Expositionstherapie bei chronischen Rückenschmerzen: Nicht ohne Verhaltensexperimente
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Übersichtsarbeit / Review Article Verhaltenstherapie 2021;31:20–28 Received: May 7, 2020 Accepted: July 13, 2020 DOI: 10.1159/000510169 Published online: 18. September 2020 Expositionstherapie bei chronischen Rückenschmerzen: Nicht ohne Verhaltensexperimente Lea Schemer a Jenny Riecke b Julia Anna Glombiewski a a Klinische Psychologie und Psychotherapie des Erwachsenenalters, Universität Koblenz-Landau, Landau, Deutschland; b Klinische Psychologie und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland Schlüsselwörter Exposure Therapy in Chronic Back Pain: Not without Fear-Avoidance-Modell · Expositionstherapie Behavioral Experiments bei chronischen Schmerzen · Angstvermeidungs überzeugungen · Verhaltensexperimente Keywords Fear avoidance model · Exposure therapy for chronic Zusammenfassung pain · Fear avoidance beliefs · Behavioral experiments Expositionstherapie stellt mittlerweile eine anerkannte Be- handlungsmethode für chronische Rückenschmerzen dar – insbesondere wenn Patientinnen und Patienten zusätzlich Abstract unter erhöhten schmerzbezogenen Ängsten sowie Ver Exposure therapy is considered an effective approach for meidungsverhalten leiden. Ziel dieses Verfahrens ist, beste- the treatment of chronic back pain – particularly if indi- hende Ängste und Vermeidung im Hinblick auf spezifische viduals also suffer from elevated pain-related fear and Bewegungen abzubauen, um dadurch langfristig schmerz- avoidance. The principal goal of this treatment approach bedingte Beeinträchtigungen zu reduzieren. Der übliche is to reduce fear and avoidance behavior towards specific Ablauf dieses Therapieverfahrens wird anhand eines konkre- movements and to improve pain-related disability as a re- ten Patientenbeispiels verdeutlicht. Zudem werden die Ef- sult. The presentation of a specific patient example gives fekte und lerntheoretischen Grundlagen von Expositionen an overview about the general proceedings of this thera- und Verhaltensexperimenten dargestellt. Es wird diskutiert, py approach. General effects and basic learning principles inwiefern eine Kombination beider Interventionen die spe- of exposures and behavioral experiments are outlined. zifischen Besonderheiten schmerzbezogener Ängste opti- Thereby, we discuss how treatment effects might be fur- maler adressiert. Bezüglich dieser Frage werden erste Ergeb- ther optimized for this specific patient group, if exposure nisse aus laborexperimentellen Studien vorgestellt sowie sessions and behavioral experiments are combined. We ein Überblick über aktuelle Wirksamkeitsbelege und Wei present first results from laboratory experiments which terentwicklungen der Expositionstherapie bei chronischen support this hypothesis and give an overview about cur- Schmerzen gegeben. © 2020 S. Karger AG, Basel rent evidence and developments for exposure therapy in chronic pain. © 2020 S. Karger AG, Basel karger@karger.com © 2020 S. Karger AG, Basel Lea Schemer www.karger.com/ver Universität Koblenz-Landau Klinische Psychologie und Psychotherapie des Erwachsenenalters Ostbahnstraße 10, DE–76829 Landau (Germany) schemer @ uni-landau.de
Psychologische Schmerztherapie dell hebt insbesondere die Rolle von schmerzbezogenen Ängsten und Vermeidungsverhalten bei der Entstehung Psychologische Schmerztherapie wird übergreifend von und Aufrechterhaltung chronischer Rückenschmerzen internationalen Behandlungsleitlinien zur Behandlung un- hervor [Vlaeyen und Linton, 2000]. In dem Modell wer- spezifischer Rückenschmerzen empfohlen [Oliveira et al., den nach einer Verletzung zwei gegenläufige Prozesse 2018]. Unter dem Begriff der psychologischen Schmerzthe- angenommen: Konfrontation versus Vermeidung. Wäh- rapie werden mittlerweile eine Reihe von unterschiedlichen rend sich die meisten Menschen nach einer angemes- Behandlungsansätzen subsumiert [Kröner-Herwig, 2014]. senen Schonphase wieder allmählich mit Aktivitäten In der therapeutischen Praxis hat sich insbesondere die konfrontieren, vermeidet es eine spezifische Subgruppe, kognitive Verhaltenstherapie als das am häufigsten einge- ihren Körper im Nachgang allzu stark zu belasten. Grund setzte Behandlungsverfahren etabliert. Als Hauptthera- hierfür ist eine ausgeprägte Angst und Überzeugung, dass piefokus dieses Verfahrens gilt die Vermittlung unter- “falsche” Bewegungen ihrem Köper zusätzlichen Scha- schiedlicher Schmerzbewältigungsstrategien. Dabei geht den zufügen könnten. es jedoch nicht um eine Erreichung einer Schmerzreduk- Als lerntheoretische Grundlage werden bei der Ent- tion im eigentlichen Sinne, vielmehr steht die Verringe- wicklung schmerzbezogener Ängste klassische und ope- rung schmerzbedingter Einschränkungen im Alltag im rante Konditionierungsmechanismen angenommen. Ein Vordergrund. Eingesetzte therapeutische Strategien bein- neutraler Stimulus (z.B. eine spezifische Bewegung) wird halten üblicherweise eine Breite an Interventionen [Turk, zeitlich mit einem unkonditionierten Stimulus (US, 2003]. Operante Interventionen wie der graduierte Aktivi- Schmerz) sowie der einhergehenden unkonditionierten tätenaufbau zielen auf eine Anpassung des Aktivitätsni- Reaktion (UR, schmerzbezogene Angst) gepaart. Folglich veaus unter Berücksichtigung von externen und internen wird der ursprünglich neutrale Stimulus zu einem kondi- Verstärkern. Kognitive Interventionen beinhalten die Mo- tionierten Stimulus (CS). Er führt fortan zu derselben Re- difikation schmerzfördernder Gedanken oder das Erler- aktion (CR, schmerzbezogene Angst) und steuert zu- nen gezielter Aufmerksamkeitslenkung. Respondente In- künftiges Verhalten über operante Mechanismen. Das terventionen versuchen, durch den Einsatz von Entspan- heißt Vermeidung führt zu einer kurzfristigen Abnahme nungstechniken oder Biofeedback eine Reduktion der der Angst (negative Verstärkung) und verhindert da- Muskelanspannung zu erreichen. durch die Möglichkeit einer korrigierenden Erfahrung. Die Wirksamkeit kognitiver Verhaltenstherapie bei der Die Angst vor spezifischen Bewegungen und die damit Behandlung allgemeiner chronischer Schmerzen ohne Be- einhergehende Vermeidung bilden das Herzstück des rücksichtigung von Kopfschmerzen gilt als belegt, die Ef- Teufelskreismodells. Sie begünstigen den Abbau der fektstärken liegen jedoch im kleinen bis mittleren Bereich Muskulatur, die Entwicklung einer depressiven Sympto- [Williams et al., 2012]. Für die größte Subpopulation der matik und die Zunahme des Beeinträchtigungserlebens, chronischen Rückenschmerzen zeigten sich Therapieef- was zur Aufrechterhaltung der Schmerzsymptomatik fekte in Bezug auf eine Schmerzreduktion und Verbesse- beiträgt. rung depressiver Symptome als ebenfalls unbefriedigend Als Besonderheit werden – anders als bei Angststö- [Henschke et al., 2010]. Entsprechend besteht ein großer rungen und Phobien – schmerzbezogene Angstkogniti- Bedarf, erfolgreichere Behandlungsansätze zu entwickeln. onen (“Falsche Bewegungen können meinem Rücken Eine Möglichkeit, um psychologische Schmerztherapie schaden”) häufig nicht als irrational erkannt. Einerseits zu verbessern, bietet der Ansatz des Tailored-Treatments. sind akute Schmerzen tatsächlich ein Warnsignal vor Dessen Vertreter fordern eine individuellere Sichtweise, Schädigung, welches allerdings im Laufe einer Chronifi- um gezielter auf dysfunktionale Mechanismen bestimmter zierung verloren geht. In anderen Fällen basieren Erwar- Patientensubgruppen eingehen zu können [Vlaeyen und tungen der Patientinnen und Patienten auf realen Erfah- Morley, 2005]. Expositionstherapie in vivo baut auf theo- rungen. Beispielweise tritt der Hexenschuss während ei- retischen Grundlagen des Fear-Avoidance-Modells auf ner Bückbewegung auf. Die Bewegungsangst geht in und wurde als spezifischer Therapieansatz für Schmerzpa- diesem Fall häufig mit der Erwartungshaltung einher, tienten mit erhöhten schmerzbezogenen Ängsten entwi- dass diese spezifische Bewegung in dem Sinne schädlich ckelt. ist, als dass sie zu einer (Wieder-)Verletzung führen kann. Diese Erwartung widerspricht der Beobachtung, dass physische Aktivität generell mit einer geringeren Wahr- Fear-Avoidance-Modell scheinlichkeit einhergeht, an Rückenschmerzen zu lei- den – ausgenommen schwerer körperlicher Arbeit [Al- Die theoretische Grundlage für Expositionstherapie zahrani et al., 2019]. Zudem gelten Bewegungstherapien bei chronischen Schmerzen bildet das Fear-Avoidance- und die Aufrechterhaltung der körperlichen Aktivität bei Modell. Das etablierte biopsychosoziale Erklärungsmo- akuten und chronischen Rückenschmerzen als empfoh- Expositionstherapie bei Rückenschmerzen/ Verhaltenstherapie 2021;31:20–28 21 Exposure Therapy in Back Pain DOI: 10.1159/000510169
len [Oliveira et al., 2018]. Experimentelle Studien zeigen, techniken könnte bestehende Unsicherheiten sogar zu- dass bewegungsängstliche Schmerzpatienten dazu nei- sätzlich schüren: Patientinnen und Patienten, die zu gen, Schmerzen sowie die Schädlichkeit von Bewegungen schmerzbezogenem Katastrophisieren neigen, könnten zu überschätzen [Crombez et al., 2002]. Weiterhin sind dies als indirekte Aufforderung verstehen, ihren Körper Angstvermeidungsüberzeugungen sowohl in der Allge- zusätzlich schonen zu müssen. Zur Bewältigung schmerz- meinbevölkerung [Houben et al., 2005] als auch unter Be- bezogener Ängste ist deshalb möglicherweise ein spezifi- handlern verbreitet. Dies kann zu einer zusätzlich ungün- scheres Behandlungsvorgehen erforderlich, obwohl eine stigen Dynamik führen: In Studien konnte beispielsweise empirische Überprüfung dieser Hypothese bisher noch belegt werden, dass therapeutische Empfehlungen zur aussteht. Neuere Ansätze zur Konzeptualisierung Bettruhe [Coudeyre et al., 2006] oder maximalen Hebe- schmerzbezogener Ängste betonen hierbei die Rolle ka- leistung von Patientinnen und Patienten [Lakke et al., tastrophisierender Erwartungen. 2015] abhängig von der Ausprägung der Angstvermei- dungsüberzeugungen ihrer Behandler sind. Solche teil- weise uneindeutigen Informationen seitens der Behand- Expositionstherapie bei chronischen ler (“Sehr schwere Sachen sollten sie lieber gar nicht oder Rückenschmerzen nur sehr vorsichtig heben. Abgesehen davon sind sie aber wieder voll belastbar”) können Ängste und Unsicher- Bei der Exposition in vivo werden chronische Rücken- heiten von Patientinnen und Patienten zusätzlich verstär- schmerzpatienten mit gefürchteten bisher vermiedenen ken und diese als plausibel und berechtigt erscheinen las- Bewegungen konfrontiert. Ziele der Intervention sind der sen. Abbau von Vermeidungsverhalten und schmerzbezo- Bisher herrscht noch Unklarheit über eine eindeutige gener Ängste. Bei diesem Vorgehen wird zudem der Konzeptualisierung von schmerzbezogenen Ängsten. Sie Überprüfung von Schädlichkeitserwartungen eine ent- wurden ursprünglich als Bewegungsphobie (“Kinesio- scheidende Rolle beigemessen [Vlaeyen und Crombez, phobie”) konzeptualisiert [Miller et al., 1990]. Dieses 2020]. Konstrukt wurde jedoch vielfach in Frage gestellt und kri- Vor dem Beginn der eigentlichen Behandlung sollten tisiert [Pincus et al., 2010; Crombez et al., 2012]. Barke et zunächst eine ausführliche Anamnese sowie eine um- al. [2012] argumentieren vielmehr für eine kognitive In- fangreiche Diagnostik durchgeführt werden. Expositi- terpretation im Sinne von katastrophisierenden Schäd- onstherapie bei chronischen Schmerzen gilt dann als be- lichkeitserwartungen. sonders geeignet, wenn die Patientinnen und Patienten In einer Überarbeitung des ursprünglichen Modells durch ihre Schmerzen stark beeinträchtigt sind und wird überdies dem jeweiligen motivationalen Kontext gleichzeitig ein hohes Maß an schmerzbezogenen Äng- eine größere Bedeutung eingeräumt [Vlaeyen et al., 2016]. sten aufweisen. Zur Erfassung funktioneller Beeinträch- Betroffene sind permanent mit Zielkonflikten konfron- tigungen wird im Bereich chronischer Schmerzen der tiert. Zum einen möchten sie beispielsweise einer Verab- Pain Disability Index [Dillmann et al., 1994] vielfach ein- redung nachgehen und zum anderen eine Schmerzsteige- gesetzt. Daneben erweist sich die Quebec Back Pain Dis rung vermeiden. Dabei müssen schmerzbezogene Ängste ability Scale [Riecke et al., 2016] zur Einschätzung der nicht immer automatisch zu Vermeidungsverhalten füh- Indikation eines expositionsbasierten Ansatzes als gün- ren, sondern können unterdrückt werden, wenn andere stig, da in diesem Fragebogen schmerzbedingte Ein- Lebensziele und Werte in der jeweiligen Situation als schränkungen vergleichsweise verhaltensnah und kon- wichtiger eingeschätzt werden. Häufig werden alltägliche kret erfasst werden. Schmerzbezogene Ängste können Verpflichtungen beispielsweise auf der Arbeit auch unter ebenfalls mittels Fragebögen, wie beispielsweise der Pain großen Ängsten aufrechterhalten. Aktive Freizeitaktivi- Anxiety Symptoms Scale-20 [Kreddig at al., 2015], er täten werden jedoch eingestellt, um vermeintlich Kräfte hoben werden. Eine objektivere und verhaltensnahe Er- zu sparen und den Körper zu schonen. Ein Ziel der The- fassung von Vermeidung ermöglicht der Behavioral rapie ist daher, das Verhalten der Patientinnen und Pati- Avoidance Test – Back Pain [Holzapfel et al., 2016], enten in Bezug auf ihre Gesundheit und Lebensqualität welcher Vermeidungsverhalten beim Ausführen einer kritisch zu hinterfragen und den Hauptfokus des Be- spezifischen Bewegung, nämlich beim Heben eines Was- handlungsvorgehens daraus abzuleiten. serkastens, misst. Insgesamt liefert das Fear-Avoidance-Modell einen Expositionen bei chronischen Schmerzen sollten nicht wertvollen theoretischen Ansatz zur Definition einer spe- durchgeführt werden, wenn Hinweise auf die sogenann- zifischen Patientengruppe. Bei dieser Subgruppe an ten “Red Flags” vorliegen [Premkumar et al., 2018]. Diese Schmerzpatienten scheint die Vermittlung von Schmerz- gelten als Signale (z.B. Entzündungszeichen, Fieber, Ge- bewältigungsstrategien möglicherweise nicht zielfüh- wichtsverlust oder neurologische Ausfälle) für eine gra- rend. Die Vermittlung von beispielswiese Entspannungs- vierende Schmerzursache. Außerdem empfehlen wir – 22 Verhaltenstherapie 2021;31:20–28 Schemer/Riecke/Glombiewski DOI: 10.1159/000510169
Table 1. Darstellung eines typischen Therapieverlaufs der Expositionstherapie bei chronischen Rückenschmerzen Sitzung Inhalt Patientenbeispiel 1 Erstgespräch Frau M., eine 53-jährige verheiratete Frau ohne Kinder, berichtet, sie leide seit 20 Jahren unter Anamnese Schmerzen im unteren Lendenwirbelsäulenbereich. Die Schmerzen würden sie insbesondere Diagnostik bei ihrer Arbeit als Heilerziehungspflegerin stark beeinträchtigen. Besonders fürchte sie sich vor einem erneuten Auftreten eines Hexenschusses. Deshalb vermeide sie insbesondere ruckartige Bewegungen sowie Stöße auf ihre Wirbelsäule. Dies sei in ihrer Arbeit mit Kindern mit körperlichen sowie geistigen Behinderungen jedoch teilweise unmöglich. Sobald sie den Anflug von Schmerzen bemerke, lege sie sich deshalb nach Feierabend so viel wie möglich hin, um ihren Rücken zu schonen. Viele frühere Hobbies (Tanzen, Fahrrad fahren, Wanderungen) habe sie inzwischen aufgegeben 2 Informationsvermittlung Die Patientin erhält zu Therapiebeginn einige Informationen zu grundlegenden Mechanismen zu chronischen Schmerzen der physiologischen Schmerzverarbeitung, zu Unterschieden zwischen akuten und chronischen Schmerzen, zur Entstehung eines Schmerzgedächtnisses, sowie zu Einflüssen von Top-Down-Prozessen auf die Schmerzwahrnehmung 3 Entwicklung eines Gemeinsam mit der Patientin wird ein individualisiertes Teufelskreismodell in Anlehnung an individualisierten das Fear-Avoidance-Modell erarbeitet. Darin wird der Einfluss von katastrophisierenden Fear-Avoidance-Modells Gedanken (z.B. “Mein Rücken hält das nicht aus”; “Ich muss aufpassen, dass meinem Rücken Herausarbeitung von nichts passiert”) auf die Entwicklung schmerzbezogener Ängste und Vermeidung von Zielen Aktivitäten dargestellt. Ein besonderes Augenmerk wird weiterhin auf die Gegenüberstellung kurzfristiger (z.B. Abnahme der Angst) und langfristiger (z.B. Abnahme der körperlichen Fitness, Verlust von Lebensfreude, Verringerung des Selbstwerts: “Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen”) Konsequenzen gelegt Als übergeordnetes Therapieziel formuliert die Patientin für sich den Wunsch, wieder aktiv am Leben teilnehmen zu können 4 Hierarchisierung anhand Zur Vorbereitung der späteren Expositionsübungen wird die Schädlichkeit alltäglicher von Photos of Daily Bewegungen mithilfe der “Photograph Series of Daily Activities” in eine individualisierte Activities Angsthierarchie (0 = gar nicht schädlich; 100 = maximal schädlich für meinen Rücken) eingestuft: Fahrradfahren über unebenen Boden z.B. Pflasterstein (80); Teppich ausschütteln (70); gebückte Gartenarbeit (70); einen Korb seitlich auf der Hüfte tragen (60). Auf dieser Angsthierarchie aufbauend werden Zwischenziele zur Erreichung des übergeordneten Therapieziels abgeleitet und Expositionsübungen für den weiteren Therapieverlauf geplant 5–9 Expositionsübungen Anschließend durchläuft die Patientin eine Reihe von Expositionsübungen. Angefangen mit dem seitlichen Heben eines Wäschekorbs konfrontiert sich die Patientin unter Anleitung ihrer Psychotherapeutin sukzessive mit gefürchteten Bewegungen. Daraus ergeben sich immer wieder Übungen und Hausaufgaben für die nächste Sitzung. Als Abschlussübung wirft die Psychotherapeutin ihrer Patientin in der letzten gemeinsamen Konfrontation unerwartet Bälle von der Seite zu, welche die Patientin auffangen muss, ohne ihre Beinposition zu verändern 10 Abschluss Der Therapieverlauf wird gemeinsam mit der Patientin reflektiert. Als Kernbotschaft aus den gemeinsamen Sitzungen nimmt die Patientin mit, dass eine Vermeidung bestimmter Bewegungen nicht die Lösung, sondern eine zusätzliche Ursache für ihre Schmerzen darstellt insbesondere in ambulanten Settings – dringend die Konsequenzen von Vermeidungsverhalten besprochen. Konsultation mit dem zuständigen ärztlichen oder phy- Gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten sollte siotherapeutischen Behandlungsteam. Diese Absprache daraus das Expositionsrational abgeleitet sowie ein über- kann nicht nur die spätere Compliance der Patientinnen geordnetes Therapieziel mit Zwischenzielen definiert und Patienten verbessern, sondern auch zu einer größe- werden. ren Sicherheit bei der Durchführung der späteren Expo- In Vorbereitung auf die folgenden Expositions sitionen seitens der Psychotherapeutinnen und Psycho- übungen wird für jede Patientin bzw. jeden Patienten ei therapeuten führen. ne individualisierte Angsthierarchie mithilfe der Photo- Zu Therapiebeginn steht vor allem die Informations- graph Series of Daily Activities [Trost et al., 2009] erstellt. vermittlung zum Thema chronischer Schmerz unter be- Diese Skala umfasst 100 Bilder von Alltagsbewegungen, sonderer Berücksichtigung des Fear-Avoidance-Modells welche auf einer Skala von 0 bis 100 gemäß ihrer subjektiv im Vordergrund. Hierzu wird ein individualisiertes Teu- wahrgenommenen Schädlichkeit für den Rücken einge- felskreismodell erarbeitet, sowie kurz- und langfristige stuft werden sollen. Bei der Durchführung findet zudem Expositionstherapie bei Rückenschmerzen/ Verhaltenstherapie 2021;31:20–28 23 Exposure Therapy in Back Pain DOI: 10.1159/000510169
eine Art kognitive Vorbereitung der Exposition statt, Pa- genüber Schmerzerfahrungen für die Rückkehr in ein tientinnen und Patienten werden darin geschult, Schmerz wertvolles Leben mit chronischen Schmerzen entschei- und Schädlichkeit differenziert zu betrachten. Für viele dend. ist dies zunächst ungewohnt, da sie bisher Schmerz und Ein aktuelles Übersichtspaper zu Exposition bei chro- Schädigung als gleichbedeutend verstanden haben. nischen Schmerzen betont darüber hinaus die Überprü- Auf dieser Angsthierarchie aufbauend werden im wei- fung von katastrophisierenden Erwartungen als zentra- teren Therapieverlauf Expositionsübungen durchge- len Mechanismus [Vlaeyen und Crombez, 2020]. Bei führt. Anders als bei Angststörungen wird ein graduiertes Verhaltensexperimenten steht genau diese Überprüfung Vorgehen im Bereich chronischer Rückenschmerzen konkreter Befürchtungen (z.B. “Wenn ich Fahrrad fah- empfohlen. Für die ersten Expositionssitzungen werden re, schädige ich durch mögliche Stöße aufgrund von Stra- Bewegungen mit einer subjektiv wahrgenommenen ßenunebenheiten meinen Rücken”) im Vordergrund. Schädlichkeitshöhe zwischen 50 und 70 als ideal erachtet. Dazu werden Erwartungen in Bezug auf Bewegungen in Es hat sich als hilfreich erwiesen, potenziell ungünstige Form von “Wenn-Dann-Sätzen” ausformuliert. An- Vermeidungsstrategien, sogenanntes Sicherheitsverhal- schließend werden diese gemeinsam überprüft. Die The- ten (z.B. Schonhaltungen während der Durchführung, rapeutin fungiert zunächst als Modell, woraufhin der Pa- sehr schnelle bzw. sehr langsame Durchführung einer Be- tient bzw. die Patientin die Bewegung selbst ausführt. Da- wegung, Einnahme von Bedarfsmedikation), vor der bei findet ein Abgleich zwischen der Erwartung und der Durchführung einer Exposition mit den Patientinnen tatsächlichen Erfahrung statt. Experimentelle Studien und Patienten zu besprechen. Weiterhin können Haus- bestätigen, dass katastrophisierende Schmerzpatienten aufgaben und Übungen in verschiedenen Kontexten die Schmerz und Schädlichkeit in Bezug auf Bewegungen zu- Generalisierung der Expositionseffekte unterstützen. Ein nächst überschätzen und dass diese Überschätzung durch typischer Ablauf einer Expositionstherapie ist in Tabelle Konfrontation korrigiert werden kann [Crombez et al., 1 dargestellt. 2002; Goubert et al., 2002]. Deshalb stellt sich insbesondere im Bereich chro- nischer Schmerzen, bei denen schmerzbezogene Angst- Expositionen mit Verhaltensexperimenten kognitionen eine zentrale Rolle einnehmen, die Frage: Können Exposition und Verhaltensexperimente über- Als allgemein anerkanntes Ziel der Exposition gilt die haupt als eigenständige, unabhängige Interventionen be- Verringerung der Angst. Auch bei ängstlichen Schmerz- trachtet werden, oder handelt es sich dabei nicht eher um patienten wird das Angstniveau kontinuierlich erhoben, eine theoretische, künstliche Trennung? und die Übungen werden so lange fortgesetzt, bis es zu In der klinischen Praxis werden Exposition und Ver- einem starken Angstabfall kommt. Dieses Vorgehen ba- haltensexperiment häufig miteinander kombiniert und siert auf theoretischen Annahmen des Habituationsmo- gemeinsam durchgeführt. Eine klare Trennung ist kaum dells [Rauch und Foa, 2006]. Nach Annahmen dieses Mo- möglich, da die Überschneidungen sehr groß sind. Zum dells führen erfolgreiche Expositionen zu einer spezi- einen bedeutet ein Verhaltensexperiment in den meisten fischen Veränderung im Muster der psychophysiologischen Fällen die Konfrontation mit einer gefürchteten Situati- Angstreaktion. Als essentiell gilt es, Angst zunächst zu ak- on. Zum anderen kann bei der wiederholten Überprü- tivieren, um durch den anschließenden Angstabfall eine fung der Befürchtung auch die Angst reduziert werden Veränderung in der Furchtstruktur zu erreichen. Begrün- [den Hollander et al., 2010]. Andere Autoren argumen- det werden kann dieses Vorgehen zudem damit, dass die tieren, dass die korrigierende Erfahrung eine Angstre- Verbalisation des emotionalen Erlebens während einer duktion erst ermöglicht [Leeuw et al., 2007]. Expositionserfahrung zusätzlich hilfreich erscheint [Kir- Für die Überlappung der beiden Verfahren sprechen canski et al., 2012]. Allerdings ist umstritten, inwiefern weiterhin Erkenntnisse moderner Lerntheorien. Extink- der Abfall der Angst tatsächlich als notwendige Bedin- tion bzw. das Inhibitionsmodell bilden die lerntheore- gung für eine erfolgreiche Expositionserfahrung anzuse- tische Grundlage für Expositionstherapie. Es gilt als all- hen ist [Craske et al., 2014]. Andere Autoren betonen eher gemein anerkannt, dass Expositionserfahrungen nicht zu die Rolle einer anhaltenden psychophysiologischen Akti- einer endgültigen Löschung der ursprünglichen Angstas- vierung, welche zu einer Verbesserung von Lerneffekten soziation, sondern lediglich zu einer konkurrierenden, beitragen kann. Dementsprechend sollen Expositionser- inhibitorischen Lernerfahrung führen [Bouton, 2004]. fahrungen eher darauf abzielen, aufkommende Angstge- Experimentelle Studien belegen darüber hinaus, dass Ex- fühle tolerieren zu lernen. Diese Überlegungen scheinen tinktion durch die Veränderung von Erwartungen statt- insbesondere im Bereich chronischer Schmerzen relevant. findet [Hofmann, 2008]. Um diese neu gebildete Assozi- Chronische Schmerzen sind per Definition langanhal- ation bestmöglich zu stärken, werden für die Durch tend, und deswegen erscheint eine gewisse Toleranz ge- führung von Expositionen eine Reihe von Empfehlungen 24 Verhaltenstherapie 2021;31:20–28 Schemer/Riecke/Glombiewski DOI: 10.1159/000510169
Table 2. Gegenüberstellung einer klassischen Expositionssitzung im Vergleich zu einem Verhaltensexperiment anhand eines Patienten- beispiels Klassische Expositionssitzung Verhaltensexperiment Auswahl der Zunächst wird eine Bewegung aus der Angsthierarchie Zunächst wird eine Bewegung aus der Angsthierarchie Bewegung ausgewählt. Die Patientin möchte sich mit ihrer Angst vor ausgewählt. Die Patientin möchte sich mit ihrer Angst dem Fahrrad fahren auf unebenem Boden, z.B. vor dem Fahrrad fahren auf unebenem Boden, z.B. Pflasterstein, konfrontieren Pflasterstein, konfrontieren Fokussierung Nachdem die konkrete Umsetzung der Übung besprochen Nachdem die konkrete Umsetzung der Übung auf emotionale und vorbereitet wurde, erfragt die Psychotherapeutin die besprochen und vorbereitet wurde, erfragt die bzw. kognitive Höhe der Angst vor der Bewegung (z.B. auf einer Skala Psychotherapeutin eine konkrete Befürchtung (z.B. Angstreaktion von 0 bis 100) “Wenn ich mit dem Fahrrad über Pflasterstein fahre, habe ich spätestens morgen wieder einen Hexenschuss”). Es können ebenfalls Kriterien für den Eintritt der Befürchtung definiert werden Durchführung Während die Patientin mit ihrem Fahrrad mehrere Während die Patientin mit ihrem Fahrrad mehrere der Übung Runden über eine Pflastersteinstraße fährt, erfragt die Runden über eine Pflastersteinstraße fährt, erfragt die Psychotherapeutin mehrfach die Höhe der Angst. Die Psychotherapeutin mehrfach die Glaubwürdigkeit der Übung wird erst beendet, wenn es zu einem bedeutsamen negativen Erwartung. Die Übung wird nach den Angstabfall gekommen ist vorher besprochenen 8 Runden beendet Abschluss Patientin und Psychotherapeutin werten gemeinsam die Patientin und Psychotherapeutin werten gemeinsam Erfahrungen der Übung aus. Sie gehen insbesondere auf aus, inwiefern die vorher formulierte negative Veränderungen im Angsterleben der Patientin ein Erwartung eingetreten ist. Sie vereinbaren zusätzlich einen Telefontermin für den nächsten Tag, um zu überprüfen, ob die Patientin einen Hexenschluss entwickelt hat aus lerntheoretischer Grundlagenforschung abgeleitet al., 2008, Riecke et al., 2020]. Exposition in vivo scheint [Craske et al., 2014]. Darunter fällt unter anderem die dabei vor allem zu einer Reduktion einer überschätzten Ausformulierung von Erwartungen. Je mehr die Exposi- Schädlichkeitserwartung nicht jedoch zu einer Abnahme tionserfahrung von der ursprünglichen Erwartung ab- der Schmerzerwartung zu führen [Riecke et al., 2020]. weicht, desto stärker ist die neu gelernte, inhibitorische Dieser Befund ist insofern interessant, als dass er darauf Verbindung. hindeutet, dass es während der Exposition zu einer Um- Laborexperimentelle Studien liefern erste Hinweise, bewertung des Schmerzes kommen kann. Dies deckt sich dass eine erwartungsverletzende Instruktion Expositi- mit unserem klinischen Eindruck, dass Patienten wäh- onseffekte bei der Steigerung von Schmerztoleranz zu- rend der Exposition eine Bewegung durchaus als schmerz- sätzlich optimieren kann [Schemer et al., 2020]. In der haft erleben, aber die Erfahrung machen, dass die erwar- Untersuchung wurden bei Studierenden zunächst ty- tete Verletzung nicht eintritt. Dieser Umlernprozess ist pische schmerzbezogene Befürchtungen induziert. An- für Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmer- schließend fand die Konfrontation mit einem Hitzereiz zen entscheidend [Moseley and Butler, 2015]. Während statt. Währenddessen wurde entweder das Angstlevel der akute Schmerzen auf eine Gefahr oder Schädigung hin- Teilnehmenden kontinuierlich abgefragt oder die Wahr- weisen, verlieren chronische Schmerzen diese Signal- scheinlichkeit für das Eintreffen einer vorher formu- funktion. lierten negativen Erwartung. Nur die Erwartungsverlet- Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Erwar- zungsinstruktion führte im Vergleich zur Kontrollgruppe tungsverletzung als zentraler Mechanismus der Expositi- zu einem signifikanten Anstieg in der Schmerztoleranz. on anerkannt ist [Craske et al., 2014]. In einem Über- Weiterhin zeigte sich nur in dieser Gruppe ein spezi- sichtsartikel geht Hofmann sogar so weit, Exposition als fisches psychophysiologisches Aktivierungsmuster, wel- kognitive Intervention einzuordnen [Hofmann, 2008]. ches sich besser durch Annahmen des Inhibitionsmodells Insbesondere bei der Behandlung ängstlich-vermei- erklären ließ. Eine Replikation in einer klinischen Strich- dender, chronischer Rückenschmerzpatienten scheinen probe steht jedoch noch aus. Auch Interventionsstudien Exposition und Verhaltensexperiment in ihrer Kombina- belegen, dass sich Expositionstherapie auf kognitive Kon- tion indiziert und besonders effektiv zu sein. Darüber hi- strukte auswirken und zu einer signifikanten Abnahme naus folgt die kombinierte Umsetzung konsequent lern- von Schädlichkeitserwartungen führen kann [Leeuw et theoretischen Erkenntnissen und wird den spezifischen Expositionstherapie bei Rückenschmerzen/ Verhaltenstherapie 2021;31:20–28 25 Exposure Therapy in Back Pain DOI: 10.1159/000510169
Anforderungen dieser Subgruppe an Schmerzpatienten sen mit dem Pain Disability Index) erzielten beide The besonders gerecht. Ein Beispiel für beide Vorgehenswei- rapiebedingungen gleichermaßen große Effektstärken. sen ist in Tabelle 2 dargestellt. Weiterhin war Expositionstherapie effektiver als kogni- tive Verhaltenstherapie in der Verbesserung der psycho- logischen Flexibilität. Kognitive Verhaltenstherapie hin- Wirksamkeitsbelege und Weiterentwicklungen für gegen führte zu einer deutlicheren Steigerung bezüglich die Expositionstherapie bei Schmerzen der Kompetenzen zur Schmerzbewältigung im Vergleich zur Expositionstherapie. Zudem übertraf die kurze Ex Die Wirksamkeit von Expositionstherapie bei chro- positionsbehandlung die lange Expositionsbehandlung nischen Schmerzen wurde zunächst in experimentellen nach 10 Sitzungen. Dies spricht für eine hohe Ökonomie Einzelfallstudien [z.B. Vlaeyen et al., 2001] und später in des Verfahrens. Gleichzeitig kam es in der Expositions- randomisiert kontrollierten Therapiestudien [z.B. Leeuw therapie zu vermehrten Therapieabbrüchen. 30% der et al., 2008] getestet. Meist wurde Exposition mit dem Teilnehmenden berichteten von Nebenwirkungen, wo- Ansatz des graduierten Aktivitätenaufbaus verglichen. bei sich kein Unterschied zwischen den Therapiebedin- Dieser Ansatz galt als bisheriges Standardverfahren, um gungen zeigte. Es gab keine Berichte über Verletzungen übermäßiges Schonverhalten abzubauen und ist übli- aufgrund von Expositionen. Insgesamt scheint Expositi- cherweise ein Element der kognitiven Verhaltenstherapie onstherapie bei chronischen Rückenschmerzen also eine (siehe operante Interventionen). In einer Übersichtsar- hoch effektive und ökonomische Behandlungsform zu beit wurden vorliegende Wirksamkeitsbelege beider The- sein, wenngleich die Behandlung für die Patientinnen rapieverfahren systematisch miteinander verglichen [Ló- und Patienten herausfordernder war als die kognitive pez-de-Uralde-Villanueva et al., 2016]. Hierbei erwies Verhaltenstherapie. sich die Expositionstherapie insbesondere in Bezug auf Eine aktuelle Weiterentwicklung des Expositionsan- die Reduktion schmerzbedingter Beeinträchtigung und satzes stammt aus Schweden. Dort wurde der klassische Katastrophisieren mit kleinen bis mittleren Effektstärken Expositionsansatz durch zusätzliche Therapieelemente im Vergleich zu dem graduiertem Aktivitätenaufbau als aus der dialektisch-behavioralen Therapie angereichert. überlegen. Dahinter verbirgt sich die Idee, den Patientinnen und Pa- Die Gegenüberstellung von kognitiver Verhaltensthe- tienten zusätzliche Emotionsregulationsstrategien an die rapie (mit operanten, kognitiven und respondenten Ele- Hand zu geben, um der üblicherweise hohen Rate an ko- menten) als allgemeiner Therapieansatz im Vergleich zu morbiden affektiven Störungen entgegenzuwirken [Lin- Expositionstherapie als spezifischer Ansatz wurde in ei- ton, 2013]. ner kürzlich veröffentlichen Therapiestudie vorgenom- In einer ebenfalls kürzlich veröffentlichen Therapie- men [Glombiewski et al., 2018]. Weiterhin wurden Do- studie wurde diese Hybridform aus Expositionstherapie sierungseffekte von Expositionstherapie untersucht. Eine und dialektisch-behavioraler Therapie als Face-to-Face- Patientengruppe erhielt insgesamt 15 Sitzungen mit je- Behandlung mit einem internetbasierten kognitiv-ver- weils 10 Expositionssitzungen, eine andere Patienten- haltenstherapeutischen Vorgehen verglichen [Boersma gruppe durchlief insgesamt 10 Sitzungen mit jeweils 5 Ex- et al., 2019]. Teilnehmende (n = 115; 55% weiblich) litten positionssitzungen. Kognitive Verhaltenstherapie wurde durchschnittlich 10 Jahre an chronischen Schmerzen und mit insgesamt 15 Sitzungen dargeboten. Die Therapien wiesen zusätzliche Probleme in der Emotionsregulation wurden in einem ambulanten Setting durchgeführt. Teil- auf (vorwiegend Depression und Angststörungen). So- nehmende (n = 88; 55% weiblich) litten durchschnittlich wohl zum Therapieende als auch 9 Monate später führte 15 Jahre an ihrem chronischen Rückenleiden und wiesen die Hybridbehandlung zu höheren Raten der reliablen erhöhte Angst vor Bewegung sowie eine erhöhte schmerz- und klinisch signifikanten Veränderungen bezüglich der bedingte Beeinträchtigung auf. erhobenen Therapieoutcomes im Vergleich zur internet- Sowohl zum Therapieende als auch 6 Monate später basierten kognitiven Verhaltenstherapie. Die Ergebnisse führten beide Expositionsbedingungen zu deutlich hö- fielen mit großen Effektstärken für die Hybridbehand- heren Raten der reliablen und klinisch signifikanten Ver- lung besonders deutlich in Bezug auf die schmerzbe- änderungen in Bezug auf eine verhaltensnahe schmerz- dingte Beeinträchtigung im alltäglichen Leben aus im bedingte Beeinträchtigung (gemessen mit der Quebec Vergleich zu kleinen bis mittleren Effektstärken für die Back Pain Disability Scale) im Vergleich zur kognitiven internetbasierte kognitive Verhaltenstherapie. Es zeigten Verhaltenstherapie. Effektstärken lagen hierbei für die sich ebenfalls mittlere bis große Unterschiede in Bezug kognitive Verhaltenstherapie in einem mittleren, für die auf Depression, Angst und schmerzbezogenes Katastro- Expositionstherapie in einem großen Bereich. In Bezug phisieren in der Hybridbehandlung im Vergleich zu klei- auf eine eher global gemessene schmerzbedingte Beein- nen bis mittleren Effektstärken in der Vergleichsgruppe. trächtigung auf unterschiedliche Lebensbereiche (gemes- Diese Weiterentwicklung ist ein interessantes transdia- 26 Verhaltenstherapie 2021;31:20–28 Schemer/Riecke/Glombiewski DOI: 10.1159/000510169
gnostisches Behandlungskonzept für Patienten und Pati- an dieser Stelle von den Patientinnen und Patienten Erwartungen entinnen mit chronischen Schmerzen und zusätzlichen über die Zunahme ihrer Schmerzen formuliert. Prinzipiell lässt sich eine solche Erwartung natürlich ebenfalls im Rahmen eines Defiziten in der Emotionsregulation. Der Vergleich mit Verhaltensexperiments testen (“Ich werde die Schmerzen nicht einem anderen live dargebotenen Therapieansatz steht aushalten können”). Bestenfalls kann es hierbei bereits zu einer jedoch noch aus. Entkopplung des vermeintlichen Zusammenhangs zwischen der Durchführung bestimmter Bewegungen und einer Zunahme des Schmerzerlebens kommen. Für das praktische Vorgehen hat es sich allerdings bewährt, die Bedeutung einer möglichen Schmerz- Zusammenfassende Empfehlungen für die zunahme weiter zu konkretisieren. Dadurch können Schmerz und therapeutische Praxis Schädlichkeitsannahmen häufig eindeutiger getrennt werden. Das Hinterfragen von Schmerzen ist hierbei in vielen Fällen trotzdem Expositionen und Verhaltensexperimente erwiesen eine schwierige Angelegenheit. Der Schmerz stellt für die Betrof- sich bei der Behandlung einer spezifischen Subgruppe fenen verständlicherweise zunächst eine Grenze dar, die nicht überwunden werden kann. Auf die Frage, warum diese Bewegung chronischer Rückenschmerzpatienten mit erhöhten nicht ausgeführt werden kann, folgt häufig die Antwort “Weil es schmerzbezogenen Ängsten als hochwirksam. Die kom- weh tut.” Teil der kognitiven Arbeit ist es, den Schmerz gemeinsam binierte Umsetzung beider Interventionen scheint die zu hinterfragen. Als hilfreich haben sich folgende Fragen ergeben: Methode der Wahl zu sein und die Besonderheiten dieser “Was heißt das? Was bedeutet der Schmerz für Sie? Welche Kon- spezifischen Patientengruppe zu adressieren. Die Kombi- sequenz erwarten Sie? Was folgt auf den Schmerz?” nation beider Interventionen bietet einen erfahrungsba- sierten Ansatz, der die zentralen Aspekte der kognitiven Statement of Ethics Verhaltenstherapie miteinander vereint. Dabei wird so- wohl die Bearbeitung auf emotionaler (Angstreduktion) Die Autorinnen bestätigen hiermit, dass für die vorliegende und kognitiver Ebene (Korrektur von Schädlichkeitser- Arbeit kein Ethikvotum erforderlich ist. wartungen) als auch die konkrete Veränderung von Ver- halten angesprochen. Diese Veränderungen führen lang- fristig zu einer Reduktion des Beeinträchtigungserlebens Disclosure Statement und einem selbstbestimmteren Leben, indem Betroffene Die Autorinnen erklären, dass bei ihnen keinerlei Interessens- wieder nach ihren persönlichen Zielen handeln können. konflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel vorliegen. Praxistipp Funding Patienten profitieren von einer Konfrontation mit gefürchte- Der Artikel wurde von keinen externen Geldgebern unterstützt. ten bisher vermiedenen Bewegungen, diese sollten von persön- licher Bedeutung sein (z.B. Fahrradfahren als Hobby zurückge- winnen). Vor der Exposition sollten konkrete Erwartungen erfragt werden, welche in Form von Wenn-Dann-Sätzen ausformuliert Author Contributions werden. Während der Exposition werden diese Befürchtungen mit der gegenwärtigen Erfahrung abgeglichen. Typischerweise werden Die Autorinnen haben zu gleichen Teilen zur Arbeit beigetragen. Literatur Alzahrani H, Shirley D, Cheng SW, Mackey M, Bouton ME. Context and behavioral processes in Crombez G, Eccleston C, Vlaeyen JW, Vansteen- Stamatakis E. Physical activity and chronic extinction. Learn Mem. 2004 Sep-Oct; 11(5): wegen D, Lysens R, Eelen P. Exposure to back conditions: A population-based pooled 485–94. physical movements in low back pain pa- study of 60,134 adults. 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