Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!

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Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
Zeitschrif t der Sonnweid AG
w w w. sonnweid .ch
Ok tober 2020

Sonnweid
das Heft

Nr. 14

Wert
schätzen!
Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
3       Sonnweid, das Heft
        Nr. 14

EDITORIAL                                                        INHALT
                                                                 4

Wert­                                                            DEFINITION
                                                                 Zufriedenheit (im Beruf)
                                                                 ist kompliziert
schätzung:                                                       Mar tin Mühlegg
                                                                 5
                                                                 INSTITUTION

War da                                                           Es braucht r
                                                                 ­Lösungen…
                                                                            ­ ealitätsnahe
                                                                 Von Petra Knechtli

­etwas?                                                          6, 10, 15, 19
                                                                 UMFR AGE
                                                                 8
    Liebe
    ­­­
               Leserin,                                          SYSTEMRELEVANZ
        lieber Leser                                             Es ist nie genug
                                                                 Michael Schmieder
 Die Corona-Krise veränderte unseren beruflichen und
                                                                 9
 ­p rivaten Alltag. Als Leiterin der Sonnweid trug ich —
                                                                 ABRECHNEN
­gemeinsam mit unseren Mitarbeitenden — eine grosse
  Verantwortung. Wir waren dafür besorgt, unsere Bewoh-          Bürokratie
  nenden vor einer Ansteckung zu schützen. Auch ausser-          in der Corona-Zeit
  halb der Sonnweid hatten wir hohe Sicherheitsvorkehrun-        Von Gerd Kehrein
  gen zu treffen. Wir trafen nur noch wenige Menschen und        12
  hielten uns an die Regeln des Social Distancing.               UNSCHARFER BEGRIFF
      Ich gebe zu: Ich war ein bisschen stolz, als uns von den   Eine Wort­hülse,
  Balkonen applaudiert wurde. Ich fühlte Wertschätzung,
  als unser Berufsstand und unsere Institution als hochgra-      die wir füllen müssen
                                                                 Andrea Mühlegg -Weibel
  dig systemrelevant eingestuft wurden. Ich war gerührt, als
  uns Firmen Geschenke überreichten, oder als uns Men-           14
  schen ihre Hilfe im Ehrenamt anboten. Mich berührte            NATIONALR AT
  das Engagement von jungen Menschen, die für ihre alten         «Die Politik ­redet sich
  Nachbarn einkauften.                                           aus der Ver­antwortung»
      Leider hielten diese positiven Gefühle nicht allzu lan-    Martin Mühlegg
  ge an. Bald offenbarte der Ausnahmezustand Gräben,
                                                                 17
  die sich durch unsere Gesellschaft ziehen. Die Solidarität     STELLUNGNAHME
  ­bröckelte, und wenn die Bewohnenden eines Heims an
                                                                 18
   Corona erkrankten, wurden Pflegende an den Pranger
                                                                 FILMTIPP
   gestellt. Am meisten Sorgen bereiteten mir die Weisungen,
   die uns von der Zürcher Gesundheitsdirektion auferlegt        20
                                                                 EPILOG
   wurden. Mit dem Verbot von Spitaleinweisungen oder mit        CAMPUS AK TUELL
   der Besucherbox-Vorschrift (mit Trennscheibe) zeigten
   Verwaltung und Politik wenig Fingerspitzengefühl — oder
   eben: Sie brachten uns wenig Wertschätzung entgegen.
      Im neuen Heft versuchen wir zu ergründen, wie Wert-
   schätzung «funktioniert» und warum sich viele ­P flegende
   nicht wertgeschätzt fühlen. Unsere Autorinnen und
   Auto­ren machten sich darüber Gedanken, wie die Lang­
zeitpflege nach Corona aussehen könnte.
      Ich wünsche uns allen, dass der Ausnahmezustand
   nicht mehr lange anhält. Dass wir bald wieder mehr Nor-
                                                                 IMPRESSUM
   malität erleben dürfen — vielleicht mit dem einen oder an-
   deren Fortschritt, der uns die Auseinandersetzung mit der
                                                                 HERAUSGEBER Sonnweid AG
                                                                 AUFLAGE 10 20 0 Exemplare

   Corona-Krise bringen wird.
                                                                 Erscheint zweimal jährlich
                                                                 EINZELVERK AUF 2 .– CHF

      Ich wünsche Ihnen eine angenehme Lektüre bei bester
                                                                 KONTAK T Sonnweid, Redaktion Das Heft
                                                                 Bachtelstrasse 68, 8620 Wetzikon

   Gesundheit!
                                                                 www. sonnweid.ch, dasheft@sonnweid.ch
                                                                 ADRESSÄNDERUNGEN dasheft@sonnweid.ch
                                                                 REDAK TION Michael Schmieder (ms), Martin Mühlegg (mm),
                                                                 Petra Knechtli (pk), Gerd Kehrein (gk), Andrea Mühlegg-Weibel (am)
                                                                 GESTALTUNG Bonbon (bonbon.li)
    Petra Knechtli                                               DRUCK Druck-Team AG (druckteam.ch)
                                                                 FOTOGRAFIE Véronique Hoegger (ver.ch)
    Leiterin Sonnweid das Heim                                   ILLUSTRATION Julia Marti (juliamarti.com)
Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
4

DEFINITION

Zufriedenheit (im Beruf )
ist kompliziert
Wer Anerkennung bekommt, bleibt seiner Stelle und sei-       dehnbar), gefolgt von der Führungs- und Unternehmens-
nem Beruf länger treu. Doch wie funktioniert Wertschät-      kultur. Auf den nächsten Plätzen dieser Rangliste fol-
zung am Arbeitsplatz? Wie können wir die Treue von           gen Jobsicherheit/Karriereperspektiven und Gehalt/
Mitarbeitenden positiv beeinflussen?                         Benefits. Bei der Stellenwahl hingegen sind Bezahlung,
Von Martin Mühlegg                                           ­flexible Arbeitszeiten und ein guter Standort die wich-
                                                              tigsten Kriterien.
Für das Wort «Wert» stehen unter anderem die Syno-
                                                                    Je kleiner die Firma,
nyme Güte, Kostbarkeit und Qualität. Ähnlich nobel
                                                                    desto mehr Zufriedenheit
verhält es sich mit dem Wort «Schatz»: Reichtümer,
Vermögen und Werte. Wenn wir also Menschen, Dinge,           Der Personalvermittlungs-Konzern Robert Half liess
Eigenschaften oder Situationen wertschätzen, geben           2017 im Rahmen einer Studie 23 000 Angestellte be-
wir ihnen einen hohen Stellenwert. Wir heben sie auf ein     fragen. Berücksichtigt wurden allerdings nur die Bran-
Podest und zeichnen sie aus. Wir verleihen ihnen Wohl-       chen Finanzen, Verwaltung, IT und Marketing/Kreativ-
wollen, Höflichkeit und Dankbarkeit.                         bereich. Das Resultat sollte vor allem dem Auftraggeber
    Menschen brauchen Beziehungen. Intakte und ver-          zu denken geben (er hat 16 400 Mitarbeitende): Je klei-
trauensvolle Beziehungen setzen gegenseitige Wert-           ner die Firma, desto glücklicher die Mitarbeitenden. Als
schätzung voraus. Wer sich selbst, sein Leben, seine         wichtigste Zufriedenheitsfaktoren stellten sich Stolz (hat
Umgebung und seine Mitmenschen wertschätzt, ist              mit der selbst empfundenen Sinnhaftigkeit der Aufgabe
glücklicher, leistungsfähiger und gesünder als Menschen,     und dem Image der Firma zu tun), Fairness/Respekt und
bei denen dies nicht der Fall ist. Dies belegen Studien.     Wertschätzung heraus. Bei den Frauen rangiert Fair-
                                                             ness/Respekt an erster Stelle.
      Potenzial und Freude beeinflussen
                                                                 Die vielen Fusionen und das weitere Wachstum von
Zu wenig Wertschätzung — im Privaten und in der Ar-          Grosskonzernen sind also nicht im Interesse des Einzel-
beitswelt — führt zu brüchigen oder schlechten Bezie-        nen. Das liegt unter anderem daran, dass einzelne Mitar-
hungen. Der nicht Wertgeschätzte ist gezwungen, die-         beiter und Kunden an Bedeutung verlieren und einfacher
se Ausgrenzung auszuhalten – oder er zieht sich zurück       ersetzbar sind — eben: weniger wertgeschätzt werden.
und beschränkt den Kontakt zu seinen Mitmenschen.            Grosskonzerne nützen vor allem den Aktionären, die da-
Laut dem Hirnforscher Gerald Hüther kommen diesen            mit höhere Renditen einfahren können. Die Entwicklung
Menschen Lebensfreude und Lust am gemeinsamen Ge-            mit den sich stetig ausbreitenden Pflegekonzernen, die
stalten abhanden. Über längere Zeit erfahrene Ableh-         Tausende von Pflegebetten im Angebot haben, sorgt
nung, so Hüther, stabilisiert sich im Frontalhirn zu Ver-    demnach für mehr Unzufriedenheit beim Personal.
schaltungsmustern und zu einer Haltung. Der Betroffene           Laut Studien haben Berufsleute, die in ihrer Arbeit
verliert seine angeborene Lust am Denken und an Be-          mit vielen Menschen zu tun haben, ein höheres Risiko,
ziehungen. Zunehmend verliert er das Vertrauen in die        an einer Depression zu erkranken. An der Spitze dieser
Fähigkeiten anderer Menschen. Seine negative Einstel-        Rangliste stehen Pflegepersonen, gefolgt von Erziehern,
lung macht ihn unbeliebt. Er reduziert damit das neuro-      Sozialarbeitern, Lehrern und Mitarbeitenden in Call-
plastische Potenzial seines Gehirns und hat ein höheres      centern. Die beliebtesten Berufe, so ergab eine Studie
Risiko, physisch und psychisch zu erkranken.                 der Universität Harvard in Boston, sind Florist/Gärtner
    All das leuchtet ein. Und doch erzeugt die An- oder      (87 Prozent Zufriedenheit) und Friseure/Schönheits­
Abwesenheit von Wertschätzung immer wieder Konflik-          pfleger (79). Es folgen Installateure, Marketingmitar-
te. Das Problem ist, dass Wertschätzung ein dehnba-          beitende und Wissenschaftler.
rer Begriff ist, der von jedem Individuum anders verteilt,       Eine 2019 durchgeführte Umfrage der Gewerkschaft
empfunden und beurteilt wird (siehe auch Artikel auf         Unia unter 1194 Angestellten von Schweizer Alters- und
Seite 16). Wenn wir über das «Wert schätzen» einer Tä-       Pflegeheimen ergab: Nur 20 Prozent der Pflegeperso-
tigkeit oder eines ganzen Berufsstandes reden, können        nen denken, dies sei ihr Job bis zur Rente. Jede zweite
wir uns also nicht auf die Einschätzungen Einzelner ver-     will aussteigen, unter anderem, weil der Beruf ihre phy-
lassen. Also versuchen wir uns über Studien und Umfra-       sische und psychische Gesundheit schädige (49 Prozent
gen der Wahrheit anzunähern.                                 gaben dies an). Zwei von drei Mitarbeitenden fanden die
    Das Personal-Portal Indeed hat 2016 25 000 Bewer-        Dienstplanung zu wenig ausgewogen. Unter der einge-
tungen von Angestellten ausgewertet. Als wich­tigster        forderten Flexibilität der Arbeitszeiten leide die Freizeit
Faktor für die Zufriedenheit bei der Arbeit stellte sich     und das Familienleben. 79 Prozent der Befragten fühlten
die Work-Life-Balance heraus (auch dieser Begriff ist        sich unterbezahlt, diese Aussage machte vor allem das
Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
5      Sonnweid, das Heft
       Nr. 14

Assistenzpersonal. Im Durchschnitt arbeiten Schweizer                1. Berufliche Entwicklung ermöglichen
Langzeit-Pflegepersonen in einem Pensum von 72 Pro-                  2. Konstruktiven Umgang mit Veränderungen
zent. Eine Pflegehelferin verdient mit dieser Arbeitszeit               ­fördern und vorleben
durchschnittlich rund 2900 Franken brutto. Über alle                 3. Sinnhaftigkeit fördern
Berufsgruppen der Altersheim-Mitarbeitenden hinweg                   4. Herausforderungen im Alltag gemeinsam
fühlen sich 70 Prozent während der Arbeit gestresst. Als                 meistern
weiteren Grund für ihre Unzufriedenheit gaben viele Be-              5. Soziale Beziehungen im Beruf fördern
fragte die Subjektfinanzierung (siehe auch Artikel auf               6. Verschiedene Anforderungen des Berufs-
Seite 14) und die Ökonomisierung der Pflege an.                         und Privatlebens berücksichtigen
     Eine Aussage zur Attraktivität eines Berufes macht              7. Ressourcen der Mitarbeitenden kontext­
die Berufsverweildauer. Hier hat sich in der jüngeren Ver-               übergreifend nutzen
gangenheit viel verändert. Bis in die zweite Hälfte des              8. Vermeidbare Arbeitgeberwechsel erkennen
20. Jahrhunderts hinein arbeitete ein Bäcker von der                     und verhindern
Ausbildung bis zur Pensionierung als Bäcker, ein Jurist
                                                                  Der dritte Punkt dieser Aufzählung ist gemäss dem
blieb Jurist, ein Mechaniker Mechaniker. Die Anzahl der
                                                                  ­grossen alten Glücksforscher Mihály C   ­ síkszentmihályi
Menschen, die nicht mehr im ursprünglich erlernten Be-
                                                                   der Schlüssel zur «Psychologie des dritten Jahrtau-
ruf arbeiten, steigt von Generation zu Generation. Stu-
                                                                   sends»: die Sinnhaftigkeit. Der Dichter Antoine de Saint-
dien zeigen, dass mittlerweile rund die Hälfte im ­Laufe
                                                                   Exupéry (Der kleine Prinz) würde ihm zustimmen, er hat
ihres Erwerbslebens den Beruf wechselt. Besonders
                                                                   folgende Worte geschrieben:
­häufig tritt der Wechsel des Berufes direkt oder kurz
 nach der Ausbildung im Alter von 21 bis 22 Jahren auf.                  «Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle
     Eine 2018 im Kanton Bern durchgeführte Studie er-                   nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaf-
 gab: Die Berufsverweildauer von Pflegenden beträgt                      fen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit
 durchschnittlich 22 Jahre. Das sind sieben Jahre mehr                   ein­zuteilen, sondern lehre die Männer die
 als bisher angenommen.                                                  Sehn­sucht nach dem weiten, endlosen Meer.»
       Entwicklung und Sinnhaftigkeit                             Beim Streben nach mehr Arbeitszufriedenheit kann uns
       halten die Mitarbeitenden bei Laune                        auch der Hirnforscher Gerald Hüther beistehen:
Eine Studie der ETH Zürich und der Universität Bern un-                  «Statt an jemandem vorbeizugehen, als wäre
tersuchte, welche Faktoren Mitarbeitende dazu bewe-                      er Luft, können wir die andere Person auch
gen, die Stelle zu behalten und im Beruf zu bleiben. Die                 anlächeln. Wir können andere einladen,
Psychologinnen Guri Medici und Ivana Igic leiteten aus                   ermutigen und inspirieren, sich auf eine neue
ihren Untersuchungen folgende acht Grundpfeiler der                      Erfahrung einzulassen, statt ihnen zu sagen,
Zufriedenheit am Arbeitsplatz ab:                                        was sie und wie sie etwas machen sollen.»

INSTITUTION

Es braucht ­realitäts-
nahe Lösungen
Die Coronakrise stellte und stellt die     tragen werden. Das Virus Covid-19         der Bewohnenden stand trotz der ei-
Institutionen vor grosse Herausfor-        beschäftigt uns alle nun schon seit       genen Ängste im Mittelpunkt und war
derungen. Wir haben viel daraus ge-        Monaten und wird uns auch weiter          in der Sonnweid immer sehr spürbar.
lernt — und hoffen, dass es die Politik    begleiten. Wir werden einen Umgang        Die Einhaltung der kantonalen Ver-
auch tut. Ob die anfangs erfahrene         damit finden müssen.                      fügungen zeitnah umzusetzen, stell-
Wertschätzung für die Pflege anhält,           Vieles hat sich in der letzten Zeit   te uns vor grosse Herausforderungen.
ist zu bezweifeln.                         verändert. Immer wieder waren wir
                                                                                            Besuchsverbot und
Von Petra Knechtli                         in den Institutionen gefordert, ­unsere
                                                                                            Schutzmassnahmen
                                           Schutzkonzepte anzupassen. Wir wa-
Manchmal frage ich mich, ob das            ren mehr als sonst Bindeglied zwi-        Um die Bewohnenden der Alters-
alles wirklich Realität ist. Bis vor ei-   schen Angehörigen und Bewohnen-           und Pflegeheime zu schützen, hat
nem Jahr hätte ich es persönlich nicht     den. Zeitressourcen hat die Besorgung     die Gesundheitsdirektion des Kan-
für möglich gehalten, dass wir hier in     von Schutzmaterialien abverlangt.         tons Zürich (GD) am 12. März 2020
Mitteleuropa im öffentlichen Verkehr,          Anfangs waren Ängste der Mitar-       ein Besuchsverbot angeordnet. Das
beim Einkaufen und in einer Instituti-     beitenden um ihre Gesundheit und die      Besuchsverbot galt ab dem nächs-
on wie der Sonnweid Schutzmasken           ihrer Familie spürbar. Die Gesundheit     ten Tag, vorerst bis 30. April. Mitte
Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
Bei der Arbeit erlebe ich sehr viel
Wertschätzung. Menschen mit
­D emenz bedanken sich für jede Klei-
 nigkeit. Sei es, wenn man ihnen hilft,
 die Strümpfe anzuziehen, oder ihnen
 einen Kaffee anbietet. Es zeigt sich
 aber deutlich, dass auf gesellschaf ­t -
 licher Ebene relativ wenig Interesse
 besteht, die Arbeits- und Anstellungs-
 bedingungen zu verbessern. Solche
 Initiativen sind meistens gescheitert .
 Ausserhalb der Arbeit fühle ich mich
 wenig wertgeschätzt für meinen Beruf.

Simon Paul Kleiner (34)
Studierender Bachelor Pflege
Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
7      Sonnweid, das Heft
             Nr. 14

­ pril verkündete Natalie Rickli, Vor-
A                                          Vieles — zum Beispiel in der Aktivie-     Wir haben viel aus dieser Krise ge-
steherin der GD an einer Medien-           rung — fand nicht mehr statt. Bald        lernt. Wir haben vor allem am Anfang
konferenz, das Besuchsverbot wer-          kehrte auf den Abteilungen Ruhe ein.      der Coronakrise viel Unterstützung
de voraussichtlich bis zum 8. Mai          Es kam die Zeit, in der wir Gewohn-       und Wertschätzung erfahren. Ob dies
verlängert. Am 30. April wurden wir        tes überdenken konnten. Wir mach-         nachhaltig sein wird? Daran habe ich
informiert, das ausgesprochene Be-         ten uns Gedanken, wie es weiterge-        persönlich meine Zweifel.
suchsverbot gehe in eine Besuchs-          hen soll, Gedanken zum Leitbild, zur
regelung über, wenn die nötigen            gelebten Philosophie und zu den ver-
Schutzmassnahmen eingehalten               schiedenen Angeboten.
werden könnten.                                Anfangs war von aussen eine
    Die GD teilte uns telefonisch mit,    ­g rosse Solidarität spürbar. Men-
für die Sonnweid gelte weiterhin ein       schen, die ihre eigene Arbeit nicht
Besuchsverbot, wenn wir die gefor-         mehr ausführen konnten, boten uns
derten Massnahmen (Trennscheibe,           ihre Hilfe an. Blumenläden brachten
Masken, sehr eingeschränkte Be-            Blumen, Grossverteiler Osterhasen,
suchszeiten) nicht einhalten ­könnten.     Schutzmasken wurden uns geschenkt
In einer schriftlichen Stellungnahme       und vieles mehr.
teilten wir der GD mit, dass die ge-
                                                 Solidarität hat
forderten Massnahmen für uns nicht
                                                 ein Verfallsdatum
praktikabel seien. Zuvor war es in der
Besucherbox (mit Trennscheibe) zu         Die Solidarität untereinander ging lei-
traumatischen Erlebnissen gekom-          der je länger je mehr wieder verloren.
men — für Angehörige und Bewoh-           Viele Besucher zeigen mittlerweile
nende. Menschen mit Demenz verste-        wenig Verständnis für die geltenden
hen eben nicht, was Covid-19 ist und      Schutzmassnahmen. Die Bevölkerung
wozu es eine Trennscheibe braucht.        kann nicht verstehen, dass Pflegende
Auf unser Schreiben haben wir leider      ihre Ferien in ihren Herkunftsländern
bis heute keine Antwort erhalten.         machen möchten. Dabei haben ja
    In einer der ersten Verfügungen       viele Pflegende in dieser Zeit grosse
wurden wir im März aufgefordert,          Sorge um ihre Lieben, die in ihrer Hei-
Covid-19 erkrankte Bewohnende             mat leben. Für diese Pflegenden wur-
nicht in Spitalpflege zu geben. Die       de noch im Frühling von den Balkonen
drohende Überlastung der Spitäler         geklatscht. In verschiedenen Medien
stand damals im Fokus. Wir mussten        hiess es, diese Pflegenden seien eine
die Angehörigen darüber informieren       Gefahr und würden nun das Virus in
und ihr Einverständnis einholen. Wir      unsere Institutionen bringen.
fragten uns, ob solche Regelungen             Ambulant vor stationär: In der An-
ethisch vertretbar sind: Menschen         fangszeit haben sich Angehörige, die
wird aufgrund einer Diagnose oder         sonst die Entlastungsangebote der
aufgrund des Alters der Zugang zu         Sonnweid nutzten, zu Hause organi-
medizinischer Versorgung verweigert.      siert. Viele dieser Angehörigen sind
                                          in dieser langen Zeit an ihre Grenzen
       Emotional und zeitlich
                                          gestossen, jetzt steht eine stationäre
       beansprucht
                                          Aufnahme an.
Das Besuchsverbot, die folgende Um-
                                                 Wir wollen praktikable
wandlung in die Besuchsregelung,
                                                 Lösungen
das Verbot, unsere Bewohnenden in
Spitalpflege zu geben, und die Infor-     Menschen mit Demenz wurden in die-
mation der Angehörigen: Sie können        ser Zeit nicht an Demenz erkrankten
sich vorstellen, wie sehr uns dies emo-   alten Menschen gleichgesetzt. Dies
tional und zeitlich beansprucht hat.      darf in der Zukunft nicht mehr ge-
Täglich haben wir alle Mitarbeiten-       schehen. Es bleibt die Hoffnung, dass
den über den neuesten Stand infor-        man die Bedürfnisse der an Demenz
miert. Wir schulten sie auf Hygiene­      erkrankten Menschen und ihrer An-
massnahmen und das Vorgehen bei           gehörigen endlich als ganz spezielle
einem Verdachtsfall. Dazu sorgten         Bedürfnisse in sehr spezieller Situati-
wir für die Betreuung und Pflege un-      on wahrnimmt und sich dazu die ent-
serer Bewohnenden, die viel davon         sprechenden Gedanken macht. Die
mitbekamen und vor allem anfangs          Politik soll Entscheide fällen, die rea-
stark verunsichert waren. Der Alltag      litätsnah, praktikabel und am Men-
in der Institution musste weiterlaufen!   schen orientiert sind.
Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
8

SYSTEMRELEVANZ

Es ist nie genug
Der ständige Wunsch nach mehr Wertschätzung zeigt                                           Intensivmedizin. Im Pflegeheim braucht es die Expertin
auf, dass viele Pflegende ihren eigenen Beruf nicht                                         für Beziehung in schwieriger Lebensphase, ob mit oder
wertschätzen.                                                                               ohne Corona. Für die hat wohl niemand geklatscht.
Von Michael Schmieder
                                                                                                   Negatives Bild der Demenz-Pflege
           «Wir bekommen zu wenig Wertschätzung»                                           Könnte es auch sein, dass eine dementielle Erkrankung
                                                                                            herhalten muss für das, was man auf keinen Fall be-
«Pflege erhält zu wenig Wertschätzung»                                                      kommen will, dass mit diesem Negativbild auch all das
                                                                                            verbunden wird, was man an negativen Vorstellungen
                         «Meine Wertschätzung ist enorm»                                   zu einer Pflege von demenzerkrankten Menschen in sich
                                   (Stä n d e rat E ri c h E t tl i n i m Ra h m e n
            d e r D e b at te zu r P fl e g e i n iti ative i n d e r ­C o ro n aze it )
                                                                                            trägt? Wie kann demnach eine Arbeit wertgeschätzt
                                                                                            werden, wenn der Grund für diese Arbeit ein negativ
Immer zu wenig Wertschätzung: Diesen gefühlten Man-                                         und angstbesetzter Grund ist?
gel an Wertschätzung kenne ich aus meiner Zeit als Lei-                                          So betrachtet, erhärtet sich der Verdacht, dass Ap-
ter der Sonnweid. Immer wieder kam dieses Wort an                                            plaus für die sterile, hochtechnisierte Welt der Intensiv-
Teamsitzungen, Weiterbildungen, Gesprächen. In der                                          pflegenden gespendet wurde. Damit wurde auch eine
Coronakrise hörten wir oft, dass es an Wertschätzung                                        Spaltung der Pflege sichtbar, die ich persönlich sehr
mangelt. Dafür klatschten dann alle von den Balkonen.                                       begrüsse. Erst wenn dieses Tun mit den alten dementen
    Wenn ich jemanden wertschätze, verstehe ich darun-                                      multimorbid erkrankten Menschen als eigenständiges
ter, dieser Person und ihrem Tun einen moralischen Wert                                     Gebiet der Betreuung und Pflege wahrgenommen wird,
zuzuordnen. Damit sage ich, wie wichtig ihre Arbeit ist                                     erst wenn akzeptiert wird, dass umfassend auch umfas-
oder wie gut diese Person ihre Arbeit macht. Fragt man                                      send bedeutet, erst wenn die Menschen in der geron-
Menschen, die nach mehr Wertschätzung rufen, was sie                                        tologischen Umgebung ihr eigenes Tun wertschätzen,
denn darunter verstehen, kommen berufspolitische For-                                       erst dann wird es gelingen, darüber zu sprechen, was in
derungen: mehr Lohn, mehr Anerkennung, mehr Entfal-                                         diesem Beruf getan werden kann.
tungsmöglichkeiten, bessere Arbeitsbedingungen usw.                                              Ein regelrechter Zusatzausbildungszwang wirkt auf
                                                                                            den ersten Blick wertschätzend. Auf den zweiten Blick
      Nur das Lob von ganz oben kommt an
                                                                                            sagt dies nichts anderes aus, als dass die Aufgaben di-
Gleichzeitig existiert der Wunsch nach einer nicht mo-                                      rekt beim Menschen weniger wert sind als die Aufga-
netären Wertschätzung. Dieser Aspekt scheint mir wich-                                      ben mit einem der diversen akademischen Abschlüsse.
tiger als alle berufspolitischen Anstrengungen. Immer                                       ­Mathias Binswanger bezeichnet diese höheren Tätigkei-
wieder machte ich die Erfahrung, dass ein Lob der di-                                        ten in einem Gastkommentar der Neuen Zürcher Zeitung
rekten Vorgesetzten wenig oder gar keinen Wert hatte.                                        als nicht systemrelevant, da sie nicht mehr direkt beim
Im Gegensatz dazu aber hatte ein Lob der übergeord-                                          Menschen stattfinden. Er geht so weit zu betonen, dass
neten Stellen einen sehr hohen Stellenwert.                                                  man durch ein Hochschrauben der Bildungsanforderun-
    Ein anderer Gedanke schliesst sich da an: Wenn ich                                       gen für Pflegende eine bessere Entlöhnung der Mitarbei-
nach Wertschätzung lechze, wenn ich dauernd das Ge-                                          tenden an der Basis sogar verhindert (das Geld brau-
fühl habe, ich erhalte zu wenig davon, frage ich: Warum                                      chen die Besserausgebildeten) und dass letztendlich nur
rufen Pflegende so sehr nach Wertschätzung — so, als                                         Bürokratie ausgebaut wird.
würde es ihrem Selbstverständnis als Pflegende einen
                                                                                                   Entfernen von der Basis wird belohnt
höheren Stellenwert geben?
    Den Ruf nach Anerkennung kann ich durchaus nach-                                        Die Corona-Pandemie zeigt auf verschiedene Arten
empfinden. Der dauernd empfundene Mangel an Wert-                                           deutlich, dass etwas nur den Wert hat, den jemand be-
schätzung zeigt aber deutlich, dass es vielen Pflegenden                                    reit ist, für das «Produkt» zu bezahlen (siehe Gesichts-
selbst an Wertschätzung gegenüber ihrem eigenen Beruf                                       masken). Für das Produkt «Pflege von alten und de-
mangelt. Und das lässt sich nicht einfach wegmachen,                                        menzkranken Menschen» ist auch heute niemand bereit
indem jetzt alle sagen, wie wichtig die Arbeit der Pfle-                                    hinzustehen und zu sagen, dass wir diesen an der Basis
genden ist.                                                                                 Arbeitenden Perspektiven geben müssen: Die Arbeit an
    Und noch ein Gedanke, der sich in mir breitmacht:                                       der Basis ist der Wert, und dafür sollen sie WERTSCHÄT-
Könnte es sein, dass in der ganzen Coronazeit die                                           ZUNG erhalten, nicht für möglichst viele Graduierungen
Leistungen der Pflegenden auf den Intensivstationen                                         und Titel.
beklatscht wurden und gar nicht die Arbeit der Pfle-                                            Das derzeitige System belohnt die Anstrengungen
genden in den Heimen? Pflege im Pflegeheim, das ist                                         all derer, die sich von der Basis entfernen wollen. Es be-
tägliche Arbeit direkt bei den Menschen, da braucht es                                      straft diejenigen, die an der Basis arbeiten wollen oder
keine Beatmungsgeräte, bedient von Expertinnen der                                          müssen. Wenn ich Wertschätzung nur dann bekomme,
Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
9      Sonnweid, das Heft
       Nr. 14

wenn ich nicht mehr in der direkten Pflege, direkt beim          unattraktiv? Es ist die Arbeit in der Nacht, die Bezie-
Menschen arbeite, dann führt sich das System selber ad           hungsgestaltung, diese Notwendigkeit, sich ganz einzu-
absurdum. Denn diejenigen, die im Pflegeheim ­jeden Tag          bringen, sich dem Gegenüber zu stellen — und damit
mit den Menschen sind, die werden schlichtweg verges-            auch der eigenen Person. Wenn man diese Aspekte
sen. Und wenn sie vergessen gehen, brauchen wir über             mehr wertschätzen und ihnen einen anderen Stellen-
sie nicht zu reden, und schon gar nicht mit ihnen.               wert geben würde, könnte sich tatsächlich nachhaltig
                                                                 etwas verändern.
       Geringe Verweildauer im Beruf
                                                                     Systemrelevanz würde dann mit einschliessen,
       ist nichts Neues
                                                                 dass Pflegende stolz darauf sein können, dass ihr Tun
Die Diskussionen über Rahmenbedingungen sind wich-               24 Stunden gebraucht wird, ohne Pause, auch in den
tig. Es gab auch vor 30 Jahren die Aussteigerinnen nach          Sommerferien. Dann wird diese Wichtigkeit nicht mehr
der Ausbildung, die Verweildauer in der Pflege war im-           als Problem gesehen, sondern als Alleinstellungsmerk-
mer geringer als in anderen Berufen, das ist kein neues          mal einer ganzen Branche.
Phänomen. Was macht denn den Beruf angeblich so                      Das wäre ein Anfang.

ABRECHNEN

Bürokratie
in der C
       ­ orona-Zeit
Besondere Zeiten verlangen beson-          damit. Den erforderlichen Aufwand              Erkrankungen oder Verhal-
dere Massnahmen: So darf man die           haben wir aber nie gutgeheissen,               tensweisen relevant für die
Entlastung von der RAI-/MDS-Be-            weil das primäre Ziel des Systems,             Pflegestufe.
urteilung im vergangenen Frühjahr          die «Abgeltung von krankenversiche-
                                                                                    Die weiteren Nutzungsmöglichkeiten
wohl verstehen. Wäre diese beson­          rungspflichtigen Leistungen in Pflege-
                                                                                    (Ressourcenplanung, Qualitätsma-
dere Massnahme nicht auch auf              heimen gemäss … Krankenversiche-
                                                                                    nagement, Pflegeplanung) der erhobe-
Dauer möglich? Sie wäre ein Teil der       rungsgesetz» (Administrativvertrag
oft versprochenen Wertschätzung            Pflegeheime zwischen CURAVIVA            nen Daten sind aus unserer Sicht auf
gegenüber den Pflegenden.                  und tarifsuisse ag) auch mit einem       anderen Wegen, beziehungsweise mit
Von Gerd Kehrein                           viel geringeren Aufwand erreicht wer-    anderen Massnahmen, zu verfolgen.
                                           den könnte. Bei den meisten unserer            Plötzlich geht es auch anders…
 Für eine reguläre Pflegebedarfser-        Bewohnenden sind nur vier bis sieben
 fassung in normalen Zeiten sieht das      Einzelinformationen ausreichend, um      Ende März wurde eine Initiative der
 System RAI (Resident Assessment In-       die geforderte Pflegestufe zu generie-   Heimverbände CURAVIVA und sene-
 strument) zwei unterschiedliche For-      ren. Die meisten der restlichen 250      suisse zur administrativen Entlastung
 mulare vor, welche für jeden Bewohner     bis 300 erfassten Informationen ha-      der Pflegeinstitutionen auf nationa-
 jeweils einmal im Verlauf eines Jahres    ben praktisch keinen Einfluss auf die    ler Ebene gutgeheissen. Wir konn-
 zu bearbeiten sind: die «Gesamtbe-        Pflegestufe. Zur Veranschaulichung:      ten unseren Aufwand für die MDS-
 urteilung» mit 13, und die «Halbjährli-                                            Beurteilungen (Minimum Data Set)
                                              • Bei zirka 55 Prozent ­unserer       vorübergehend, für die Dauer der
 che Zwischenbeurteilung» mit 10 aus-
                                                ­Bewohnenden führen die             «ausserordentlichen Lage», spürbar
 zufüllenden Seiten. Als Grund­lage
                                                 ­Angaben zu vier Fragen der        reduzieren: Nur noch drei Tage Be-
 dieser Datenerhebung dient jeweils
                                                  ­Mobilität zur Pflegestufe.       obachtungs-/Dokumentationszeit
 eine zweiwöchige «Beobachtungspe-
 riode», welche sich in eine siebentägi-      • Bei zirka 20 Prozent führen         und nur noch ein sechsseitiges For-
 ge Assessment- und eine gleich lange           die Angaben zu zwei F  ­ ragen      mular, welches die zur Bestimmung
­Dokumentationsphase aufteilt.                  ­bezüglich ihrer kognitiven         der Pflegestufe relevanten Angaben
     Verändert sich der Zustand einer            ­Fähigkeiten und eine Anga-        enthält. Es geht also: das gleiche Er-
 Bewohnerin in der Zeit zwischen zwei             be zu unseren spezifischen        gebnis — die Pflegestufe — mit deut-
 ordentlichen Beurteilungen so, dass              ­Massnahmen zur Pflegestufe.      lich weniger Aufwand.
 er zur Änderung der Pflegestufe führt,
                                              • Bei zirka 15 Prozent führen               Warum nicht auf Dauer?
 so muss vor Ablauf der üblichen halb-
                                                 die oben genannten sieben
 jährlichen Frist eine sogenannte «Sig-                                             Nach Ablauf der «ausserordentlichen
                                                ­Angaben zusammengenom-
 nifikante Statusveränderung» durch-                                                Lage» müssen wir nun wieder die um-
                                                 men zur Pflegestufe.
 geführt werden.                                                                    fangreichen Formulare mit der da-
     An dieses System haben wir uns           • Nur in Einzelfällen sind An-        zugehörenden zweiwöchigen Beob-
 gewöhnt, wir leben seit vielen Jahren          gaben zu Wunden, speziellen         achtungsperiode anwenden. Mehr
Sonnweid das Heft Nr. 14 Wert schätzen!
In der Sonnweid fühle ich mich wertgeschätzt,
da ich ernst genommen werde. Transparenz,
konstruktives Feedback, Weiterbildungen und
Teamanlässe tragen zu einer wertschätzenden
Atmosphäre bei. In meinem persönlichen Umfeld
erfahre ich viel Wertschätzung und Bewunde-
rung für meinen Beruf. Allerdings finde ich, dass
es eine bessere Aufklärungsarbeit bräuchte,
denn der Beruf FaBe verdient einen höheren
Stellenwert und eine bessere Entlöhnung.

Lina Niederhauser (19)
Fachfrau Betreuung FaBe
12

Beobachtung und Dokumentation,            Pflegestufe zu generieren, sollte dies   sondern dass sie aus den Informa-
mehr Formular — für das gleiche Er-       mit dem denkbar geringsten Aufwand       tionen, welche im Formular erfasst
gebnis: eine Pflegestufe. Warum?          für die Pflegenden möglich sein. Es      sind, die Pflegestufe bestimmt. Somit
      Warum kann die administrative       sollten entsprechend nur die Daten       wäre es jeder Institution freigestellt,
Entlastung, welche in der ­Corona-Zeit    erfasst werden müssen, welche die        in welchem Umfang sie das System
möglich war, nicht auf Dauer beibe­       Grund­lage für das Generieren einer      nutzen will — nur «Pflicht» (Pflegestu-
halten werden?                            Pflegestufe bilden. Alles andere, was    fe) oder auch «Kür» (Ressourcenpla-
      Warum müssen wir nun wieder         aus Sicht des Erfassungssystems wich-    nung, Qualitätsmanagement, Pflege-
ein System anwenden, das mehr             tig ist, aber anderen Zwecken dient,     planung — und neu auch Nationale
Aufwand mit sich bringt, als für die      sollte nicht zwingend angegeben und      Qualitätsindikatoren)? Jedes Heim
­Erfüllung des primären Ziels notwen-     dokumentiert werden müssen.              könnte die Daten sammeln und ins
 dig ist?                                                                          System einspeisen, welche zur Errei-
                                                Unser Vorschlag
      Warum ist die administrative Ent-                                            chung seines angestrebten Nutzens
                                                für die Zukunft
 lastung nur in Krisenzeiten möglich,                                              nötig sind. Jedes Heim könnte den
 obwohl doch weitgehende Einigkeit        Konkret könnte das folgendermassen       administrativen Aufwand, den es für
 darüber besteht, dass es P ­ flege und   aussehen: Die bestehenden Formu-         die «Kür»-Elemente leisten will, selbst
 Betreuung auch in normalen Zeiten        lare und die Beurteilungsintervalle      bestimmen.
 nicht an sinnvollen Aufgaben mangelt?    bleiben unverändert. Die Software            So könnte ein Aspekt von Wert-
      Solange es zur «Abgeltung der       wird aber dahingehend angepasst,         schätzung aussehen: die Reduktion
krankenversicherungspflichtigen           dass sie bei einer MDS-Beurteilung       administrativer Aufgaben auf ein
Leistungen in Pflegeheimen» nötig         nicht mehr zwingend alle 250 bis         Mass, welches die Einzelinstitution
 ist, über ein bestimmtes System eine     300 Einzelinformationen einfordert,      für nötig erachtet.

UNSCHARFER BEGRIFF

Eine Wort­hülse,
die wir füllen müssen
Wer Menschen mit Demenz pflegt, soll bedingungslos              Die Suche nach Definition, Klärung und einem gemein-
annehmen und wertschätzen. Möglicherweise sind die              samen Verständnis kann auf vier Ebenen betrachtet
Ansprüche von Pflegenden an ihre Arbeitgeber deswe-             werden:
gen besonders hoch.
                                                                   1. Grundannahmen zum Menschsein, ­
Von Andrea Mühlegg-Weibel
                                                                      persönliche Prägungen, anthropo­logische,
                                                                      erkenntnis­theoretische und ethische
«Bin ich der Schlafsack meiner Seele?» Auf diese vom
                                                                      Annahmen zur menschlichen Existenz
Schweizer Künstlerduo Peter Fischli / David Weiss ge-
stellte Frage gibt es vermutlich ähnlich viele Antwor-             2. Basistheorien, die unserem Tun
ten, wie wenn ich Sie frage: «Was bedeutet für Sie                    zu Grunde liegen
Wertschätzung?»
                                                                   3. Prinzipien, die das professionelle Handeln leiten
    Vor Jahren entwickelten Peter Dolder und ich als
Wohngruppenleiter eine Idee: Wir wollten über der                  4. das TUN, das Handeln
Haustür zwei grosse, kuschelige, rosa Fellhandschuhe
                                                                       Mögliche Antworten –
befestigen. Sie sollten jedem Mitarbeitenden bei Ar-
                                                                       Grundannahme: Der Mensch ist ein
beitsbeginn und -ende den Kopf streicheln. Als Dank
                                                                       individuelles und soziales Wesen
für sein Kommen und sein geleistetes Werk — im Sinne
von Wertschätzung, denn davon können wir ja nie genug           Aus der ganzheitlichen Sicht auf den Menschen gehö-
bekommen. Natürlich war diese Idee mit einem Augen-             ren zum Individuum alle Gefühlsregungen und deren
zwinkern verbunden, aber sie trifft den Kern.                   Auswirkungen: Liebe und Hass, Demut und Hochmut,
    Jahre später versuchten wir, diesen unscharfen Be-          Grosszügigkeit und Missgunst, Vertrauen und Miss-
griff klarer zu definieren, und gelangten zu folgenden          trauen, Freude und Ärger, Gestaltung und Zerstörung,
Schlüssen: Wertschätzung, wertschätzende Haltung                Miteinbeziehen und Konkurrenzdenken, Solidarität und
und wertschätzendes Handeln sind abstrakte Worthül-             Machtgelüste, Humor und Zynismus usw. Prägend sind
sen, die wir füllen wollen. Auch die mit Wertschätzung          biologisch-genetische Ausgestaltungen, das familiä-
verbundenen Begriffe wie Respekt, Wohlwollen, Achtung           re Umfeld und das soziale und kulturelle Umfeld. Dies
umschreiben eine innere allgemeine Haltung und bedür-           führt — gemeinsam mit der ganzheitlichen Sicht auf das
fen weiterer gemeinsamer Klärung.                               Menschsein — zu mehr oder weniger Beengung.
13    Sonnweid, das Heft
      Nr. 14

                                                            leitend — durch die gemeinsame Definition, was wir als
          Diskussionsidee:                                  Organisation für Grundannahmen haben, erhalten sie
                                                            eine Verbindlichkeit. Zum Beispiel: Der Mensch will sich
          ZU DEN GRUNDANNAHMEN
          ZUM MENSCHSEIN                                    und seine Mitwelt verstehen. Der Mensch braucht Res-
                                                            pekt und Wertschätzung seiner Existenz. Da ist er wie-
          Einleitung zum persönlichen                       der, der Begriff «Wertschätzung»!
          Menschenbild
                                                                  Theorien, Pflegemodelle und Prinzipien
          Erfahrungen, Menschen, Bücher,
          Filme und Bilder haben uns geprägt                Im Pflegealltag von Menschen mit Demenz basieren
          und auf den Weg gebracht, den wir                 ­etliche Theorien, Konzepte und Pflegemodelle auf ­einem
          heute verfolgen. Es gibt allgemeine
          Annahmen, die umschreiben «was der                 humanistischen Menschenbild. Unter anderem der per-
          Mensch ist». Jede und jeder denkt zwar             sonenzentrierte Ansatz nach Kitwood, Kommunikations-
          anders darüber — und doch finden                   konzepte wie Validation nach Feil, Basale Stimulation,
          wir in den Berufsgruppen oft ähnliche              reaktivierende Pflege nach Böhm, Palliative Care. All
          Vorstellungen zu dieser Frage.                     diese Konzepte haben eine ganzheitliche Sicht auf die
          Einzelaufgabe: Stelle dir eine Linie               Person und verstehen die bedingungslose Annahme und
          vor, die deinen Lebensweg darstellt,               Wertschätzung des Menschen als Grundlage ihrer Arbeit.
          zeichne auf der Linie prägende
          Menschen, Situationen und Dinge ein,                    Wertschätzendes Handeln
          die dich zu der Berufsperson gemacht
          haben, die du heute bist.                         Die Diskussionen in verschiedenen Teams zeigen:
                                                                Aus Sicht vieler Mitarbeitender herrscht ein Un-
          Aufgabe in kleinen Gruppen                        gleichgewicht zwischen der Forderung nach einer wert-
          Bitte erläutert kurz eure Bilder und              schätzenden Haltung und dementsprechendem Han-
          diskutiert dann eure Überlegungen                 deln im Pflege- und Betreuungsalltag und dem, was wir
          zu den folgenden Fragen. Schreibt                 durch unsere Vorgesetzten und Arbeitgeber erfahren.
          zu den Sätzen eine Stellungnahme                      Befragungen der Mitarbeitenden zeigen, dass die
          auf Blätter.
                                                            pünktliche Lohnzahlung, ein 13. Monatslohn, saubere
          Gruppe gelb:                                      Arbeitskleidung, ein sicherer und gut gestalteter Arbeits-
          • Wie frei und unabhängig                         platz, attraktive Bildungs- und Entwicklungsmöglichkei-
             ist der Mensch?
          • Wie rational oder emotional
                                                            ten, garantierte Freitage, fünf Wochen Ferien, varian-
             ist der Mensch?                                tenreiche Verpflegung, vergünstigte Wellnessangebote,
                                                            Personalausflüge, Teamessen, Pausen- und Ruheräume
          Gruppe blau:                                      usw. selten als Form der Wertschätzung von Seiten des
          • Wie lernt, entwickelt sich
             der Mensch? Genetik, Soziales                  Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmenden erlebt
             Umfeld, Erziehung…                             werden. Gute Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz
          • Wie erfährt der Mensch Sinn                     scheinen eher selbstverständlich zu sein.
             im Leben?                                          Die Mitarbeitenden wünschen sich, als Personen
          • Was gibt dem Menschen Sinn                      mehr wertgeschätzt zu werden. Aber was meinen wir
             im Leben?
                                                            damit? Welche Erwartungen, Wünsche und Hoffnun-
          Gruppe Grün:                                      gen haben wir? Weshalb wird Wertschätzung so unter-
          • Was bedeutet Arbeit                             schiedlich erlebt?
             für den Menschen?
          • Wie wichtig ist das soziale Umfeld                    Ein möglicher Erklärungsansatz
             für den Menschen?
                                                            In der Arbeit mit Menschen mit Demenz folgen wir dem
                                                            Prinzip: Wir bringen dem Menschen bedingungslose po-
Beengung und Freiraum wird immer subjektiv und in-          sitive Wertschätzung entgegen. Dies erfordert Verläss-
dividuell erlebt. In unserem Verständnis gehört zum         lichkeit, Empathie und Kongruenz und hat zum Ziel, die
Menschen genauso die Lust nach Nichtstun und Kon-           Person in ihrem Sein zu stärken, um daraus Zuversicht,
sum — wie die Lust am Agieren und sich kreativ zu entfal-   Lebensfreude und Energie zu beziehen. Wir tun dies mit
ten. Der Mensch kann nicht immer von einer bedingungs-      Achtsamkeit, wenden uns dem Menschen ganz zu, be-
losen Mutterbeziehung ausgehen, was nicht unweigerlich      gegnen ihm auf Augenhöhe, hören interessiert und aktiv
zu «pathologischem» Verhalten führt, da Beziehungs­         zu, sind ganz präsent im Moment, arbeiten zusammen,
fähigkeit auch lebenslang weiterentwickelt wird.            geben Hilfestellung, falls nötig. Wir verzichten auf Kon-
   Im beruflichen und institutionellen Kontext bedarf es    frontieren, Zurechtweisen, Belehren, Überfordern, Ver-
einer vertieften Begriffsklärung, eines Bildungsprozesses   kindlichen usw.
und einer Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der          Die häufig empfundene Diskrepanz bis hin zum
Beteiligten — zum Beispiel den Leitbildprozess. Dabei       Gefühl der Geringschätzung von den Mitarbeitenden
können sich die Beteiligten auf einen grösstmöglichen       in Verbindung mit dem oberen Kader könnte mit der
gemeinsamen Nenner einigen und diesen definieren.           Bedingungslosigkeit zu tun haben. Ein Arbeitsverhält-
   Die persönlichen Annahmen, ­D enkweisen, Ein-            nis ist kein therapeutisches Setting und somit nicht be-
stellungen und Ansichten sind individuell handlungs-        dingungslos. Eine wertschätzende Arbeitsbeziehung
14

gelingt, wenn beide Seiten ihre Rolle und Aufgaben best-        koche oder als tiefgläubige Christin einem verheirate-
möglich erfüllen, ihr Tun reflektieren und die Rahmen-          ten Bewohner Unterstützung gebe für den Besuch einer
bedingungen immer wieder neue kreative Möglichkeiten            Berührerin.
zulassen und fördern.                                               Mit Händeklatschen und Dankesagen ist es aber
    Offene und klärende Gespräche helfen, sich der per-         auch nicht getan. Die guten Rahmenbedingungen, der
sönlichen Annahmen und Überzeugungen bewusst zu                 intensive Austausch und verbindliche Vereinbarungen
werden und auf einen gemeinsamen Nenner zu kom-                 helfen, dass Wertschätzung nicht nur eine Worthülse
men, manchmal ist auch eine klare Trennung zwischen             bleibt. Und vielleicht installieren wir trotz allem die ku-
privaten und beruflichen Überzeugungen nötig. Zum Bei-          scheligen rosa Fellhandschuhe.
spiel, wenn ich als Veganerin einem Bewohner Fleisch

NATIONALR AT

«Die Politik r
             ­ edet sich
aus der Ver­antwortung»
Barbara Gysi setzt sich als Natio-           «Ich hörte haar­sträubende                   mehr: das Coronavirus oder
nalrätin für die Anliegen von alten          Sachen»                                      eine monatelange Isolation?
und benachteiligten Menschen ein.
                                                Sie reichten in der Sommer-        Es ist nicht einfach, gute Lösungen zu
«Das Heft» sprach mit ihr über Coro-
                                                session ein Postulat ein…          finden. Wenn man während der Iso-
na, Autonomie, Wertschätzung und
                                                                                   lation massive Verschlechterungen
Gesundheitskosten.                        Ja, es geht um die Auswirkungen in
                                                                                   im Gesamtzustand der Gesundheit
Von Martin Mühlegg                        den Heimen — unter anderem auch
                                                                                   bemerkt, sollten Besuche möglich
                                          um Demenz. Einige Heime haben es
                                                                                   sein. Man muss aber die Kontakte
       Wie haben Sie die vergange-        gut gemacht, bei anderen ist es nicht
                                                                                   auf ganz wenige Leute einschränken,
       nen Monate erlebt?                 gut gelaufen — vor allem für die Be-
                                                                                   die spezielle Sicherheitsvorkehrun-
                                          wohnenden mit Demenz und ihre An-
Barbara Gysi: Ich persönlich bin gut                                               gen treffen müssen.
                                          gehörigen. Ich hörte haarsträubende
über die Runden gekommen. Ich habe
                                          Sachen.                                      «Die Solidarität wird stark
daheim gute Bedingungen zum Arbei-
                                                                                       gefordert»
ten, und ich komme auch schnell in              Was denn?
die Natur. Ich hatte viele Videokon-                                                      Es ist grosse Vorsicht
                                          In einem Fall informierte ein Heim ei-
ferenzen und Telefonate. Ich hatte                                                        geboten. In jenen Heimen, die
                                          nen Angehörigen nicht, dass seine de-
intensive Kontakte zu Heimen und                                                          vom Virus befallen wurden,
                                          mente Mutter an Covid-19 erkrankt
Pflegenden. Von der Spitex und aus                                                        starben innert Kürze bis zur
                                          war. Er wandte sich an die Behörden
den Heimen hörte ich, dass es Pro-                                                        Hälfte der Bewohner…
                                          und wurde nicht gehört. Das Postulat
bleme gab bei der Beschaffung von
                                          verlangt einen Bericht, wie die Lang-    Ja, es ist eine Abwägung. Man weiss
Schutzmaterial. Der Heimverband
                                          zeitpflege mit der Coronakrise um-       aber, dass Ansteckungen auch über
vermittelte aber nicht das Gefühl,
                                          gegangen ist. Es verlangt, dass die      das Personal geschehen sind. So
dass er U
        ­ nterstützung bräuchte. Das
                                          Heime für eine zweite Welle besser       lange wir keine Impfung haben, ist es
hat mich irritiert.
                                          gerüstet sind — besonders jene In-       sehr schwierig. Vielleicht könnten die
       Warum?                             stitutionen, in denen Menschen mit       einzelnen Abteilungen getrennt wer-
                                          besonderen Bedürfnissen leben. Ich       den und wie WGs funktionieren, in
Die Institutionen fanden, sie könnten
                                          finde, es geht nicht, dass man die       denen immer die gleichen Menschen
das allein bewältigen, wie früher mit
                                          Freiheit der Bewohnenden so stark        verkehren und arbeiten. So könnte
dem Norovirus. Ich sprach Heime und
                                          einschränkt. Einzelne durften an-        man auch gewisse Angehörigenkon-
ihren Interessenverband immer wieder
                                          fangs nicht einmal mehr in den Gar-      takte zulassen.
auf die verschiedenen Problemstellun-
                                          ten gehen. Es muss auch klarer defi-
gen an. Ich sprach es auch in der Kom-                                                    Erfreulich war, dass ein
                                          niert sein, wie die Angehörigen und
mission für Soziale Sicherheit und Ge-                                                    Grossteil unserer Gesell-
                                          Beistände informiert werden und wie
sundheit (SGK) an. Ich merkte aber,                                                       schaft mitgeholfen hat, alte
                                          Kontakte möglich sind.
dass diese Themen beim Bundesamt                                                          und schwache Menschen zu
für Gesundheit (BAG) in dieser Phase            Es geht auch um eine Frage,               schützen und zu unterstützen.
nicht zuoberst auf der Agenda waren.            die kaum allgemeingültig zu               Wie haben Sie die Solidarität
Ich finde, es wäre wichtig gewesen, sie         beantworten ist. Was schadet              in Ihrem Umfeld erlebt?
weiter hinauf zu nehmen.                        einem alten Menschen
Ich erhalte viel Zuspruch für meine
 ­A rbeit . Von den Bewohnern bekomme
  ich Wertschätzung in Form eines
  ­D ankeschöns oder Lächelns, von den
   Angehörigen in Form von Worten, Blumen
   oder Süssem. Bundesrat Alain Berset
   drück te es in einem Inter view mit dem
   Tages-Anzeiger so aus: «Wer es mit der
   Wertschätzung der lebenswichtigen
   ­B erufe ernst meint, drückt diesen Wert
    auch in Franken aus.» Ich bin gespannt,
    was hier in den nächsten Monaten
­u mgesetzt wird.

Andrea Schellenberg (41)
Pflegehelferin SRK
16

Ich wohne eineinhalb Stunden von                                                                                 Man hat ein System eingeführt, das
meinen über 90-jährigen Eltern ent-                                                                              man aus anderen Bereichen kennt.
fernt. Zwei Studentinnen haben in                                                                                Man hat die Leistungen aufgesplittet,
dieser Zeit für sie eingekauft. Bekann-                                                                          was in meinen Augen ein Qualitäts-
te haben ihnen etwas in den Briefkas-                                                                            verlust ist. Ich finde es falsch, dass
ten gelegt. Ich habe auch in meinem                                                                              man zur Subjektfinanzierung gegan-
Wohnquartier wahrgenommen, wie                                                                                   gen ist und nicht einem Heim das De-
die Nachbarschaftshilfe angelaufen                                                                               fizit deckt. Man hat Fehler gemacht,
ist. Die Solidarität wird jetzt mit der                                                                          und es wird schwierig sein, diese rück-
Zeit stark gefordert.                                                                                            gängig zu machen. Ich habe vor Jah-
                                                                                                                 ren ein Postulat eingereicht, dass
   «Wertschätzung heisst hier:
   gut aufklären und nicht nur                                                                                   man Pflege und Betreuung wieder
   Verbote aussprechen.»                                                                                         als Einheit sieht. In anderen Ländern
                                                                                                                 gibt es gute Modelle, wo man die Pfle-
       Die Menschen fielen in ihre                                                                               ge an und für sich in den Mittelpunkt
       alten Muster zurück. Die                                                                                  stellt — und nicht das Erbringen von
       extremen gesellschaftlichen                                                                               Leistungen. Ich glaube, dass unser
       Pole wurden bald sichtbar                                                                                 System kostentreibend ist, und dass
       und sogar verstärkt.               B a rb a ra Gys i (5 6) i s t N ati o n a l räti n ,
                                                                                                                 wir Wege zurück finden müssen. Diese
                                          Vize p rä s i d e nti n d e r S P S c hwe iz u n d
Es war für alle eine schwierige Zeit.     M it g l i e d d e r Ko m m i s s i o n f ü r S ozi a l e              Problematik gibt es nicht nur im Ge-
                                          S i c h e rh e it u n d G e s u n d h e it . S i e e n g a g i e r t
Home Schooling und Home Office            s i c h f ü r d i e P fl e g e i n iti ative u n d l e bt i n d e r
                                                                                                                 sundheitswesen. Es gibt den Trend,
sind anspruchsvoll — vor allem, wenn      O s t s c hwe ize r Sta dt Wi l . Al s Sta dträti n                    dass man Angestellte mehr führen
                                          l e itete s i e d o r t vo n 2 0 0 5 b i s 2 012 d a s
man eine kleine Wohnung hat. Die          Re s s o r t S ozi a l e s, J u g e n d u n d Alte r.
                                                                                                                 und überwachen will. Diese Kultur
Menschen, die in systemrelevanten                                                                                nimmt die Autonomie und die Moti-
Berufen arbeiten, waren unter Druck.                                                                             vation, sie ist nicht gut.
                                          Studien zeigen auf, dass gute Be-
Viele Leute haben auch Existenzängs-                                                                                «Man vergisst, was die
                                          treuung und Pflege Eintritte ins Spital
te. Es hat sich gezeigt, dass es nicht                                                                              alten Menschen alles
                                          verhindern. Mit einem besseren Be-
monatelang so funktionieren kann. Es                                                                                geleistet haben und auch
                                          treuungs- und Pflegeschlüssel kann
war Angst da, und jetzt werden wir                                                                                  heute noch leisten.»
                                          man also Kosten sparen. Die hohen
zugemüllt von kruden Theorien. Wert-
                                          Gesundheitskosten entstehen durch                                             Der Zeitgeist ist auf jung,
schätzung heisst hier: gut aufklären
                                          unnötige Behandlungen und Operati-                                            stark und schön getrimmt.
und nicht nur Verbote aussprechen.
                                          onen, durch Untersuchungen, mit de-                                           Wie kann die Politik dafür
       Wertschätzung gab es auch          nen man die vielen Geräte auslasten                                           sorgen, dass alte und
       für die Pflegenden. Wird           will. Was nützt beste medizinische,                                           gebrechliche Menschen
       davon etwas bleiben?               technische und pharmazeutische Be-                                            wieder mehr wertgeschätzt
                                          treuung, wenn der psychische Prozess                                          werden?
Im Juli haben wir erlebt, wie der Stän-
                                          falsch läuft?
derat den indirekten Gegenvorschlag                                                                              Wir werden an unserem Parteitag im
zur Pflegeinitiative abgeschwächt               «Der Aufwand für die Doku­                                       Oktober ein umfassendes Alterspa-
hat. Das zeigt, dass es ein steiniger           mentation hat ein Ausmass                                        pier diskutieren. Da sind auch Fragen
Weg ist, wenn es um bessere Arbeits-            erreicht, das kaum mehr zu                                       der Wertschätzung drin. Auch beim
bedingungen geht. Die Gegner der In-            rechtfertigen ist.»                                              Rentenalter und bei den Kosten für
itiative sagen, man könne dies nicht                                                                             die Renten. Es heisst immer: Die Al-
                                                      Statt Wertschätzung der
auf der Gesetzesebene regeln, es                                                                                 ten kosten zu viel, die Heime sind zu
                                                      Pflege gibt es eine Miss­
gehöre in die Sozialpartnerschaft.                                                                               teuer, die Gesundheitskosten für die
                                                      trauenskultur, die sich in
Gleichzeitig haben wir im privaten                                                                               Alten sind zu hoch. Man vergisst, was
                                                      einem fragwürdigen
Bereich des Gesundheitswesens                                                                                    die alten Menschen alles geleistet ha-
                                                      Dokumen­tations- und
kaum Gesamtarbeitsverträge. Die                                                                                  ben und auch heute noch leisten. Vie-
                                                      Kontrollsystem zeigt.
Politik redet sich da aus der Verant-
                                                                                                                 le von ihnen sind als Grosseltern stark
wortung. Es geht auch um die Bezah-       Ich würde es nicht als Misstrauens-
                                                                                                                 im Einsatz, leisten als Freiwillige viel.
lung. Nicht alle im Gesundheitswe-        kultur bezeichnen. Es hat ja auch mit
sen verdienen schlecht. Aber es gibt      Qualitätssicherung zu tun. Aber der                                           Diese mangelnde Wertschät-
eine enorme Spannweite zwischen           Aufwand für die Dokumentation hat                                             zung fällt dann auch auf die
Chefärzten, Fachangestellten und          ein Ausmass erreicht, das kaum mehr                                           Pflegenden und Institutionen
Pflegehilfen.                             zu rechtfertigen ist.                                                         zurück. Niemand will ins
                                                                                                                        Heim, alle wollen gesund und
       Alle wollen ein gutes                          Die Kontrolleure interessieren
                                                                                                                        zu Hause sterben. Das Heim
       Gesundheitssystem. Aber                        sich nicht für die Qualität der
                                                                                                                        ist die allerletzte Lösung…
       niemand will noch höhere                       Pflege. Sie wollen nur wissen,
       Krankenkassenprämien                           ob die Formulare richtig                                   Heime wird es immer brauchen. Es
       bezahlen…                                      ausgefüllt sind.                                           hat sich aber verändert, die Leute
17    Sonnweid, das Heft
      Nr. 14

gehen heute später ins Heim. Die Hei-          Die Politik der letzten Jahre      STELLUNGNAHME
me müssen sich baulich und organi-             war vom Neoliberalismus            von Michael Schmieder
satorisch anpassen. Es braucht mehr            geprägt, die Parlamente sind       (VR Sonnweid AG)
Individualität und Durchlässigkeit             in bürgerlicher Hand. In           und Petra Knechtli
                                                                                  (Leiterin Sonnweid das Heim)
von stationären, teilstationären und           diesem Umfeld haben Sie mit
ambulanten Angeboten. Viele Hei-               Ihren sozialen Anliegen einen      Wir finden es bemerkenswert, wenn
me sind in einem Veränderungspro-              schweren Stand. Frustriert         eine Politikerin die Altersarbeit auf ihre
zess. Temporäre Aufenthalte helfen             Sie das manchmal?                  Fahnen schreibt, und bedanken uns
                                                                                  bei Barbara Gysi für ihr Engagement.
und zeigen, dass die Räume ange-
                                         Die Grenzen werden vor allem dann        ­I nnerhalb unserer Redaktion gingen die
nehm und die Leute umsorgend sind.                                                 Meinungen über ihre Aussagen aber
                                         spürbar, wenn es Geld braucht. Es ist
Es braucht möglichst viel Autonomie                                                stark auseinander. Warum? Einerseits
                                         aufwendig, wenn man in der Minder-        scheint Frau Gysi die Pflegeinitiative
und Eigenständigkeit. Wenn die Men-
                                         heit ist. Man muss sich oft überlegen,    als Grundlage für die Wertschätzung
schen das wahrnehmen, gibt es weni-
                                         wo man Verbündete findet für seine        gegenüber den Pflegenden zu verste-
ger Stigmatisierung.                                                               hen. Wer gegen die Pflegeinitiative ist,
                                         Anliegen. Manchmal findet man sie
                                                                                   bringt den Pflegenden keine Wert-
      Sie setzen sich als Politikerin    in Kreisen, in denen man nicht damit
                                                                                   schätzung entgegen. Dies können wir
      für benachteiligte und alte        rechnen würde. Im Grossen und Gan-        nicht nachvollziehen. Anderseits will
      Menschen ein. Wird Ihre            zen rennen wir gegen Windmühlen an.       Frau Gysi mit der Aufbereitung der
      Arbeit genug wertgeschätzt?        Trotzdem können wir für Kranke, Pfle-     Corona-Pandemie noch mehr Bürokra-
                                         gende und Angehörige immer wieder         tie produzieren. Zu befürchten ist eine
Das war für mich nie so relevant. Ich                                              weitere Ausweitung eines ineffizienten
                                         etwas erreichen.                          Kontrollapparates. Wir werden mit
habe mich immer in Bereichen enga-
                                                                                   Frau Gysi in Kontakt bleiben und freuen
giert, in denen es keine grosse Lobby
                                                                                   uns auf den Austausch mit ihr. Darüber
gibt. Behinderte, Alte, Jugendliche…                                               werden wir demnächst auf der Plattform
                                                                                   alzheimer.ch berichten.
      Die Sinnhaftigkeit Ihrer Arbeit
      treibt Sie also mehr an als die
      Bestätigung…
Ich habe eine hohe innere Motivati-
on. Der Altersbereich ist sehr dyna-
misch und spannend. Alter hat nach
aussen etwas Eindimensionales, aber
es ist extrem vielschichtig. Es gab in
den letzten 20 bis 30 Jahren viel In-
novation. Alter ist nicht das Thema,
in dem man am wenigsten wertge-
schätzt wird. Ich bin zum Beispiel
noch nie beschimpft worden, weil
ich mich für alte Menschen einsetze.
Aber wenn ich gegen eine Asylgesetz-
revision Unterschriften sammle, wer-
de ich beschimpft.
      Wenn Sie als Stadtpräsiden-
      tin Ihren Wohnort Wil mit
      einem schönen Budget
      altersfreundlicher machen
      könnten: Was würden Sie
      unternehmen?
Ich würde die Beratungsangebote
noch etwas ausbauen. Und ich wür-
de die Gestaltung des öffentlichen
Raums bedürfnisgerechter machen.
Es soll in den Quartieren Treffpunk-
te und Einkaufsmöglichkeiten geben.
Man soll sich lebensraumnah bewe-
gen können, und der öffentliche Ver-
kehr sollte entsprechend gestaltet
sein. Wil hat zwar viel gemacht, aber
beim Baulichen sind wir nicht dort,
wo wir sein müssten.
18

FILMTIPP

Grosses Schauspiel
und (zu) viel B
              ­ iografie…
Javier Bardem spielt in «The Roads Not Taken» einen
Schriftsteller, der an einer Demenz erkrankt ist. Er tut
es so grossartig, dass wir dem Film gewisse Schwächen
verzeihen.
Von Martin Mühlegg

Der Film beginnt so wie so viele Filme, in denen eine
Hauptfigur eine Demenz hat: mit einer Fehlleistung, die
das Umfeld in Unruhe versetzt. Bei «The Roads Not Ta-
ken» reagiert Leo (Javier Bardem) weder auf das Klingeln
seiner Haushälterin und Pflegerin Xenia (Branka Katic),
noch auf die Anrufe seiner Tochter Molly (Elle Fanning).
                                                             T h e Ro a d s N ot Ta ke n — We g e d e s Le b e n s, 2 0 2 0, U K / U SA:
Als die besorgten Frauen endlich in die Wohnung stür-        S a l ly Pot te r (Re g i e), J avi e r B a rd e m , E l l e Fa n n i n g , S a l m a H aye k .
men, liegt Leo im Bett und sagt: «Alles ist offen.»
    Im Laufe des Films wird sich herausstellen, dass der     gesehen haben. Bardems Blicke, seine Bewegungen, sei-
Tag auch ohne die morgendliche Hektik alle Beteilig-         ne kargen und manchmal poetischen Sätze wirken sehr
ten vor Herausforderungen stellt. Molly will mit ihrem       realitätsnah.
schwer dementen Vater zum Zahnarzt und zum Augen-                In einem Interview sagte Bardem, er habe zur Vorbe-
arzt. Die Hektik hält an, als Xenia und Molly den knapp      reitung auf diese Rolle sehr viel zugehört. Er habe sich
60-Jährigen für den «Ausflug» bereitmachen. Zu allem         von Potter (ihr Bruder war früh an einer frontotempora-
Überfluss rattern direkt vor dem Fenster der herunter-       len Demenz erkrankt) sozusagen an die Hand nehmen
gekommenen Wohnung U-Bahn-Züge vorbei. Und vor               lassen. Er habe aussergewöhnlichen Respekt davor ge-
der Haustür lauert die ganz normale New Yorker Reiz-         habt, in dieser Hommage an ihren Bruder die Hauptrolle
überflutung: Autos, Sirenen, umhereilende Menschen,          spielen zu dürfen.
Hupen und eben die U-Bahn, die ausgerechnet hier nicht           Interessant ist auch Bardems Zusammenspiel mit
im Tunnel, sondern auf einer Brücke fährt. In kurzen Ab-     Salma Hayek: Sie ist ihm als beste Freundin seiner Ehe-
ständen führt uns die Drehbuchautorin und Regisseurin        frau Penélope Cruz sehr vertraut. Apropos Vertrautheit:
Sally Potter auf teilweise surreal anmutende Reisen in       Zwischen Vater und Tochter ist sie zu Beginn des Filmes
die Vergangenheit: Leo will nicht mit Dolores (Salma         wenig spürbar. Gegen das Ende hin kommen sich die
Hayek) zum «Zirkus» fahren. Dann begleitet er sie doch,      beiden näher. Die anfängliche Distanz scheint biogra-
schlägt aber bei einer Abzweigung den falschen Weg ein.      fisch bedingt, denn bei einer Rückblende erfahren wir,
Leo eilt zu Fuss durch die Wüste. Leo ist in Griechenland,   dass Leo seine Tochter und ihre Mutter kurz nach der
wo er eine junge Touristin verfolgt, um ihr seine Sünden     Geburt verlassen hat.
zu beichten. Leo sitzt vor einem leeren Blatt und weiss          In diesen biografischen Rückblenden und Aufklärun-
nicht, was er schreiben soll. Leo rudert einer grossen       gen liegt das Problem dieses Films. Die reizvolle Frage,
Motoryacht hinterher, auf der getanzt wird.                  welche schicksalshaften Wendungen wir unserem Leben
    Bei der Zahnärztin will Leo seinen Mund nicht auf-       geben, wenn wir uns für diesen oder jenen Weg entschei-
machen, dann trinkt er das Spülwasser und pinkelt in         den, wird kaum ergründet. Offenbar will uns Potter weis-
die Hose. Später entführt er einen Hund — offenbar, weil     machen, dass Menschen mit frontotemporaler Demenz
er seinen eigenen vermisst, der vor Jahren gestorben ist.    geistig abwesend sind, weil sie der Vergangenheit und
Beim Augenarzt kooperiert er kaum, die Resultate des         verpassten Chancen nachsinnen.
Sehtests dürften wenig aussagekräftig sein.                      Doch verzeihen wir Potter diese Griffe in die Trick-
                                                             kiste der Dramaturgie, die den Film mitunter unnötig
      Die tapfere Tochter
                                                             schwülstig machen. Potter hat grossartige Schauspieler
Molly steht ihrem Vater tapfer und empathisch bei.           zusammengetrommelt und mit Leo (und Bardem) die
Dann und wann muss sie telefonieren, um einen unge-          authentischste demente Figur der Filmgeschichte er-
duldigen Kunden bei Laune zu halten. Wir sehen immer         schaffen. Und der anstrengende und aufschlussreiche
wieder Momente, in denen Leo überfordert ist und da-         Tag im Leben von Leo und Molly vermittelt ganz bei-
mit seine Mitmenschen überfordert. Was wir aber vor          läufig, wie man sich Menschen mit Demenz gegenüber
allem sehen: einen grossartigen Javier Bardem. Im Ge-        verhalten sollte — oder eben nicht.
gensatz zu weniger begabten Kollegen spielt er nicht
den lustig-schusseligen Onkel, den wir schon oft im Kino
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