Sprachentwicklung im Überblick - Lehrbuch Psychologie
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3 3 1 Sprachentwicklung im Überblick Ann-Katrin Bockmann, Steffi Sachse und Anke Buschmann Inhaltsverzeichnis 1.1 Ebenen des Sprachsystems – 4 1.2 Meilensteine der Sprachentwicklung – 11 1.2.1 Sprachentwicklung im 1. Lebensjahr – 11 1.2.2 Sprachentwicklung vom 2. bis zum 6. Lebensjahr – 19 1.3 Sprachentwicklung im weiteren Verlauf (Grundschulalter) – 35 1.4 Zusammenfassung – 37 Literatur – 38 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Sachse et al. (Hrsg.), Sprachentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60498-4_1
4 A.-K. Bockmann et al. 1 » Wie es Kindern gelingt, das komplexe (entsprechende Lauteinheiten, Wortreihen- folgen, Wortanfänge und -endungen, System der Sprache zu erwerben, ist Pausen- und Betonungsmuster). Wir spezi- inzwischen zwar intensiv erforscht fizieren damit unsere Absichten und ver- worden, stellt aber wohl nach wie vor wenden diese Struktur, um bestimmte das größte und fesselndste Mysterium Kommunikationsziele (z. B. jemanden zu der Psychologie dar. (Braine 1963, zitiert grüßen oder zu fragen) zu erreichen (Owens nach Quaiser-Pohl und Rindermann 2010, 2016). S. 150 ff.) In der Sprachwissenschaft wird die Auch heute, 50 Jahre nach dieser Aussage menschliche Sprache in unterschiedliche des bekannten Sprachforschers Braine, Komponenten unterteilt. Diese Sprach- wirft das hoch komplexe Phänomen des komponenten oder -ebenen hängen mit- Spracherwerbs eine Reihe unbeantworteter einander zusammen und beeinflussen Fragen auf und Braines Worte machen sich gegenseitig, gleichzeitig stellt die deutlich, welche großartige Leistung erfolgreiche Entwicklung jeder einzelnen Kinder vollbringen, wenn sie innerhalb Komponente spezifische Anforderungen eines Jahres vom Schreien über Lall- an das sprachlernende Kind (Weinert und monologe zu ersten Wörtern kommen. Grimm 2012). Das Wahrnehmen und Ver- Anscheinend spielerisch und mühe- stehen von Sprache geht in jeder Ent- los tauchen sie in das komplexe System wicklungsphase der Sprachproduktion der menschlichen Sprache mit seiner voraus (Sachse 2016). faszinierenden und herausfordernden Viel- Bezüglich der Einteilung und der falt ein und bewegen sich darin bereits nach Benennung dieser Komponenten herrschen 3 bis 4 Jahren weitgehend sicher. unterschiedliche Vorgehensweisen. Es kann In diesem Kapitel wird ein Überblick bei der Beschreibung von Sprache zwischen über die frühe Sprachentwicklung mit Form, Inhalt und Gebrauch unterschieden Erläuterungen zum zeitlichen Ablauf und werden (Owens 2012; Pence und Justice den zugrunde liegenden Prozessen gegeben. 2008). Mit den formalen Aspekten (Form) Zunächst werden die Ebenen des Sprach- von Sprache beschäftigen sich Phonologie systems erläutert und anhand von Bei- (Lautlehre), Morphologie (Wortbau- und spielen verdeutlicht. Anschließend werden Wortformenlehre) und Syntax (Satzbau- die Meilensteine der Sprachentwicklung lehre). Der Sinn bzw. der Inhalt, der ausführlich für das Vorschulalter und mit sprachlich vermittelt werden soll, ist einem kurzen Ausblick für das Grund- Gegenstand der Semantik (Lehre von den schulalter beschrieben. Zur besseren Über- sprachlichen Bedeutungen), wobei sich sichtlichkeit sind diese getrennt für das diese in Satzsemantik und Wortsemantik 1. Lebensjahr und das 2. bis 6. Lebensjahr (Wortschatz oder Lexikon) einteilen lässt, dargestellt und nach den Aspekten Sprach- und der Pragmatik (Lehre vom sprach- verstehen und Sprachproduktion gegliedert. lichen Handeln). Als weitere Sprachebene wird die Prosodie in vielen sprachwissen- schaftlichen Abhandlungen verstanden als 1.1 Ebenen des Sprachsystems die Lehre von der melodischen Gliederung der Rede, wobei diese sowohl inhaltliche als Ausdruck unserer Ideen und unserer Vor- auch formale Aspekte zum Gegenstand hat stellungen ist Sprache – wir übersetzen (. Abb. 1.1). Ideen in Symbole (Laute und Wörter) und Die unterschiedlichen Sprachebenen nutzen hierfür eine bestimmte Struktur werden im Folgenden näher erläutert und
Sprachentwicklung im Überblick 5 1 Form Inhalt Gebrauch Syntax Wortsemantik Pragmatik (Wortschatz/Lexikon) Morphologie Satzsemantik Phonologie Prosodie . Abb. 1.1 Funktionale Komponenten von Sprache nach Owens (2012) abschließend anhand von 2 Beispielen ver- werden im Deutschen je nach verwendetem anschaulicht. Klassifikationssystem und Dialekt ca. 45 Phoneme (22 Konsonanten und 23 z Phonologie (Lautlehre) Vokale) unterschieden (König 2015). Im Die Phonologie befasst sich mit der Englischen teilen sich diese 45 Phoneme Lautstruktur der Sprache und mit den auf 21 Vokale und 24 Konsonanten auf Regeln, nach denen aus Sprachlauten (Owens 2016). Im Türkischen wird hin- Silben und Wörter gebildet werden. Unter gegen von einem Phoneminventar von 28 einem Phonem versteht man die kleinste ausgegangen, im Hawaiianischen lediglich linguistische Lauteinheit, die in der gleichen von 18 (Nettle 1995). Umso erstaunlicher Lautumgebung bedeutungsunterscheidend ist die große Anzahl an Wörtern, die aus so sein kann (z. B. /t/ und /k/ in „Tasse“ und wenigen Lauteinheiten gebildet wird. Jede „Kasse“). Ein Phonem stellt somit keine Sprache hat eigene Regeln dafür, wie Laute physikalische, sondern eine linguistische in Wörtern organisiert sind (Phonotaktik), und psychologische Kategorie dar, denn die welche zu phonotaktischen Beschränkungen Funktion eines Phonems besteht darin, auf führen. Im Deutschen ist z. B. die einen für die Bedeutung und damit für die Lautkombination (nicht Buchstaben- Kommunikation relevanten Unterschied kombination) /kn/ möglich („Kneipe“), zu verweisen (Szagun 2019). Jede Sprache während es diese im Französischen, verwendet spezifische Phoneme, die z. B. Englischen und Italienischen nicht gibt. im Deutschen und im Englischen in Kon- Die Kombination /tw/ hingegen ist im sonanten und Vokale unterteilt werden. Französischen („toi“) und Englischen Auch wenn die menschliche Sprache zu („twice“) möglich, nicht aber im Deutschen einer großen Anzahl von Phonemen (ca. und Italienischen. Für diese phono- 600) befähigt, ist in vielen Sprachen nur taktischen Strukturbeschränkungen sind eine kleine Anzahl bedeutungsunter- bereits 9 Monate alte Säuglinge sensibel scheidender Phoneme gebräuchlich. So (Friederici und Wessels 1993).
6 A.-K. Bockmann et al. z Semantik (Lehre von den sprachlichen Die Morphologie als Wortbau- sowie 1 Bedeutungen) Wortformenlehre und die Syntax als Lehre Die Semantik ist das Regelsystem für Wort- vom Satzbau bilden zusammen die beiden bedeutungen und die Bedeutung von Wort- Teilbereiche der Grammatik. kombinationen und Texten. Sie beschreibt somit die Inhaltsseite von Sprache. z Morphologie (Wortbau- und Wort- formenlehre) » Bedeutungsvoll zu sein ist die selbstverst Unter Morphologie versteht man das ändlichste Eigenschaft von Sprache, Regelsystem der Wortbildung. Ein deshalb fällt es relativ schwer, die Morphem ist definiert als die kleinste Semantik „von außen“ zu betrachten. bedeutungstragende Einheit auf Wortebene (Kannengieser 2019, S. 222) und ist eine Einheit der grammatischen Für sprachlich hergestellte Bedeutungen Analyse (Szagun 2019). Man unter- (z. B. Bett), muss man wiederum auf scheidet Basismorpheme, die den Wort- Sprache zurückgreifen, um deren stamm beschreiben (meist freie Morpheme) Bedeutung zu erklären. Man unterscheidet und grammatische Morpheme, die frei die Wortsemantik (Wortbedeutung, auch oder gebunden sein können und für Lexikon bzw. Wortschatz) und die Satz- grammatische Funktionen stehen. semantik (Satzbedeutung). Fragen zur So besteht das Wort „Kinder“ aus 2 Wortsemantik zielen vor allem auf die Morphemen: dem Stammmorphem Struktur des Lexikons (z. B. Gegensatz- {Kind-} und dem grammatischen Morphem beziehungen von Wörtern wie „wach“ und {-er}, wobei Letzteres über die Bedeutung „müde“), wobei sich je nach Satzbedeutung des ganzen Wortes im Sinne der Anzahl Wortbedeutungen verändern können (z. B. (in diesem Fall Plural) entscheidet. Weitere „ich fälle die Entscheidung“, „ich fälle den grammatische Morpheme sind z. B. Präfixe Baum“). Satzbedeutung ist somit mehr als wie {ver-}, {be-} und {zu-} und Suffixe wie die Bedeutung der Summe der einzelnen {-keit}, {-lich} und {-heit}. Viele Wörter Wortbedeutungen (Owens 2016). Einige bestehen aus mehreren Morphemen und Wörter haben nur eine Bedeutung (z. B. werden durch diese verändert. Auf diese „Tisch“ und „Auto“), bei anderen über- Weise sind Morpheme nicht nur ein sprach- lappt die Bedeutung (z. B. „Bus“ und liches Mittel zur Präzisierung von Wörtern, „Auto“). Wörter ähnlicher Bedeutung sondern ermöglichen auch den schnellen nennt man Synonyme (z. B. „lieben“ Anstieg des Wortschatzes durch eine Viel- und „mögen“), Wörter gegensätzlicher zahl neuer Wörter bzw. Wortfamilien (z. B. Bedeutung „Antonyme“ (z. B. „lieben“ und Schule – Vorschule – beschult – Schulen – „hassen“). Neben Wörtern mit konkreter Schulung; Pence und Justice 2008). Bedeutung (z. B. „Gabelstapler“) gibt es Je nach Sprache müssen unterschied- auch solche mit übertragener Bedeutung liche grammatische Kategorien markiert (z. B. „laufen“ in „das läuft nicht gut“) und werden (im Deutschen z. B. Anzahl, Fall, Bedeutungsgruppen (z. B. „Obst“). Geschlecht und Bestimmtheit wie in der Unterhalb der Wortebene gibt es Äußerung „den roten Schuh“; Weinert Morpheme als kleinste bedeutungstragende und Grimm 2012). Darüber hinaus unter- Einheiten (z. B. {un} in unsicher mit ver- scheiden sich Sprachen sehr in ihrer neinender Bedeutung, s. u.). Weiterhin Abhängigkeit von morphologischen und gibt es die semantischen Disziplinen Text- syntaktischen Komponenten. Im Englischen semantik und Diskurssemantik (z. B. wird z. B. die Satzbedeutung über die bei einer Unterhaltung oder Lehrver- Wortanordnung und nicht über Endungs- anstaltung). morpheme ausgedrückt.
Sprachentwicklung im Überblick 7 1 Satz NP VP DET N V NP PP Die Kinder verließen DET N P NP Nomen (N) Verben (V) das Kino nach Präpositionen (P) Nominalphrase (NP) Verbalphrase (VP) DET N Präpositionalphrase (PP) Determinierer (DET) zwei Stunden. . Abb. 1.2 Hierarchische syntaktische Muster z Syntax (Satzbaulehre) Sätzen liegen abstrakte hierarchische Die Satzstruktur wird festgelegt durch Muster zugrunde, die sich in Form von die Syntaxregeln. Diese bestimmen die Baumdiagrammen darstellen lassen. Anordnung der Wörter, Phrasen und Satz- Hauptelemente sind die Nominal- und die teile innerhalb von Satzkonstruktionen Verbalphrase (. Abb. 1.2). und ermöglichen es z. B. Kindern, ein- Elemente einer syntaktischen Kon fache Sätze („Er hat es getan“) in Fragen struktion müssen im Deutschen kongruent umzuwandeln („Hat er es getan?“), Sätze sein bezüglich Genus, Kasus, Numerus in andere zu integrieren („Mattis, der und Person: „Ich gebe der Katze Milch“ wütend auf Lena ist, kommt nicht zu (statt „Ich gebe die Katze Milch“ oder „Ich ihrem Geburtstag“) oder lange Sätze aus geben die Katzen Milch“). vielen kleinen Sätzen zu bilden („Ich war im Kindergarten, und dann hab ich mit z Prosodie (Lehre von der melodischen Fynn in der Sandkiste gespielt, und dann Gliederung der Rede) hat Marie mir die Schaufel weggenommen, Als Prosodie, auch „Suprasegmentalia“ und dann hab ich sie gehauen…“). Hier- genannt, bezeichnet man die Beiträge bei können Wortanordnungen im Satz der Dauer, der Grundfrequenz und der die Bedeutung des Satzes verändern (z. B. Amplitude zur Bedeutung gesprochener „Magdalena ärgert Leo“, „Leo ärgert Sprache (phonetische Definition) sowie die Magdalena“; Weinert und Grimm 2012). Zusammensetzung von Phonemen (Lauten) Pseudosätze wie etwa der von Noah in Silben, Wörtern und Phrasen und die Chomsky geprägte Satz „colorless green Assoziation von Phonemen mit Tönen ideas sleep furiously“ (Pinker 1994) offen- (phonologische Definition). Man unter- baren besonders gut, dass wir die Wort- scheidet die Wortprosodie (wahrgenommen ordnungsregeln so verinnerlicht haben, dass durch Unterschiede der Quantität, des Tons wir den Satz sofort als grammatisch richtig und der Betonung) und die Satzprosodie erkennen, auch wenn dieser sinnfrei ist. (wahrgenommen durch Unterschiede der
8 A.-K. Bockmann et al. Phrasierung, der Akzentuierung und der Die menschliche Sprache ist besonders 1 Intonation). Zur Prosodie gehören u. a. stark vom Kontext (linguistisch und Sprechtempo, Lautstärke, Tonlage, Rhyth- situationsbezogen) beeinflusst, und es mus und Intonation. bedarf zunächst einmal des Wunsches, Die Betonungs- und Dehnungsmuster in einer bestimmten Situation zu sowie die Höhenkonturen unterscheiden kommunizieren, bevor die Intention sich je nach Sprachfamilie. Im Deutschen des Sprechers/der Sprecherin in eine kennzeichnen wir eine Frage z. B. durch sprachliche Form und einen Inhalt über- eine ansteigende Sprachmelodie. Prosodie führt wird. Nur wenn ein Kind z. B. ein gibt Auskunft über den emotionalen bestimmtes Spielzeug haben möchte und Zustand des Sprechers/der Sprecherin und sich im entsprechenden Kontext befindet, in vermittelt linguistische Informationen dem es dieses auch bekommen kann, wird darüber, ob z. B. die Äußerung „Papa es die Regeln von Morphologie, Syntax, kommt heute Abend früher“ als Frage oder Phonologie und Semantik anwenden, um Aussage gemeint ist. Prosodische Hinweise seinen Wunsch auszudrücken (z. B. „Ball wie Betonungs- und Pausenmuster geben haben“). Vor diesem Hintergrund wird Hinweise zur Gliederung von Sprache Pragmatik auch als das grundlegende und erleichtern die Speicherung und die Ordnungsprinzip von Sprache verstanden, Verarbeitung sprachlicher Äußerungen was . Abb. 1.3 veranschaulicht. (Weinert und Grimm 2012). Sprachlich-kommunikatives Handeln ist ein komplexer Prozess und bedarf des z Pragmatik (Lehre vom sprachlichen Zusammenspiels von sprachlichen Aspekten Handeln) (u. a. Prosodie, Morphologie und Syntax) Pragmatik beschäftigt sich mit der und nichtsprachlichen Aspekten (z. B. Auf- Sprache als Kommunikationsmittel, also merksamkeit, Gedächtnis und nonverbale den Regeln zum sozialen Gebrauch von Kommunikation; Spreer und Sallat 2015). Sprache, und weniger mit ihrer Struktur. Pragmatik braucht mehr als die anderen Denn linguistisches Wissen genügt nicht, Komponenten von Sprache das Verstehen um Sprache angemessen nach Situation von Kultur, Sozialisation und Individuum. und kommunikativen Bedingungen im All- Zur Pragmatik zählen ebenfalls die Erzähl- tag so einsetzen zu können, dass man ver- fähigkeiten. Insgesamt sind insbesondere standen wird. So würde z. B. die ironische 3 übergreifende Aspekte relevant für den Bemerkung: „Das hast du ja mal wieder sozialen Sprachgebrauch (Owens 2012, S. 24): ganz toll gemacht“, bei jüngeren Kindern 5 Kommunikationsabsichten und deren aufgrund des fehlenden Verständnisses für angemessene Umsetzung Ironie als Lob verstanden werden. 5 Kommunikationsregeln, soziale Kon- Menschen handeln mit Sprache und ventionen (z. B. Wissen, wann man was verwenden diese zu bestimmten Zwecken, wie sagen sollte) z. B. zum Beruhigen, Fordern, Informieren 5 Diskurstypen (z. B. Erzählungen und oder als Ausdruck von Gefühlen, und Witze) und deren Konstruktion erreichen diese Zwecke nur, wenn sie sich entsprechend an den Kontext anpassen. Wenn Sprache für soziale Zwecke Die Gebrauchsfunktion von Sprache lässt gebraucht wird, bestimmen pragmatische sich mit dem Begriff „Kommunikation“ Regeln linguistische, extralinguistische umschreiben, sodass diese Sprachebene und paralinguistische Aspekte von auch als kommunikativ-pragmatisch Kommunikation, z. B. Wortwahl, Gestik, bezeichnet wird (Kannengieser 2019). Mimik, Blickkontakt, Dynamik, Pausen.
Sprachentwicklung im Überblick 9 1 Pragmatik Semantik/Lexikon Prosodie Syntax/Morphologie Phonologie (Grammatik) . Abb. 1.3 Pragmatik als Ordnungsprinzip von Sprache . Abb. 1.4 Bildergeschichte. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Volker Kaufmann) Die Ebenen des Sprachsystems Jasper (2;9 Jahre) lassen sich gut anhand der Analyse der 5 Jasper: „Ein Frosch … und eine Maus … Äußerungen des knapp 3-jährigen Jasper und des … auch eine Maus … und des und der 4-jährigen Alexandra zu der auch is eine Maus.“ Bildergeschichte in . Abb. 1.4 nachvoll- 5 Interviewer: „Was macht die Maus denn ziehen. da?“ 5 Jasper: „Da Wasser pschingen die. Die pschingt – Wasser.“ ► Beispiel: Veranschaulichung der einzelnen Sprachebenen anhand von Phonologie: Jasper produziert in der Äußerungen sprachlich altersgemäß Beispieläußerung bereits alle Laute korrekt. entwickelter Kinder Lediglich die komplexe Konsonantenver- Mehreren Kindern wurde eine Bilder- bindung „spr“ bereitet ihm noch Schwierig- geschichte vorgelegt (. Abb. 1.4), keiten, was altersangemessen ist. und es wurden die entsprechenden Semantik: Jasper benennt die abgebildeten Sprachäußerungen festgehalten: Tiere korrekt als Maus und Frosch und
10 A.-K. Bockmann et al. wählt für die ausgeführte Handlung das strukturieren, wobei sie die Prosodie (Lehre 1 passende Verb „springen“. von der melodischen Gliederung der Rede) Grammatik: Bezogen auf die Syntax zeigt der als eigenständige Sprachkomponente und erste Satz, dass Jasper die Wortreihenfolge Kompetenz hervorheben. Auch Kauschke hier nicht gemäß der Struktur des deutschen (2012, S. 2) beschreibt die Betrachtung von Hauptsatzes realisiert, sondern das Verb an 3. Sprache als zergliedertes System von Zeichen, statt an 2. Satzposition verortet. Im darauf- „in dem Einheiten zu größeren Komplexen folgenden Satz platziert er das Verb an der kombiniert oder in kleinere Elemente zer- korrekten Stelle, lässt jedoch die Präposition gliedert werden können“. „ins“ als obligatorisches Funktionswort aus, Aber schon einfache Sätze sind was ebenfalls unter den Bereich der Syntax „komplexe und vielschichtige Objekte“ gefasst wird. Bezüglich der Morphologie (Tracy 2000, S. 6), die durch das gleich- verwendet Jasper in der Beispieläußerung zeitige komplexe Zusammenwirken zunächst die Infinitivform „springen“ anstelle aller Sprachkomponenten entstehen. der geforderten Personalform „springt“. Und die Frage liegt nahe, ob ein solches Im folgenden Satz stellt er dagegen die not- Komponentenmodell von Sprache über- wendige Übereinstimmung zwischen Subjekt haupt sinnvoll ist oder vielmehr ein künst- und Verb (Subjekt-Verb-Kongruenz) her lich erzeugtes Hilfsmittel darstellt, um („die springt“). trotz seiner hohen Komplexität über das Pragmatik: Jasper zeigt seine Fähigkeit zur Phänomen Sprache diskutieren und nach- Bezugnahme auf einen Gesprächspartner denken zu können. in seiner angemessenen Antwort auf die Störungen der Sprache im Kindes- Frage: „Was macht die Maus denn?“ Jaspers und Jugendalter sowie im Erwachsenen- Äußerungen stehen noch als Einzelaussagen alter unterstützen jedoch die Vorstellung nebeneinander, er verknüpft die einzelnen vom Bestehen unterschiedlicher Sprach- Bilder nicht zu einer zusammenhängenden komponenten: So bilden Patienten mit einer Erzählung („des … auch eine Maus“). ausgeprägten Wernicke-Aphasie als Folge eines Schlaganfalls bei morphosyntaktischer Alexandra (4 Jahre) Korrektheit semantisch abweichende bis 5 Alexandra: „Da springt eine Maus ins hin zu völlig unsinnigen Äußerungen in Wasser … und dann geht der Schwimm- einem scheinbar unkontrollierbaren Rede- reifen weg. Und dann kommt ein Frosch strom („Logorrhö“), ohne jegliches Ver- und rettet sie. Und setzt sie auf seinen ständnis für Kommunikationsregeln wie Rücken … so ist das alles.“ Turn-Taking (Organisation des Sprecher- wechsels in kommunikativen Situationen). Das Beispiel von Alexandra zeigt bereits eine Jugendliche mit einem Asperger-Syndrom, Erzählstruktur mit Einstieg, Höhepunkt einer Form des Autismus, zeigen bei sehr und Schluss der Erzählung, wobei sie ihre guten lexikalischen und grammatischen Geschichte auch durch erste verbindende Fähigkeiten häufig massive Probleme mit Elemente („und dann…“) als zusammen- der situativ-kontextangemessenen Nutzung hängend verdeutlicht.◄ von Sprache, haben also Schwierigkeiten auf der Ebene der Pragmatik (z. B. Ver- Die Sprachkompetenz ergibt sich aus dem stehen von Ironie und sprachlichen Rede- Zusammenspiel von Wissenssystemen, die wendungen wie: „Also dann bis später, altes Weinert und Grimm (2018) in Komponenten, Haus!“ oder „Du holst dir ja den Tod!“; Funktion und erworbene Kompetenzen Haddon 2005).
Sprachentwicklung im Überblick 11 1 z Weiterführende Literatur Der Sprachentwicklung im 1. Lebensjahr Eine ausführlichere Darstellung linguistischer widmen wir einen eigenen Unterabschnitt Grundbegriffe bzw. sprachwissenschaftlicher (7 Abschn. 1.2.1) und legen in diesem Fachsprache findet sich bei Kannengieser ebenso einen besonderen Schwerpunkt (2019) und Szagun (2019): auf die Entwicklung des Sprachverständ- 5 Kannengieser, S. (2019). Sprach- nisses sowie bestimmter Sprachverständ- entwicklungsstörungen. Grundlagen, nisstrategien, da diese besonders relevante Diagnostik und Therapie (4. Aufl.). Aspekte der Sprachentwicklung darstellen München: Elsevier. und häufig keine ausreichende Beachtung 5 Szagun, G. (2019). Sprachentwicklung in Theorie und Praxis finden. Nachfolgend beim Kind: Ein Lehrbuch (7. Aufl.). behandeln wir die Sprachentwicklung vom Weinheim, Basel: Beltz. 2. bis zum 6. Lebensjahr (7 Abschn. 1.2.2). Eine Veranschaulichung wesentlicher Weiterführende Erläuterungen zu den Aspekte in Form von Übersichten soll die Sprachebenen bzw. Komponenten von Wissensvermittlung sowie den späteren Sprache lassen sich bei Beyer und Gerlach Wissensabruf erleichtern. (Beyer and Gerlach 2019) und Kannengieser (2019) nachlesen: 5 Beyer, R., & Gerlach, R. (2019). Sprache 1.2.1 Sprachentwicklung im und Denken (2. Aufl.). Wiesbaden: 1. Lebensjahr Springer. 5 Kannengieser, S. (2019). Sprachent- Erst in den letzten 50 Jahren hat sich die Ein- wicklungsstörungen. Grundlagen, Diagnostik schätzung der Fähigkeiten eines Säuglings und Therapie (4. Aufl.). München: Elsevier. deutlich gewandelt. Nahm man noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, dass Säuglinge im Verhalten primär trieb- und 1.2 Meilensteine der reflexgesteuert und in ihren Wahrnehmungs- Sprachentwicklung fähigkeiten stark eingeschränkt seien, geht man heute vom kompetenten Säugling aus. In diesem Kapitel geht es vorrangig um Die experimentalpsychologischen Methoden den einsprachigen Erstspracherwerb der der Säuglingsforschung haben entscheidend deutschen Sprache, auch wenn generell dazu beigetragen, dass nun die Vielfalt und infrage gestellt werden kann, ob dieser die Relevanz der Entwicklungsschritte, als „reine“ Form existiert (vgl. 7 Kap. 5). die ein Kind im 1. Lebensjahr erfolgreich Kinder, deren Erstsprache „nur“ Deutsch bewältigt, anerkannt sind und auch zur ist, wachsen möglicherweise in einer Region Sprachentwicklung fundierte Kenntnisse vor- auf, in der Dialekt gesprochen wird, und liegen (Pauen 2018). erlernen diesen ebenfalls. Lehnwörter, die aus anderen Sprachen Einzug in die 1.2.1.1 Entwicklung des deutsche Sprache gehalten haben (z. B. Sprachverständnisses im Anglizismen wie Baby und Show oder 1. Lebensjahr Gallizismen wie Friseur und Café) unter- In Forschung und Praxis werden die stützen die Argumentation, dass Kinder in Begriffe „Sprachverstehen“ und „Sprach- Deutschland nicht in „reiner“ Einsprachig- verständnis“ zumeist synonym verwendet. keit aufwachsen (vgl. Hellrung 2019, S. 55). Dabei bezeichnet Sprachverständnis mehr
12 A.-K. Bockmann et al. die Wissensstrukturen, die abgerufen Umwelt und wird beeinflusst von sprach- 1 werden müssen, um Sprache verstehen zu lichen, kognitiven und kommunikativen können, wohingegen Sprachverstehen die Prozessen (Hellrung 2019). Im 1. Lebens- Informationsverarbeitung während des jahr stehen das Verstehen von Wörtern Verstehensprozesses meint (Hachul und und die auditive Wahrnehmung im Schönauer-Schneider 2019). Allgemein Vordergrund, bevor dann semantische lassen sich als Ebenen des Sprachverstehens Beziehungen zwischen Satzteilen erkannt die Wort-, die Satz-, die Text- und die Dis- werden (Kannengieser 2019). Das Wort- kursebene unterscheiden. Beim Verstehen verständnis ist das Wissen des Kindes über von Wörtern unterscheidet man Inhalts- Wörter (Bates et al. 1995) und es entwickelt wörter wie Nomen, Verben und Adjektive sich vor der Wortproduktion. Gerade kon- von Funktionswörtern (z. B. Präpositionen zeptuelles Wissen wird im 1. Lebensjahr und Konjunktionen). aufgebaut und ist entscheidend für das Dem Sprachverständnis bzw. Sprach- Verstehen von Sprache (Kauschke 2012). verstehen kommt eine Schlüssel- Die genaue Beziehung zwischen Sprach- rolle in der Sprachentwicklung zu verstehen und Sprachproduktion ist unklar (Rohlfing 2019). Zum einen müssen die und dynamisch – je nach Alter und sprach- Kinder aus den Äußerungen anderer lichen Aspekten –, was auf das unterschied- deren Bedeutung und Sinn entnehmen liche Entwicklungstempo und variierende (semantisch), zum anderen aber auch die linguistische Anforderungen zurückzu- kommunikative Absicht (kommunikativ- führen ist (Owens 2016). pragmatisch) erfassen (Kannengieser 2019). Lange bevor Kinder das erste Wort Im Gegensatz zur Sprachproduktion bedarf sprechen, sind sie fähig, Sprache wahr- das Verstehen von Sprache vieler (auch nicht zunehmen. Bereits im Mutterleib hören lautsprachlicher) Fähigkeiten (Kauschke und verarbeiten die Kinder Sprache 2015) und ist nicht direkt beobachtbar, was und können von Geburt an zwischen es für Bezugspersonen weniger gut ein- Sprachlauten und anderen Tönen oder schätzbar macht (Hellrung 2019). Geräuschen differenzieren. Ihre Fähig- Eltern erleichtern Kindern das Ver- keit zum Hören entwickelt sich ab der 26. stehen von Sprache, indem sie besonders bis 28. Schwangerschaftswoche (Michaelis relevante Wörter betonen oder wiederholen 2010), und akustische Eindrücke spielen und automatisch Hinweise zum Verstehen eine entscheidende Rolle für die weitere geben. So wird die Aufforderung: „Schau Entwicklung des Hörens und der Sprach- mal, wer da kommt“, von einer Zeigegeste entwicklung (Kral 2010; Papoušek zur geöffneten Tür begleitet. Auch wird 2001). Kinder bevorzugen die Stimme das Gesagte gerade bei jüngeren Kindern der Mutter und nehmen die mit ihr ver- mit Mimik unterstrichen und es bezieht bundene Melodie und Rhythmik wahr sich auf den unmittelbaren Kontext. „Wo (Friederici 2013; Mampe et al. 2009). So ist der Ball?“, wird gefragt, wenn der Ball lernen sie schon wenige Tage nach der direkt im Sichtfeld des Kindes ist, wobei die Geburt die mütterliche Stimme von den Augen fragend weit geöffnet sind. Es ver- Stimmen anderer Menschen (im Über- wundert also nicht, dass Erwachsene die blick Saffran et al. 2006; Kuhl 2004) und Sprachverständnisfähigkeiten von Kindern ihre Muttersprache von anderen Sprachen leicht überschätzen (Hellrung 2019; Owens zu unterscheiden (Mehler et al. 1988). Sie 2016). bevorzugen dabei eindeutig ihre Mutter- Das Sprachverständnis entwickelt sich sprache, selbst dann, wenn das Gehörte in Interaktion und Kommunikation mit der nicht von der eigenen Mutter stammt.
Sprachentwicklung im Überblick 13 1 Doch es ist nicht etwa so, dass Neu- Betonungsmuster (z. B. „Apfel“, zuerst geborene das Gesprochene wirklich ver- betonte, dann unbetonte Silbe), um Wort- stehen, vielmehr orientieren sie sich an den anfänge und -enden zu identifizieren, und prosodischen Sprachmerkmalen, z. B. der erkennen das Ende von (Teil-)Sätzen durch Melodie, der Betonung, der Pausensetzung, Pausen (Morgan 1996; Weber et al. 2004). und erkennen daran die ihnen vertraute Die Fähigkeit, Äußerungen in ihre Sprache (Kuhl et al. 1992, vgl. Sprach- Bestandteile zu zerlegen, ist eine basale wahrnehmung vor der Geburt). Emotionale Voraussetzung für die spätere Wortschatz- Inhalte nehmen Kinder in diesem jungen und Grammatikentwicklung. Ausgehend Alter ebenfalls über die mütterliche von erkannten Wörtern im Redefluss, Intonation wahr (Mampe et al. 2009). filtern Säuglinge auch neue Wörter heraus, sodass sich ihr Wortschatz sukzessive auf- Sprachwahrnehmung vor der Geburt baut. Eine Studie von Jusczyk und Aslin In einem Experiment von DeCaspar und Spence (1995) zeigte hierzu, dass Kinder bereits mit (1986) rezitierten 33 schwangere Frauen während 7,5 Monaten vertraute Wörter im Redefluss der letzten 6,5 Schwangerschaftswochen täglich die- selbe kurze Kindergeschichte. Nach der Geburt wiedererkennen. Ab dem 8. Lebensmonat wurde die Reaktion von 16 der Neugeborenen auf die beginnen sie, die von ihnen identifizierten bereits aus dem Mutterleib bekannte sowie eine bis- Wörter den beiden Kategorien „Inhalts- her unbekannte Kindergeschichte beobachtet. Die wörter“ (Nomen, Adjektive, Verben) und Neugeborenen konnten durch ihr Saugverhalten an „Funktionswörter“ (vor allem Pronomina, einem präparierten Schnuller beeinflussen, ob die bereits bekannte Geschichte oder die unbekannte Artikel, Präpositionen) zuzuordnen (Höhle Geschichte abgespielt wird. Die Ergebnisse zeigen, 2004; Höhle und Weissenborn 2003). dass Neugeborene durch ihr Saugverhalten besonders Mit 6–9 Monaten verstehen Kinder die häufig die bereits bekannte Geschichte abspielten. Bei ersten Nomen (Bergelson und Swingley 7 Säuglingen konnte zudem gezeigt werden, dass diese 2012; Grimm und Weinert 2002), wobei die bereits bekannte Geschichte auch präferierten, wenn beide Geschichten von einer fremden weib- das Verständnis stark an den unmittelbaren lichen Stimme vorgelesen wurden. Bei den 12 Säug- sozialen Kontext gebunden ist. Einzelne lingen der Kontrollgruppe, deren Mütter während Wörter ohne den passenden Kontext der Schwangerschaft keine der Kindergeschichten werden zu diesem Zeitpunkt noch nicht rezitiert hatten, wurde dagegen für keine der beiden verstanden (Grimm 2003; Weinert 2011). Geschichten eine Präferenz festgestellt. Die Befunde sprechen dafür, dass die Neugeborenen die Geschichte Das spätere Verständnis von Sätzen baut aufgrund ihrer prosodischen Merkmale wieder- sich durch die Schlüsselwortstrategie auf, erkennen, was auf das Bestehen eines pränatalen bei der Satzinhalte über einzelne Wörter Lernens und Gedächtnisses hindeutet. erschlossen werden. Aus dem Alltag ver- traute Verben (z. B. „trinken“) werden bereits Studien zeigen, dass Säuglinge ihren von 10 Monate alten Säuglingen verstanden Namen ab dem 4. bzw. 5. Monat aus dem (Nomikou et al. 2019). Ab dem 10. Lebens- Redefluss herausfiltern (Mandel et al. monat entwickelt sich der für die weitere 1995; Parise et al. 2010). Ab dem 6. Monat Sprachentwicklung hoch relevante trianguläre beginnen Säuglinge gedanklich, sprachliche Blickkontakt, auch Triangulierung oder Äußerungen in Segmente (Wörter, Sätze, Joint Attention (geteilte Aufmerksamkeit) Phrasen) zu unterteilen, wobei sie sich ver- genannt (u. a. Tomasello und Farrar 1986; schiedener Strategien bedienen. Kinder Exkurs: Basale kommunikative Fähigkeiten mit deutscher Muttersprache folgen z. B. des Kindes: Turn-Taking, triangulärer Blick- dem im Deutschen typischen trochäischen kontakt und intentionale Kommunikation).
14 A.-K. Bockmann et al. Exkurs 1 Basale kommunikative Fähigkeiten des Kindes: Turn-Taking, triangulärer Blickkontakt und intentionale Kommunikation Bevor Kinder anfangen zu sprechen, Kommunikationspartners (Schlesiger 2009). existieren bereits viele Kommunikations- Ein weiterer grundlegender Mechanismus formen zwischen ihnen und ihren Bezugs- der Kommunikation ist der trianguläre personen, die auf basalen kommunikativen Blickkontakt, auch Joint Attention oder Fähigkeiten aufbauen. So beobachten wir Triangulierung genannt, der in einer Drei- bei Kindern bereits ab dem 9. Lebens- eckssituation aus Kind, einer Bezugsperson monat erste Kommunikationsregeln im und einem Ziel (z. B. einer weiteren Person, Sinne eines wechselseitigen Dialogs (Turn- einem Tier oder einem Objekt) entsteht. Tri- Taking; Hecking 2008). Sie reagieren dann angulierung kann durch folgenden Ablauf verbal und nonverbal auf Fragen, Auf- beschrieben werden (Tomasello und Farrar forderungen oder Sprechpausen ihres 1986): 1. Ein Interaktionspartner (Kind oder Bezugsperson) lenkt die Aufmerksamkeit des Gegen- übers auf ein Objekt bzw. eine Person. 2. Die Aufmerksamkeit beider Interaktionspartner liegt auf dem Ziel. 3. Das Kind weist auf die Aufmerksamkeit der Bezugsperson hin bzw. nimmt sie wahr. Zentrale Voraussetzung für diese geteilte Ball) und einer sprachlichen Äußerung der Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit, die Bezugsperson (z. B. „Das ist ein Ball“) her- Kognitionen des Gegenübers mental abzu- gestellt werden kann. Auf diese Weise ist bilden, oder anders ausgedrückt: Beide es Kindern möglich, sich die Bedeutung Interaktionspartner müssen über das Wissen von Wörtern zu erschließen (vgl. Racine verfügen, dass sie durch die gemeinsame und Carpendale 2007; Tomasello 1995). Aufmerksamkeit auf ein Ziel miteinander Tomasello und Farrar (1986) konnten nach- verbunden sind. Dieses Wissen grenzt weisen, dass das mütterliche Benennen von den triangulären Blickkontakt von einer Gegenständen im kindlichen Aufmerksam- zufälligen, gemeinsamen Aufmerksamkeit keitsfokus 15 Monate alter Kinder positiv bezüglich eines Zieles ab, die beispielsweise mit der erlernten Anzahl neuer Wörter mit entsteht, wenn 2 Nachbarn aus dem 1. und 21 Monaten zusammenhängt. 2. Stock, ohne von der Aktivität des anderen Parallel zur Fähigkeit der gemeinsamen zu wissen, aus dem Fenster schauen und das Aufmerksamkeit nehmen Kinder zunächst Silvesterfeuerwerk beobachten. das Verhalten ihrer Eltern als absichtsvoll Empirische Studien deuten darauf hin, dass wahr und setzen dann selbst intentional der Mechanismus des triangulären Blick- Gestik, Lautäußerungen oder Verhalten ein kontakts einen entscheidenden Einfluss auf (Papoušek 2006). Mit dieser intentionalen die sprachliche, soziale und kognitive Ent- Kommunikation machen die Kinder nicht wicklung von Kindern hat. nur dem Gegenüber ihre Bedürfnisse ver- Bezogen auf die sprachliche Entwicklung ständlich, sie erwarten hierauf auch eine bietet der trianguläre Blickkontakt einen Reaktion des Kommunikationspartners und gemeinsamen Bezugsrahmen für das Kind nutzen hierfür zum Ende des 1. Lebensjahres und seine Bezugsperson, indem eine direkte Gesten wie das Zeigen auf ein Kuscheltier, Beziehung zwischen dem Ziel (z. B. einem damit die Mutter es ihnen bringt.
Sprachentwicklung im Überblick 15 1 Entwicklung des Sprachverständ – Erkennen von Wörtern anhand der nisses – Meilensteine im 1. Lebensjahr Betonungsmuster, zuerst Wörter mit (in Anlehnung an Gebhard 2008; Hachul dem typischen Betonungsmuster und Schönauer-Schneider 2012; Mathieu der Sprache: Im Deutschen werden 1995; Schönauer-Schneider und Eiber Zweisilber typischerweise auf der 2010) 1. Silbe betont (Trochäus), Drei- 5 Im Mutterleib: und Viersilber auf der vorletzten – Hören ab der ca. 24. Schwanger- Silbe. schaftswoche – Fähigkeit zur geteilten Aufmerk- – Vertrautwerden mit Prosodie der samkeit (Joint Attention) als Sprache (Rhythmus, Tempo, Ton- Grundlage des Sprachverstehens fall, Intonation usw.) – Lexikalisches Verständnis sehr ver- – Reaktion auf geringe lautliche Ver- trauter Wörter („Mama“, „Papa“) änderung ab der 32. Schwanger- – Verstehen der Situation, nicht der schaftswoche Aufforderung selbst: „Setz dich auf 5 Nach der Geburt bis zum 6. Monat: den Stuhl, es gibt Essen.“ – Unterscheidung von Geräuschen – 10. bis 12. Monat: lexikalisches Ver- und Sprachlauten ständnis von 50 bis 100 Wörtern – Kategoriale Unterscheidung aller Laute der Welt – Sensibilität gegenüber der Mutter- sprache 1.2.1.2 Entwicklung der – Erkennen der prosodischen Sprach- Sprachproduktion im muster der Muttersprache 1. Lebensjahr – Ab 4. Monat: Erkennen des eigenen Namens aus dem Lautstrom („Woh z Phonologie atsichnurderjohannesversteckt?“) Als erster kindlicher Laut gilt der Schrei – Aktives Zuwenden des Kopfes als nach der Geburt. Dabei dienen das Reaktion auf den eigenen Namen Schreien und andere Vokallaute dem 5 6. bis 12. Monat: Säugling in dieser frühen Phase seines – Spezialisierung für Laute der Mutter- Lebens dazu, eigene Befindlichkeiten wie sprache Müdigkeit, Hunger oder Zufriedenheit zu – Gedankliches Segmentieren von kommunizieren (Papoušek 2014). Bereits Sprachäußerungen und Heraus- dieses Schreien lässt sich als Vorläufer der filtern neuer Wörter Sprachentwicklung verstehen, da es mutter- – Erkennen von Wahrscheinlichkeiten, sprachähnlich bzw. zielsprachtypisch und mit denen ein Laut auf einen anderen in Bezug auf die Sprachmelodie und den folgt (auf /st/ folgt am Wortanfang /r/ Rhythmus immer komplexer werdend oder ein Vokal, nach /m/ am Wort- bereits von 4 Tage alten Säuglingen variiert anfang folgen Vokale usw.) wird (Fox-Boyer und Schäfer 2015; Mampe – Sensibilität für Verteilungsmuster et al. 2009). Darüber hinaus konnte gezeigt der Laute: Bestimmte Lautkombi werden, dass die melodische Komplexi- nationen gibt es im Deutschen tät der Schreimuster in den ersten beiden nicht, z. B. /t/ und /m/ oder /t/ Monaten eine prognostische Validität und /b/ stehen nie gemeinsam am für die weitere Sprachentwicklung auf- Wortanfang, aber an Wortgrenzen weist. So war die Wahrscheinlichkeit einer treffen sie aufeinander („fährt mit“, Sprachentwicklungsverzögerung (SEV) mit „malt Blätter“). 2;6 Jahren 5-fach erhöht für Kinder, deren
16 A.-K. Bockmann et al. Schreie während ihres 2. Lebensmonats und Meltzoff 1982; Legerstee 1990; 1 unterhalb einer melodischen Komplexität Meltzoff und Moore 1977). Zudem sind bzw. Variabilität von 45 % lagen (Wermke sie sensibel für Stimmklang und mög- et al. 2007). Die ersten beiden Lebens- liche Stimmungen, die dieser ausdrückt. monate werden in der Spracherwerbs- Diese Entwicklung geht einher mit dem forschung als Phonationsstadium bezeichnet. ersten aktiven Zuwenden des Kopfes zu In dieser Phase besitzen Säuglinge als Geräuschquellen sowie der Reaktion auf „anatomisches Handicap“ im Mund- und den eigenen Namen. Rachenraum einen hoch gelagerten Kehl- Ein Meilenstein in der Sprach- kopf und einen hierdurch zu geringen Raum entwicklung im 1. Lebensjahr ist das für die Zunge, um Vokale und Laute deut- kanonische Babbeln bzw. Lallen nach lich zu artikulieren (Kauschke 2012, S. 30). etwa einem halben Jahr. Nach einer Vor- Erst durch die Streckung des Halses und stufe (marginales Babbeln) sind Kinder das Absenken des Kehlkopfes zwischen fähig, Silben zu sprechen, die aus einer dem 3. und 6. Lebensmonat entstehen Konsonant-Vokal-Kombination bestehen Resonanz- und Bewegungsräume für eine (z. B. /ba/, /ta/; Oller 1986). Im weiteren differenziertere Lautproduktion (Kauschke Verlauf werden diese Kombinationen zu 2012; Ploog 1992). mitunter sehr langen Silbenketten ver- Nach einer Phase, in der die Säuglinge knüpft (z. B. „babababa“, „tatatatatata“) überwiegend Gurrlaute aus dem Rachen- und später mit unterschiedlichen bereich (z. B. „grrr“) hervorbringen, ent- Vokalen und Konsonanten variiert (z. B. wickeln sie ab dem 3. Lebensmonat die „tadatade“, „mamemame“), was als Fähigkeit, Laute gezielter zu produzieren reduplizierendes bzw. variiertes Babbeln und spielerisch zu explorieren. Auf diese bezeichnet wird (Hoff 2009). Ab dem Weise lautieren Säuglinge in einer enorm 9. Monat ziehen Kinder phonotaktisch großen Bandbreite. Sie quietschen, lachen, zulässige Lautkombinationen aus ihrer glucksen, murmeln, brummen, schnalzen, Muttersprache denen aus Nichtmutter- flüstern, seufzen, prusten, zischen, sprachen vor und erkennen Wörter aus der schmatzen und Ähnliches. Kurzum: Sie Muttersprache anhand phonotaktischer spielen mit den wachsenden Möglich- Regelmäßigkeiten (Jusczyk et al. 1993). keiten ihres Sprechapparats. In dieser Phase Darauf aufbauend entwickeln Kinder erzeugen Säuglinge auch Laute, die nicht ab dem 10. Monat eine Art „Babbel- in der eigenen Muttersprache existent sind. Jargon“, bei dem sie längere Äußerungen Das freie Spiel mit verschiedenen Lauten produzieren, die sie an die Melodie und in der ersten Hälfte ihres 1. Lebensjahres Intonation ihrer Muttersprache anpassen ermöglicht es den Säuglingen, ihre eigene (Kent und Miolo 1995). Auf diese Weise Aussprache mit der dargebotenen Aus- verschwinden nicht der Muttersprache sprache von Lauten abzugleichen und ihre zugehörige Laute zugunsten mutter- Aussprache allmählich an die Zielsprache sprachspezifischer Laute aus dem Laut- anzupassen (Kuhl et al. 2008). repertoire des Kindes (Polka und Werker Während Kinder zu Beginn ihres 1994; Werker und Lalonde 1988; Werker Lebens vor allem Mundbewegungen ihrer und Tees 1984). In einer internationalen Bezugspersonen motorisch imitieren, Studie konnten Gemeinsamkeiten und beziehen sie im 4. und 5. Lebensmonat Unterschiede des kanonischen Babbelns auch den Klang in das Nachahmen vor- bei Kindern mit spanischer und deutscher gesprochener Vokale mit ein (Kuhl Muttersprache festgestellt werden: So
Sprachentwicklung im Überblick 17 1 produzierten die deutschen Kinder u. a. z Semantik, Lexikon (und Grammatik) mehr K onsonant-Vokal-Folgen und nutzten Die ersten eigenen Wortproduktionen seltener Vokale am Beginn von Silben (Lléo sind zwischen dem 10. und 14. Lebens- und Prinz 1996). monat zu beobachten, wobei es sich in den Die Entwicklungen in der Babbelphase meisten Sprachen um die Wörter „Mama“ stehen in engem Bezug zur beginnenden und „Papa“ handelt (Dale und Fenson „Dialogführung“ zwischen Säugling 1996; Grimm 2003). Auch hier gilt, dass die und Bezugspersonen. Die Kinder lernen Produktion eng mit der Situation und den tat- in der Interaktion, Laute voneinander sächlichen sozialen Handlungen (wie „winke, abzugrenzen und so ihren eigenen Laut- winke“, „komm, komm“, „heia, heia“) ver- produktionen mehr Deutlichkeit und knüpft ist (Kannengieser 2019; Nelson 1995). Sprachmelodie zu verleihen. Des Weiteren zeigt sich, dass Kinder ab dem Das Nichteinsetzen des kanonischen 9. Lebensmonat prototypische Wörter aus Babbelns bis zum 10. Lebensmonat kann in Lautfolgen bilden, die sie kontextgebunden Zusammenhang mit nachfolgenden Sprach- für Gegenstände oder Lebewesen verwenden entwicklungsstörungen (SES) stehen (Oller (z. B. „Bada“ für alle Fahrzeuge; 7 Exkurs: et al. 1999). Wann ist ein Wort ein Wort?). Exkurs Wann ist ein Wort ein Wort? Die ersten Wortproduktionen (die sog. Proto- sprechenden Zeitpunkt nicht wahrnimmt. wörter; Kauschke 2012) bestehen aus ein- „Echte“ Wörter sind es auch erst dann, wenn fachen, phonetisch konstanten Silben und sie phonetisch hinreichend korrekt aus- Silbenabfolgen. Sie existieren nicht in der gesprochen werden, sodass Erwachsene sie Muttersprache, sondern werden eigens vom identifizieren können. Kind erschaffen. Kinder benutzen Proto- Wichtig ist, dass Protowörter nicht plötz- wörter stets fest gebunden an wiederkehrende lich von „echten“ Wörtern abgelöst werden, Situationen und auf der Basis lockerer sondern neben Protowörtern bereits erste Assoziationen zu Objekten, Handlungen, „echte“ Wörter oder Mischformen aus Proto- Gefühlen usw. (z. B. „ha“ für den Wunsch, an wort und „echtem“ Wort (z. B. „Afbaum“ etwas zu gelangen, „gaga“ für Vögel). für Apfelbaum, „Babaente“ für Badeente) Im Unterschied dazu entstammen die ersten geäußert werden (Kauschke 2012). „echten“ Wörter aus dem muttersprach- Zusammenfassend beschreibt Kauschke lichen Wortschatz und werden flexibel in (2000, S. 11), dass es sich um „echte“ verschiedenen Kontexten mit überein- Wörter handelt, „wenn das Kind eine kon- stimmendem semantischem Bezug zwischen ventionell festgelegte lexikalische Form als Gegenstand, Handlung, Gefühl usw. und unabhängiges und flexibles Zeichen in unter- Wort eingesetzt. „Echte“ Wörter sind es schiedlichen Kontexten und mit einem festen somit erst, wenn Kinder Wörter nicht inhaltlichen Bezug verwendet“. nur nachsprechen, sondern diese eigenen Gefördert wird der Erwerb vor allem durch mentalen Repräsentationen entspringen, die gemeinsame Aufmerksamkeit des Kindes d. h., wenn Kinder auch ohne den ent- und einer Bezugsperson auf ein Objekt sprechenden Kontext ein Bild von etwas „im (Tomasello und Farrar 1986; vgl. 7 Exkurs: Kopf“ haben. Dies wäre beispielsweise der Basale kommunikative Fähigkeiten des Fall, wenn ein Kind vom Hund des Nach- Kindes: Turn-Taking, triangulärer Blick- barn spricht, obwohl es diesen zum ent- kontakt und intentionale Kommunikation).
18 A.-K. Bockmann et al. z Pragmatik/kommunikative Strategien Die Entwicklung von Witz und 1 Säuglinge präferieren natürliche Stimmen, Humor ist um das 1. Lebensjahr in Form Intonation, Prosodie sowie die Stimme von inkongruenten Aktionen gegenüber der Mutter und versuchen, diese zu Objekten zu beobachten (Achammer et al. imitieren. Das Schreien des Säuglings 2016). Auch sind Säuglinge zum Ende des kann als Signalverhalten für den Wunsch 1. Lebensjahres in der Lage, positive und nach Nähe interpretiert werden (Szagun negative Emotionen anhand der Mimik zu 2019). In den ersten Lebensmonaten ent- unterscheiden (Saarni et al. 2007). Sie ver- wickeln Kinder soziales Lächeln und einen wenden und verstehen dann Zeigegesten intensiven Blickkontakt in responsiver und erkennen ihre eigene Empfängerrolle Interaktion mit dem Gegenüber (sog. in der Kommunikation (Spreer und Sallat Protokonversationen; Bateson 1975), 2015). Die verwendeten Zeigegesten ab dem und die Bezugspersonen reagieren auf 10. bis 12. Monat sind entscheidend für die das Lächeln des Säuglings mit einer Ver- Lenkung der Aufmerksamkeit von Bezugs- längerung der Interaktion. Hierbei werden personen und ermöglichen es den Kindern, die kommunikativ-pragmatischen Fähig- auf Personen und Objekte hinzuweisen keiten entscheidend durch das Behandeln (Achammer et al. 2016). des Kindes als Kommunikationspartner durch seine Bezugspersonen beeinflusst (Kannengieser 2019). Entwicklung der Sprachproduktion Erst in den folgenden Monaten ver- von der Geburt bis zum Alter von binden die Kinder mit ihrem Verhalten (z. B. 1 Jahr Blick und Gestik) eine klare Erwartung (in Anlehnung an: Grimm 2003; Szagun (Intentionalität) und beziehen sich auf 2019; Wendlandt und Niebuhr-Siebert Dinge außerhalb der Zweierinteraktion 2010) (referenzielle Absicht, Tomasello 2002; 5 Geburt bis 6. Monat: „triadische Interaktion“), sodass sie Ende – Gurren, Juchzen und Quietschen des 1. Lebensjahres die Voraussetzungen – Das Schreien wird differenzierter in erworben haben, über den zielgerichteten Bezug auf die Sprachmelodie und Austausch mit anderen in das soziale Mit- den Rhythmus und unterscheidet einander unserer Gesellschaft hineinzu- sich je nach Bedürfnis. wachsen (Liszkowski 2015). So fordern sie – Erste reaktive gezielte Laut- ab dem 9. Monat durch Lenken der Auf- produktion und -exploration merksamkeit der Bezugsperson Objekte und – Vocal play: Sämtliche Laute aus Handlungen ein (Achammer et al. 2016). verschiedenen Sprachen der Welt Schon in den ersten Wochen sammeln werden ausprobiert und produziert. die Kinder durch die Interaktion mit der – Soziales Lächeln. Mutter Hinweise für die Gesprächsführung 5 6. bis 12. Monat: über Vokalisation, Gesten und Turn-Taking – Kontrolle über die Sprech- (Karmiloff und Karmiloff-Smith 2001). werkzeuge Eltern interpretieren die Äußerungen – Erste Lautverbindungen werden des Kindes frühzeitig als Mitteilung und produziert (kanonisches Babbeln: rahmen diese spätestens ab der ersten Lall- „nananana“, „bababababa“; vari phase mit dialogischer Struktur. So ent- ierendes Babbeln: „banadana“, steht ein Wechselspiel der Äußerungen von „manudi“). Eltern und Kind, und das Kind lernt, in – Betonungsmuster der Umgebungs- den Sprechpausen der Eltern Äußerungen sprache werden nachgeahmt. zu machen (Kauschke 2012).
Sprachentwicklung im Überblick 19 1 2016). Man geht bei einem Verstehen – Bevorzugung muttersprachlicher von weniger als 50 Wörtern von einer Lautkombinationen, angepasst an Produktion von 10 Wörtern und beim die Intonation und die Melodie der Verstehen von 100 Wörtern von einem Muttersprache („Babbel-Jargon“). Gebrauch von bis zu 50 Wörtern aus. Dabei – Vordere Konsonanten (/b/, /p/, /m/, ist eine hohe interindividuelle Variation zu /n/, /d/, /t/) werden gesprochen. beobachten. So verfügen Kinder im Schnitt – Referenzielle (mit dem Finger auf mit 16 Monaten über einen rezeptiven etwas zeigen) und konventionelle Wortschatz von 190 Wörtern, mit einer Gesten (Winken) werden eingesetzt. Varianz von 78 bis 303 Wörtern. Ein großer – Bewusster Einsatz von Mimik und rezeptiver Wortschatz garantiert nicht, Gestik zur Kommunikation. dass ein Kind viele Wörter produktiv nutzt 5 10. bis 14. Monat: (Bates et al. 1995). Kinder zwischen 12 – Produktion erster, noch stark und 18 Monaten verstehen 2 semantische kontextbezogener Protowörter Einheiten in einer bekannten Situation („mimi“ für Milch) und echter und nutzen die Schlüsselwortstrategie zum Wörter („Mama“, „Aua“, „Ball“). Verstehen. Fordert man sie z. B. auf, das – Die Zunahme neuer Wörter erfolgt Spielzeugauto hinzustellen, dann geben sie langsam. das Auto der Bezugsperson, weil sie nur das Wort „Auto“ verstanden haben. Diese Strategie ist somit stark kontextgebunden 1.2.2 Sprachentwicklung vom 2. (Hachul und Schönauer-Schneider 2019). bis zum 6. Lebensjahr Generell ist das Sprachverständnis bis zu 24 Monaten sehr kontextabhängig 1.2.2.1 Entwicklung des (Striano et al. 2003). Kinder können jedoch ab dem 2. Lebensjahr reagieren, wenn Sprachverständnis vom 2. ihnen nichtsituative Aufforderungen, z. B. bis zum 6. Lebensjahr ein Spielzeug aus einem anderen Raum Im 2. Lebensjahr liegt der Schwer- zu holen, gestellt werden (Hachul und punkt der Sprachverständnisentwicklung Schönauer-Schneider 2019). Auch wenn zunächst weiterhin auf dem Wortverstehen ältere Kinder linguistische Hinweisreize (Kannengieser 2019). Das Wortverstehen einbeziehen, bleibt der Kontext für das ist ein komplexer Vorgang, denn die Kinder Entschlüsseln der Bedeutung von Sprache müssen zunächst mentale Repräsentationen wichtig. Beim Verstehen von Verben von Objekten und Ereignissen bilden, ihre werden zunächst generelle (z. B. „machen“) Aufmerksamkeit fokussieren, das Klang- und dann spezifische Verben (z. B. „essen“) muster des Wortes erinnern sowie den erworben. Höreindruck und den visuellen Eindruck Interessant ist der Befund von Mani miteinander verbinden (Tincoff und Jusczk und Borovsky (2017), der zeigt, dass bei 2012). Der passive Wortschatz wächst 2-jährigen Kindern beim Hören eines im 1. und 2. Lebensjahr im Allgemeinen Wortes (z. B. „Hund“) auch semantisch schnell, allerdings mit hoher Variabilität ähnliche Begriffe (z. B. „Katze“) und des Tempos. phonologisch ähnliche Wörter (z. B. In der Regel geht das Wortverstehen „Haus“) aktiviert werden. Interpretiert der Wortproduktion voraus, wobei Kinder wird dies als Vorteil, um möglichst schnell mehr Wörter verstehen, als sie benutzen die Bedeutung eines Wortes vorhersagen (Kauschke 2015; Pauen 2018). Dies gilt und dementsprechend schnell reagieren zu vor allem bis zur 50-Wort-Grenze (Owens können.
20 A.-K. Bockmann et al. Den 12–16 Monate alten Kindern Kannengieser (2019) beschreibt den 1 gelingt es, ein neues Wort einer Schwerpunkt des Sprachverstehen im syntaktischen Strategie zuzuordnen (Höhle 3. Lebensjahr mit dem grammatischen Ver- et al. 2004). Abweichungen in der Wort- stehen. So ziehen 2- bis 3-jährige Kinder bedeutung sind in den ersten Lebensjahren grammatische Klassen heran, um neue gut zu erkennen. Kinder ordnen z. B. Wörter zu verstehen (Waxman 1990). Im alle vierbeinigen Lebewesen dem Begriff Alter von 18 bis 24 Monaten werden das „Katze“ zu (Überdehnung) oder das Wort Subjekt und das Prädikat in einfachen „Hund“ gilt nur für ihren eigenen Hund Sätzen erkannt und die Bedeutung des (Unterdehnung; Andresen 2005). Verbs aus Informationen der Phrasen- Wichtig ist für Kinder die Fähigkeit zu struktur erschlossen (Hirsh-Pasek und erkennen, wenn eine Kommunikation miss- Golinkoff 1996). lungen ist und entsprechend zu reagieren Im Vorschulalter erschließen Kinder (Verständniskontrolle oder Monitoring). selten die Bedeutung von Sätzen allein aus Frühe Ansätze des Monitorings lassen den morphologischen und den syntaktischen sich bereits im Alter von 1;6 bis 2;6 Jahren Strukturen (Hachul und Schönauer- beobachten, wenn Kinder auf falsche Schneider 2019). Im 2. und 3. Lebensjahr Aufforderungen mit Verweigerung oder können Kinder inhaltlich und sprachlich Irritation reagieren (Zollinger 1997). Bezug auf die Beiträge der Bezugspersonen Der Übergang vom Wort- zum Satzver- nehmen und zeigen im weiteren Verlauf ein stehen ist fließend (Gebhard 2008). Schon Bemühen, sich kooperativ den typischen 13–15 Monate alte Kinder können die Kommunikationsregeln der Erwachsenen Struktur einfacher Sätze erkennen, und mit anzupassen. Auch im Alter von 2 bis 16–19 Monaten werden Wortreihenfolgen 6 Jahren unterstützen erwachsenen Bezugs- von Sätzen verstanden (Hirsh-Pasek und personen die Entwicklung von Sprachver- Golinkoff 1996). Zum besseren Verstehen stehen und -produktion ihrer Kinder durch werden ab einem Alter von 28 Monaten ihren entsprechend fein abgestimmten im begrenzten Ausmaß Wortreihenfolgen sprachlichen Input sowie ihre Rück- genutzt (Owens 2016). meldungen auf die Äußerungen des Kindes Im Alter von 18 bis 36 Monaten können (Feintuning). einfache Subjekt-Verb-Objekt-Sätze sowie Der Verstehensprozess von gramma Sätze mit 2 Handlungen verstanden werden. tischen Strukturen verläuft je nach Ironie zu verstehen, gelingt in diesem Alter grammatischer Kategorie unterschiedlich. nicht. Als Sprachverständnisstrategie wird Auf Personen bezogene Pronomen werden die pragmatische Strategie genutzt. Kinder wie die einfachen Präpositionen „in“ und interpretieren sprachliche Äußerungen wie „auf“ früher verstanden. Ebenso verhält „der Anhänger wird vom Trecker gezogen“ es sich mit Fragepronomen, die nach dem danach, was ihnen aufgrund ihrer bis- Subjekt fragen („wer, was?“) vor solchen herigen Erfahrungen am wahrscheinlichsten die nach dem Objekt („wen?“), adverbialen erscheint: „Der Trecker zieht den Anhänger.“ Bestimmungen („z. B. wann?“) und kausalen Eine weitere Sprachverständnisstrategie Zusammenhängen („warum?“) fragen im frühen Alter von 1 bis 2 Jahren ist die (Siegmüller et al. 2005). Verneinungen zu Kind-als-Handelnder-Strategie, gemäß der verstehen, lernen Kinder im Verlauf vom die Kinder Handlungen von Akteurinnen einfachen „Nein“ über „nicht“ und „kein“ und Akteuren in sprachlichen Äußerungen bis hin zu komplexen Negationsstrukturen auf sich beziehen und z. B. bei dem Satz „der (8-Jährige; Schulz und Tracy 2011). Teddy winkt“ selber winken (Hachul und Mit etwa 3 Jahren verstehen Kinder Schönauer-Schneider 2012, S. 23). Alternativfragen, mehrgliedrige Aufträge
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