhält es sich mit dem Wort «Schatz»: Reichtümer, Vermögen und Werte. Wenn wir also Menschen, Dinge, Der Personalvermittlungs-Konzern Robert Half liess Eigenschaften oder Situationen wertschätzen, geben 2017 im Rahmen einer Studie 23 000 Angestellte be- wir ihnen einen hohen Stellenwert. Wir heben sie auf ein fragen. Berücksichtigt wurden allerdings nur die Bran- Podest und zeichnen sie aus. Wir verleihen ihnen Wohl- chen Finanzen, Verwaltung, IT und Marketing/Kreativ- wollen, Höflichkeit und Dankbarkeit. bereich. Das Resultat sollte vor allem dem Auftraggeber Menschen brauchen Beziehungen. Intakte und ver- zu denken geben (er hat 16 400 Mitarbeitende): Je klei- trauensvolle Beziehungen setzen gegenseitige Wert- ner die Firma, desto glücklicher die Mitarbeitenden. Als schätzung voraus. Wer sich selbst, sein Leben, seine wichtigste Zufriedenheitsfaktoren stellten sich Stolz (hat Umgebung und seine Mitmenschen wertschätzt, ist mit der selbst empfundenen Sinnhaftigkeit der Aufgabe glücklicher, leistungsfähiger und gesünder als Menschen, und dem Image der Firma zu tun), Fairness/Respekt und bei denen dies nicht der Fall ist. Dies belegen Studien. Wertschätzung heraus. Bei den Frauen rangiert Fair- ness/Respekt an erster Stelle. Potenzial und Freude beeinflussen Die vielen Fusionen und das weitere Wachstum von Zu wenig Wertschätzung — im Privaten und in der Ar- Grosskonzernen sind also nicht im Interesse des Einzel- beitswelt — führt zu brüchigen oder schlechten Bezie- nen. Das liegt unter anderem daran, dass einzelne Mitar- hungen. Der nicht Wertgeschätzte ist gezwungen, die- beiter und Kunden an Bedeutung verlieren und einfacher se Ausgrenzung auszuhalten – oder er zieht sich zurück ersetzbar sind — eben: weniger wertgeschätzt werden. und beschränkt den Kontakt zu seinen Mitmenschen. Grosskonzerne nützen vor allem den Aktionären, die da- Laut dem Hirnforscher Gerald Hüther kommen diesen mit höhere Renditen einfahren können. Die Entwicklung Menschen Lebensfreude und Lust am gemeinsamen Ge- mit den sich stetig ausbreitenden Pflegekonzernen, die stalten abhanden. Über längere Zeit erfahrene Ableh- Tausende von Pflegebetten im Angebot haben, sorgt nung, so Hüther, stabilisiert sich im Frontalhirn zu Ver- demnach für mehr Unzufriedenheit beim Personal. schaltungsmustern und zu einer Haltung. Der Betroffene Laut Studien haben Berufsleute, die in ihrer Arbeit verliert seine angeborene Lust am Denken und an Be- mit vielen Menschen zu tun haben, ein höheres Risiko, ziehungen. Zunehmend verliert er das Vertrauen in die an einer Depression zu erkranken. An der Spitze dieser Fähigkeiten anderer Menschen. Seine negative Einstel- Rangliste stehen Pflegepersonen, gefolgt von Erziehern, lung macht ihn unbeliebt. Er reduziert damit das neuro- Sozialarbeitern, Lehrern und Mitarbeitenden in Call- plastische Potenzial seines Gehirns und hat ein höheres centern. Die beliebtesten Berufe, so ergab eine Studie Risiko, physisch und psychisch zu erkranken. der Universität Harvard in Boston, sind Florist/Gärtner All das leuchtet ein. Und doch erzeugt die An- oder (87 Prozent Zufriedenheit) und Friseure/Schönheits Abwesenheit von Wertschätzung immer wieder Konflik- pfleger (79). Es folgen Installateure, Marketingmitar- te. Das Problem ist, dass Wertschätzung ein dehnba- beitende und Wissenschaftler. rer Begriff ist, der von jedem Individuum anders verteilt, Eine 2019 durchgeführte Umfrage der Gewerkschaft empfunden und beurteilt wird (siehe auch Artikel auf Unia unter 1194 Angestellten von Schweizer Alters- und Seite 16). Wenn wir über das «Wert schätzen» einer Tä- Pflegeheimen ergab: Nur 20 Prozent der Pflegeperso- tigkeit oder eines ganzen Berufsstandes reden, können nen denken, dies sei ihr Job bis zur Rente. Jede zweite wir uns also nicht auf die Einschätzungen Einzelner ver- will aussteigen, unter anderem, weil der Beruf ihre phy- lassen. Also versuchen wir uns über Studien und Umfra- sische und psychische Gesundheit schädige (49 Prozent gen der Wahrheit anzunähern. gaben dies an). Zwei von drei Mitarbeitenden fanden die Das Personal-Portal Indeed hat 2016 25 000 Bewer- Dienstplanung zu wenig ausgewogen. Unter der einge- tungen von Angestellten ausgewertet. Als wichtigster forderten Flexibilität der Arbeitszeiten leide die Freizeit Faktor für die Zufriedenheit bei der Arbeit stellte sich und das Familienleben. 79 Prozent der Befragten fühlten die Work-Life-Balance heraus (auch dieser Begriff ist sich unterbezahlt, diese Aussage machte vor allem das
5 Sonnweid, das Heft Nr. 14 Assistenzpersonal. Im Durchschnitt arbeiten Schweizer 1. Berufliche Entwicklung ermöglichen Langzeit-Pflegepersonen in einem Pensum von 72 Pro- 2. Konstruktiven Umgang mit Veränderungen zent. Eine Pflegehelferin verdient mit dieser Arbeitszeit fördern und vorleben durchschnittlich rund 2900 Franken brutto. Über alle 3. Sinnhaftigkeit fördern Berufsgruppen der Altersheim-Mitarbeitenden hinweg 4. Herausforderungen im Alltag gemeinsam fühlen sich 70 Prozent während der Arbeit gestresst. Als meistern weiteren Grund für ihre Unzufriedenheit gaben viele Be- 5. Soziale Beziehungen im Beruf fördern fragte die Subjektfinanzierung (siehe auch Artikel auf 6. Verschiedene Anforderungen des Berufs- Seite 14) und die Ökonomisierung der Pflege an. und Privatlebens berücksichtigen Eine Aussage zur Attraktivität eines Berufes macht 7. Ressourcen der Mitarbeitenden kontext die Berufsverweildauer. Hier hat sich in der jüngeren Ver- übergreifend nutzen gangenheit viel verändert. Bis in die zweite Hälfte des 8. Vermeidbare Arbeitgeberwechsel erkennen 20. Jahrhunderts hinein arbeitete ein Bäcker von der und verhindern Ausbildung bis zur Pensionierung als Bäcker, ein Jurist Der dritte Punkt dieser Aufzählung ist gemäss dem blieb Jurist, ein Mechaniker Mechaniker. Die Anzahl der grossen alten Glücksforscher Mihály C síkszentmihályi Menschen, die nicht mehr im ursprünglich erlernten Be- der Schlüssel zur «Psychologie des dritten Jahrtau- ruf arbeiten, steigt von Generation zu Generation. Stu- sends»: die Sinnhaftigkeit. Der Dichter Antoine de Saint- dien zeigen, dass mittlerweile rund die Hälfte im Laufe Exupéry (Der kleine Prinz) würde ihm zustimmen, er hat ihres Erwerbslebens den Beruf wechselt. Besonders folgende Worte geschrieben: häufig tritt der Wechsel des Berufes direkt oder kurz nach der Ausbildung im Alter von 21 bis 22 Jahren auf. «Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle Eine 2018 im Kanton Bern durchgeführte Studie er- nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaf- gab: Die Berufsverweildauer von Pflegenden beträgt fen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit durchschnittlich 22 Jahre. Das sind sieben Jahre mehr einzuteilen, sondern lehre die Männer die als bisher angenommen. Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.» Entwicklung und Sinnhaftigkeit Beim Streben nach mehr Arbeitszufriedenheit kann uns halten die Mitarbeitenden bei Laune auch der Hirnforscher Gerald Hüther beistehen: Eine Studie der ETH Zürich und der Universität Bern un- «Statt an jemandem vorbeizugehen, als wäre tersuchte, welche Faktoren Mitarbeitende dazu bewe- er Luft, können wir die andere Person auch gen, die Stelle zu behalten und im Beruf zu bleiben. Die anlächeln. Wir können andere einladen, Psychologinnen Guri Medici und Ivana Igic leiteten aus ermutigen und inspirieren, sich auf eine neue ihren Untersuchungen folgende acht Grundpfeiler der Erfahrung einzulassen, statt ihnen zu sagen, Zufriedenheit am Arbeitsplatz ab: was sie und wie sie etwas machen sollen.» INSTITUTION Es braucht realitäts- nahe Lösungen Die Coronakrise stellte und stellt die tragen werden. Das Virus Covid-19 der Bewohnenden stand trotz der ei- Institutionen vor grosse Herausfor- beschäftigt uns alle nun schon seit genen Ängste im Mittelpunkt und war derungen. Wir haben viel daraus ge- Monaten und wird uns auch weiter in der Sonnweid immer sehr spürbar. lernt — und hoffen, dass es die Politik begleiten. Wir werden einen Umgang Die Einhaltung der kantonalen Ver- auch tut. Ob die anfangs erfahrene damit finden müssen. fügungen zeitnah umzusetzen, stell- Wertschätzung für die Pflege anhält, Vieles hat sich in der letzten Zeit te uns vor grosse Herausforderungen. ist zu bezweifeln. verändert. Immer wieder waren wir Besuchsverbot und Von Petra Knechtli in den Institutionen gefordert, unsere Schutzmassnahmen Schutzkonzepte anzupassen. Wir wa- Manchmal frage ich mich, ob das ren mehr als sonst Bindeglied zwi- Um die Bewohnenden der Alters- alles wirklich Realität ist. Bis vor ei- schen Angehörigen und Bewohnen- und Pflegeheime zu schützen, hat nem Jahr hätte ich es persönlich nicht den. Zeitressourcen hat die Besorgung die Gesundheitsdirektion des Kan- für möglich gehalten, dass wir hier in von Schutzmaterialien abverlangt. tons Zürich (GD) am 12. März 2020 Mitteleuropa im öffentlichen Verkehr, Anfangs waren Ängste der Mitar- ein Besuchsverbot angeordnet. Das beim Einkaufen und in einer Instituti- beitenden um ihre Gesundheit und die Besuchsverbot galt ab dem nächs- on wie der Sonnweid Schutzmasken ihrer Familie spürbar. Die Gesundheit ten Tag, vorerst bis 30. April. Mitte
Bei der Arbeit erlebe ich sehr viel Wertschätzung. Menschen mit D emenz bedanken sich für jede Klei- nigkeit. Sei es, wenn man ihnen hilft, die Strümpfe anzuziehen, oder ihnen einen Kaffee anbietet. Es zeigt sich aber deutlich, dass auf gesellschaf t - licher Ebene relativ wenig Interesse besteht, die Arbeits- und Anstellungs- bedingungen zu verbessern. Solche Initiativen sind meistens gescheitert . Ausserhalb der Arbeit fühle ich mich wenig wertgeschätzt für meinen Beruf. Simon Paul Kleiner (34) Studierender Bachelor Pflege
7 Sonnweid, das Heft Nr. 14 pril verkündete Natalie Rickli, Vor- A Vieles — zum Beispiel in der Aktivie- Wir haben viel aus dieser Krise ge- steherin der GD an einer Medien- rung — fand nicht mehr statt. Bald lernt. Wir haben vor allem am Anfang konferenz, das Besuchsverbot wer- kehrte auf den Abteilungen Ruhe ein. der Coronakrise viel Unterstützung de voraussichtlich bis zum 8. Mai Es kam die Zeit, in der wir Gewohn- und Wertschätzung erfahren. Ob dies verlängert. Am 30. April wurden wir tes überdenken konnten. Wir mach- nachhaltig sein wird? Daran habe ich informiert, das ausgesprochene Be- ten uns Gedanken, wie es weiterge- persönlich meine Zweifel. suchsverbot gehe in eine Besuchs- hen soll, Gedanken zum Leitbild, zur regelung über, wenn die nötigen gelebten Philosophie und zu den ver- Schutzmassnahmen eingehalten schiedenen Angeboten. werden könnten. Anfangs war von aussen eine Die GD teilte uns telefonisch mit, g rosse Solidarität spürbar. Men- für die Sonnweid gelte weiterhin ein schen, die ihre eigene Arbeit nicht Besuchsverbot, wenn wir die gefor- mehr ausführen konnten, boten uns derten Massnahmen (Trennscheibe, ihre Hilfe an. Blumenläden brachten Masken, sehr eingeschränkte Be- Blumen, Grossverteiler Osterhasen, suchszeiten) nicht einhalten könnten. Schutzmasken wurden uns geschenkt In einer schriftlichen Stellungnahme und vieles mehr. teilten wir der GD mit, dass die ge- Solidarität hat forderten Massnahmen für uns nicht ein Verfallsdatum praktikabel seien. Zuvor war es in der Besucherbox (mit Trennscheibe) zu Die Solidarität untereinander ging lei- traumatischen Erlebnissen gekom- der je länger je mehr wieder verloren. men — für Angehörige und Bewoh- Viele Besucher zeigen mittlerweile nende. Menschen mit Demenz verste- wenig Verständnis für die geltenden hen eben nicht, was Covid-19 ist und Schutzmassnahmen. Die Bevölkerung wozu es eine Trennscheibe braucht. kann nicht verstehen, dass Pflegende Auf unser Schreiben haben wir leider ihre Ferien in ihren Herkunftsländern bis heute keine Antwort erhalten. machen möchten. Dabei haben ja In einer der ersten Verfügungen viele Pflegende in dieser Zeit grosse wurden wir im März aufgefordert, Sorge um ihre Lieben, die in ihrer Hei- Covid-19 erkrankte Bewohnende mat leben. Für diese Pflegenden wur- nicht in Spitalpflege zu geben. Die de noch im Frühling von den Balkonen drohende Überlastung der Spitäler geklatscht. In verschiedenen Medien stand damals im Fokus. Wir mussten hiess es, diese Pflegenden seien eine die Angehörigen darüber informieren Gefahr und würden nun das Virus in und ihr Einverständnis einholen. Wir unsere Institutionen bringen. fragten uns, ob solche Regelungen Ambulant vor stationär: In der An- ethisch vertretbar sind: Menschen fangszeit haben sich Angehörige, die wird aufgrund einer Diagnose oder sonst die Entlastungsangebote der aufgrund des Alters der Zugang zu Sonnweid nutzten, zu Hause organi- medizinischer Versorgung verweigert. siert. Viele dieser Angehörigen sind in dieser langen Zeit an ihre Grenzen Emotional und zeitlich gestossen, jetzt steht eine stationäre beansprucht Aufnahme an. Das Besuchsverbot, die folgende Um- Wir wollen praktikable wandlung in die Besuchsregelung, Lösungen das Verbot, unsere Bewohnenden in Spitalpflege zu geben, und die Infor- Menschen mit Demenz wurden in die- mation der Angehörigen: Sie können ser Zeit nicht an Demenz erkrankten sich vorstellen, wie sehr uns dies emo- alten Menschen gleichgesetzt. Dies tional und zeitlich beansprucht hat. darf in der Zukunft nicht mehr ge- Täglich haben wir alle Mitarbeiten- schehen. Es bleibt die Hoffnung, dass den über den neuesten Stand infor- man die Bedürfnisse der an Demenz miert. Wir schulten sie auf Hygiene erkrankten Menschen und ihrer An- massnahmen und das Vorgehen bei gehörigen endlich als ganz spezielle einem Verdachtsfall. Dazu sorgten Bedürfnisse in sehr spezieller Situati- wir für die Betreuung und Pflege un- on wahrnimmt und sich dazu die ent- serer Bewohnenden, die viel davon sprechenden Gedanken macht. Die mitbekamen und vor allem anfangs Politik soll Entscheide fällen, die rea- stark verunsichert waren. Der Alltag litätsnah, praktikabel und am Men- in der Institution musste weiterlaufen! schen orientiert sind.
8 SYSTEMRELEVANZ Es ist nie genug Der ständige Wunsch nach mehr Wertschätzung zeigt Intensivmedizin. Im Pflegeheim braucht es die Expertin auf, dass viele Pflegende ihren eigenen Beruf nicht für Beziehung in schwieriger Lebensphase, ob mit oder wertschätzen. ohne Corona. Für die hat wohl niemand geklatscht. Von Michael Schmieder Negatives Bild der Demenz-Pflege «Wir bekommen zu wenig Wertschätzung» Könnte es auch sein, dass eine dementielle Erkrankung herhalten muss für das, was man auf keinen Fall be- «Pflege erhält zu wenig Wertschätzung» kommen will, dass mit diesem Negativbild auch all das verbunden wird, was man an negativen Vorstellungen «Meine Wertschätzung ist enorm» zu einer Pflege von demenzerkrankten Menschen in sich (Stä n d e rat E ri c h E t tl i n i m Ra h m e n d e r D e b at te zu r P fl e g e i n iti ative i n d e r C o ro n aze it ) trägt? Wie kann demnach eine Arbeit wertgeschätzt werden, wenn der Grund für diese Arbeit ein negativ Immer zu wenig Wertschätzung: Diesen gefühlten Man- und angstbesetzter Grund ist? gel an Wertschätzung kenne ich aus meiner Zeit als Lei- So betrachtet, erhärtet sich der Verdacht, dass Ap- ter der Sonnweid. Immer wieder kam dieses Wort an plaus für die sterile, hochtechnisierte Welt der Intensiv- Teamsitzungen, Weiterbildungen, Gesprächen. In der pflegenden gespendet wurde. Damit wurde auch eine Coronakrise hörten wir oft, dass es an Wertschätzung Spaltung der Pflege sichtbar, die ich persönlich sehr mangelt. Dafür klatschten dann alle von den Balkonen. begrüsse. Erst wenn dieses Tun mit den alten dementen Wenn ich jemanden wertschätze, verstehe ich darun- multimorbid erkrankten Menschen als eigenständiges ter, dieser Person und ihrem Tun einen moralischen Wert Gebiet der Betreuung und Pflege wahrgenommen wird, zuzuordnen. Damit sage ich, wie wichtig ihre Arbeit ist erst wenn akzeptiert wird, dass umfassend auch umfas- oder wie gut diese Person ihre Arbeit macht. Fragt man send bedeutet, erst wenn die Menschen in der geron- Menschen, die nach mehr Wertschätzung rufen, was sie tologischen Umgebung ihr eigenes Tun wertschätzen, denn darunter verstehen, kommen berufspolitische For- erst dann wird es gelingen, darüber zu sprechen, was in derungen: mehr Lohn, mehr Anerkennung, mehr Entfal- diesem Beruf getan werden kann. tungsmöglichkeiten, bessere Arbeitsbedingungen usw. Ein regelrechter Zusatzausbildungszwang wirkt auf den ersten Blick wertschätzend. Auf den zweiten Blick Nur das Lob von ganz oben kommt an sagt dies nichts anderes aus, als dass die Aufgaben di- Gleichzeitig existiert der Wunsch nach einer nicht mo- rekt beim Menschen weniger wert sind als die Aufga- netären Wertschätzung. Dieser Aspekt scheint mir wich- ben mit einem der diversen akademischen Abschlüsse. tiger als alle berufspolitischen Anstrengungen. Immer Mathias Binswanger bezeichnet diese höheren Tätigkei- wieder machte ich die Erfahrung, dass ein Lob der di- ten in einem Gastkommentar der Neuen Zürcher Zeitung rekten Vorgesetzten wenig oder gar keinen Wert hatte. als nicht systemrelevant, da sie nicht mehr direkt beim Im Gegensatz dazu aber hatte ein Lob der übergeord- Menschen stattfinden. Er geht so weit zu betonen, dass neten Stellen einen sehr hohen Stellenwert. man durch ein Hochschrauben der Bildungsanforderun- Ein anderer Gedanke schliesst sich da an: Wenn ich gen für Pflegende eine bessere Entlöhnung der Mitarbei- nach Wertschätzung lechze, wenn ich dauernd das Ge- tenden an der Basis sogar verhindert (das Geld brau- fühl habe, ich erhalte zu wenig davon, frage ich: Warum chen die Besserausgebildeten) und dass letztendlich nur rufen Pflegende so sehr nach Wertschätzung — so, als Bürokratie ausgebaut wird. würde es ihrem Selbstverständnis als Pflegende einen Entfernen von der Basis wird belohnt höheren Stellenwert geben? Den Ruf nach Anerkennung kann ich durchaus nach- Die Corona-Pandemie zeigt auf verschiedene Arten empfinden. Der dauernd empfundene Mangel an Wert- deutlich, dass etwas nur den Wert hat, den jemand be- schätzung zeigt aber deutlich, dass es vielen Pflegenden reit ist, für das «Produkt» zu bezahlen (siehe Gesichts- selbst an Wertschätzung gegenüber ihrem eigenen Beruf masken). Für das Produkt «Pflege von alten und de- mangelt. Und das lässt sich nicht einfach wegmachen, menzkranken Menschen» ist auch heute niemand bereit indem jetzt alle sagen, wie wichtig die Arbeit der Pfle- hinzustehen und zu sagen, dass wir diesen an der Basis genden ist. Arbeitenden Perspektiven geben müssen: Die Arbeit an Und noch ein Gedanke, der sich in mir breitmacht: der Basis ist der Wert, und dafür sollen sie WERTSCHÄT- Könnte es sein, dass in der ganzen Coronazeit die ZUNG erhalten, nicht für möglichst viele Graduierungen Leistungen der Pflegenden auf den Intensivstationen und Titel. beklatscht wurden und gar nicht die Arbeit der Pfle- Das derzeitige System belohnt die Anstrengungen genden in den Heimen? Pflege im Pflegeheim, das ist all derer, die sich von der Basis entfernen wollen. Es be- tägliche Arbeit direkt bei den Menschen, da braucht es straft diejenigen, die an der Basis arbeiten wollen oder keine Beatmungsgeräte, bedient von Expertinnen der müssen. Wenn ich Wertschätzung nur dann bekomme,
9 Sonnweid, das Heft Nr. 14 wenn ich nicht mehr in der direkten Pflege, direkt beim unattraktiv? Es ist die Arbeit in der Nacht, die Bezie- Menschen arbeite, dann führt sich das System selber ad hungsgestaltung, diese Notwendigkeit, sich ganz einzu- absurdum. Denn diejenigen, die im Pflegeheim jeden Tag bringen, sich dem Gegenüber zu stellen — und damit mit den Menschen sind, die werden schlichtweg verges- auch der eigenen Person. Wenn man diese Aspekte sen. Und wenn sie vergessen gehen, brauchen wir über mehr wertschätzen und ihnen einen anderen Stellen- sie nicht zu reden, und schon gar nicht mit ihnen. wert geben würde, könnte sich tatsächlich nachhaltig etwas verändern. Geringe Verweildauer im Beruf Systemrelevanz würde dann mit einschliessen, ist nichts Neues dass Pflegende stolz darauf sein können, dass ihr Tun Die Diskussionen über Rahmenbedingungen sind wich- 24 Stunden gebraucht wird, ohne Pause, auch in den tig. Es gab auch vor 30 Jahren die Aussteigerinnen nach Sommerferien. Dann wird diese Wichtigkeit nicht mehr der Ausbildung, die Verweildauer in der Pflege war im- als Problem gesehen, sondern als Alleinstellungsmerk- mer geringer als in anderen Berufen, das ist kein neues mal einer ganzen Branche. Phänomen. Was macht denn den Beruf angeblich so Das wäre ein Anfang. ABRECHNEN Bürokratie in der C orona-Zeit Besondere Zeiten verlangen beson- damit. Den erforderlichen Aufwand Erkrankungen oder Verhal- dere Massnahmen: So darf man die haben wir aber nie gutgeheissen, tensweisen relevant für die Entlastung von der RAI-/MDS-Be- weil das primäre Ziel des Systems, Pflegestufe. urteilung im vergangenen Frühjahr die «Abgeltung von krankenversiche- Die weiteren Nutzungsmöglichkeiten wohl verstehen. Wäre diese beson rungspflichtigen Leistungen in Pflege- (Ressourcenplanung, Qualitätsma- dere Massnahme nicht auch auf heimen gemäss … Krankenversiche- nagement, Pflegeplanung) der erhobe- Dauer möglich? Sie wäre ein Teil der rungsgesetz» (Administrativvertrag oft versprochenen Wertschätzung Pflegeheime zwischen CURAVIVA nen Daten sind aus unserer Sicht auf gegenüber den Pflegenden. und tarifsuisse ag) auch mit einem anderen Wegen, beziehungsweise mit Von Gerd Kehrein viel geringeren Aufwand erreicht wer- anderen Massnahmen, zu verfolgen. den könnte. Bei den meisten unserer Plötzlich geht es auch anders… Für eine reguläre Pflegebedarfser- Bewohnenden sind nur vier bis sieben fassung in normalen Zeiten sieht das Einzelinformationen ausreichend, um Ende März wurde eine Initiative der System RAI (Resident Assessment In- die geforderte Pflegestufe zu generie- Heimverbände CURAVIVA und sene- strument) zwei unterschiedliche For- ren. Die meisten der restlichen 250 suisse zur administrativen Entlastung mulare vor, welche für jeden Bewohner bis 300 erfassten Informationen ha- der Pflegeinstitutionen auf nationa- jeweils einmal im Verlauf eines Jahres ben praktisch keinen Einfluss auf die ler Ebene gutgeheissen. Wir konn- zu bearbeiten sind: die «Gesamtbe- Pflegestufe. Zur Veranschaulichung: ten unseren Aufwand für die MDS- urteilung» mit 13, und die «Halbjährli- Beurteilungen (Minimum Data Set) • Bei zirka 55 Prozent unserer vorübergehend, für die Dauer der che Zwischenbeurteilung» mit 10 aus- Bewohnenden führen die «ausserordentlichen Lage», spürbar zufüllenden Seiten. Als Grundlage Angaben zu vier Fragen der reduzieren: Nur noch drei Tage Be- dieser Datenerhebung dient jeweils Mobilität zur Pflegestufe. obachtungs-/Dokumentationszeit eine zweiwöchige «Beobachtungspe- riode», welche sich in eine siebentägi- • Bei zirka 20 Prozent führen und nur noch ein sechsseitiges For- ge Assessment- und eine gleich lange die Angaben zu zwei F ragen mular, welches die zur Bestimmung Dokumentationsphase aufteilt. bezüglich ihrer kognitiven der Pflegestufe relevanten Angaben Verändert sich der Zustand einer Fähigkeiten und eine Anga- enthält. Es geht also: das gleiche Er- Bewohnerin in der Zeit zwischen zwei be zu unseren spezifischen gebnis — die Pflegestufe — mit deut- ordentlichen Beurteilungen so, dass Massnahmen zur Pflegestufe. lich weniger Aufwand. er zur Änderung der Pflegestufe führt, • Bei zirka 15 Prozent führen Warum nicht auf Dauer? so muss vor Ablauf der üblichen halb- die oben genannten sieben jährlichen Frist eine sogenannte «Sig- Nach Ablauf der «ausserordentlichen Angaben zusammengenom- nifikante Statusveränderung» durch- Lage» müssen wir nun wieder die um- men zur Pflegestufe. geführt werden. fangreichen Formulare mit der da- An dieses System haben wir uns • Nur in Einzelfällen sind An- zugehörenden zweiwöchigen Beob- gewöhnt, wir leben seit vielen Jahren gaben zu Wunden, speziellen achtungsperiode anwenden. Mehr
In der Sonnweid fühle ich mich wertgeschätzt, da ich ernst genommen werde. Transparenz, konstruktives Feedback, Weiterbildungen und Teamanlässe tragen zu einer wertschätzenden Atmosphäre bei. In meinem persönlichen Umfeld erfahre ich viel Wertschätzung und Bewunde- rung für meinen Beruf. Allerdings finde ich, dass es eine bessere Aufklärungsarbeit bräuchte, denn der Beruf FaBe verdient einen höheren Stellenwert und eine bessere Entlöhnung. Lina Niederhauser (19) Fachfrau Betreuung FaBe
12 Beobachtung und Dokumentation, Pflegestufe zu generieren, sollte dies sondern dass sie aus den Informa- mehr Formular — für das gleiche Er- mit dem denkbar geringsten Aufwand tionen, welche im Formular erfasst gebnis: eine Pflegestufe. Warum? für die Pflegenden möglich sein. Es sind, die Pflegestufe bestimmt. Somit Warum kann die administrative sollten entsprechend nur die Daten wäre es jeder Institution freigestellt, Entlastung, welche in der Corona-Zeit erfasst werden müssen, welche die in welchem Umfang sie das System möglich war, nicht auf Dauer beibe Grundlage für das Generieren einer nutzen will — nur «Pflicht» (Pflegestu- halten werden? Pflegestufe bilden. Alles andere, was fe) oder auch «Kür» (Ressourcenpla- Warum müssen wir nun wieder aus Sicht des Erfassungssystems wich- nung, Qualitätsmanagement, Pflege- ein System anwenden, das mehr tig ist, aber anderen Zwecken dient, planung — und neu auch Nationale Aufwand mit sich bringt, als für die sollte nicht zwingend angegeben und Qualitätsindikatoren)? Jedes Heim Erfüllung des primären Ziels notwen- dokumentiert werden müssen. könnte die Daten sammeln und ins dig ist? System einspeisen, welche zur Errei- Unser Vorschlag Warum ist die administrative Ent- chung seines angestrebten Nutzens für die Zukunft lastung nur in Krisenzeiten möglich, nötig sind. Jedes Heim könnte den obwohl doch weitgehende Einigkeit Konkret könnte das folgendermassen administrativen Aufwand, den es für darüber besteht, dass es P flege und aussehen: Die bestehenden Formu- die «Kür»-Elemente leisten will, selbst Betreuung auch in normalen Zeiten lare und die Beurteilungsintervalle bestimmen. nicht an sinnvollen Aufgaben mangelt? bleiben unverändert. Die Software So könnte ein Aspekt von Wert- Solange es zur «Abgeltung der wird aber dahingehend angepasst, schätzung aussehen: die Reduktion krankenversicherungspflichtigen dass sie bei einer MDS-Beurteilung administrativer Aufgaben auf ein Leistungen in Pflegeheimen» nötig nicht mehr zwingend alle 250 bis Mass, welches die Einzelinstitution ist, über ein bestimmtes System eine 300 Einzelinformationen einfordert, für nötig erachtet. UNSCHARFER BEGRIFF Eine Worthülse, die wir füllen müssen Wer Menschen mit Demenz pflegt, soll bedingungslos Die Suche nach Definition, Klärung und einem gemein- annehmen und wertschätzen. Möglicherweise sind die samen Verständnis kann auf vier Ebenen betrachtet Ansprüche von Pflegenden an ihre Arbeitgeber deswe- werden: gen besonders hoch. 1. Grundannahmen zum Menschsein, Von Andrea Mühlegg-Weibel persönliche Prägungen, anthropologische, erkenntnistheoretische und ethische «Bin ich der Schlafsack meiner Seele?» Auf diese vom Annahmen zur menschlichen Existenz Schweizer Künstlerduo Peter Fischli / David Weiss ge- stellte Frage gibt es vermutlich ähnlich viele Antwor- 2. Basistheorien, die unserem Tun ten, wie wenn ich Sie frage: «Was bedeutet für Sie zu Grunde liegen Wertschätzung?» 3. Prinzipien, die das professionelle Handeln leiten Vor Jahren entwickelten Peter Dolder und ich als Wohngruppenleiter eine Idee: Wir wollten über der 4. das TUN, das Handeln Haustür zwei grosse, kuschelige, rosa Fellhandschuhe Mögliche Antworten – befestigen. Sie sollten jedem Mitarbeitenden bei Ar- Grundannahme: Der Mensch ist ein beitsbeginn und -ende den Kopf streicheln. Als Dank individuelles und soziales Wesen für sein Kommen und sein geleistetes Werk — im Sinne von Wertschätzung, denn davon können wir ja nie genug Aus der ganzheitlichen Sicht auf den Menschen gehö- bekommen. Natürlich war diese Idee mit einem Augen- ren zum Individuum alle Gefühlsregungen und deren zwinkern verbunden, aber sie trifft den Kern. Auswirkungen: Liebe und Hass, Demut und Hochmut, Jahre später versuchten wir, diesen unscharfen Be- Grosszügigkeit und Missgunst, Vertrauen und Miss- griff klarer zu definieren, und gelangten zu folgenden trauen, Freude und Ärger, Gestaltung und Zerstörung, Schlüssen: Wertschätzung, wertschätzende Haltung Miteinbeziehen und Konkurrenzdenken, Solidarität und und wertschätzendes Handeln sind abstrakte Worthül- Machtgelüste, Humor und Zynismus usw. Prägend sind sen, die wir füllen wollen. Auch die mit Wertschätzung biologisch-genetische Ausgestaltungen, das familiä- verbundenen Begriffe wie Respekt, Wohlwollen, Achtung re Umfeld und das soziale und kulturelle Umfeld. Dies umschreiben eine innere allgemeine Haltung und bedür- führt — gemeinsam mit der ganzheitlichen Sicht auf das fen weiterer gemeinsamer Klärung. Menschsein — zu mehr oder weniger Beengung.
13 Sonnweid, das Heft Nr. 14 leitend — durch die gemeinsame Definition, was wir als Diskussionsidee: Organisation für Grundannahmen haben, erhalten sie eine Verbindlichkeit. Zum Beispiel: Der Mensch will sich ZU DEN GRUNDANNAHMEN ZUM MENSCHSEIN und seine Mitwelt verstehen. Der Mensch braucht Res- pekt und Wertschätzung seiner Existenz. Da ist er wie- Einleitung zum persönlichen der, der Begriff «Wertschätzung»! Menschenbild Theorien, Pflegemodelle und Prinzipien Erfahrungen, Menschen, Bücher, Filme und Bilder haben uns geprägt Im Pflegealltag von Menschen mit Demenz basieren und auf den Weg gebracht, den wir etliche Theorien, Konzepte und Pflegemodelle auf einem heute verfolgen. Es gibt allgemeine Annahmen, die umschreiben «was der humanistischen Menschenbild. Unter anderem der per- Mensch ist». Jede und jeder denkt zwar sonenzentrierte Ansatz nach Kitwood, Kommunikations- anders darüber — und doch finden konzepte wie Validation nach Feil, Basale Stimulation, wir in den Berufsgruppen oft ähnliche reaktivierende Pflege nach Böhm, Palliative Care. All Vorstellungen zu dieser Frage. diese Konzepte haben eine ganzheitliche Sicht auf die Einzelaufgabe: Stelle dir eine Linie Person und verstehen die bedingungslose Annahme und vor, die deinen Lebensweg darstellt, Wertschätzung des Menschen als Grundlage ihrer Arbeit. zeichne auf der Linie prägende Menschen, Situationen und Dinge ein, Wertschätzendes Handeln die dich zu der Berufsperson gemacht haben, die du heute bist. Die Diskussionen in verschiedenen Teams zeigen: Aus Sicht vieler Mitarbeitender herrscht ein Un- Aufgabe in kleinen Gruppen gleichgewicht zwischen der Forderung nach einer wert- Bitte erläutert kurz eure Bilder und schätzenden Haltung und dementsprechendem Han- diskutiert dann eure Überlegungen deln im Pflege- und Betreuungsalltag und dem, was wir zu den folgenden Fragen. Schreibt durch unsere Vorgesetzten und Arbeitgeber erfahren. zu den Sätzen eine Stellungnahme Befragungen der Mitarbeitenden zeigen, dass die auf Blätter. pünktliche Lohnzahlung, ein 13. Monatslohn, saubere Gruppe gelb: Arbeitskleidung, ein sicherer und gut gestalteter Arbeits- • Wie frei und unabhängig platz, attraktive Bildungs- und Entwicklungsmöglichkei- ist der Mensch? • Wie rational oder emotional ten, garantierte Freitage, fünf Wochen Ferien, varian- ist der Mensch? tenreiche Verpflegung, vergünstigte Wellnessangebote, Personalausflüge, Teamessen, Pausen- und Ruheräume Gruppe blau: usw. selten als Form der Wertschätzung von Seiten des • Wie lernt, entwickelt sich der Mensch? Genetik, Soziales Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmenden erlebt Umfeld, Erziehung… werden. Gute Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz • Wie erfährt der Mensch Sinn scheinen eher selbstverständlich zu sein. im Leben? Die Mitarbeitenden wünschen sich, als Personen • Was gibt dem Menschen Sinn mehr wertgeschätzt zu werden. Aber was meinen wir im Leben? damit? Welche Erwartungen, Wünsche und Hoffnun- Gruppe Grün: gen haben wir? Weshalb wird Wertschätzung so unter- • Was bedeutet Arbeit schiedlich erlebt? für den Menschen? • Wie wichtig ist das soziale Umfeld Ein möglicher Erklärungsansatz für den Menschen? In der Arbeit mit Menschen mit Demenz folgen wir dem Prinzip: Wir bringen dem Menschen bedingungslose po- Beengung und Freiraum wird immer subjektiv und in- sitive Wertschätzung entgegen. Dies erfordert Verläss- dividuell erlebt. In unserem Verständnis gehört zum lichkeit, Empathie und Kongruenz und hat zum Ziel, die Menschen genauso die Lust nach Nichtstun und Kon- Person in ihrem Sein zu stärken, um daraus Zuversicht, sum — wie die Lust am Agieren und sich kreativ zu entfal- Lebensfreude und Energie zu beziehen. Wir tun dies mit ten. Der Mensch kann nicht immer von einer bedingungs- Achtsamkeit, wenden uns dem Menschen ganz zu, be- losen Mutterbeziehung ausgehen, was nicht unweigerlich gegnen ihm auf Augenhöhe, hören interessiert und aktiv zu «pathologischem» Verhalten führt, da Beziehungs zu, sind ganz präsent im Moment, arbeiten zusammen, fähigkeit auch lebenslang weiterentwickelt wird. geben Hilfestellung, falls nötig. Wir verzichten auf Kon- Im beruflichen und institutionellen Kontext bedarf es frontieren, Zurechtweisen, Belehren, Überfordern, Ver- einer vertieften Begriffsklärung, eines Bildungsprozesses kindlichen usw. und einer Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der Die häufig empfundene Diskrepanz bis hin zum Beteiligten — zum Beispiel den Leitbildprozess. Dabei Gefühl der Geringschätzung von den Mitarbeitenden können sich die Beteiligten auf einen grösstmöglichen in Verbindung mit dem oberen Kader könnte mit der gemeinsamen Nenner einigen und diesen definieren. Bedingungslosigkeit zu tun haben. Ein Arbeitsverhält- Die persönlichen Annahmen, D enkweisen, Ein- nis ist kein therapeutisches Setting und somit nicht be- stellungen und Ansichten sind individuell handlungs- dingungslos. Eine wertschätzende Arbeitsbeziehung
14 gelingt, wenn beide Seiten ihre Rolle und Aufgaben best- koche oder als tiefgläubige Christin einem verheirate- möglich erfüllen, ihr Tun reflektieren und die Rahmen- ten Bewohner Unterstützung gebe für den Besuch einer bedingungen immer wieder neue kreative Möglichkeiten Berührerin. zulassen und fördern. Mit Händeklatschen und Dankesagen ist es aber Offene und klärende Gespräche helfen, sich der per- auch nicht getan. Die guten Rahmenbedingungen, der sönlichen Annahmen und Überzeugungen bewusst zu intensive Austausch und verbindliche Vereinbarungen werden und auf einen gemeinsamen Nenner zu kom- helfen, dass Wertschätzung nicht nur eine Worthülse men, manchmal ist auch eine klare Trennung zwischen bleibt. Und vielleicht installieren wir trotz allem die ku- privaten und beruflichen Überzeugungen nötig. Zum Bei- scheligen rosa Fellhandschuhe. spiel, wenn ich als Veganerin einem Bewohner Fleisch NATIONALR AT «Die Politik r edet sich aus der Verantwortung» Barbara Gysi setzt sich als Natio- «Ich hörte haarsträubende mehr: das Coronavirus oder nalrätin für die Anliegen von alten Sachen» eine monatelange Isolation? und benachteiligten Menschen ein. Sie reichten in der Sommer- Es ist nicht einfach, gute Lösungen zu «Das Heft» sprach mit ihr über Coro- session ein Postulat ein… finden. Wenn man während der Iso- na, Autonomie, Wertschätzung und lation massive Verschlechterungen Gesundheitskosten. Ja, es geht um die Auswirkungen in im Gesamtzustand der Gesundheit Von Martin Mühlegg den Heimen — unter anderem auch bemerkt, sollten Besuche möglich um Demenz. Einige Heime haben es sein. Man muss aber die Kontakte Wie haben Sie die vergange- gut gemacht, bei anderen ist es nicht auf ganz wenige Leute einschränken, nen Monate erlebt? gut gelaufen — vor allem für die Be- die spezielle Sicherheitsvorkehrun- wohnenden mit Demenz und ihre An- Barbara Gysi: Ich persönlich bin gut gen treffen müssen. gehörigen. Ich hörte haarsträubende über die Runden gekommen. Ich habe Sachen. «Die Solidarität wird stark daheim gute Bedingungen zum Arbei- gefordert» ten, und ich komme auch schnell in Was denn? die Natur. Ich hatte viele Videokon- Es ist grosse Vorsicht In einem Fall informierte ein Heim ei- ferenzen und Telefonate. Ich hatte geboten. In jenen Heimen, die nen Angehörigen nicht, dass seine de- intensive Kontakte zu Heimen und vom Virus befallen wurden, mente Mutter an Covid-19 erkrankt Pflegenden. Von der Spitex und aus starben innert Kürze bis zur war. Er wandte sich an die Behörden den Heimen hörte ich, dass es Pro- Hälfte der Bewohner… und wurde nicht gehört. Das Postulat bleme gab bei der Beschaffung von verlangt einen Bericht, wie die Lang- Ja, es ist eine Abwägung. Man weiss Schutzmaterial. Der Heimverband zeitpflege mit der Coronakrise um- aber, dass Ansteckungen auch über vermittelte aber nicht das Gefühl, gegangen ist. Es verlangt, dass die das Personal geschehen sind. So dass er U nterstützung bräuchte. Das Heime für eine zweite Welle besser lange wir keine Impfung haben, ist es hat mich irritiert. gerüstet sind — besonders jene In- sehr schwierig. Vielleicht könnten die Warum? stitutionen, in denen Menschen mit einzelnen Abteilungen getrennt wer- besonderen Bedürfnissen leben. Ich den und wie WGs funktionieren, in Die Institutionen fanden, sie könnten finde, es geht nicht, dass man die denen immer die gleichen Menschen das allein bewältigen, wie früher mit Freiheit der Bewohnenden so stark verkehren und arbeiten. So könnte dem Norovirus. Ich sprach Heime und einschränkt. Einzelne durften an- man auch gewisse Angehörigenkon- ihren Interessenverband immer wieder fangs nicht einmal mehr in den Gar- takte zulassen. auf die verschiedenen Problemstellun- ten gehen. Es muss auch klarer defi- gen an. Ich sprach es auch in der Kom- Erfreulich war, dass ein niert sein, wie die Angehörigen und mission für Soziale Sicherheit und Ge- Grossteil unserer Gesell- Beistände informiert werden und wie sundheit (SGK) an. Ich merkte aber, schaft mitgeholfen hat, alte Kontakte möglich sind. dass diese Themen beim Bundesamt und schwache Menschen zu für Gesundheit (BAG) in dieser Phase Es geht auch um eine Frage, schützen und zu unterstützen. nicht zuoberst auf der Agenda waren. die kaum allgemeingültig zu Wie haben Sie die Solidarität Ich finde, es wäre wichtig gewesen, sie beantworten ist. Was schadet in Ihrem Umfeld erlebt? weiter hinauf zu nehmen. einem alten Menschen
Ich erhalte viel Zuspruch für meine A rbeit . Von den Bewohnern bekomme ich Wertschätzung in Form eines D ankeschöns oder Lächelns, von den Angehörigen in Form von Worten, Blumen oder Süssem. Bundesrat Alain Berset drück te es in einem Inter view mit dem Tages-Anzeiger so aus: «Wer es mit der Wertschätzung der lebenswichtigen B erufe ernst meint, drückt diesen Wert auch in Franken aus.» Ich bin gespannt, was hier in den nächsten Monaten u mgesetzt wird. Andrea Schellenberg (41) Pflegehelferin SRK
16 Ich wohne eineinhalb Stunden von Man hat ein System eingeführt, das meinen über 90-jährigen Eltern ent- man aus anderen Bereichen kennt. fernt. Zwei Studentinnen haben in Man hat die Leistungen aufgesplittet, dieser Zeit für sie eingekauft. Bekann- was in meinen Augen ein Qualitäts- te haben ihnen etwas in den Briefkas- verlust ist. Ich finde es falsch, dass ten gelegt. Ich habe auch in meinem man zur Subjektfinanzierung gegan- Wohnquartier wahrgenommen, wie gen ist und nicht einem Heim das De- die Nachbarschaftshilfe angelaufen fizit deckt. Man hat Fehler gemacht, ist. Die Solidarität wird jetzt mit der und es wird schwierig sein, diese rück- Zeit stark gefordert. gängig zu machen. Ich habe vor Jah- ren ein Postulat eingereicht, dass «Wertschätzung heisst hier: gut aufklären und nicht nur man Pflege und Betreuung wieder Verbote aussprechen.» als Einheit sieht. In anderen Ländern gibt es gute Modelle, wo man die Pfle- Die Menschen fielen in ihre ge an und für sich in den Mittelpunkt alten Muster zurück. Die stellt — und nicht das Erbringen von extremen gesellschaftlichen Leistungen. Ich glaube, dass unser Pole wurden bald sichtbar System kostentreibend ist, und dass und sogar verstärkt. B a rb a ra Gys i (5 6) i s t N ati o n a l räti n , wir Wege zurück finden müssen. Diese Vize p rä s i d e nti n d e r S P S c hwe iz u n d Es war für alle eine schwierige Zeit. M it g l i e d d e r Ko m m i s s i o n f ü r S ozi a l e Problematik gibt es nicht nur im Ge- S i c h e rh e it u n d G e s u n d h e it . S i e e n g a g i e r t Home Schooling und Home Office s i c h f ü r d i e P fl e g e i n iti ative u n d l e bt i n d e r sundheitswesen. Es gibt den Trend, sind anspruchsvoll — vor allem, wenn O s t s c hwe ize r Sta dt Wi l . Al s Sta dträti n dass man Angestellte mehr führen l e itete s i e d o r t vo n 2 0 0 5 b i s 2 012 d a s man eine kleine Wohnung hat. Die Re s s o r t S ozi a l e s, J u g e n d u n d Alte r. und überwachen will. Diese Kultur Menschen, die in systemrelevanten nimmt die Autonomie und die Moti- Berufen arbeiten, waren unter Druck. vation, sie ist nicht gut. Studien zeigen auf, dass gute Be- Viele Leute haben auch Existenzängs- «Man vergisst, was die treuung und Pflege Eintritte ins Spital te. Es hat sich gezeigt, dass es nicht alten Menschen alles verhindern. Mit einem besseren Be- monatelang so funktionieren kann. Es geleistet haben und auch treuungs- und Pflegeschlüssel kann war Angst da, und jetzt werden wir heute noch leisten.» man also Kosten sparen. Die hohen zugemüllt von kruden Theorien. Wert- Gesundheitskosten entstehen durch Der Zeitgeist ist auf jung, schätzung heisst hier: gut aufklären unnötige Behandlungen und Operati- stark und schön getrimmt. und nicht nur Verbote aussprechen. onen, durch Untersuchungen, mit de- Wie kann die Politik dafür Wertschätzung gab es auch nen man die vielen Geräte auslasten sorgen, dass alte und für die Pflegenden. Wird will. Was nützt beste medizinische, gebrechliche Menschen davon etwas bleiben? technische und pharmazeutische Be- wieder mehr wertgeschätzt treuung, wenn der psychische Prozess werden? Im Juli haben wir erlebt, wie der Stän- falsch läuft? derat den indirekten Gegenvorschlag Wir werden an unserem Parteitag im zur Pflegeinitiative abgeschwächt «Der Aufwand für die Doku Oktober ein umfassendes Alterspa- hat. Das zeigt, dass es ein steiniger mentation hat ein Ausmass pier diskutieren. Da sind auch Fragen Weg ist, wenn es um bessere Arbeits- erreicht, das kaum mehr zu der Wertschätzung drin. Auch beim bedingungen geht. Die Gegner der In- rechtfertigen ist.» Rentenalter und bei den Kosten für itiative sagen, man könne dies nicht die Renten. Es heisst immer: Die Al- Statt Wertschätzung der auf der Gesetzesebene regeln, es ten kosten zu viel, die Heime sind zu Pflege gibt es eine Miss gehöre in die Sozialpartnerschaft. teuer, die Gesundheitskosten für die trauenskultur, die sich in Gleichzeitig haben wir im privaten Alten sind zu hoch. Man vergisst, was einem fragwürdigen Bereich des Gesundheitswesens die alten Menschen alles geleistet ha- Dokumentations- und kaum Gesamtarbeitsverträge. Die ben und auch heute noch leisten. Vie- Kontrollsystem zeigt. Politik redet sich da aus der Verant- le von ihnen sind als Grosseltern stark wortung. Es geht auch um die Bezah- Ich würde es nicht als Misstrauens- im Einsatz, leisten als Freiwillige viel. lung. Nicht alle im Gesundheitswe- kultur bezeichnen. Es hat ja auch mit sen verdienen schlecht. Aber es gibt Qualitätssicherung zu tun. Aber der Diese mangelnde Wertschät- eine enorme Spannweite zwischen Aufwand für die Dokumentation hat zung fällt dann auch auf die Chefärzten, Fachangestellten und ein Ausmass erreicht, das kaum mehr Pflegenden und Institutionen Pflegehilfen. zu rechtfertigen ist. zurück. Niemand will ins Heim, alle wollen gesund und Alle wollen ein gutes Die Kontrolleure interessieren zu Hause sterben. Das Heim Gesundheitssystem. Aber sich nicht für die Qualität der ist die allerletzte Lösung… niemand will noch höhere Pflege. Sie wollen nur wissen, Krankenkassenprämien ob die Formulare richtig Heime wird es immer brauchen. Es bezahlen… ausgefüllt sind. hat sich aber verändert, die Leute
17 Sonnweid, das Heft Nr. 14 gehen heute später ins Heim. Die Hei- Die Politik der letzten Jahre STELLUNGNAHME me müssen sich baulich und organi- war vom Neoliberalismus von Michael Schmieder satorisch anpassen. Es braucht mehr geprägt, die Parlamente sind (VR Sonnweid AG) Individualität und Durchlässigkeit in bürgerlicher Hand. In und Petra Knechtli (Leiterin Sonnweid das Heim) von stationären, teilstationären und diesem Umfeld haben Sie mit ambulanten Angeboten. Viele Hei- Ihren sozialen Anliegen einen Wir finden es bemerkenswert, wenn me sind in einem Veränderungspro- schweren Stand. Frustriert eine Politikerin die Altersarbeit auf ihre zess. Temporäre Aufenthalte helfen Sie das manchmal? Fahnen schreibt, und bedanken uns bei Barbara Gysi für ihr Engagement. und zeigen, dass die Räume ange- Die Grenzen werden vor allem dann I nnerhalb unserer Redaktion gingen die nehm und die Leute umsorgend sind. Meinungen über ihre Aussagen aber spürbar, wenn es Geld braucht. Es ist Es braucht möglichst viel Autonomie stark auseinander. Warum? Einerseits aufwendig, wenn man in der Minder- scheint Frau Gysi die Pflegeinitiative und Eigenständigkeit. Wenn die Men- heit ist. Man muss sich oft überlegen, als Grundlage für die Wertschätzung schen das wahrnehmen, gibt es weni- wo man Verbündete findet für seine gegenüber den Pflegenden zu verste- ger Stigmatisierung. hen. Wer gegen die Pflegeinitiative ist, Anliegen. Manchmal findet man sie bringt den Pflegenden keine Wert- Sie setzen sich als Politikerin in Kreisen, in denen man nicht damit schätzung entgegen. Dies können wir für benachteiligte und alte rechnen würde. Im Grossen und Gan- nicht nachvollziehen. Anderseits will Menschen ein. Wird Ihre zen rennen wir gegen Windmühlen an. Frau Gysi mit der Aufbereitung der Arbeit genug wertgeschätzt? Trotzdem können wir für Kranke, Pfle- Corona-Pandemie noch mehr Bürokra- gende und Angehörige immer wieder tie produzieren. Zu befürchten ist eine Das war für mich nie so relevant. Ich weitere Ausweitung eines ineffizienten etwas erreichen. Kontrollapparates. Wir werden mit habe mich immer in Bereichen enga- Frau Gysi in Kontakt bleiben und freuen giert, in denen es keine grosse Lobby uns auf den Austausch mit ihr. Darüber gibt. Behinderte, Alte, Jugendliche… werden wir demnächst auf der Plattform alzheimer.ch berichten. Die Sinnhaftigkeit Ihrer Arbeit treibt Sie also mehr an als die Bestätigung… Ich habe eine hohe innere Motivati- on. Der Altersbereich ist sehr dyna- misch und spannend. Alter hat nach aussen etwas Eindimensionales, aber es ist extrem vielschichtig. Es gab in den letzten 20 bis 30 Jahren viel In- novation. Alter ist nicht das Thema, in dem man am wenigsten wertge- schätzt wird. Ich bin zum Beispiel noch nie beschimpft worden, weil ich mich für alte Menschen einsetze. Aber wenn ich gegen eine Asylgesetz- revision Unterschriften sammle, wer- de ich beschimpft. Wenn Sie als Stadtpräsiden- tin Ihren Wohnort Wil mit einem schönen Budget altersfreundlicher machen könnten: Was würden Sie unternehmen? Ich würde die Beratungsangebote noch etwas ausbauen. Und ich wür- de die Gestaltung des öffentlichen Raums bedürfnisgerechter machen. Es soll in den Quartieren Treffpunk- te und Einkaufsmöglichkeiten geben. Man soll sich lebensraumnah bewe- gen können, und der öffentliche Ver- kehr sollte entsprechend gestaltet sein. Wil hat zwar viel gemacht, aber beim Baulichen sind wir nicht dort, wo wir sein müssten.
18 FILMTIPP Grosses Schauspiel und (zu) viel B iografie… Javier Bardem spielt in «The Roads Not Taken» einen Schriftsteller, der an einer Demenz erkrankt ist. Er tut es so grossartig, dass wir dem Film gewisse Schwächen verzeihen. Von Martin Mühlegg Der Film beginnt so wie so viele Filme, in denen eine Hauptfigur eine Demenz hat: mit einer Fehlleistung, die das Umfeld in Unruhe versetzt. Bei «The Roads Not Ta- ken» reagiert Leo (Javier Bardem) weder auf das Klingeln seiner Haushälterin und Pflegerin Xenia (Branka Katic), noch auf die Anrufe seiner Tochter Molly (Elle Fanning). T h e Ro a d s N ot Ta ke n — We g e d e s Le b e n s, 2 0 2 0, U K / U SA: Als die besorgten Frauen endlich in die Wohnung stür- S a l ly Pot te r (Re g i e), J avi e r B a rd e m , E l l e Fa n n i n g , S a l m a H aye k . men, liegt Leo im Bett und sagt: «Alles ist offen.» Im Laufe des Films wird sich herausstellen, dass der gesehen haben. Bardems Blicke, seine Bewegungen, sei- Tag auch ohne die morgendliche Hektik alle Beteilig- ne kargen und manchmal poetischen Sätze wirken sehr ten vor Herausforderungen stellt. Molly will mit ihrem realitätsnah. schwer dementen Vater zum Zahnarzt und zum Augen- In einem Interview sagte Bardem, er habe zur Vorbe- arzt. Die Hektik hält an, als Xenia und Molly den knapp reitung auf diese Rolle sehr viel zugehört. Er habe sich 60-Jährigen für den «Ausflug» bereitmachen. Zu allem von Potter (ihr Bruder war früh an einer frontotempora- Überfluss rattern direkt vor dem Fenster der herunter- len Demenz erkrankt) sozusagen an die Hand nehmen gekommenen Wohnung U-Bahn-Züge vorbei. Und vor lassen. Er habe aussergewöhnlichen Respekt davor ge- der Haustür lauert die ganz normale New Yorker Reiz- habt, in dieser Hommage an ihren Bruder die Hauptrolle überflutung: Autos, Sirenen, umhereilende Menschen, spielen zu dürfen. Hupen und eben die U-Bahn, die ausgerechnet hier nicht Interessant ist auch Bardems Zusammenspiel mit im Tunnel, sondern auf einer Brücke fährt. In kurzen Ab- Salma Hayek: Sie ist ihm als beste Freundin seiner Ehe- ständen führt uns die Drehbuchautorin und Regisseurin frau Penélope Cruz sehr vertraut. Apropos Vertrautheit: Sally Potter auf teilweise surreal anmutende Reisen in Zwischen Vater und Tochter ist sie zu Beginn des Filmes die Vergangenheit: Leo will nicht mit Dolores (Salma wenig spürbar. Gegen das Ende hin kommen sich die Hayek) zum «Zirkus» fahren. Dann begleitet er sie doch, beiden näher. Die anfängliche Distanz scheint biogra- schlägt aber bei einer Abzweigung den falschen Weg ein. fisch bedingt, denn bei einer Rückblende erfahren wir, Leo eilt zu Fuss durch die Wüste. Leo ist in Griechenland, dass Leo seine Tochter und ihre Mutter kurz nach der wo er eine junge Touristin verfolgt, um ihr seine Sünden Geburt verlassen hat. zu beichten. Leo sitzt vor einem leeren Blatt und weiss In diesen biografischen Rückblenden und Aufklärun- nicht, was er schreiben soll. Leo rudert einer grossen gen liegt das Problem dieses Films. Die reizvolle Frage, Motoryacht hinterher, auf der getanzt wird. welche schicksalshaften Wendungen wir unserem Leben Bei der Zahnärztin will Leo seinen Mund nicht auf- geben, wenn wir uns für diesen oder jenen Weg entschei- machen, dann trinkt er das Spülwasser und pinkelt in den, wird kaum ergründet. Offenbar will uns Potter weis- die Hose. Später entführt er einen Hund — offenbar, weil machen, dass Menschen mit frontotemporaler Demenz er seinen eigenen vermisst, der vor Jahren gestorben ist. geistig abwesend sind, weil sie der Vergangenheit und Beim Augenarzt kooperiert er kaum, die Resultate des verpassten Chancen nachsinnen. Sehtests dürften wenig aussagekräftig sein. Doch verzeihen wir Potter diese Griffe in die Trick- kiste der Dramaturgie, die den Film mitunter unnötig Die tapfere Tochter schwülstig machen. Potter hat grossartige Schauspieler Molly steht ihrem Vater tapfer und empathisch bei. zusammengetrommelt und mit Leo (und Bardem) die Dann und wann muss sie telefonieren, um einen unge- authentischste demente Figur der Filmgeschichte er- duldigen Kunden bei Laune zu halten. Wir sehen immer schaffen. Und der anstrengende und aufschlussreiche wieder Momente, in denen Leo überfordert ist und da- Tag im Leben von Leo und Molly vermittelt ganz bei- mit seine Mitmenschen überfordert. Was wir aber vor läufig, wie man sich Menschen mit Demenz gegenüber allem sehen: einen grossartigen Javier Bardem. Im Ge- verhalten sollte — oder eben nicht. gensatz zu weniger begabten Kollegen spielt er nicht den lustig-schusseligen Onkel, den wir schon oft im Kino
Sie können auch lesen