Spiritualität und Behandlung: die Perspektive von Patienten mit chronischen Schmerzen
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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich University Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2021 Spiritualität und Behandlung: die Perspektive von Patienten mit chronischen Schmerzen Rettke, Horst ; Naef, Rahel ; Rufer, Michael ; Peng-Keller, Simon Abstract: Background: Chronic pain affects all aspects of human life, which raises spiritual questions that should be included within the framework of multimodal care. Objectives: We investigated the perspective of patients with chronic pain around spiritual concerns and their potential integration into care. Materials and methods: We conducted five focus group interviews and two small group interviews. In total, 42 patients with chronic pain in outpatient or inpatient pain care at the time of the study participated. The interviews were transcribed and thematically analyzed. Results: Three themes emerged: (1) Chronic pain permeates the entity of a person’s existence. (2) Spiritual resources are potentially supportive in living with chronic pain. (3) Patients appreciate the opportunity to engage with health care professionals in a dialog that encompasses spiritual concerns. For participants, these concerns have considerable relevance. In many cases participants associated them with religious convictions, but not exclusively. They often related feeling that their pain experience was dismissed. Conclusion: Finding strategies for effectively dealing with chronic pain represents a turning point in life. Open discussion with health care professionals that allow for spiritual issues facilitates this process. DOI: https://doi.org/10.1007/s00482-020-00524-3 Other titles: Spirituality and health care. The perspective of patients with chronic pain Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-199982 Journal Article The following work is licensed under a Creative Commons: Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) License. Originally published at: Rettke, Horst; Naef, Rahel; Rufer, Michael; Peng-Keller, Simon (2021). Spiritualität und Behandlung: die Perspektive von Patienten mit chronischen Schmerzen. Der Schmerz, 35(5):333-342. DOI: https://doi.org/10.1007/s00482-020-00524-3
Der Schmerz Originalien Schmerz Horst Rettke1 · Rahel Naef1 · Michael Rufer2 · Simon Peng-Keller3 https://doi.org/10.1007/s00482-020-00524-3 1 Zentrum für Klinische Pflegewissenschaft, UniversitätsSpital Zürich, Zürich, Schweiz Eingegangen: 6. November 2020 2 Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Zürich, Überarbeitet: 7. Dezember 2020 Schweiz Angenommen: 8. Dezember 2020 3 Professur für Spiritual Care, Theologische Fakultät, Universität Zürich, Zürich, Schweiz © Der/die Autor(en) 2021 Spiritualität und Behandlung. Die Perspektive von Patienten mit chronischen Schmerzen Hintergrund und Fragestellung das Krankheitserleben im Kontext der ausschlaggebende Rolle [9] und stehen in individuellen Umstände berücksichtigt Zusammenhang mit Schmerztoleranz, Chronischer Schmerz zeigt sich aus der [11]. Dieses Modell ergänzte die WHO Stimmung und Lebenszufriedenheit Patientenperspektive als schwer zu be- bereits 1984 um die spirituelle Dimen- [31]. wältigende Erfahrung, die alle mensch- sion, die sie gleichbedeutend neben die Die Bedeutung von Spiritualität für lichen Dimensionen umfasst. Dem ver- körperliche, psychische und soziale Di- diese Patientengruppe wurde bereits sucht eine multimodale Schmerztherapie mension stellt und mit ihnen verknüpft mehrfach untersucht und bestätigt [7, im Rahmen des biopsychosozialen An- [35]. 28]. Jedoch ist noch wenig bekannt, satzes zu entsprechen. Die Weltgesun- Wiederkehrend wird berichtet, dass wie die Integration spiritueller Themen heitsorganisation (WHO) ergänzte die- behandelnde Fachpersonen bei Patien- in eine multimodale Behandlung von sen Behandlungsansatz bereits 1984 um ten mit chronischen Schmerzen am Vor- Patienten mit chronischen Schmerzen die spirituelle Dimension [25]. Aus Pati- handensein des Leidens in seinem sub- gestaltet werden könnte. Deshalb be- entensicht spielt diese eine gleichberech- jektiv erlebten Ausmaß zweifeln [6, 33] fragten wir im Rahmen eines größeren tigte Rolle in der Schmerzerfahrung und oder den Patienten sogar mit Desinter- Forschungsprojekts sowohl Patienten sollte deshalbim Behandlungsprozess be- esse oder Unwillen begegnen, was den als auch Fachpersonen [23]. In dieser rücksichtigt werden. Leidensdruck noch erhöht [13]. Ohne Publikation berichten wir ausschließ- Ungeachtet seiner großen Verbreitung plausible Erklärung für das Vorhanden- lich über die Interviews mit Patienten. [5] wird chronischer Schmerz im klini- sein von chronischem Schmerz scheint Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die schen Kontext häufig nicht ausreichend die Berechtigung zu fehlen, ihn zu erlei- Perspektive von Patienten mit chroni- beachtet und trotz erheblicher Fort- den [14]. Dies treibt manche Patienten schen Schmerzen in Hinblick auf die schritte in der Schmerzmedizin nicht dazu an, unaufhörlich nach einer Legi- uns leitende Frage zu untersuchen, ob zufriedenstellend behandelt [19, 34]. timation ihrer Schmerzsymptomatik [6] und in welcher Weise es von Patienten Chronischer Schmerz belastet die Be- und nach vollständiger Heilung zu su- gewünscht wird, dass spirituelle Aspekte troffenen in allen Lebensbereichen stark chen, die es im biomedizinischen Sinn im Rahmen der Behandlung zur Sprache [19] und kann zur lebensbestimmen- nicht gibt [33]. kommen. Ausgehend von der aktuellen den Komponente werden, die unablässig Auf dem unumgänglichen Weg, mit Forschungsdiskussion [24, 25] und Kon- alles Denken und Handeln beherrscht chronischem Schmerz leben zu lernen sensdefinitionen [17, 26] gehen wir von [21]. Bendelow [3] vergleicht diesen [6, 13, 29, 32], brauchen Betroffene einem Verständnis von Spiritualität aus, Zustand mit dem in der Hospizbewe- einen partnerschaftlichen Behandlungs- das religiöse und nichtreligiöse Über- gung gründenden Begriff des „total ansatz mit Fachpersonen, die sie in ihrer zeugungen, Einstellungen, Erfahrungen pain“; einem Schmerzerleben, das in Gesamtheit wahrnehmen, nicht an der und Praktiken umfasst, die a) mit einer seiner Totalität alle Aspekte mensch- Schwere ihres Leidens zweifeln und Sinnorientierung besonderer Qualität lichen Daseins umschließt, auch den zur Begleitperson werden. Ein um die verknüpft sind, b) die Verbundenheit spirituellen. Chronischer Schmerz stellt spirituelle Dimension ergänzter Behand- mit dem, was im Leben trägt, inspiriert ein komplexes Phänomen dar und ein lungsansatz schließt damit Fragen und und integriert, zum Ausdruck brin- Behandlungsansatz muss dieser Kom- Suchen nach Identität, Sinn, Bedeutung gen und c) das eigene Leben in einem plexität entsprechen [8]. Genau hier und Zweck ein [31]. Spirituelle Themen Sinnzusammenhang umfassender Art schließt das biopsychosoziale Modell an, spielen im Umgang mit chronischen verorten. das Patienten in ihrer Gesamtheit und Schmerzen bei manchen Patienten eine Der Schmerz
Originalien Ausgeschlossen wurden Patienten mit Einleitung akut bedrohlicher Erkrankung wie einer Krebserkrankung, weil damit eine spiri- Die Weltgesundheitsorganisation WHO fordert eine umfassende Grundhaltung in der Behandlung, Pflege und Betreuung. Diese Forderung beschreibt sie in einem erweiterten Modell, das nicht tuelle Thematik eher im Zusammenhang ausschließlich körperliche, sondern ebenso psychische, soziale und auch spirituelle Aspekte mit Lebensende und Sterben im Vorder- berücksichtigt. Unter „spirituell“ verstehen wir die Beziehung einer Person zu dem, was ihr Leben trägt, inspiriert grund steht. Ebenfalls ausgeschlossen und mit Sinn erfüllt, sowie die damit verbundenen Überzeugungen, Einstellungen und Praktiken. wurden Patienten mit kognitiver Beein- Diese können religiöser oder nicht-religiöser Art sein. In diesem Fokusgruppeninterview möchten wir erfahren, wie Sie persönlich über einen Einbezug trächtigung. existenzieller und spiritueller Fragen in Ihrer Behandlung, Pflege und Betreuung denken, auf welchen Wegen das geschehen könnte und inwieweit dieser Einbezug angemessen oder unangemessen wäre. Rekrutierung Frage 1 Die ärztliche Leitung jedes Studienzen- Inwieweit halten Sie existenzielle und spirituelle Anliegen und Fragen in der Behandlung von chronischen Schmerzen für bedeutsam? trums oder eine von ihr beauftragte Per- Frage 2 son (z. B. Assistentin oder Study Nurse) Wann und wie sollten Ihrer Meinung nach Patientinnen und Patienten zu diesem Thema fragte Patienten zur Teilnahme am Fo- angesprochen werden? Was müssten Fachpersonen aus Ihrer Sicht dabei unbedingt beachten? Frage 3 kusgruppeninterviewzu einem im voraus Welche Aspekte sollten in diesem Zusammenhang Ihrer Meinung nach unbedingt angesprochen festgelegten Zeitpunkt an. Sie händigte werden und welche besser nicht? Frage 4 bei Interesse die Studieninformation aus, Was könnten Sie selbst als Patientin oder Patient zu einem sinnvollen Gespräch beitragen? holte bei definitiver Zusage das schriftli- che Einverständnis ein und überreichte den Interviewleitfaden zur individuellen Abb. 1 8 Interviewleitfaden Vorbereitung (. Abb. 1) zusammen mit einem anonymisierten soziodemografi- schen Fragebogen. Datensammlung Wir führten Fokusgruppeninterviews (FGI) durch, weil sie eine Dynamik anstoßen, in der Teilnehmende aufein- ander Bezug nehmen [16] und so Inter- Abb. 2 8 Kernthemen aus der thematischen Analyse viewthemen vertieft behandeln können. Ebenfalls können so kulturelle Werte Studiendesign und angefragt. Zu den fünf teilnehmenden zur Sprache gebracht werden. Pelz et al. Untersuchungsmethoden Studienzentren gehörten eine Rehabilita- [22] betonen zudem, dass diese Methode tionseinrichtung mit psychosomatischer einen Überblick über die Variationsbrei- Im Rahmen eines qualitativ-explorati- Spezialisierung, eine Fachklinik mit te und Struktur von Meinungen und ven Studiendesigns befragten wir Pati- christlich-religiösem Hintergrund, eine Einstellungen verschafft. Die FGI mo- enten, die wegen chronischer Schmer- Facharztpraxis für Rheumatologie und derierten ein Pflegewissenschaftler und zen in ambulanter oder stationärer Be- Schmerzbehandlung, ein Schmerzambu- eine Theologin anhand des Leitfadens handlung in der Deutschschweiz waren. latorium an einem Universitätsspital und gemeinsam. Beide brachten klinische Wir fokussierten auf Patienten in Ein- eine Spezialklinik für Akutbehandlung Erfahrung und Expertise in Interview- richtungen, die auf Schmerzbehandlung und Rehabilitation. Patienten waren zur techniken ein. Direkt nach jedem FGI spezialisiert sind, wie z. B. Fachkliniken Studienteilnahme aufgrund folgender tauschten sie ihre Eindrücke zu Inhalt oder Schmerzambulatorien. Der qualita- Kriterien geeignet: Alter ≥ 18 Jahre, per- und Dynamik aus. Alle FGI wurden tive Ansatz bot sich an, um die Erfah- sistierende Schmerzen seit ≥ 6 Monaten, digital aufgezeichnet und von einer rungen im Kontext ihres Erscheinens ex- bestätigte medizinische oder Pflege- Drittperson wörtlich transkribiert und plorieren und deren Bedeutung aus Sicht diagnose „chronischer Schmerz“ und dabei anonymisiert. der Teilnehmenden heraus verstehen zu eine Schmerzintensität ≥ 5 während der können [10]. letzten Schmerzepisode, gemessen auf Datenanalyse einer 10-Punkte-Schmerzskala (0 = kein Setting und Teilnehmende Schmerz, 10 = stärkster vorstellbarer Die Interviewdaten wurden mit der Me- Schmerz; [19]). Die Deutschkenntnisse thode der thematischen Analyse aufge- Um der Bandbreite der Behandlungs- mussten genügen, um die eigene Si- schlüsselt. Mit ihr lassen sich Muster in settings gerecht zu werden, wurden tuation differenziert verbalisieren und qualitativen Daten identifizieren, analy- unterschiedliche Einrichtungen gezielt dem Interviewverlauf folgen zu können. sieren und zur Darstellung bringen [4]. Der Schmerz
Zusammenfassung · Abstract Wir entschieden uns innerhalb dieser Schmerz https://doi.org/10.1007/s00482-020-00524-3 Methode, den gesamten Datensatz in- © Der/die Autor(en) 2021 duktiv zu analysieren, um auch latent vor- handene Themen aufzuspüren [4]. Da- H. Rettke · R. Naef · M. Rufer · S. Peng-Keller zu wurden die Transkripte wiederholt Spiritualität und Behandlung. Die Perspektive von Patienten mit gelesen, die einzelnen Interviewbeiträ- chronischen Schmerzen ge thematisch codiert und die Codes wiederum zu Themen gebündelt. Diese Zusammenfassung wurden schrittweise in drei Kernthemen Hintergrund. Chronischer Schmerz betrifft Ressourcen stellen eine Möglichkeit im alle menschlichen Lebensdimensionen Umgang mit chronischen Schmerzen integriert. Dadurch konnten die Ergeb- und wirft auch spirituelle Fragen auf, dar. 3. Patienten ist es ein Anliegen, mit nisse auf abstrakter Ebene zusammen- die im Rahmen eines multimodalen Fachpersonen in einen Dialog treten zu fassend benannt und beschrieben, aber Behandlungsmodells berücksichtigt werden können, der auch für spirituelle Themen offen dennoch in ihrer Bandbreite dargestellt sollten. ist. Diese haben aus Sicht der Teilnehmenden werden (. Abb. 2). Zur Überprüfung der Ziel der Arbeit. Wir untersuchten die große Relevanz. Sie verknüpften sie vielfach, Perspektive von Patienten mit chronischen aber nicht ausschließlich mit religiösen Vollständigkeit und Schlüssigkeit wur- Schmerzen zu spirituellen Themen und Überzeugungen. Häufig wurde geschildert, in den anschließend alle Transkripte in toto deren möglicher Integration in den der Schmerzerfahrung nicht ernst genommen gelesen. Die thematische Analyse führ- Behandlungsprozess. zu werden. te der Pflegewissenschaftler durch und Material und Methoden. Es wurden fünf Diskussion. Strategien für einen effektiven diskutierte die Ergebnisse in regelmäßi- Fokusgruppen- und zwei Kleingruppeninter- Umgang mit chronischem Schmerz zu finden, views an fünf Studienzentren durchgeführt. stellt einen Wendepunkt im Leben dar. In gen Abständen mit einer weiteren Pfle- Daran nahmen 42 Patienten mit chronischen diesem Prozess unterstützt ein offener Dialog gewissenschaftlerin und einem Theolo- Schmerzen teil, die aktuell in ambulanter oder mit Fachpersonen, der auch spirituellen gen. Sie waren nicht an der Interviewfüh- stationärer Schmerzbehandlung waren. Die Themen Rechnung trägt. rung beteiligt, wohl aber mit Teilen der Interviews wurden transkribiert und einer Transkripte vertraut. Die Diskussionen thematischen Analyse unterzogen. Schlüsselwörter Ergebnisse. Drei Themen traten hervor: Multimodale Schmerztherapie · Spirituelle dienten dem kritischen Prüfen der in- 1. Chronischer Schmerz durchdringt die Ressourcen · Chronische Erkrankung · terpretativen Entscheidungen und dem gesamte menschliche Existenz. 2. Spirituelle Fokusgruppen · Thematische Analyse Untermauern der Vertrauenswürdigkeit der Resultate [30]. Auszüge aus den Inter- viewbeiträgen unterstützen als Ankerbei- Spirituality and health care. The perspective of patients with spiele wiederum die Bestätigbarkeit der chronic pain Daten [18]. Abstract Background. Chronic pain affects all aspects to engage with health care professionals Ergebnisse of human life, which raises spiritual questions in a dialog that encompasses spiritual that should be included within the framework concerns. For participants, these concerns Insgesamt beteiligten sich 42 Patienten of multimodal care. have considerable relevance. In many cases in fünf Studienzentren. In zwei Studi- Objectives. We investigated the perspective participants associated them with religious enzentren erschienen zum vereinbarten of patients with chronic pain around spiritual convictions, but not exclusively. They often Termin nur drei respektive zwei Teilneh- concerns and their potential integration into related feeling that their pain experience was care. dismissed. mende. Um auch deren Meinungen und Conclusion. Finding strategies for effectively Materials and methods. We conducted five Erfahrungen berücksichtigen zu können, focus group interviews and two small group dealing with chronic pain represents a turning wurden sie in Kleingruppen interviewt. interviews. In total, 42 patients with chronic point in life. Open discussion with health care In einem neuen Anlauf gelang auch dort pain in outpatient or inpatient pain care at the professionals that allow for spiritual issues das Rekrutieren einer vollzähligen Fo- time of the study participated. The interviews facilitates this process. were transcribed and thematically analyzed. kusgruppe. Die Charakteristika der Teil- Results. Three themes emerged: (1) Chronic Keywords nehmenden sind in . Tab. 1 zusammen- pain permeates the entity of a person’s Multimodal pain therapy · Spiritual Resources · gefasst. existence. (2) Spiritual resources are Chronical illness · Focus groups · Thematic potentially supportive in living with chronic analysis pain. (3) Patients appreciate the opportunity Kernthemen in der thematischen Darstellung Alle Interviewbeiträge lassen sich zu fol- sein, wenn sie ihr Leben mit den mende evaluieren hier bewährte genden Kernthemen bündeln (. Abb. 2): Symptomen und ihre Erfahrungen oder neue Strategien im Umgang mit 1. „Der ganze Mensch“ – chronischer im Behandlungsprozess beschreiben. chronischem Schmerz. Dies schließt Schmerz durchdringt die gesamte 2. „Suchen und Wege finden“ – spi- spirituelle Aspekte mit ein. menschliche Existenz: Hier nehmen rituelle Ressourcen im Leben mit 3. „Ein Interaktionsraum mit Fachper- Teilnehmende Bezug auf ihr Mensch- chronischen Schmerzen: Teilneh- sonen“ – Hinweise zum Einbezug Der Schmerz
Originalien Tab. 1 Soziodemografische Daten (N = 42) In ihrem Leiden, das sie in ihrer ge- n % MW SD Ra samten Existenz betrifft, fühlen sich Anzahl Teilnehmende Fokusgruppe – – 7 – 4–11 viele Teilnehmende von Fachpersonen Kleingruppe – – 2,5 – 2–3 unverstanden, nicht ernst genommen Geschlecht weiblich – 28 67 – – – und in ihrem Leiden verkannt. „Was Alter in Jahren – – – 51,20 ±13,65 22–80 für mich immer das Schlimmste gewe- Schmerzstärke in den letzten 2 Wochen – – – 6,59 ±1,66 3–10 sen ist, wenn man das Gefühl gehabt hat, Glaubensgemeinschaft Röm.-kath. 10 24 – – – was man erzählt, wird heruntergespielt“ (3, 00:27:44). Diese Art Erfahrungen Evang.-ref. 15 36 – – – kann verletzen. Positive Erfahrungen Andere christl. 7 16 – – – bewirken das Gegenteil. „Man fühlt sich Islamisch 3 7 – – – manchmal nicht ernst genommen. Aber Konfessionslos 7 16 – – – wenn man sich ernst genommen fühlt, hilft das schon viel“ (5, 00:43:11). der spirituellen Dimension in die Weil nichtsichtbar, bleibtdie Schmerz- Behandlung: Die Teilnehmenden erfahrung nur schwer mitteilbar und für „Suchen und Wege finden“ – benennen hier das Anliegen, in einen Drittpersonen ebenso schwer zugäng- spirituelle Ressourcen im Leben Dialog mit Fachpersonen treten zu lich. „Ich habe starke Schmerzen, aber nie- mit chronischen Schmerzen können, der geprägt ist von Wert- mand sieht es und das ist schwierig, auch schätzung und der, wo angezeigt, für die anderen Leute zu verstehen“ (4.1, Für Teilnehmende ist es eine wieder- spirituelle Anliegen und Bedürfnisse 00:33:57). Chronischer Schmerz vermag kehrende Herausforderung, dem chroni- unbedingt berücksichtigt. die Grundfeste der Existenz zu erschüt- schenSchmerzeinenangemessenenPlatz tern. „Die Akzeptanz, dass mir niemand im Leben zuzuweisen. „Ich muss in mei- „Der ganze Mensch“ – chronischer helfen kann, macht mir am meisten weh. nem Leben lernen, mit diesem Schmerz Schmerz durchdringt die gesamte Seelisch. Weil ich weiß, ich bin eigentlich umzugehen“ (4, 00:16:02). „Und immer menschliche Existenz auf mich (zurückgeworfen)“ (1, 00:41:15). wieder neu, sobald sich die Situation än- Die Betroffenen müssen sich langfristig dert“ (4.1, 00:18:09). Dies ist geprägt von Betroffene schildern, dass sie sich im Be- auf ein Leben mit den Symptomen ein- Zweifel und Hoffnungslosigkeit. „Manch- handlungsprozess häufig auf den chro- stellen und manche gehen davon aus, mal habe ich das Gefühl, das wird sich nischen Schmerz reduziert sehen. „Es dass die Symptome bestehen bleiben. sowieso nicht ändern. Also die Schmer- geht immer um das Ganze, und so lange „Wir finden keine Heilung. Wir werden zen werden vielleicht noch schlimmer“ man den Patienten nur von seiner Krank- mehrere Tabletten am Tag schlucken, ver- (5, 00:07:59). Die Frage ist entschei- heit her anfasst, fehlt immer irgendetwas“ schiedene Therapien und es hilft nichts“ dend, wie chronischer Schmerz erklärt, (3, 00:03:14).1 Dies widerspricht ih- (1, 01:05:12). Zur Schmerzerfahrung aber auch gelindert und wie dessen be- rem Selbstverständnis als Mensch mit gesellen sich wirtschaftliche Sorgen und herrschende Rolle im Leben reduziert chronischen Schmerzen: „Geist, Seele soziale Einschränkungen. „Ich habe we- werden kann. „Wo kommt der Schmerz und Körper gehören zusammen. [. . . ] Das gen den Schmerzen meinen Job verloren. her? Wieso bleiben die Schmerzen? Wie- kann man gar nicht trennen. Und ich Meine Situation wird nicht besser. Und so gibt es so einen starken Schmerz?“ (4, meine, wenn der Körper leidet, dann darf dann sehe ich nur schwarz“ (5, 00:12:47). 00:33:57). Im Umgang mit chronischem man den Geist nicht vergessen. Und wenn Eine andere Betroffene führt aus: „Du Schmerz entwickeln die Teilnehmenden man die Seele stärken kann mit Psycho- entfernst dich von allen Kolleginnen, der unterschiedliche Strategien. Das kann therapie und Körper mit Physiotherapie, Familie. Du sperrst dich eigentlich ein und Ablenkung sein, aber ebenso ein Fokus- sollte man auch den Geist stärken“ (5, willst deinen Schmerz einfach weghaben sieren des Geistes. „Meditieren, das hilft, 00:58:42). „Der Mensch ist ja immer ein und dadurch verlierst du eigentlich alles“ gibt Entspannung. Und das ist für einen Ganzes“ (3, 00:21:03), bringt es eine (1, 00:09:54). Schmerzpatienten wie eine Flucht, wo die Teilnehmende auf den Punkt, und ein Damit nimmt chronischer Schmerz Seele vor den Schmerzen flüchtet. Und es anderer ergänzt: „Die Schmerzen betref- eine zentrale Rolle im Leben der Teilneh- für eine kurze Zeit erträglich macht“ (2, fen ja jeden Lebensbereich“ (3, 00:25:13). menden ein. Unweigerlich stellen sich 00:17:18). Neben Meditation werden Dies schließt auch die spirituelle Di- existenzielle Fragen nach Bedeutung auch Musik, Natur oder Gebet genannt. mension nicht aus. „Jeder Mensch hat ein und Sinn des Schmerzerlebens. „Die Dabei scheint nicht die Aktivität selbst Fundament. Irgendein Fundament. Und Schmerzen sind ja chronisch da. Die be- ausschlaggebend zu sein, sondern dass das kann natürlich erschüttert sein“ (2. gleiten jetzt mein Leben. Und da kommt die Aktivität zur eigenen Person passt. 00:04:06). einfach schon die Frage: Was haben die „Es ist also entscheidend, dass jeder findet, Schmerzen, die eigentlich für mich in dem was ihm hilft“ (3, 01:04:25). 1 Der Code bezeichnet das Studienzentrum und Sinn keinen Zweck haben, aber welche Spiritualität stellt für viele Teilneh- den Zeitpunkt der Aussage im Interview. Bedeutung steht dahinter?“ (5, 01:03:26). mende eine unverzichtbare Ressource im Der Schmerz
Umgang mit chronischem Schmerz dar, die sich als nicht religiös bezeichneten. was tun“ (1, 00:05:58). Aus ihrer Sicht wie folgende Beispiele illustrieren. „Also „Ich habe einfach immer das Gefühl, die liegt die Herausforderung für Fachper- an den spirituellen Fragen komme ich gar ganze Sache geht so sehr ein bisschen auf sonen jedoch genau darin, sich in die nicht vorbei. Weil der Schmerz irgend- die religiöse Schiene, aber ich kann mich Lage des Menschen mit chronischen wann die Existenz angräbt“ (2, 00:01:44). täuschen“ (5.1, 00:18:48). Vor allem Teil- Schmerzen zu versetzen und auf dieser „Meine Seele und mein Geist brauchen nehmende aus dieser Gruppe verbanden Grundlage empathisch und ganzheit- auch eine Dimension“ (5, 00:05:00). Die Spiritualität nicht mit religiöser Praxis, lich zu handeln. Manchen Fachpersonen meisten Teilnehmenden setzen Spiritua- sondern mit alternativen Ressourcen, gelingt dies eher: „Ich habe einen guten lität mit einer religiösen Überzeugung die ebenso Kraft spenden oder Sinn Arzt. Der schaut mich an und sagt: ,Oh, gleich. Die folgende Aussage steht ex- verleihen. „Ich würde jetzt sagen, es ist oh, wir haben wieder Schmerzen‘“ (3, emplarisch für dieses Verständnis: „Für nicht unbedingt Religion oder Gott oder 00:14:11). Anderen gelingt dies weniger mich gehört (Schmerz und Spiritualität) so. Sondern es gibt einfach Kraft und vor oder gar nicht, wie eine Teilnehmerin zusammen, weil ich weiß, ich kann einen allem die Natur zeigt mir das. Ich habe ein ausführt: „Und jeder (im Behandlungs- Teil von meinen Schmerzen dem hinlegen, Erlebnis gehabt, wo ich so starke Schmer- team) behandelt einfach nur den Punkt, der mich geschaffen hat. Und das kann zen gehabt habe, dass ich gedacht habe, wo er Fachmann ist. Er sieht nicht nach auch schon ein bisschen Schmerzen lösen“ jetzt melde ich mich bei ,Exit‘. Und ich oben und nicht nach unten“ (1, 00:25:52). (2, 00:08:11). Jemand anders sagte: „Ich bin aufgestanden, habe den Sonnenauf- Im Behandlungsprozess spiegelt sich die bete zum Beispiel jeden Tag. Für mich hat gang gesehen und gedacht: Nein! Das will häufig erlebte Hilflosigkeit gegenüber das etwas mit Spiritualität zu tun. Und ich weiter haben. Und auch die ganzen der Person mit chronischen Schmer- ich bete jeden Abend, dass die Schmer- menschlichen Beziehungen, die ich habe“ zen. „Es ist ja vielmals die Hilflosigkeit. zen weggehen. Also mit der Hoffnung, (3, 00:04:23). Die Hilflosigkeit von all den Menschen dass es eben eines Tages keine Schmerzen Die Teilnehmenden thematisieren um mich herum [. . . ] Und ich denke, in mehr gibt“ (5, 00:01:11). Diese Kopplung noch einen weiterführenden Aspekt, der Behandlung ist das genau gleich“ (4.1, von Hoffnung auf Schmerzlinderung der über die eigene Sinnfindung in der 00:23:36). Nicht nur einen ganzheit- mit religiöser Überzeugung wurde auch Schmerzerfahrung hinausgeht, nämlich lichen, sondern auch einen interpro- kritisch gesehen. „Wir haben die Schmer- ihre Erfahrungen und Erkenntnisse an fessionellen Ansatz vermissen Teilneh- zen, und wir sind irgendwann vielleicht andere weiterzugeben. „Und dass wir mende. „Es muss einfach ein Team geben einmal erschöpft mit dem Glauben. Aber nicht für unser Leben selber den Sinn [. . . ] Und das Team muss einfach besser auf eine Art kannst du ja nicht sagen: Ich finden, sondern dass wir den Sinn auch lernen miteinander zu arbeiten. Das muss glaube jetzt nicht mehr, weil ich immer anderen geben können“ (3, 00:08:15). rund werden“ (3, 00:48:55). noch die Schmerzen habe“ (5, 00:10:45). Und das Teilen kann in positiver Wei- Von der Relevanz spiritueller Anlie- Manche Teilnehmende schilderten, dass se auf die Betroffenen zurückkommen. gen und Bedürfnisse in der Behand- das anhaltende Schmerzerleben ihren „Ich glaube, das hilft uns auch, wenn wir lung chronischer Schmerzen sind die Glauben auf die Probe stellen kann. gebraucht werden in unserem Alltag. Un- meisten Teilnehmenden überzeugt. „Ich „Je nachdem, wenn ich Schmerzen habe, sere Erfahrungen haben sehr viel Wert finde das ganz wichtig, dass (die spiritu- denke ich: Ja, wo ist er jetzt und so? Und und unsere Diagnose. Das ist etwas, das elle Thematik) auch wirklich mindestens wenn ich dann (zur Therapie) muss und niemand anderes hat [. . . ] Das ist ein sehr ein Drittel von der ganzen Betreuung ich habe so saumäßig Schmerzen, wie- großer Punkt. Und Du bist abgelenkt von einnehmen würde“ (4.1, 00:18:09). Sie so hilft er mir jetzt nicht?“ (2, 00:46:10). deiner Welt“ (5, 01:04:08). betonen aber wiederholt, dass Patienten Oder ihren Glauben gesamthaft infrage die Möglichkeit haben sollten, selbst stellt: „Gott hilft mir nicht. Er gibt mir „Ein Interaktionsraum mit darüber zu entscheiden, ob spirituelle keine Antwort“ (4.1, 00:33:57). Negative Fachpersonen“ – Hinweise Themen im Behandlungsprozess be- Aspekte oder Erfahrungen im Zusam- zum Einbezug der spirituellen rücksichtigt werden sollen oder nicht. menhang mit spirituellen bzw. religiösen Dimension in die Behandlung Sie sollten keinesfalls verordnet werden. Praktiken wurden nur vereinzelt zur „(Die Fachpersonen) dürfen einem keine Sprache gebracht. „Also ja, es gibt viele Die Mehrheit der Teilnehmenden sprach Sachen überstülpen, egal welche Religion. Leute, zum Beispiel, die leiden unter der sich dafür aus, der spirituellen Dimen- Ist die andere Person überhaupt spirituell Religion. Ich bin auch Muslimin, aber ich sion in der Schmerzbehandlung einen oder nicht“ (2, 00:52:07). Im Gegenteil, leide gar nicht daran“ (1, 00:14:44). „Es gebührenden Platz einzuräumen. Die die patienteneigene Spiritualität soll hier gibt doch so die übersinnlichen Sachen Teilnehmenden sehen ihre eigene Rol- ihren Platz einnehmen können: „Einfach da. Das zum Teil esoterische Zeug, wo le im Behandlungsprozess durchaus in dem, dass die Spiritualität (in der Be- doch einfach einen Menschen mehr zum kritisch. „Manchmal sind wir sehr über- handlung) anerkannt wird, die man selber Abgrund treibt“ (2, 00:26:09). fordert und werden immer die Schuld auf praktiziert, fühlt man sich wohler und die Spiritualität ausschließlich mit reli- die Ärzte schieben und wir denken, die Schmerzen, auch die chronischen, werden giösen Überzeugungen gleichzusetzen, machen nichts [. . . ] Wir müssen wirklich weniger und man verkrampft sich weni- war für jene Teilnehmenden unpassend, versuchen, dass wir selber wenigstens et- ger“ (2, 00:17:28). Diesen Standpunkt Der Schmerz
Originalien teilen auch andere. „Er (der behandelnde häuslichen Umgebung fächern sich die schienen sich aber im Laufe der Zeit Arzt) muss ja nicht unbedingt davon über- Möglichkeiten breit auf. „Das Pflegeper- und im Zuge weiterer Abklärungen zeugt sein, dass es hilft oder so. Sondern er sonal auf der Station. Das hat am meisten zu wiederholen. Dieser Sachverhalt er- muss einfach davon überzeugt sein, dass Kontakt“ (1, 00:53:01). „Also eine Physio- staunt angesichts eines differenzierten er merkt, dass es uns hilft“ (3, 01:00:18). therapeutin [. . . ] Dort kann ich nackt vor und gut zugänglichen Gesundheitssys- Genauso muss die Fachperson erkennen, ihr stehen. Was ich bei der Ärztin nicht tems und eines unter Fachpersonen ob der Patient der spirituellen Dimensi- unbedingt gern mache“ (5.1, 00:30:06, allgemein bekannten und anerkannten on in der Behandlung überhaupt Raum 00:31:23). „Wenn man weiterverwiesen Versorgungsmodells mit ganzheitlichem zugesteht: „Man sollte das nicht generell würde an einen Psychiater oder eine Psy- Anspruch, wie es das biopsychosoziale einbeziehen. Weil das doch etwas sehr chologin für die Patienten, die noch nicht Modell darstellt [11], auch wenn dieses Persönliches ist“ (1, 00:02:04). Manche (weiterverwiesen) sind“ (2, 00:10:34). die spirituelle Dimension noch nicht Teilnehmende ziehen es auch vor, Spi- Aber nicht alle Fachpersonen verfü- mitberücksichtigt [31]. Das kann als ritualität in ihrem Behandlungsprozess gen zwingend über die entsprechenden Hinweis verstanden werden, dass sich auszuklammern, weil sie andernorts Un- Kompetenzen und Möglichkeiten, was dieses Modell, wie in anderen Ländern terstützung finden. „Das habe ich gottlob Teilnehmende als normal verstehen. [6, 20, 31], auch in der Schweiz längst in der Ehe. Also ich habe jetzt nicht das „Ich fände es keine Schande, wenn ein noch nicht flächendeckend durchgesetzt Bedürfnis, dass ich zu jemand anderen Arzt mal sagt, mein Fachwissen hört da hat. Als ganzer Mensch in all seinen gehen muss“ (5.1, 00:03:53). auf “ (1, 00:43:48). Auch in dieser Frage Dimensionen gesehen, anerkannt und Authentizität in der Begegnung dient spielt Authentizität eine herausragende behandelt zu werden, ist ein zentraler als Schlüssel, einen unmittelbaren Zu- Rolle. „Ich habe es erlebt, dass wenn einer Aspekt in der therapeutischen Beziehung gang zu den wesentlichen Themen zu an seine Grenzen kommt und sagt: ,Ich und nicht nur eine Beigabe [33]. öffnen, wie eine Teilnehmende ausführt: weiß nicht mehr.‘ Die Ehrlichkeit ist eine Wie auch in anderen Studien beschrie- „(Vor einem operativen Eingriff) bin ich Beziehung, die ich erlebe. [. . . ] Ich kann ben, berichteten die Teilnehmenden, dass zum Narkosearzt und also das ist un- nur das geben, wo ich habe“ (3, 00:47:27). chronischer Schmerz für sie real [20] glaublich, der ist so offen gewesen, der hat und omnipräsent ist [6, 32]. Sozialer dann sofort ein paar Fragen gestellt und Diskussion Rückzug und nachteilige wirtschaftli- gerade gewusst, wo ich stehe, wie es mir che Folgen durch Erwerbslosigkeit ver- geht und eben auch mit dem Tod meiner Die Teilnehmenden gaben einen breiten schlimmern die Lage. Betroffenen mag Tochter. Und hat dann gesagt, er habe Einblick in ihren Erfahrungsschatz als es wie eine Zurückweisung erscheinen, vor sieben Jahren seine Partnerin auch so Person mit chronischen Schmerzen. Dies wenn Fachpersonen ihr Schmerzerleben plötzlich verloren, durch einen plötzlichen betrifft erstens ihre menschliche Exis- nicht anerkennen oder herunterspielen. Tod. Und hat dann einfach von sich er- tenz mit herausforderndem Symptomer- Ebenso scheinen Fachpersonen genau zählt. Das ist unglaublich gewesen. Und leben („Der ganze Mensch“). Ein weiterer wie Patienten in einen Sog zu geraten, dann hat er gesagt: ,Schauen Sie, es ist Punkt ist die Rolle spiritueller Ressour- fortgesetzt nach zugrunde liegenden wichtig, das kann ich Ihnen jetzt einfach cen im Umgang mit den Symptomen, um pathophysiologischen Erklärungen für aus Erfahrung sagen, dass wir jetzt ein- ihnen einen angemessenen Platz im ei- die Schmerzsymptomatik zu suchen, fach wieder aus dem Loch herauskommen genen Leben zuzuweisen („Suchen und weil erst diese das Schmerzerleben zu und uns wieder zeigen im Dorf.‘ Das ist Wege finden“). Der dritte Aspekt ist der legitimieren scheinen [14, 33]. unglaublich gewesen, wie mir das geholfen Wunsch, im Behandlungsprozess einen Auch in unserer Stichprobe hat die hat. Und er hat gesagt, was ihm geholfen von Wertschätzung geprägten Raum zu plausible Erklärung für das Schmerz- hat und hat eben auch Zeit gehabt“ (3, haben, in dem auch spirituelle Themen erleben für Betroffene eine entlastende 00:58:49). zur Sprache kommen dürfen („Ein In- Funktion. Doch greift eine ausschließlich Grundsätzlich können sich die Teil- teraktionsraum mit Fachpersonen“). biomedizinische Sicht auf das Leiden an nehmenden alle Fachpersonen aus allen Zum Zeitpunkt der Interviews wa- chronischem Schmerz zu kurz [13, 34]. Fachrichtungen als Ansprechpartner für ren alle Teilnehmenden in einer auf Zudem vermag die unaufhaltsame Suche spirituelle Themen im Rahmen ihres Be- chronischen Schmerz spezialisierten nach pathophysiologischen Erklärungen handlungsprozesses vorstellen. In ihren Praxis oder Einrichtung in Behandlung. und Lösungen darin behindern, sich Beschreibungen der ambulanten Ver- Ihre Berichte, von Fachpersonen in ih- auf Strategien einzulassen, mit chro- sorgung stehen die behandelnden Ärzte rem Schmerzerleben nicht anerkannt nischem Schmerz so gut wie möglich im Vordergrund. „Ich habe einen sehr zu werden, bezogen sich primär auf leben zu können [6]. Dies stellt jedoch offenen Hausarzt, der sowieso auf spi- Erfahrungen in anderen Praxen oder einen grundlegenden Wendepunkt dar, ritueller Ebene immer wieder anspricht. Einrichtungen. Dies waren häufig All- der den heiklen Begriff „Akzeptanz“ Vor allem, wenn ein Arzt weiß, dass man gemeinpraxen, die sie, wie ein Großteil mit sich führt. Akzeptanz als Kapitu- dem Patienten mit der Schulmedizin nicht der Patientengruppe, bei Manifestation lation, als Aufgabe aller Hoffnung auf mehr helfen kann“ (1, 00:21:43). In der des chronischen Schmerzes aufsuch- Besserung zu verstehen, liegt im Kon- stationären Rehabilitation oder in der ten [19]. Die geschilderten Erfahrungen text chronischer Schmerzerkrankungen Der Schmerz
nahe [6]. Eine nichtresignative Form (n = 7)„konfessionslos“ angaben. Dies er- Die Mehrzahl der Teilnehmenden der Akzeptanz ist von der Erkenntnis klärt, weshalb sich die Beiträge zu spiritu- gab die Zugehörigkeit zu einer Religi- geleitet, dass chronischer Schmerz zwar ellen Bedürfnissen und Anliegen mehr- onsgemeinschaft an, wobei offenblieb, persistieren mag, er aber das Leben heitlich auf religiöse Überzeugungen und inwieweit dies ihre Beiträge zu spi- nicht beherrschen muss [29] und es Praktiken beziehen. Wie in der Studie von rituellen Bedürfnissen und Anliegen Wege gibt, unausgeschöpfte Ressourcen Gerbershagen et al. [12] bei neurologi- prägte. Dennoch könnten dadurch in zu erschließen, zu denen auch solche schen Schmerzpatienten scheint auch in den Ergebnissen religiöse Einstellungen spiritueller Art gehören [1]. Der ent- unserer Stichprobe eine stark ausgepräg- überrepräsentiert sein. Die Offenheit scheidende Schritt könnte für Patienten te Religiosität die Akzeptanz chronischer in der Moderation ließ zu, dass Bei- und Fachpersonen sein, eine ergebnis- Schmerzen zu unterstützen. Inwieweit träge Raum einnahmen, die über das lose Suche nach pathophysiologischer bei diesen Teilnehmenden auch negative eigentliche Forschungsthema spiritueller Erklärung zu beenden oder zumindest religiöse Coping-Strategien zum Tragen Bedürfnisse und Anliegen hinausgingen. durch eine neue Suchrichtung zu ergän- kamen [2], geht aus den Interviewbeiträ- Einerseits konnte dadurch ein breiteres zen [33]. Dies bedeutet keine Abkehr gen nicht hervor. Bemerkenswert ist, dass Bild der Gesamterfahrung in dieser von allen biomedizinischen Möglichkei- negative oder schädigende Aspekte und Patientengruppe skizziert werden, an- ten der Schmerzlinderung. Es bedeutet Erfahrungen unter den Teilnehmenden dererseits ging dies möglicherweise auf vielmehr eine Erweiterung der therapeu- kaum zur Sprache kamen, während diese Kosten einer detaillierteren Darstellung tischen Möglichkeiten unter Einbezug im Gegensatz dazu Gegenstand explizi- spiritueller Themen. Schließlich könnten der patienteneigenen spirituellen Res- ter Diskussion unter den Fachpersonen die fokussierten Leitfragen die Teilneh- sourcen. waren [27]. Jedoch nahmen auch solche menden veranlasst haben, sich überwie- Eine vergleichbare Situation findet Beiträge Raum ein, die keinen Zusam- gend positiv bezüglich der Integration sich in der „palliative care“: Hier wer- menhang mit Religiosität herstellten. Der spiritueller Anliegen und Bedürfnisse den spirituelle Aspekte häufig in die allgemeine Bezugspunkt waren hier Res- auszudrücken, sodass kritische Einstel- Behandlung einbezogen, was aber nicht sourcen der Hoffnung und der Kraft. lungen oder Formen eines negativen bedeutet, dass biomedizinische Thera- Die Teilnehmenden sprachen auch religiösen Copings eher im Hintergrund pien vernachlässigt werden. Wichtig ist, den Aspekt an, dass ihr Erleiden und blieben. Dies ist in der Interpretation dass Patienten das Ziel dieses Über- ihr Umgang mit chronischem Schmerz der Ergebnisse zu berücksichtigen. gangs verstehen und nach Möglichkeit einen Wert für Dritte darstellen kann. mitgestalten können [15]. Auch in ei- Denn ihre Erfahrungen vermitteln einen Fazit für die Praxis ner multimodalen Therapie chronischer unmittelbaren Einblick in ein Leben mit Schmerzen sollten Fachpersonen und chronischem Schmerz aus der Perspek- Grundbausteine in der Interaktion zwi- Patienten miteinander in einen offenen tive direkt Betroffener [14], der sowohl schen Fachpersonen und Patienten mit Dialog treten können, um gegenseitige Fachpersonen als auch anderen Betrof- chronischen Schmerzen sind: Erwartungen zu klären, (auch spirituelle) fenen zugutekommen kann. Gleichwohl 4 Den ganzen Menschen auch in Anliegen und Bedürfnisse auszudrücken, kommt hier eine Verbundenheit mit an- seiner spirituellen Dimension anzu- gemeinsame Behandlungsziele zu setzen deren bzw. Transzendenz zum Ausdruck, erkennen und den bisherigen und und Strategien zur Zielerreichung zu die einen wesentlichen Bestandteil der aktuellen Umgang mit dem Schmerz- entwickeln [19]. spirituellen Dimension darstellt [2, 12]. erleben zu würdigen Die Teilnehmenden in unserer Un- 4 Im Rahmen einer multimodalen tersuchung blieben vage, wie ihre spi- Limitationen Schmerztherapie auch spirituelle rituellen Bedürfnisse und Anliegen in Aspekte zu berücksichtigen Abgrenzung zur körperlichen, psychi- Personen mit akut bedrohlicher Erkran- 4 Patienten auf dem Weg zu einer schen und sozialen Dimension konkret kung, wozu wir auch Krebserkrankungen nichtresignativen Akzeptanz des beschaffen sind. Dies entspricht aller- zählten, waren von einer Teilnahme aus- Schmerzerlebens unter Einbezug dings analog berichteten Schwierigkeiten geschlossen. Wir wähnten unter solchen auch spiritueller Ressourcen zu inderForschungsliteraturund mag damit Umständen die Thematik des Lebens- begleiten zu tun haben, dass Spiritualität individu- endes im Vordergrund, was den Blick ell unterschiedlich gedeutet und mit dem auf Spiritualität im Zusammenhang mit Korrespondenzadresse chronischen Schmerz auf unterschiedli- chronischen Schmerzen verdecken kann. che Weise in Zusammenhang gebracht Damit blieben in der Rekrutierung auch Dr. Horst Rettke, PhD, RN werden kann [9]. Unabhängig davon sag- Patienten mit einer langjährigen, stabilen Zentrum für Klinische ten sie, dass spirituelle Themen für den Krebsdiagnose unberücksichtigt, bei de- Pflegewissenschaft, UniversitätsSpital Zürich Behandlungsprozess hoch relevant sein nen die Thematik des Lebensendes mög- Rämistrasse 100 (SHM 26 B6), können. Auffallend ist, dass in unserer licherweise in den Hintergrund getreten 8091 Zürich, Schweiz Stichprobe 84 % (n = 35) einer religiösen ist. horst.rettke@uzh.ch Gemeinschaft angehörten und nur 16 % Der Schmerz
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