Expositionstherapie bei chronischen Rückenschmerzen: Nicht ohne Verhaltensexperimente

 
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Übersichtsarbeit / Review Article

                                                    Verhaltenstherapie 2021;31:20–28                                    Received: May 7, 2020
                                                                                                                        Accepted: July 13, 2020
                                                    DOI: 10.1159/000510169                                              Published online: 18. September 2020

Expositionstherapie bei chronischen
Rückenschmerzen: Nicht ohne
Verhaltensexperimente
Lea Schemer a Jenny Riecke b Julia Anna Glombiewski a
a Klinische Psychologie und Psychotherapie des Erwachsenenalters, Universität Koblenz-Landau,

Landau, Deutschland; b Klinische Psychologie und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg,
Marburg, Deutschland

Schlüsselwörter                                                            Exposure Therapy in Chronic Back Pain: Not without
Fear-Avoidance-Modell · Expositionstherapie                                Behavioral Experiments
bei chronischen Schmerzen · Angstvermeidungs­
überzeugungen · Verhaltensexperimente
                                                                           Keywords
                                                                           Fear avoidance model · Exposure therapy for chronic
Zusammenfassung                                                            pain · Fear avoidance beliefs · Behavioral experiments
Expositionstherapie stellt mittlerweile eine anerkannte Be-
handlungsmethode für chronische Rückenschmerzen dar –
insbesondere wenn Patientinnen und Patienten zusätzlich                    Abstract
unter erhöhten schmerzbezogenen Ängsten sowie Ver­                         Exposure therapy is considered an effective approach for
meidungsverhalten leiden. Ziel dieses Verfahrens ist, beste-               the treatment of chronic back pain – particularly if indi-
hende Ängste und Vermeidung im Hinblick auf spezifische                    viduals also suffer from elevated pain-related fear and
Bewegungen abzubauen, um dadurch langfristig schmerz-                      avoidance. The principal goal of this treatment approach
bedingte Beeinträchtigungen zu reduzieren. Der übliche                     is to reduce fear and avoidance behavior towards specific
Ablauf dieses Therapieverfahrens wird anhand eines konkre-                 movements and to improve pain-related disability as a re-
ten Patientenbeispiels verdeutlicht. Zudem werden die Ef-                  sult. The presentation of a specific patient example gives
fekte und lerntheoretischen Grundlagen von Expositionen                    an overview about the general proceedings of this thera-
und Verhaltensexperimenten dargestellt. Es wird diskutiert,                py approach. General effects and basic learning principles
inwiefern eine Kombination beider Interventionen die spe-                  of exposures and behavioral experiments are outlined.
zifischen Besonderheiten schmerzbezogener Ängste opti-                     Thereby, we discuss how treatment effects might be fur-
maler adressiert. Bezüglich dieser Frage werden erste Ergeb-               ther optimized for this specific patient group, if exposure
nisse aus laborexperimentellen Studien vorgestellt sowie                   sessions and behavioral experiments are combined. We
ein Überblick über aktuelle Wirksamkeitsbelege und Wei­                    present first results from laboratory experiments which
terentwicklungen der Expositionstherapie bei chronischen                   support this hypothesis and give an overview about cur-
Schmerzen gegeben.                        © 2020 S. Karger AG, Basel       rent evidence and developments for exposure therapy in
                                                                           chronic pain.                            © 2020 S. Karger AG, Basel

karger@karger.com      © 2020 S. Karger AG, Basel                         Lea Schemer
www.karger.com/ver                                                        Universität Koblenz-Landau
                                                                          Klinische Psychologie und Psychotherapie des Erwachsenenalters
                                                                          Ostbahnstraße 10, DE–76829 Landau (Germany)
                                                                          schemer @ uni-landau.de
Psychologische Schmerztherapie                             dell hebt insbesondere die Rolle von schmerzbezogenen
                                                              Ängsten und Vermeidungsverhalten bei der Entstehung
    Psychologische Schmerztherapie wird übergreifend von      und Aufrechterhaltung chronischer Rückenschmerzen
internationalen Behandlungsleitlinien zur Behandlung un-      hervor [Vlaeyen und Linton, 2000]. In dem Modell wer-
spezifischer Rückenschmerzen empfohlen [Oliveira et al.,      den nach einer Verletzung zwei gegenläufige Prozesse
2018]. Unter dem Begriff der psychologischen Schmerzthe-      angenommen: Konfrontation versus Vermeidung. Wäh-
rapie werden mittlerweile eine Reihe von unterschiedlichen    rend sich die meisten Menschen nach einer angemes-
Behandlungsansätzen subsumiert [Kröner-Herwig, 2014].         senen Schonphase wieder allmählich mit Aktivitäten
    In der therapeutischen Praxis hat sich insbesondere die   konfrontieren, vermeidet es eine spezifische Subgruppe,
kognitive Verhaltenstherapie als das am häufigsten einge-     ihren Körper im Nachgang allzu stark zu belasten. Grund
setzte Behandlungsverfahren etabliert. Als Hauptthera-        hierfür ist eine ausgeprägte Angst und Überzeugung, dass
piefokus dieses Verfahrens gilt die Vermittlung unter-        “falsche” Bewegungen ihrem Köper zusätzlichen Scha-
schiedlicher Schmerzbewältigungsstrategien. Dabei geht        den zufügen könnten.
es jedoch nicht um eine Erreichung einer Schmerzreduk-            Als lerntheoretische Grundlage werden bei der Ent-
tion im eigentlichen Sinne, vielmehr steht die Verringe-      wicklung schmerzbezogener Ängste klassische und ope-
rung schmerzbedingter Einschränkungen im Alltag im            rante Konditionierungsmechanismen angenommen. Ein
Vordergrund. Eingesetzte therapeutische Strategien bein-      neutraler Stimulus (z.B. eine spezifische Bewegung) wird
halten üblicherweise eine Breite an Interventionen [Turk,     zeitlich mit einem unkonditionierten Stimulus (US,
2003]. Operante Interventionen wie der graduierte Aktivi-     Schmerz) sowie der einhergehenden unkonditionierten
tätenaufbau zielen auf eine Anpassung des Aktivitätsni-       Reaktion (UR, schmerzbezogene Angst) gepaart. Folglich
veaus unter Berücksichtigung von externen und internen        wird der ursprünglich neutrale Stimulus zu einem kondi-
Verstärkern. Kognitive Interventionen beinhalten die Mo-      tionierten Stimulus (CS). Er führt fortan zu derselben Re-
difikation schmerzfördernder Gedanken oder das Erler-         aktion (CR, schmerzbezogene Angst) und steuert zu-
nen gezielter Aufmerksamkeitslenkung. Respondente In-         künftiges Verhalten über operante Mechanismen. Das
terventionen versuchen, durch den Einsatz von Entspan-        heißt Vermeidung führt zu einer kurzfristigen Abnahme
nungstechniken oder Biofeedback eine Reduktion der            der Angst (negative Verstärkung) und verhindert da-
Muskelanspannung zu erreichen.                                durch die Möglichkeit einer korrigierenden Erfahrung.
    Die Wirksamkeit kognitiver Verhaltenstherapie bei der         Die Angst vor spezifischen Bewegungen und die damit
Behandlung allgemeiner chronischer Schmerzen ohne Be-         einhergehende Vermeidung bilden das Herzstück des
rücksichtigung von Kopfschmerzen gilt als belegt, die Ef-     Teufelskreismodells. Sie begünstigen den Abbau der
fektstärken liegen jedoch im kleinen bis mittleren Bereich    Muskulatur, die Entwicklung einer depressiven Sympto-
[Williams et al., 2012]. Für die größte Subpopulation der     matik und die Zunahme des Beeinträchtigungserlebens,
chronischen Rückenschmerzen zeigten sich Therapieef-          was zur Aufrechterhaltung der Schmerzsymptomatik
fekte in Bezug auf eine Schmerzreduktion und Verbesse-        beiträgt.
rung depressiver Symptome als ebenfalls unbefriedigend            Als Besonderheit werden – anders als bei Angststö-
[Henschke et al., 2010]. Entsprechend besteht ein großer      rungen und Phobien – schmerzbezogene Angstkogniti-
Bedarf, erfolgreichere Behandlungsansätze zu entwickeln.      onen (“Falsche Bewegungen können meinem Rücken
    Eine Möglichkeit, um psychologische Schmerztherapie       schaden”) häufig nicht als irrational erkannt. Einerseits
zu verbessern, bietet der Ansatz des Tailored-Treatments.     sind akute Schmerzen tatsächlich ein Warnsignal vor
Dessen Vertreter fordern eine individuellere Sichtweise,      Schädigung, welches allerdings im Laufe einer Chronifi-
um gezielter auf dysfunktionale Mechanismen bestimmter        zierung verloren geht. In anderen Fällen basieren Erwar-
Patientensubgruppen eingehen zu können [Vlaeyen und           tungen der Patientinnen und Patienten auf realen Erfah-
Morley, 2005]. Expositionstherapie in vivo baut auf theo-     rungen. Beispielweise tritt der Hexenschuss während ei-
retischen Grundlagen des Fear-Avoidance-Modells auf           ner Bückbewegung auf. Die Bewegungsangst geht in
und wurde als spezifischer Therapieansatz für Schmerzpa-      diesem Fall häufig mit der Erwartungshaltung einher,
tienten mit erhöhten schmerzbezogenen Ängsten entwi-          dass diese spezifische Bewegung in dem Sinne schädlich
ckelt.                                                        ist, als dass sie zu einer (Wieder-)Verletzung führen kann.
                                                              Diese Erwartung widerspricht der Beobachtung, dass
                                                              physische Aktivität generell mit einer geringeren Wahr-
   Fear-Avoidance-Modell                                      scheinlichkeit einhergeht, an Rückenschmerzen zu lei-
                                                              den – ausgenommen schwerer körperlicher Arbeit [Al-
   Die theoretische Grundlage für Expositionstherapie         zahrani et al., 2019]. Zudem gelten Bewegungstherapien
bei chronischen Schmerzen bildet das Fear-Avoidance-          und die Aufrechterhaltung der körperlichen Aktivität bei
Modell. Das etablierte biopsychosoziale Erklärungsmo-         akuten und chronischen Rückenschmerzen als empfoh-

Expositionstherapie bei Rückenschmerzen/                      Verhaltenstherapie 2021;31:20–28                        21
Exposure Therapy in Back Pain                                 DOI: 10.1159/000510169
len [Oliveira et al., 2018]. Experimentelle Studien zeigen,     techniken könnte bestehende Unsicherheiten sogar zu-
dass bewegungsängstliche Schmerzpatienten dazu nei-             sätzlich schüren: Patientinnen und Patienten, die zu
gen, Schmerzen sowie die Schädlichkeit von Bewegungen           schmerzbezogenem Katastrophisieren neigen, könnten
zu überschätzen [Crombez et al., 2002]. Weiterhin sind          dies als indirekte Aufforderung verstehen, ihren Körper
Angstvermeidungsüberzeugungen sowohl in der Allge-              zusätzlich schonen zu müssen. Zur Bewältigung schmerz-
meinbevölkerung [Houben et al., 2005] als auch unter Be-        bezogener Ängste ist deshalb möglicherweise ein spezifi-
handlern verbreitet. Dies kann zu einer zusätzlich ungün-       scheres Behandlungsvorgehen erforderlich, obwohl eine
stigen Dynamik führen: In Studien konnte beispielsweise         empirische Überprüfung dieser Hypothese bisher noch
belegt werden, dass therapeutische Empfehlungen zur             aussteht. Neuere Ansätze zur Konzeptualisierung
Bettruhe [Coudeyre et al., 2006] oder maximalen Hebe-           schmerzbezogener Ängste betonen hierbei die Rolle ka-
leistung von Patientinnen und Patienten [Lakke et al.,          tastrophisierender Erwartungen.
2015] abhängig von der Ausprägung der Angstvermei-
dungsüberzeugungen ihrer Behandler sind. Solche teil-
weise uneindeutigen Informationen seitens der Behand-              Expositionstherapie bei chronischen
ler (“Sehr schwere Sachen sollten sie lieber gar nicht oder        Rückenschmerzen
nur sehr vorsichtig heben. Abgesehen davon sind sie aber
wieder voll belastbar”) können Ängste und Unsicher-                Bei der Exposition in vivo werden chronische Rücken-
heiten von Patientinnen und Patienten zusätzlich verstär-       schmerzpatienten mit gefürchteten bisher vermiedenen
ken und diese als plausibel und berechtigt erscheinen las-      Bewegungen konfrontiert. Ziele der Intervention sind der
sen.                                                            Abbau von Vermeidungsverhalten und schmerzbezo-
    Bisher herrscht noch Unklarheit über eine eindeutige        gener Ängste. Bei diesem Vorgehen wird zudem der
Konzeptualisierung von schmerzbezogenen Ängsten. Sie            Überprüfung von Schädlichkeitserwartungen eine ent-
wurden ursprünglich als Bewegungsphobie (“Kinesio-              scheidende Rolle beigemessen [Vlaeyen und Crombez,
phobie”) konzeptualisiert [Miller et al., 1990]. Dieses         2020].
Konstrukt wurde jedoch vielfach in Frage gestellt und kri-         Vor dem Beginn der eigentlichen Behandlung sollten
tisiert [Pincus et al., 2010; Crombez et al., 2012]. Barke et   zunächst eine ausführliche Anamnese sowie eine um-
al. [2012] argumentieren vielmehr für eine kognitive In-        fangreiche Diagnostik durchgeführt werden. Expositi-
terpretation im Sinne von katastrophisierenden Schäd-           onstherapie bei chronischen Schmerzen gilt dann als be-
lichkeitserwartungen.                                           sonders geeignet, wenn die Patientinnen und Patienten
    In einer Überarbeitung des ursprünglichen Modells           durch ihre Schmerzen stark beeinträchtigt sind und
wird überdies dem jeweiligen motivationalen Kontext             gleichzeitig ein hohes Maß an schmerzbezogenen Äng-
eine größere Bedeutung eingeräumt [Vlaeyen et al., 2016].       sten aufweisen. Zur Erfassung funktioneller Beeinträch-
Betroffene sind permanent mit Zielkonflikten konfron-           tigungen wird im Bereich chronischer Schmerzen der
tiert. Zum einen möchten sie beispielsweise einer Verab-        Pain Disability Index [Dillmann et al., 1994] vielfach ein-
redung nachgehen und zum anderen eine Schmerzsteige-            gesetzt. Daneben erweist sich die Quebec Back Pain Dis­
rung vermeiden. Dabei müssen schmerzbezogene Ängste             ability Scale [Riecke et al., 2016] zur Einschätzung der
nicht immer automatisch zu Vermeidungsverhalten füh-            Indikation eines expositionsbasierten Ansatzes als gün-
ren, sondern können unterdrückt werden, wenn andere             stig, da in diesem Fragebogen schmerzbedingte Ein-
Lebensziele und Werte in der jeweiligen Situation als           schränkungen vergleichsweise verhaltensnah und kon-
wichtiger eingeschätzt werden. Häufig werden alltägliche        kret erfasst werden. Schmerzbezogene Ängste können
Verpflichtungen beispielsweise auf der Arbeit auch unter        ebenfalls mittels Fragebögen, wie beispielsweise der Pain
großen Ängsten aufrechterhalten. Aktive Freizeitaktivi-         Anxiety Symptoms Scale-20 [Kreddig at al., 2015], er­
täten werden jedoch eingestellt, um vermeintlich Kräfte         hoben werden. Eine objektivere und verhaltensnahe Er-
zu sparen und den Körper zu schonen. Ein Ziel der The-          fassung von Vermeidung ermöglicht der Behavioral
rapie ist daher, das Verhalten der Patientinnen und Pati-       Avoidance Test – Back Pain [Holzapfel et al., 2016],
enten in Bezug auf ihre Gesundheit und Lebensqualität           welcher Vermeidungsverhalten beim Ausführen einer
kritisch zu hinterfragen und den Hauptfokus des Be-             spezifischen Bewegung, nämlich beim Heben eines Was-
handlungsvorgehens daraus abzuleiten.                           serkastens, misst.
    Insgesamt liefert das Fear-Avoidance-Modell einen              Expositionen bei chronischen Schmerzen sollten nicht
wertvollen theoretischen Ansatz zur Definition einer spe-       durchgeführt werden, wenn Hinweise auf die sogenann-
zifischen Patientengruppe. Bei dieser Subgruppe an              ten “Red Flags” vorliegen [Premkumar et al., 2018]. Diese
Schmerzpatienten scheint die Vermittlung von Schmerz-           gelten als Signale (z.B. Entzündungszeichen, Fieber, Ge-
bewältigungsstrategien möglicherweise nicht zielfüh-            wichtsverlust oder neurologische Ausfälle) für eine gra-
rend. Die Vermittlung von beispielswiese Entspannungs-          vierende Schmerzursache. Außerdem empfehlen wir –

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                     DOI: 10.1159/000510169
Table 1. Darstellung eines typischen Therapieverlaufs der Expositionstherapie bei chronischen Rückenschmerzen

Sitzung Inhalt                       Patientenbeispiel

 1       Erstgespräch                Frau M., eine 53-jährige verheiratete Frau ohne Kinder, berichtet, sie leide seit 20 Jahren unter
         Anamnese                    Schmerzen im unteren Lendenwirbelsäulenbereich. Die Schmerzen würden sie insbesondere
         Diagnostik                  bei ihrer Arbeit als Heilerziehungspflegerin stark beeinträchtigen. Besonders fürchte sie sich
                                     vor einem erneuten Auftreten eines Hexenschusses. Deshalb vermeide sie insbesondere
                                     ruckartige Bewegungen sowie Stöße auf ihre Wirbelsäule. Dies sei in ihrer Arbeit mit Kindern
                                     mit körperlichen sowie geistigen Behinderungen jedoch teilweise unmöglich. Sobald sie den
                                     Anflug von Schmerzen bemerke, lege sie sich deshalb nach Feierabend so viel wie möglich hin,
                                     um ihren Rücken zu schonen. Viele frühere Hobbies (Tanzen, Fahrrad fahren, Wanderungen)
                                     habe sie inzwischen aufgegeben
 2       Informationsvermittlung  Die Patientin erhält zu Therapiebeginn einige Informationen zu grundlegenden Mechanismen
         zu chronischen Schmerzen der physiologischen Schmerzverarbeitung, zu Unterschieden zwischen akuten und
                                  chronischen Schmerzen, zur Entstehung eines Schmerzgedächtnisses, sowie zu Einflüssen von
                                  Top-Down-Prozessen auf die Schmerzwahrnehmung
 3       Entwicklung eines           Gemeinsam mit der Patientin wird ein individualisiertes Teufelskreismodell in Anlehnung an
         individualisierten          das Fear-Avoidance-Modell erarbeitet. Darin wird der Einfluss von katastrophisierenden
         Fear-Avoidance-Modells      Gedanken (z.B. “Mein Rücken hält das nicht aus”; “Ich muss aufpassen, dass meinem Rücken
         Herausarbeitung von         nichts passiert”) auf die Entwicklung schmerzbezogener Ängste und Vermeidung von
         Zielen                      Aktivitäten dargestellt. Ein besonderes Augenmerk wird weiterhin auf die Gegenüberstellung
                                     kurzfristiger (z.B. Abnahme der Angst) und langfristiger (z.B. Abnahme der körperlichen
                                     Fitness, Verlust von Lebensfreude, Verringerung des Selbstwerts: “Ich bin zu nichts mehr zu
                                     gebrauchen”) Konsequenzen gelegt
                                     Als übergeordnetes Therapieziel formuliert die Patientin für sich den Wunsch, wieder aktiv am
                                     Leben teilnehmen zu können
 4       Hierarchisierung anhand     Zur Vorbereitung der späteren Expositionsübungen wird die Schädlichkeit alltäglicher
         von Photos of Daily         Bewegungen mithilfe der “Photograph Series of Daily Activities” in eine individualisierte
         Activities                  Angsthierarchie (0 = gar nicht schädlich; 100 = maximal schädlich für meinen Rücken)
                                     eingestuft: Fahrradfahren über unebenen Boden z.B. Pflasterstein (80); Teppich ausschütteln
                                     (70); gebückte Gartenarbeit (70); einen Korb seitlich auf der Hüfte tragen (60). Auf dieser
                                     Angsthierarchie aufbauend werden Zwischenziele zur Erreichung des übergeordneten
                                     Therapieziels abgeleitet und Expositionsübungen für den weiteren Therapieverlauf geplant
 5–9     Expositionsübungen          Anschließend durchläuft die Patientin eine Reihe von Expositionsübungen. Angefangen mit
                                     dem seitlichen Heben eines Wäschekorbs konfrontiert sich die Patientin unter Anleitung ihrer
                                     Psychotherapeutin sukzessive mit gefürchteten Bewegungen. Daraus ergeben sich immer
                                     wieder Übungen und Hausaufgaben für die nächste Sitzung. Als Abschlussübung wirft die
                                     Psychotherapeutin ihrer Patientin in der letzten gemeinsamen Konfrontation unerwartet Bälle
                                     von der Seite zu, welche die Patientin auffangen muss, ohne ihre Beinposition zu verändern
10       Abschluss                   Der Therapieverlauf wird gemeinsam mit der Patientin reflektiert. Als Kernbotschaft aus den
                                     gemeinsamen Sitzungen nimmt die Patientin mit, dass eine Vermeidung bestimmter
                                     Bewegungen nicht die Lösung, sondern eine zusätzliche Ursache für ihre Schmerzen darstellt

insbesondere in ambulanten Settings – dringend die                 Konsequenzen von Vermeidungsverhalten besprochen.
Konsultation mit dem zuständigen ärztlichen oder phy-              Gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten sollte
siotherapeutischen Behandlungsteam. Diese Absprache                daraus das Expositionsrational abgeleitet sowie ein über-
kann nicht nur die spätere Compliance der Patientinnen             geordnetes Therapieziel mit Zwischenzielen definiert
und Patienten verbessern, sondern auch zu einer größe-             werden.
ren Sicherheit bei der Durchführung der späteren Expo-                In Vorbereitung auf die folgenden Expositions­
sitionen seitens der Psychotherapeutinnen und Psycho-              übungen wird für jede Patientin bzw. jeden Patienten ei­
therapeuten führen.                                                ne individualisierte Angsthierarchie mithilfe der Photo-
    Zu Therapiebeginn steht vor allem die Informations-            graph Series of Daily Activities [Trost et al., 2009] erstellt.
vermittlung zum Thema chronischer Schmerz unter be-                Diese Skala umfasst 100 Bilder von Alltagsbewegungen,
sonderer Berücksichtigung des Fear-Avoidance-Modells               welche auf einer Skala von 0 bis 100 gemäß ihrer subjektiv
im Vordergrund. Hierzu wird ein individualisiertes Teu-            wahrgenommenen Schädlichkeit für den Rücken einge-
felskreismodell erarbeitet, sowie kurz- und langfristige           stuft werden sollen. Bei der Durchführung findet zudem

Expositionstherapie bei Rückenschmerzen/                           Verhaltenstherapie 2021;31:20–28                                 23
Exposure Therapy in Back Pain                                      DOI: 10.1159/000510169
eine Art kognitive Vorbereitung der Exposition statt, Pa-      genüber Schmerzerfahrungen für die Rückkehr in ein
tientinnen und Patienten werden darin geschult, Schmerz        wertvolles Leben mit chronischen Schmerzen entschei-
und Schädlichkeit differenziert zu betrachten. Für viele       dend.
ist dies zunächst ungewohnt, da sie bisher Schmerz und             Ein aktuelles Übersichtspaper zu Exposition bei chro-
Schädigung als gleichbedeutend verstanden haben.               nischen Schmerzen betont darüber hinaus die Überprü-
    Auf dieser Angsthierarchie aufbauend werden im wei-        fung von katastrophisierenden Erwartungen als zentra-
teren Therapieverlauf Expositionsübungen durchge-              len Mechanismus [Vlaeyen und Crombez, 2020]. Bei
führt. Anders als bei Angststörungen wird ein graduiertes      Verhaltensexperimenten steht genau diese Überprüfung
Vorgehen im Bereich chronischer Rückenschmerzen                konkreter Befürchtungen (z.B. “Wenn ich Fahrrad fah-
empfohlen. Für die ersten Expositionssitzungen werden          re, schädige ich durch mögliche Stöße aufgrund von Stra-
Bewegungen mit einer subjektiv wahrgenommenen                  ßenunebenheiten meinen Rücken”) im Vordergrund.
Schädlichkeitshöhe zwischen 50 und 70 als ideal erachtet.      Dazu werden Erwartungen in Bezug auf Bewegungen in
Es hat sich als hilfreich erwiesen, potenziell ungünstige      Form von “Wenn-Dann-Sätzen” ausformuliert. An-
Vermeidungsstrategien, sogenanntes Sicherheitsverhal-          schließend werden diese gemeinsam überprüft. Die The-
ten (z.B. Schonhaltungen während der Durchführung,             rapeutin fungiert zunächst als Modell, woraufhin der Pa-
sehr schnelle bzw. sehr langsame Durchführung einer Be-        tient bzw. die Patientin die Bewegung selbst ausführt. Da-
wegung, Einnahme von Bedarfsmedikation), vor der               bei findet ein Abgleich zwischen der Erwartung und der
Durchführung einer Exposition mit den Patientinnen             tatsächlichen Erfahrung statt. Experimentelle Studien
und Patienten zu besprechen. Weiterhin können Haus-            bestätigen, dass katastrophisierende Schmerzpatienten
aufgaben und Übungen in verschiedenen Kontexten die            Schmerz und Schädlichkeit in Bezug auf Bewegungen zu-
Generalisierung der Expositionseffekte unterstützen. Ein       nächst überschätzen und dass diese Überschätzung durch
typischer Ablauf einer Expositionstherapie ist in Tabelle      Konfrontation korrigiert werden kann [Crombez et al.,
1 dargestellt.                                                 2002; Goubert et al., 2002].
                                                                   Deshalb stellt sich insbesondere im Bereich chro-
                                                               nischer Schmerzen, bei denen schmerzbezogene Angst-
     Expositionen mit Verhaltensexperimenten                   kognitionen eine zentrale Rolle einnehmen, die Frage:
                                                               Können Exposition und Verhaltensexperimente über-
    Als allgemein anerkanntes Ziel der Exposition gilt die     haupt als eigenständige, unabhängige Interventionen be-
Verringerung der Angst. Auch bei ängstlichen Schmerz-          trachtet werden, oder handelt es sich dabei nicht eher um
patienten wird das Angstniveau kontinuierlich erhoben,         eine theoretische, künstliche Trennung?
und die Übungen werden so lange fortgesetzt, bis es zu             In der klinischen Praxis werden Exposition und Ver-
einem starken Angstabfall kommt. Dieses Vorgehen ba-           haltensexperiment häufig miteinander kombiniert und
siert auf theoretischen Annahmen des Habituationsmo-           gemeinsam durchgeführt. Eine klare Trennung ist kaum
dells [Rauch und Foa, 2006]. Nach Annahmen dieses Mo-          möglich, da die Überschneidungen sehr groß sind. Zum
dells führen erfolgreiche Expositionen zu einer spezi-         einen bedeutet ein Verhaltensexperiment in den meisten
fischen Veränderung im Muster der psychophysiologischen        Fällen die Konfrontation mit einer gefürchteten Situati-
Angstreaktion. Als essentiell gilt es, Angst zunächst zu ak-   on. Zum anderen kann bei der wiederholten Überprü-
tivieren, um durch den anschließenden Angstabfall eine         fung der Befürchtung auch die Angst reduziert werden
Veränderung in der Furchtstruktur zu erreichen. Begrün-        [den Hollander et al., 2010]. Andere Autoren argumen-
det werden kann dieses Vorgehen zudem damit, dass die          tieren, dass die korrigierende Erfahrung eine Angstre-
Verbalisation des emotionalen Erlebens während einer           duktion erst ermöglicht [Leeuw et al., 2007].
Expositionserfahrung zusätzlich hilfreich erscheint [Kir-          Für die Überlappung der beiden Verfahren sprechen
canski et al., 2012]. Allerdings ist umstritten, inwiefern     weiterhin Erkenntnisse moderner Lerntheorien. Extink-
der Abfall der Angst tatsächlich als notwendige Bedin-         tion bzw. das Inhibitionsmodell bilden die lerntheore-
gung für eine erfolgreiche Expositionserfahrung anzuse-        tische Grundlage für Expositionstherapie. Es gilt als all-
hen ist [Craske et al., 2014]. Andere Autoren betonen eher     gemein anerkannt, dass Expositionserfahrungen nicht zu
die Rolle einer anhaltenden psychophysiologischen Akti-        einer endgültigen Löschung der ursprünglichen Angstas-
vierung, welche zu einer Verbesserung von Lerneffekten         soziation, sondern lediglich zu einer konkurrierenden,
beitragen kann. Dementsprechend sollen Expositionser-          inhibitorischen Lernerfahrung führen [Bouton, 2004].
fahrungen eher darauf abzielen, aufkommende Angstge-           Experimentelle Studien belegen darüber hinaus, dass Ex-
fühle tolerieren zu lernen. Diese Überlegungen scheinen        tinktion durch die Veränderung von Erwartungen statt-
insbesondere im Bereich chronischer Schmerzen relevant.        findet [Hofmann, 2008]. Um diese neu gebildete Assozi-
Chronische Schmerzen sind per Definition langanhal-            ation bestmöglich zu stärken, werden für die Durch­
tend, und deswegen erscheint eine gewisse Toleranz ge-         führung von Expositionen eine Reihe von Empfehlungen

24                   Verhaltenstherapie 2021;31:20–28                              Schemer/Riecke/Glombiewski
                     DOI: 10.1159/000510169
Table 2. Gegenüberstellung einer klassischen Expositionssitzung im Vergleich zu einem Verhaltensexperiment anhand eines Patienten-
beispiels

                 Klassische Expositionssitzung                               Verhaltensexperiment

Auswahl der      Zunächst wird eine Bewegung aus der Angsthierarchie         Zunächst wird eine Bewegung aus der Angsthierarchie
Bewegung         ausgewählt. Die Patientin möchte sich mit ihrer Angst vor   ausgewählt. Die Patientin möchte sich mit ihrer Angst
                 dem Fahrrad fahren auf unebenem Boden, z.B.                 vor dem Fahrrad fahren auf unebenem Boden, z.B.
                 Pflasterstein, konfrontieren                                Pflasterstein, konfrontieren
Fokussierung     Nachdem die konkrete Umsetzung der Übung besprochen         Nachdem die konkrete Umsetzung der Übung
auf emotionale   und vorbereitet wurde, erfragt die Psychotherapeutin die    besprochen und vorbereitet wurde, erfragt die
bzw. kognitive   Höhe der Angst vor der Bewegung (z.B. auf einer Skala       Psychotherapeutin eine konkrete Befürchtung (z.B.
Angstreaktion    von 0 bis 100)                                              “Wenn ich mit dem Fahrrad über Pflasterstein fahre,
                                                                             habe ich spätestens morgen wieder einen
                                                                             Hexenschuss”). Es können ebenfalls Kriterien für den
                                                                             Eintritt der Befürchtung definiert werden
Durchführung     Während die Patientin mit ihrem Fahrrad mehrere             Während die Patientin mit ihrem Fahrrad mehrere
der Übung        Runden über eine Pflastersteinstraße fährt, erfragt die     Runden über eine Pflastersteinstraße fährt, erfragt die
                 Psychotherapeutin mehrfach die Höhe der Angst. Die          Psychotherapeutin mehrfach die Glaubwürdigkeit der
                 Übung wird erst beendet, wenn es zu einem bedeutsamen       negativen Erwartung. Die Übung wird nach den
                 Angstabfall gekommen ist                                    vorher besprochenen 8 Runden beendet
Abschluss        Patientin und Psychotherapeutin werten gemeinsam die        Patientin und Psychotherapeutin werten gemeinsam
                 Erfahrungen der Übung aus. Sie gehen insbesondere auf       aus, inwiefern die vorher formulierte negative
                 Veränderungen im Angsterleben der Patientin ein             Erwartung eingetreten ist. Sie vereinbaren zusätzlich
                                                                             einen Telefontermin für den nächsten Tag, um zu
                                                                             überprüfen, ob die Patientin einen Hexenschluss
                                                                             entwickelt hat

aus lerntheoretischer Grundlagenforschung abgeleitet              al., 2008, Riecke et al., 2020]. Exposition in vivo scheint
[Craske et al., 2014]. Darunter fällt unter anderem die           dabei vor allem zu einer Reduktion einer überschätzten
Ausformulierung von Erwartungen. Je mehr die Exposi-              Schädlichkeitserwartung nicht jedoch zu einer Abnahme
tionserfahrung von der ursprünglichen Erwartung ab-               der Schmerzerwartung zu führen [Riecke et al., 2020].
weicht, desto stärker ist die neu gelernte, inhibitorische        Dieser Befund ist insofern interessant, als dass er darauf
Verbindung.                                                       hindeutet, dass es während der Exposition zu einer Um-
    Laborexperimentelle Studien liefern erste Hinweise,           bewertung des Schmerzes kommen kann. Dies deckt sich
dass eine erwartungsverletzende Instruktion Expositi-             mit unserem klinischen Eindruck, dass Patienten wäh-
onseffekte bei der Steigerung von Schmerztoleranz zu-             rend der Exposition eine Bewegung durchaus als schmerz-
sätzlich optimieren kann [Schemer et al., 2020]. In der           haft erleben, aber die Erfahrung machen, dass die erwar-
Untersuchung wurden bei Studierenden zunächst ty-                 tete Verletzung nicht eintritt. Dieser Umlernprozess ist
pische schmerzbezogene Befürchtungen induziert. An-               für Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmer-
schließend fand die Konfrontation mit einem Hitzereiz             zen entscheidend [Moseley and Butler, 2015]. Während
statt. Währenddessen wurde entweder das Angstlevel der            akute Schmerzen auf eine Gefahr oder Schädigung hin-
Teilnehmenden kontinuierlich abgefragt oder die Wahr-             weisen, verlieren chronische Schmerzen diese Signal-
scheinlichkeit für das Eintreffen einer vorher formu-             funktion.
lierten negativen Erwartung. Nur die Erwartungsverlet-                Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Erwar-
zungsinstruktion führte im Vergleich zur Kontrollgruppe           tungsverletzung als zentraler Mechanismus der Expositi-
zu einem signifikanten Anstieg in der Schmerztoleranz.            on anerkannt ist [Craske et al., 2014]. In einem Über-
Weiterhin zeigte sich nur in dieser Gruppe ein spezi-             sichtsartikel geht Hofmann sogar so weit, Exposition als
fisches psychophysiologisches Aktivierungsmuster, wel-            kognitive Intervention einzuordnen [Hofmann, 2008].
ches sich besser durch Annahmen des Inhibitionsmodells            Insbesondere bei der Behandlung ängstlich-vermei-
erklären ließ. Eine Replikation in einer klinischen Strich-       dender, chronischer Rückenschmerzpatienten scheinen
probe steht jedoch noch aus. Auch Interventionsstudien            Exposition und Verhaltensexperiment in ihrer Kombina-
belegen, dass sich Expositionstherapie auf kognitive Kon-         tion indiziert und besonders effektiv zu sein. Darüber hi-
strukte auswirken und zu einer signifikanten Abnahme              naus folgt die kombinierte Umsetzung konsequent lern-
von Schädlichkeitserwartungen führen kann [Leeuw et               theoretischen Erkenntnissen und wird den spezifischen

Expositionstherapie bei Rückenschmerzen/                          Verhaltenstherapie 2021;31:20–28                                25
Exposure Therapy in Back Pain                                     DOI: 10.1159/000510169
Anforderungen dieser Subgruppe an Schmerzpatienten            sen mit dem Pain Disability Index) erzielten beide The­
besonders gerecht. Ein Beispiel für beide Vorgehenswei-       rapiebedingungen gleichermaßen große Effektstärken.
sen ist in Tabelle 2 dargestellt.                             Weiterhin war Expositionstherapie effektiver als kogni-
                                                              tive Verhaltenstherapie in der Verbesserung der psycho-
                                                              logischen Flexibilität. Kognitive Verhaltenstherapie hin-
     Wirksamkeitsbelege und Weiterentwicklungen für           gegen führte zu einer deutlicheren Steigerung bezüglich
     die Expositionstherapie bei Schmerzen                    der Kompetenzen zur Schmerzbewältigung im Vergleich
                                                              zur Expositionstherapie. Zudem übertraf die kurze Ex­
   Die Wirksamkeit von Expositionstherapie bei chro-          positionsbehandlung die lange Expositionsbehandlung
nischen Schmerzen wurde zunächst in experimentellen           nach 10 Sitzungen. Dies spricht für eine hohe Ökonomie
Einzelfallstudien [z.B. Vlaeyen et al., 2001] und später in   des Verfahrens. Gleichzeitig kam es in der Expositions-
randomisiert kontrollierten Therapiestudien [z.B. Leeuw       therapie zu vermehrten Therapieabbrüchen. 30% der
et al., 2008] getestet. Meist wurde Exposition mit dem        Teilnehmenden berichteten von Nebenwirkungen, wo-
Ansatz des graduierten Aktivitätenaufbaus verglichen.         bei sich kein Unterschied zwischen den Therapiebedin-
Dieser Ansatz galt als bisheriges Standardverfahren, um       gungen zeigte. Es gab keine Berichte über Verletzungen
übermäßiges Schonverhalten abzubauen und ist übli-            aufgrund von Expositionen. Insgesamt scheint Expositi-
cherweise ein Element der kognitiven Verhaltenstherapie       onstherapie bei chronischen Rückenschmerzen also eine
(siehe operante Interventionen). In einer Übersichtsar-       hoch effektive und ökonomische Behandlungsform zu
beit wurden vorliegende Wirksamkeitsbelege beider The-        sein, wenngleich die Behandlung für die Patientinnen
rapieverfahren systematisch miteinander verglichen [Ló-       und Patienten herausfordernder war als die kognitive
pez-de-Uralde-Villanueva et al., 2016]. Hierbei erwies        Verhaltenstherapie.
sich die Expositionstherapie insbesondere in Bezug auf            Eine aktuelle Weiterentwicklung des Expositionsan-
die Reduktion schmerzbedingter Beeinträchtigung und           satzes stammt aus Schweden. Dort wurde der klassische
Katastrophisieren mit kleinen bis mittleren Effektstärken     Expositionsansatz durch zusätzliche Therapieelemente
im Vergleich zu dem graduiertem Aktivitätenaufbau als         aus der dialektisch-behavioralen Therapie angereichert.
überlegen.                                                    Dahinter verbirgt sich die Idee, den Patientinnen und Pa-
   Die Gegenüberstellung von kognitiver Verhaltensthe-        tienten zusätzliche Emotionsregulationsstrategien an die
rapie (mit operanten, kognitiven und respondenten Ele-        Hand zu geben, um der üblicherweise hohen Rate an ko-
menten) als allgemeiner Therapieansatz im Vergleich zu        morbiden affektiven Störungen entgegenzuwirken [Lin-
Expositionstherapie als spezifischer Ansatz wurde in ei-      ton, 2013].
ner kürzlich veröffentlichen Therapiestudie vorgenom-             In einer ebenfalls kürzlich veröffentlichen Therapie-
men [Glombiewski et al., 2018]. Weiterhin wurden Do-          studie wurde diese Hybridform aus Expositionstherapie
sierungseffekte von Expositionstherapie untersucht. Eine      und dialektisch-behavioraler Therapie als Face-to-Face-
Patientengruppe erhielt insgesamt 15 Sitzungen mit je-        Behandlung mit einem internetbasierten kognitiv-ver-
weils 10 Expositionssitzungen, eine andere Patienten-         haltenstherapeutischen Vorgehen verglichen [Boersma
gruppe durchlief insgesamt 10 Sitzungen mit jeweils 5 Ex-     et al., 2019]. Teilnehmende (n = 115; 55% weiblich) litten
positionssitzungen. Kognitive Verhaltenstherapie wurde        durchschnittlich 10 Jahre an chronischen Schmerzen und
mit insgesamt 15 Sitzungen dargeboten. Die Therapien          wiesen zusätzliche Probleme in der Emotionsregulation
wurden in einem ambulanten Setting durchgeführt. Teil-        auf (vorwiegend Depression und Angststörungen). So-
nehmende (n = 88; 55% weiblich) litten durchschnittlich       wohl zum Therapieende als auch 9 Monate später führte
15 Jahre an ihrem chronischen Rückenleiden und wiesen         die Hybridbehandlung zu höheren Raten der reliablen
erhöhte Angst vor Bewegung sowie eine erhöhte schmerz-        und klinisch signifikanten Veränderungen bezüglich der
bedingte Beeinträchtigung auf.                                erhobenen Therapieoutcomes im Vergleich zur internet-
   Sowohl zum Therapieende als auch 6 Monate später           basierten kognitiven Verhaltenstherapie. Die Ergebnisse
führten beide Expositionsbedingungen zu deutlich hö-          fielen mit großen Effektstärken für die Hybridbehand-
heren Raten der reliablen und klinisch signifikanten Ver-     lung besonders deutlich in Bezug auf die schmerzbe-
änderungen in Bezug auf eine verhaltensnahe schmerz-          dingte Beeinträchtigung im alltäglichen Leben aus im
bedingte Beeinträchtigung (gemessen mit der Quebec            Vergleich zu kleinen bis mittleren Effektstärken für die
Back Pain Disability Scale) im Vergleich zur kognitiven       internetbasierte kognitive Verhaltenstherapie. Es zeigten
Verhaltenstherapie. Effektstärken lagen hierbei für die       sich ebenfalls mittlere bis große Unterschiede in Bezug
kognitive Verhaltenstherapie in einem mittleren, für die      auf Depression, Angst und schmerzbezogenes Katastro-
Expositionstherapie in einem großen Bereich. In Bezug         phisieren in der Hybridbehandlung im Vergleich zu klei-
auf eine eher global gemessene schmerzbedingte Beein-         nen bis mittleren Effektstärken in der Vergleichsgruppe.
trächtigung auf unterschiedliche Lebensbereiche (gemes-       Diese Weiterentwicklung ist ein interessantes transdia-

26                  Verhaltenstherapie 2021;31:20–28                              Schemer/Riecke/Glombiewski
                    DOI: 10.1159/000510169
gnostisches Behandlungskonzept für Patienten und Pati-                             an dieser Stelle von den Patientinnen und Patienten Erwartungen
entinnen mit chronischen Schmerzen und zusätzlichen                                über die Zunahme ihrer Schmerzen formuliert. Prinzipiell lässt
                                                                                   sich eine solche Erwartung natürlich ebenfalls im Rahmen eines
Defiziten in der Emotionsregulation. Der Vergleich mit                             Verhaltensexperiments testen (“Ich werde die Schmerzen nicht
einem anderen live dargebotenen Therapieansatz steht                               aushalten können”). Bestenfalls kann es hierbei bereits zu einer
jedoch noch aus.                                                                   Entkopplung des vermeintlichen Zusammenhangs zwischen der
                                                                                   Durchführung bestimmter Bewegungen und einer Zunahme des
                                                                                   Schmerzerlebens kommen. Für das praktische Vorgehen hat es
                                                                                   sich allerdings bewährt, die Bedeutung einer möglichen Schmerz-
    Zusammenfassende Empfehlungen für die                                          zunahme weiter zu konkretisieren. Dadurch können Schmerz und
    therapeutische Praxis                                                          Schädlichkeitsannahmen häufig eindeutiger getrennt werden. Das
                                                                                   Hinterfragen von Schmerzen ist hierbei in vielen Fällen trotzdem
    Expositionen und Verhaltensexperimente erwiesen                                eine schwierige Angelegenheit. Der Schmerz stellt für die Betrof-
sich bei der Behandlung einer spezifischen Subgruppe                               fenen verständlicherweise zunächst eine Grenze dar, die nicht
                                                                                   überwunden werden kann. Auf die Frage, warum diese Bewegung
chronischer Rückenschmerzpatienten mit erhöhten                                    nicht ausgeführt werden kann, folgt häufig die Antwort “Weil es
schmerzbezogenen Ängsten als hochwirksam. Die kom-                                 weh tut.” Teil der kognitiven Arbeit ist es, den Schmerz gemeinsam
binierte Umsetzung beider Interventionen scheint die                               zu hinterfragen. Als hilfreich haben sich folgende Fragen ergeben:
Methode der Wahl zu sein und die Besonderheiten dieser                             “Was heißt das? Was bedeutet der Schmerz für Sie? Welche Kon-
spezifischen Patientengruppe zu adressieren. Die Kombi-                            sequenz erwarten Sie? Was folgt auf den Schmerz?”
nation beider Interventionen bietet einen erfahrungsba-
sierten Ansatz, der die zentralen Aspekte der kognitiven
                                                                                       Statement of Ethics
Verhaltenstherapie miteinander vereint. Dabei wird so-
wohl die Bearbeitung auf emotionaler (Angstreduktion)                                 Die Autorinnen bestätigen hiermit, dass für die vorliegende
und kognitiver Ebene (Korrektur von Schädlichkeitser-                              Arbeit kein Ethikvotum erforderlich ist.
wartungen) als auch die konkrete Veränderung von Ver-
halten angesprochen. Diese Veränderungen führen lang-
fristig zu einer Reduktion des Beeinträchtigungserlebens                               Disclosure Statement
und einem selbstbestimmteren Leben, indem Betroffene
                                                                                      Die Autorinnen erklären, dass bei ihnen keinerlei Interessens-
wieder nach ihren persönlichen Zielen handeln können.                              konflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel vorliegen.

    Praxistipp                                                                         Funding
    Patienten profitieren von einer Konfrontation mit gefürchte-                       Der Artikel wurde von keinen externen Geldgebern unterstützt.
ten bisher vermiedenen Bewegungen, diese sollten von persön-
licher Bedeutung sein (z.B. Fahrradfahren als Hobby zurückge-
winnen). Vor der Exposition sollten konkrete Erwartungen erfragt
werden, welche in Form von Wenn-Dann-Sätzen ausformuliert                              Author Contributions
werden. Während der Exposition werden diese Befürchtungen mit
der gegenwärtigen Erfahrung abgeglichen. Typischerweise werden                         Die Autorinnen haben zu gleichen Teilen zur Arbeit beigetragen.

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