Sprachentwicklung im Überblick - Lehrbuch Psychologie

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Sprachentwicklung im
Überblick
Ann-Katrin Bockmann, Steffi Sachse und Anke Buschmann

Inhaltsverzeichnis

1.1	Ebenen des Sprachsystems – 4

1.2	Meilensteine der Sprachentwicklung – 11
1.2.1	Sprachentwicklung im 1. Lebensjahr – 11
1.2.2	Sprachentwicklung vom 2. bis zum 6. Lebensjahr – 19

1.3	Sprachentwicklung im weiteren Verlauf
     (Grundschulalter) – 35

1.4	Zusammenfassung – 37

            Literatur – 38

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Sachse et al. (Hrsg.), Sprachentwicklung,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-60498-4_1
4      A.-K. Bockmann et al.

1   »   Wie es Kindern gelingt, das komplexe
                                                     (entsprechende Lauteinheiten, Wortreihen-
                                                     folgen, Wortanfänge und -endungen,
        System der Sprache zu erwerben, ist
                                                     Pausen- und Betonungsmuster). Wir spezi-
        inzwischen zwar intensiv erforscht
                                                     fizieren damit unsere Absichten und ver-
        worden, stellt aber wohl nach wie vor
                                                     wenden diese Struktur, um bestimmte
        das größte und fesselndste Mysterium
                                                     Kommunikationsziele (z. B. jemanden zu
        der Psychologie dar. (Braine 1963, zitiert
                                                     grüßen oder zu fragen) zu erreichen (Owens
        nach Quaiser-Pohl und Rindermann 2010,
                                                     2016).
        S. 150 ff.)
                                                         In der Sprachwissenschaft wird die
    Auch heute, 50 Jahre nach dieser Aussage         menschliche Sprache in unterschiedliche
    des bekannten Sprachforschers Braine,            Komponenten unterteilt. Diese Sprach-
    wirft das hoch komplexe Phänomen des             komponenten oder -ebenen hängen mit-
    Spracherwerbs eine Reihe unbeantworteter         einander zusammen und beeinflussen
    Fragen auf und Braines Worte machen              sich gegenseitig, gleichzeitig stellt die
    deutlich, welche großartige Leistung             erfolgreiche Entwicklung jeder einzelnen
    Kinder vollbringen, wenn sie innerhalb           Komponente spezifische Anforderungen
    eines Jahres vom Schreien über Lall-             an das sprachlernende Kind (Weinert und
    monologe zu ersten Wörtern kommen.               Grimm 2012). Das Wahrnehmen und Ver-
    Anscheinend spielerisch und mühe-                stehen von Sprache geht in jeder Ent-
    los tauchen sie in das komplexe System           wicklungsphase der Sprachproduktion
    der menschlichen Sprache mit seiner              voraus (Sachse 2016).
    faszinierenden und herausfordernden Viel-            Bezüglich der Einteilung und der
    falt ein und bewegen sich darin bereits nach     Benennung dieser Komponenten herrschen
    3 bis 4 Jahren weitgehend sicher.                unterschiedliche Vorgehensweisen. Es kann
        In diesem Kapitel wird ein Überblick         bei der Beschreibung von Sprache zwischen
    über die frühe Sprachentwicklung mit             Form, Inhalt und Gebrauch unterschieden
    Erläuterungen zum zeitlichen Ablauf und          werden (Owens 2012; Pence und Justice
    den zugrunde liegenden Prozessen gegeben.        2008). Mit den formalen Aspekten (Form)
    Zunächst werden die Ebenen des Sprach-           von Sprache beschäftigen sich Phonologie
    systems erläutert und anhand von Bei-            (Lautlehre), Morphologie ­ (Wortbau- und
    spielen verdeutlicht. Anschließend werden        Wortformenlehre) und Syntax (Satzbau-
    die Meilensteine der Sprachentwicklung           lehre). Der Sinn bzw. der Inhalt, der
    ausführlich für das Vorschulalter und mit        sprachlich vermittelt werden soll, ist
    einem kurzen Ausblick für das Grund-             Gegenstand der Semantik (Lehre von den
    schulalter beschrieben. Zur besseren Über-       sprachlichen Bedeutungen), wobei sich
    sichtlichkeit sind diese getrennt für das        diese in Satzsemantik und Wortsemantik
    1. Lebensjahr und das 2. bis 6. Lebensjahr       (Wortschatz oder Lexikon) einteilen lässt,
    dargestellt und nach den Aspekten Sprach-        und der Pragmatik (Lehre vom sprach-
    verstehen und Sprachproduktion gegliedert.       lichen Handeln). Als weitere Sprachebene
                                                     wird die Prosodie in vielen sprachwissen-
                                                     schaftlichen Abhandlungen verstanden als
    1.1  Ebenen des Sprachsystems                   die Lehre von der melodischen Gliederung
                                                     der Rede, wobei diese sowohl inhaltliche als
    Ausdruck unserer Ideen und unserer Vor-          auch formale Aspekte zum Gegenstand hat
    stellungen ist Sprache – wir übersetzen          (. Abb. 1.1).
    Ideen in Symbole (Laute und Wörter) und              Die unterschiedlichen Sprachebenen
    nutzen hierfür eine bestimmte Struktur           werden im Folgenden näher erläutert und
Sprachentwicklung im Überblick
                                                                            5               1

             Form                              Inhalt                      Gebrauch

            Syntax                        Wortsemantik
                                                                           Pragmatik
                                        (Wortschatz/Lexikon)

        Morphologie

                                           Satzsemantik
         Phonologie

                             Prosodie

. Abb. 1.1 Funktionale Komponenten von Sprache nach Owens (2012)

abschließend anhand von 2 Beispielen ver-          werden im Deutschen je nach verwendetem
anschaulicht.                                      Klassifikationssystem und Dialekt ca.
                                                   45 Phoneme (22 Konsonanten und 23
z   Phonologie (Lautlehre)                         Vokale) unterschieden (König 2015). Im
Die Phonologie befasst sich mit der                Englischen teilen sich diese 45 Phoneme
Lautstruktur der Sprache und mit den               auf 21 Vokale und 24 Konsonanten auf
Regeln, nach denen aus Sprachlauten                (Owens 2016). Im Türkischen wird hin-
Silben und Wörter gebildet werden. Unter           gegen von einem Phoneminventar von 28
einem Phonem versteht man die kleinste             ausgegangen, im Hawaiianischen lediglich
linguistische Lauteinheit, die in der gleichen     von 18 (Nettle 1995). Umso erstaunlicher
Lautumgebung bedeutungsunterscheidend              ist die große Anzahl an Wörtern, die aus so
sein kann (z. B. /t/ und /k/ in „Tasse“ und        wenigen Lauteinheiten gebildet wird. Jede
„Kasse“). Ein Phonem stellt somit keine            Sprache hat eigene Regeln dafür, wie Laute
physikalische, sondern eine linguistische          in Wörtern organisiert sind (Phonotaktik),
und psychologische Kategorie dar, denn die         welche zu phonotaktischen Beschränkungen
Funktion eines Phonems besteht darin, auf          führen. Im Deutschen ist z. B. die
einen für die Bedeutung und damit für die          Lautkombination       (nicht   Buchstaben-
Kommunikation relevanten Unterschied               kombination) /kn/ möglich („Kneipe“),
zu verweisen (Szagun 2019). Jede Sprache           während es diese im Französischen,
verwendet spezifische Phoneme, die z. B.           Englischen und Italienischen nicht gibt.
im Deutschen und im Englischen in Kon-             Die Kombination /tw/ hingegen ist im
sonanten und Vokale unterteilt werden.             Französischen („toi“) und Englischen
Auch wenn die menschliche Sprache zu               („twice“) möglich, nicht aber im Deutschen
einer großen Anzahl von Phonemen (ca.              und Italienischen. Für diese phono-
600) befähigt, ist in vielen Sprachen nur          taktischen Strukturbeschränkungen sind
eine kleine Anzahl bedeutungsunter-                bereits 9 Monate alte Säuglinge sensibel
scheidender Phoneme gebräuchlich. So               (Friederici und Wessels 1993).
6      A.-K. Bockmann et al.

    z   Semantik (Lehre von den sprachlichen             Die Morphologie als Wortbau- sowie
1       Bedeutungen)                                  Wortformenlehre und die Syntax als Lehre
    Die Semantik ist das Regelsystem für Wort-        vom Satzbau bilden zusammen die beiden
    bedeutungen und die Bedeutung von Wort-           Teilbereiche der Grammatik.
    kombinationen und Texten. Sie beschreibt
    somit die Inhaltsseite von Sprache.               z   Morphologie    (Wortbau-   und    Wort-
                                                          formenlehre)
    »   Bedeutungsvoll zu sein ist die selbstverst­
                                                      Unter Morphologie versteht man das
        ändlichste Eigenschaft von Sprache,
                                                      Regelsystem      der    Wortbildung.     Ein
        deshalb fällt es relativ schwer, die
                                                      Morphem ist definiert als die kleinste
        Semantik „von außen“ zu betrachten.
                                                      bedeutungstragende Einheit auf Wortebene
        (Kannengieser 2019, S. 222)
                                                      und ist eine Einheit der grammatischen
        Für sprachlich hergestellte Bedeutungen       Analyse (Szagun 2019). Man unter-
    (z. B. Bett), muss man wiederum auf               scheidet Basismorpheme, die den Wort-
    Sprache      zurückgreifen,      um     deren     stamm beschreiben (meist freie Morpheme)
    Bedeutung zu erklären. Man unterscheidet          und grammatische Morpheme, die frei
    die Wortsemantik (Wortbedeutung, auch             oder gebunden sein können und für
    Lexikon bzw. Wortschatz) und die Satz-            grammatische         Funktionen      stehen.
    semantik (Satzbedeutung). Fragen zur              So besteht das Wort „Kinder“ aus 2
    Wortsemantik zielen vor allem auf die             Morphemen:        dem       Stammmorphem
    Struktur des Lexikons (z. B. Gegensatz-           {Kind-} und dem grammatischen Morphem
    beziehungen von Wörtern wie „wach“ und            {-er}, wobei Letzteres über die Bedeutung
    „müde“), wobei sich je nach Satzbedeutung         des ganzen Wortes im Sinne der Anzahl
    Wortbedeutungen verändern können (z. B.           (in diesem Fall Plural) entscheidet. Weitere
    „ich fälle die Entscheidung“, „ich fälle den      grammatische Morpheme sind z. B. Präfixe
    Baum“). Satzbedeutung ist somit mehr als          wie {ver-}, {be-} und {zu-} und Suffixe wie
    die Bedeutung der Summe der einzelnen             {-keit}, {-lich} und {-heit}. Viele Wörter
    Wortbedeutungen (Owens 2016). Einige              bestehen aus mehreren Morphemen und
    Wörter haben nur eine Bedeutung (z. B.            werden durch diese verändert. Auf diese
    „Tisch“ und „Auto“), bei anderen über-            Weise sind Morpheme nicht nur ein sprach-
    lappt die Bedeutung (z. B. „Bus“ und              liches Mittel zur Präzisierung von Wörtern,
    „Auto“). Wörter ähnlicher Bedeutung               sondern ermöglichen auch den schnellen
    nennt man Synonyme (z. B. „lieben“                Anstieg des Wortschatzes durch eine Viel-
    und „mögen“), Wörter gegensätzlicher              zahl neuer Wörter bzw. Wortfamilien (z. B.
    Bedeutung „Antonyme“ (z. B. „lieben“ und          Schule – Vorschule – beschult – Schulen –
    „hassen“). Neben Wörtern mit konkreter            Schulung; Pence und Justice 2008).
    Bedeutung (z. B. „Gabelstapler“) gibt es              Je nach Sprache müssen unterschied-
    auch solche mit übertragener Bedeutung            liche grammatische Kategorien markiert
    (z. B. „laufen“ in „das läuft nicht gut“) und     werden (im Deutschen z. B. Anzahl, Fall,
    Bedeutungsgruppen (z. B. „Obst“).                 Geschlecht und Bestimmtheit wie in der
        Unterhalb der Wortebene gibt es               Äußerung „den roten Schuh“; Weinert
    Morpheme als kleinste bedeutungstragende          und Grimm 2012). Darüber hinaus unter-
    Einheiten (z. B. {un} in unsicher mit ver-        scheiden sich Sprachen sehr in ihrer
    neinender Bedeutung, s. u.). Weiterhin            Abhängigkeit von morphologischen und
    gibt es die semantischen Disziplinen Text-        syntaktischen Komponenten. Im Englischen
    semantik und Diskurssemantik (z. B.               wird z. B. die Satzbedeutung über die
    bei einer Unterhaltung oder Lehrver-              Wortanordnung und nicht über Endungs-
    anstaltung).                                      morpheme ausgedrückt.
Sprachentwicklung im Überblick
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                                          Satz

             NP                                              VP

      DET           N                V           NP                      PP

      Die         Kinder          verließen

                                          DET          N           P               NP
    Nomen                 (N)
    Verben                (V)             das         Kino        nach
    Präpositionen         (P)
    Nominalphrase         (NP)
    Verbalphrase          (VP)                                           DET            N
    Präpositionalphrase   (PP)
    Determinierer         (DET)                                          zwei Stunden.

. Abb. 1.2 Hierarchische syntaktische Muster

z   Syntax (Satzbaulehre)                             Sätzen liegen abstrakte hierarchische
Die Satzstruktur wird festgelegt durch            Muster zugrunde, die sich in Form von
die Syntaxregeln. Diese bestimmen die             Baumdiagrammen         darstellen   lassen.
Anordnung der Wörter, Phrasen und Satz-           Hauptelemente sind die Nominal- und die
teile innerhalb von Satzkonstruktionen            Verbalphrase (. Abb. 1.2).
und ermöglichen es z. B. Kindern, ein-                Elemente einer syntaktischen Kon­
fache Sätze („Er hat es getan“) in Fragen         struktion müssen im Deutschen kongruent
umzuwandeln („Hat er es getan?“), Sätze           sein bezüglich Genus, Kasus, Numerus
in andere zu integrieren („Mattis, der            und Person: „Ich gebe der Katze Milch“
wütend auf Lena ist, kommt nicht zu               (statt „Ich gebe die Katze Milch“ oder „Ich
ihrem Geburtstag“) oder lange Sätze aus           geben die Katzen Milch“).
vielen kleinen Sätzen zu bilden („Ich war
im Kindergarten, und dann hab ich mit             z    Prosodie (Lehre von der melodischen
Fynn in der Sandkiste gespielt, und dann               Gliederung der Rede)
hat Marie mir die Schaufel weggenommen,           Als Prosodie, auch „Suprasegmentalia“
und dann hab ich sie gehauen…“). Hier-            genannt, bezeichnet man die Beiträge
bei können Wortanordnungen im Satz                der Dauer, der Grundfrequenz und der
die Bedeutung des Satzes verändern (z. B.         Amplitude zur Bedeutung gesprochener
„Magdalena ärgert Leo“, „Leo ärgert               Sprache (phonetische Definition) sowie die
Magdalena“; Weinert und Grimm 2012).              Zusammensetzung von Phonemen (Lauten)
Pseudosätze wie etwa der von Noah                 in Silben, Wörtern und Phrasen und die
Chomsky geprägte Satz „colorless green            Assoziation von Phonemen mit Tönen
ideas sleep furiously“ (Pinker 1994) offen-       (phonologische Definition). Man unter-
baren besonders gut, dass wir die Wort-           scheidet die Wortprosodie (wahrgenommen
ordnungsregeln so verinnerlicht haben, dass       durch Unterschiede der Quantität, des Tons
wir den Satz sofort als grammatisch richtig       und der Betonung) und die Satzprosodie
erkennen, auch wenn dieser sinnfrei ist.          (wahrgenommen durch Unterschiede der
8     A.-K. Bockmann et al.

    Phrasierung, der Akzentuierung und der                 Die menschliche Sprache ist besonders
1   Intonation). Zur Prosodie gehören u. a.            stark vom Kontext (linguistisch und
    Sprechtempo, Lautstärke, Tonlage, Rhyth-           situationsbezogen) beeinflusst, und es
    mus und Intonation.                                bedarf zunächst einmal des Wunsches,
        Die Betonungs- und Dehnungsmuster              in einer bestimmten Situation zu
    sowie die Höhenkonturen unterscheiden              kommunizieren, bevor die Intention
    sich je nach Sprachfamilie. Im Deutschen           des Sprechers/der Sprecherin in eine
    kennzeichnen wir eine Frage z. B. durch            sprachliche Form und einen Inhalt über-
    eine ansteigende Sprachmelodie. Prosodie           führt wird. Nur wenn ein Kind z. B. ein
    gibt Auskunft über den emotionalen                 bestimmtes Spielzeug haben möchte und
    Zustand des Sprechers/der Sprecherin und           sich im entsprechenden Kontext befindet, in
    vermittelt   linguistische  Informationen          dem es dieses auch bekommen kann, wird
    darüber, ob z. B. die Äußerung „Papa               es die Regeln von Morphologie, Syntax,
    kommt heute Abend früher“ als Frage oder           Phonologie und Semantik anwenden, um
    Aussage gemeint ist. Prosodische Hinweise          seinen Wunsch auszudrücken (z. B. „Ball
    wie Betonungs- und Pausenmuster geben              haben“). Vor diesem Hintergrund wird
    Hinweise zur Gliederung von Sprache                Pragmatik auch als das grundlegende
    und erleichtern die Speicherung und die            Ordnungsprinzip von Sprache verstanden,
    Verarbeitung sprachlicher Äußerungen               was . Abb. 1.3 veranschaulicht.
    (Weinert und Grimm 2012).                              Sprachlich-kommunikatives     Handeln
                                                       ist ein komplexer Prozess und bedarf des
    z   Pragmatik    (Lehre       vom   sprachlichen   Zusammenspiels von sprachlichen Aspekten
        Handeln)                                       (u. a. Prosodie, Morphologie und Syntax)
    Pragmatik beschäftigt sich mit der                 und nichtsprachlichen Aspekten (z. B. Auf-
    Sprache als Kommunikationsmittel, also             merksamkeit, Gedächtnis und nonverbale
    den Regeln zum sozialen Gebrauch von               Kommunikation; Spreer und Sallat 2015).
    Sprache, und weniger mit ihrer Struktur.           Pragmatik braucht mehr als die anderen
    Denn linguistisches Wissen genügt nicht,           Komponenten von Sprache das Verstehen
    um Sprache angemessen nach Situation               von Kultur, Sozialisation und Individuum.
    und kommunikativen Bedingungen im All-             Zur Pragmatik zählen ebenfalls die Erzähl-
    tag so einsetzen zu können, dass man ver-          fähigkeiten. Insgesamt sind insbesondere
    standen wird. So würde z. B. die ironische         3 übergreifende Aspekte relevant für den
    Bemerkung: „Das hast du ja mal wieder              sozialen Sprachgebrauch (Owens 2012, S. 24):
    ganz toll gemacht“, bei jüngeren Kindern           5 Kommunikationsabsichten und deren
    aufgrund des fehlenden Verständnisses für              angemessene Umsetzung
    Ironie als Lob verstanden werden.                  5 Kommunikationsregeln, soziale Kon-
        Menschen handeln mit Sprache und                   ventionen (z. B. Wissen, wann man was
    verwenden diese zu bestimmten Zwecken,                 wie sagen sollte)
    z. B. zum Beruhigen, Fordern, Informieren          5 Diskurstypen (z. B. Erzählungen und
    oder als Ausdruck von Gefühlen, und                    Witze) und deren Konstruktion
    erreichen diese Zwecke nur, wenn sie sich
    entsprechend an den Kontext anpassen.              Wenn Sprache für soziale Zwecke
    Die Gebrauchsfunktion von Sprache lässt            gebraucht wird, bestimmen pragmatische
    sich mit dem Begriff „Kommunikation“               Regeln linguistische, extralinguistische
    umschreiben, sodass diese Sprachebene              und    paralinguistische Aspekte     von
    auch      als    kommunikativ-pragmatisch          Kommunikation, z. B. Wortwahl, Gestik,
    bezeichnet wird (Kannengieser 2019).               Mimik, Blickkontakt, Dynamik, Pausen.
Sprachentwicklung im Überblick
                                                                                  9               1

       Pragmatik

                                                               Semantik/Lexikon
           Prosodie

                                                                     Syntax/Morphologie
                  Phonologie                                                 (Grammatik)

. Abb. 1.3 Pragmatik als Ordnungsprinzip von Sprache

. Abb. 1.4 Bildergeschichte. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Volker Kaufmann)

    Die    Ebenen   des   Sprachsystems                 Jasper (2;9 Jahre)
lassen sich gut anhand der Analyse der                  5 Jasper: „Ein Frosch … und eine Maus …
Äußerungen des knapp 3-jährigen Jasper                     und des … auch eine Maus … und des
und der 4-jährigen Alexandra zu der                        auch is eine Maus.“
Bildergeschichte in . Abb. 1.4 nachvoll-                5 Interviewer: „Was macht die Maus denn
ziehen.                                                    da?“
                                                        5 Jasper: „Da Wasser pschingen die. Die
                                                           pschingt – Wasser.“
   ► Beispiel: Veranschaulichung der
   einzelnen Sprachebenen anhand von                    Phonologie: Jasper produziert in der
   Äußerungen sprachlich altersgemäß                    Beispieläußerung bereits alle Laute korrekt.
   entwickelter Kinder                                  Lediglich die komplexe Konsonantenver-
   Mehreren Kindern wurde eine Bilder-                  bindung „spr“ bereitet ihm noch Schwierig-
   geschichte    vorgelegt       (. Abb. 1.4),          keiten, was altersangemessen ist.
   und es wurden die entsprechenden                     Semantik: Jasper benennt die abgebildeten
   Sprachäußerungen festgehalten:                       Tiere korrekt als Maus und Frosch und
10      A.-K. Bockmann et al.

         wählt für die ausgeführte Handlung das           strukturieren, wobei sie die Prosodie (Lehre
1        passende Verb „springen“.                        von der melodischen Gliederung der Rede)
         Grammatik: Bezogen auf die Syntax zeigt der      als eigenständige Sprachkomponente und
         erste Satz, dass Jasper die Wortreihenfolge      Kompetenz hervorheben. Auch Kauschke
         hier nicht gemäß der Struktur des deutschen      (2012, S. 2) beschreibt die Betrachtung von
         Hauptsatzes realisiert, sondern das Verb an 3.   Sprache als zergliedertes System von Zeichen,
         statt an 2. Satzposition verortet. Im darauf-    „in dem Einheiten zu größeren Komplexen
         folgenden Satz platziert er das Verb an der      kombiniert oder in kleinere Elemente zer-
         korrekten Stelle, lässt jedoch die Präposition   gliedert werden können“.
         „ins“ als obligatorisches Funktionswort aus,         Aber schon einfache Sätze sind
         was ebenfalls unter den Bereich der Syntax       „komplexe und vielschichtige Objekte“
         gefasst wird. Bezüglich der Morphologie          (Tracy 2000, S. 6), die durch das gleich-
         verwendet Jasper in der Beispieläußerung         zeitige     komplexe        Zusammenwirken
         zunächst die Infinitivform „springen“ anstelle   aller     Sprachkomponenten        entstehen.
         der geforderten Personalform „springt“.          Und die Frage liegt nahe, ob ein solches
         Im folgenden Satz stellt er dagegen die not-     Komponentenmodell von Sprache über-
         wendige Übereinstimmung zwischen Subjekt         haupt sinnvoll ist oder vielmehr ein künst-
         und Verb ­    (Subjekt-Verb-Kongruenz) her       lich erzeugtes Hilfsmittel darstellt, um
         („die springt“).                                 trotz seiner hohen Komplexität über das
         Pragmatik: Jasper zeigt seine Fähigkeit zur      Phänomen Sprache diskutieren und nach-
         Bezugnahme auf einen Gesprächspartner            denken zu können.
         in seiner angemessenen Antwort auf die               Störungen der Sprache im Kindes-
         Frage: „Was macht die Maus denn?“ Jaspers        und Jugendalter sowie im Erwachsenen-
         Äußerungen stehen noch als Einzelaussagen        alter unterstützen jedoch die Vorstellung
         nebeneinander, er verknüpft die einzelnen        vom Bestehen unterschiedlicher Sprach-
         Bilder nicht zu einer zusammenhängenden          komponenten: So bilden Patienten mit einer
         Erzählung („des … auch eine Maus“).              ausgeprägten ­ Wernicke-Aphasie als Folge
                                                          eines Schlaganfalls bei morphosyntaktischer
         Alexandra (4 Jahre)                              Korrektheit semantisch abweichende bis
         5 Alexandra: „Da springt eine Maus ins           hin zu völlig unsinnigen Äußerungen in
            Wasser … und dann geht der Schwimm-           einem scheinbar unkontrollierbaren Rede-
            reifen weg. Und dann kommt ein Frosch         strom („Logorrhö“), ohne jegliches Ver-
            und rettet sie. Und setzt sie auf seinen      ständnis für Kommunikationsregeln wie
            Rücken … so ist das alles.“                   Turn-Taking (Organisation des Sprecher-
                                                          ­
                                                          wechsels in kommunikativen Situationen).
         Das Beispiel von Alexandra zeigt bereits eine    Jugendliche mit einem Asperger-Syndrom,
         Erzählstruktur mit Einstieg, Höhepunkt           einer Form des Autismus, zeigen bei sehr
         und Schluss der Erzählung, wobei sie ihre        guten lexikalischen und grammatischen
         Geschichte auch durch erste verbindende          Fähigkeiten häufig massive Probleme mit
         Elemente („und dann…“) als zusammen-             der situativ-kontextangemessenen Nutzung
         hängend verdeutlicht.◄                           von Sprache, haben also Schwierigkeiten
                                                          auf der Ebene der Pragmatik (z. B. Ver-
    Die Sprachkompetenz ergibt sich aus dem               stehen von Ironie und sprachlichen Rede-
    Zusammenspiel von Wissenssystemen, die                wendungen wie: „Also dann bis später, altes
    Weinert und Grimm (2018) in Komponenten,              Haus!“ oder „Du holst dir ja den Tod!“;
    Funktion und erworbene Kompetenzen                    Haddon 2005).
Sprachentwicklung im Überblick
                                                                            11                1
z   Weiterführende Literatur                         Der Sprachentwicklung im 1. Lebensjahr
Eine ausführlichere Darstellung linguistischer   widmen wir einen eigenen Unterabschnitt
Grundbegriffe bzw. sprachwissenschaftlicher      (7 Abschn. 1.2.1) und legen in diesem
Fachsprache findet sich bei Kannengieser         ebenso einen besonderen Schwerpunkt
(2019) und Szagun (2019):                        auf die Entwicklung des Sprachverständ-
5 Kannengieser, S. (2019). Sprach-               nisses sowie bestimmter Sprachverständ-
   entwicklungsstörungen.        Grundlagen,     nisstrategien, da diese besonders relevante
   Diagnostik und Therapie (4. Aufl.).           Aspekte der Sprachentwicklung darstellen
   München: Elsevier.                            und häufig keine ausreichende Beachtung
5 Szagun, G. (2019). Sprachentwicklung           in Theorie und Praxis finden. Nachfolgend
   beim Kind: Ein Lehrbuch (7. Aufl.).           behandeln wir die Sprachentwicklung vom
   Weinheim, Basel: Beltz.                       2. bis zum 6. Lebensjahr (7 Abschn. 1.2.2).
                                                 Eine     Veranschaulichung     wesentlicher
Weiterführende Erläuterungen zu den              Aspekte in Form von Übersichten soll die
Sprachebenen bzw. Komponenten von                Wissensvermittlung sowie den späteren
Sprache lassen sich bei Beyer und Gerlach        Wissensabruf erleichtern.
(Beyer and Gerlach 2019) und Kannengieser
(2019) nachlesen:
5 Beyer, R., & Gerlach, R. (2019). Sprache       1.2.1  Sprachentwicklung im
   und Denken (2. Aufl.). Wiesbaden:                    1. Lebensjahr
   Springer.
5 Kannengieser, S. (2019). Sprachent-            Erst in den letzten 50 Jahren hat sich die Ein-
   wicklungsstörungen. Grundlagen, Diagnostik    schätzung der Fähigkeiten eines Säuglings
   und Therapie (4. Aufl.). München: Elsevier.   deutlich gewandelt. Nahm man noch in der
                                                 ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, dass
                                                 Säuglinge im Verhalten primär trieb- und
1.2  Meilensteine der                           reflexgesteuert und in ihren Wahrnehmungs-
     Sprachentwicklung                           fähigkeiten stark eingeschränkt seien, geht
                                                 man heute vom kompetenten Säugling aus.
In diesem Kapitel geht es vorrangig um           Die experimentalpsychologischen Methoden
den einsprachigen Erstspracherwerb der           der Säuglingsforschung haben entscheidend
deutschen Sprache, auch wenn generell            dazu beigetragen, dass nun die Vielfalt und
infrage gestellt werden kann, ob dieser          die Relevanz der Entwicklungsschritte,
als „reine“ Form existiert (vgl. 7 Kap. 5).      die ein Kind im 1. Lebensjahr erfolgreich
Kinder, deren Erstsprache „nur“ Deutsch          bewältigt, anerkannt sind und auch zur
ist, wachsen möglicherweise in einer Region      Sprachentwicklung fundierte Kenntnisse vor-
auf, in der Dialekt gesprochen wird, und         liegen (Pauen 2018).
erlernen diesen ebenfalls. Lehnwörter,
die aus anderen Sprachen Einzug in die           1.2.1.1  Entwicklung des
deutsche Sprache gehalten haben (z. B.                    Sprachverständnisses im
Anglizismen wie Baby und Show oder                        1. Lebensjahr
Gallizismen wie Friseur und Café) unter-         In Forschung und Praxis werden die
stützen die Argumentation, dass Kinder in        Begriffe „Sprachverstehen“ und „Sprach-
Deutschland nicht in „reiner“ Einsprachig-       verständnis“ zumeist synonym verwendet.
keit aufwachsen (vgl. Hellrung 2019, S. 55).     Dabei bezeichnet Sprachverständnis mehr
12     A.-K. Bockmann et al.

    die Wissensstrukturen, die abgerufen             Umwelt und wird beeinflusst von sprach-
1   werden müssen, um Sprache verstehen zu           lichen, kognitiven und kommunikativen
    können, wohingegen Sprachverstehen die           Prozessen (Hellrung 2019). Im 1. Lebens-
    Informationsverarbeitung während des             jahr stehen das Verstehen von Wörtern
    Verstehensprozesses meint (Hachul und            und die auditive Wahrnehmung im
    Schönauer-Schneider 2019). Allgemein             Vordergrund, bevor dann semantische
    lassen sich als Ebenen des Sprachverstehens      Beziehungen zwischen Satzteilen erkannt
    die Wort-, die Satz-, die Text- und die Dis-     werden (Kannengieser 2019). Das Wort-
    kursebene unterscheiden. Beim Verstehen          verständnis ist das Wissen des Kindes über
    von Wörtern unterscheidet man Inhalts-           Wörter (Bates et al. 1995) und es entwickelt
    wörter wie Nomen, Verben und Adjektive           sich vor der Wortproduktion. Gerade kon-
    von Funktionswörtern (z. B. Präpositionen        zeptuelles Wissen wird im 1. Lebensjahr
    und Konjunktionen).                              aufgebaut und ist entscheidend für das
        Dem Sprachverständnis bzw. Sprach-           Verstehen von Sprache (Kauschke 2012).
    verstehen      kommt      eine      Schlüssel-   Die genaue Beziehung zwischen Sprach-
    rolle in der Sprachentwicklung zu                verstehen und Sprachproduktion ist unklar
    (Rohlfing 2019). Zum einen müssen die            und dynamisch – je nach Alter und sprach-
    Kinder aus den Äußerungen anderer                lichen Aspekten –, was auf das unterschied-
    deren Bedeutung und Sinn entnehmen               liche Entwicklungstempo und variierende
    (semantisch), zum anderen aber auch die          linguistische Anforderungen zurückzu-
    kommunikative Absicht (kommunikativ-             führen ist (Owens 2016).
    pragmatisch) erfassen (Kannengieser 2019).           Lange bevor Kinder das erste Wort
    Im Gegensatz zur Sprachproduktion bedarf         sprechen, sind sie fähig, Sprache wahr-
    das Verstehen von Sprache vieler (auch nicht     zunehmen. Bereits im Mutterleib hören
    lautsprachlicher) Fähigkeiten (Kauschke          und verarbeiten die Kinder Sprache
    2015) und ist nicht direkt beobachtbar, was      und können von Geburt an zwischen
    es für Bezugspersonen weniger gut ein-           Sprachlauten und anderen Tönen oder
    schätzbar macht (Hellrung 2019).                 Geräuschen differenzieren. Ihre Fähig-
        Eltern erleichtern Kindern das Ver-          keit zum Hören entwickelt sich ab der 26.
    stehen von Sprache, indem sie besonders          bis 28. Schwangerschaftswoche (Michaelis
    relevante Wörter betonen oder wiederholen        2010), und akustische Eindrücke spielen
    und automatisch Hinweise zum Verstehen           eine entscheidende Rolle für die weitere
    geben. So wird die Aufforderung: „Schau          Entwicklung des Hörens und der Sprach-
    mal, wer da kommt“, von einer Zeigegeste         entwicklung     (Kral    2010;    Papoušek
    zur geöffneten Tür begleitet. Auch wird          2001). Kinder bevorzugen die Stimme
    das Gesagte gerade bei jüngeren Kindern          der Mutter und nehmen die mit ihr ver-
    mit Mimik unterstrichen und es bezieht           bundene Melodie und Rhythmik wahr
    sich auf den unmittelbaren Kontext. „Wo          (Friederici 2013; Mampe et al. 2009). So
    ist der Ball?“, wird gefragt, wenn der Ball      lernen sie schon wenige Tage nach der
    direkt im Sichtfeld des Kindes ist, wobei die    Geburt die mütterliche Stimme von den
    Augen fragend weit geöffnet sind. Es ver-        Stimmen anderer Menschen (im Über-
    wundert also nicht, dass Erwachsene die          blick Saffran et al. 2006; Kuhl 2004) und
    Sprachverständnisfähigkeiten von Kindern         ihre Muttersprache von anderen Sprachen
    leicht überschätzen (Hellrung 2019; Owens        zu unterscheiden (Mehler et al. 1988). Sie
    2016).                                           bevorzugen dabei eindeutig ihre Mutter-
        Das Sprachverständnis entwickelt sich        sprache, selbst dann, wenn das Gehörte
    in Interaktion und Kommunikation mit der         nicht von der eigenen Mutter stammt.
Sprachentwicklung im Überblick
                                                                                    13               1
Doch es ist nicht etwa so, dass Neu-                     Betonungsmuster (z. B. „Apfel“, zuerst
geborene das Gesprochene wirklich ver-                   betonte, dann unbetonte Silbe), um Wort-
stehen, vielmehr orientieren sie sich an den             anfänge und -enden zu identifizieren, und
prosodischen Sprachmerkmalen, z. B. der                  erkennen das Ende von (Teil-)Sätzen durch
Melodie, der Betonung, der Pausensetzung,                Pausen (Morgan 1996; Weber et al. 2004).
und erkennen daran die ihnen vertraute                        Die Fähigkeit, Äußerungen in ihre
Sprache (Kuhl et al. 1992, vgl. Sprach-                  Bestandteile zu zerlegen, ist eine basale
wahrnehmung vor der Geburt). Emotionale                  Voraussetzung für die spätere Wortschatz-
Inhalte nehmen Kinder in diesem jungen                   und Grammatikentwicklung. Ausgehend
Alter ebenfalls über die mütterliche                     von erkannten Wörtern im Redefluss,
Intonation wahr (Mampe et al. 2009).                     filtern Säuglinge auch neue Wörter heraus,
                                                         sodass sich ihr Wortschatz sukzessive auf-
Sprachwahrnehmung vor der Geburt                         baut. Eine Studie von Jusczyk und Aslin
In einem Experiment von DeCaspar und Spence              (1995) zeigte hierzu, dass Kinder bereits mit
(1986) rezitierten 33 schwangere Frauen während          7,5 Monaten vertraute Wörter im Redefluss
der letzten 6,5 Schwangerschaftswochen täglich die-
selbe kurze Kindergeschichte. Nach der Geburt
                                                         wiedererkennen. Ab dem 8. Lebensmonat
wurde die Reaktion von 16 der Neugeborenen auf die       beginnen sie, die von ihnen identifizierten
bereits aus dem Mutterleib bekannte sowie eine bis-      Wörter den beiden Kategorien „Inhalts-
her unbekannte Kindergeschichte beobachtet. Die          wörter“ (Nomen, Adjektive, Verben) und
Neugeborenen konnten durch ihr Saugverhalten an          „Funktionswörter“ (vor allem Pronomina,
einem präparierten Schnuller beeinflussen, ob die
bereits bekannte Geschichte oder die unbekannte
                                                         Artikel, Präpositionen) zuzuordnen (Höhle
Geschichte abgespielt wird. Die Ergebnisse zeigen,       2004; Höhle und Weissenborn 2003).
dass Neugeborene durch ihr Saugverhalten besonders            Mit 6–9 Monaten verstehen Kinder die
häufig die bereits bekannte Geschichte abspielten. Bei   ersten Nomen (Bergelson und Swingley
7 Säuglingen konnte zudem gezeigt werden, dass diese     2012; Grimm und Weinert 2002), wobei
die bereits bekannte Geschichte auch präferierten,
wenn beide Geschichten von einer fremden weib-
                                                         das Verständnis stark an den unmittelbaren
lichen Stimme vorgelesen wurden. Bei den 12 Säug-        sozialen Kontext gebunden ist. Einzelne
lingen der Kontrollgruppe, deren Mütter während          Wörter ohne den passenden Kontext
der Schwangerschaft keine der Kindergeschichten          werden zu diesem Zeitpunkt noch nicht
rezitiert hatten, wurde dagegen für keine der beiden     verstanden (Grimm 2003; Weinert 2011).
Geschichten eine Präferenz festgestellt. Die Befunde
sprechen dafür, dass die Neugeborenen die Geschichte
                                                              Das spätere Verständnis von Sätzen baut
aufgrund ihrer prosodischen Merkmale wieder-             sich durch die Schlüsselwortstrategie auf,
erkennen, was auf das Bestehen eines pränatalen          bei der Satzinhalte über einzelne Wörter
Lernens und Gedächtnisses hindeutet.                     erschlossen werden. Aus dem Alltag ver-
                                                         traute Verben (z. B. „trinken“) werden bereits
Studien zeigen, dass Säuglinge ihren                     von 10 Monate alten Säuglingen verstanden
Namen ab dem 4. bzw. 5. Monat aus dem                    (Nomikou et al. 2019). Ab dem 10. Lebens-
Redefluss herausfiltern (Mandel et al.                   monat entwickelt sich der für die weitere
1995; Parise et al. 2010). Ab dem 6. Monat               Sprachentwicklung hoch relevante trianguläre
beginnen Säuglinge gedanklich, sprachliche               Blickkontakt, auch Triangulierung oder
Äußerungen in Segmente (Wörter, Sätze,                   Joint Attention (geteilte Aufmerksamkeit)
Phrasen) zu unterteilen, wobei sie sich ver-             genannt (u. a. Tomasello und Farrar 1986;
schiedener Strategien bedienen. Kinder                   Exkurs: Basale kommunikative Fähigkeiten
mit deutscher Muttersprache folgen z. B.                 des Kindes: Turn-Taking, triangulärer Blick-
dem im Deutschen typischen trochäischen                  kontakt und intentionale Kommunikation).
14      A.-K. Bockmann et al.

         Exkurs
1        Basale kommunikative Fähigkeiten des Kindes: Turn-Taking, triangulärer Blickkontakt
         und intentionale Kommunikation

         Bevor Kinder anfangen zu sprechen,              Kommunikationspartners (Schlesiger 2009).
         existieren bereits viele Kommunikations-        Ein weiterer grundlegender Mechanismus
         formen zwischen ihnen und ihren Bezugs-         der Kommunikation ist der trianguläre
         personen, die auf basalen kommunikativen        Blickkontakt, auch Joint Attention oder
         Fähigkeiten aufbauen. So beobachten wir         Triangulierung genannt, der in einer Drei-
         bei Kindern bereits ab dem 9. Lebens-           eckssituation aus Kind, einer Bezugsperson
         monat erste Kommunikationsregeln im             und einem Ziel (z. B. einer weiteren Person,
         Sinne eines wechselseitigen Dialogs (Turn-      einem Tier oder einem Objekt) entsteht. Tri-
         Taking; Hecking 2008). Sie reagieren dann       angulierung kann durch folgenden Ablauf
         verbal und nonverbal auf Fragen, Auf-           beschrieben werden (Tomasello und Farrar
         forderungen oder Sprechpausen ihres             1986):

         1. Ein Interaktionspartner (Kind oder Bezugsperson) lenkt die Aufmerksamkeit des Gegen-
            übers auf ein Objekt bzw. eine Person.
         2. Die Aufmerksamkeit beider Interaktionspartner liegt auf dem Ziel.
         3. Das Kind weist auf die Aufmerksamkeit der Bezugsperson hin bzw. nimmt sie wahr.

         Zentrale Voraussetzung für diese geteilte       Ball) und einer sprachlichen Äußerung der
         Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit, die           Bezugsperson (z. B. „Das ist ein Ball“) her-
         Kognitionen des Gegenübers mental abzu-         gestellt werden kann. Auf diese Weise ist
         bilden, oder anders ausgedrückt: Beide          es Kindern möglich, sich die Bedeutung
         Interaktionspartner müssen über das Wissen      von Wörtern zu erschließen (vgl. Racine
         verfügen, dass sie durch die gemeinsame         und Carpendale 2007; Tomasello 1995).
         Aufmerksamkeit auf ein Ziel miteinander         Tomasello und Farrar (1986) konnten nach-
         verbunden sind. Dieses Wissen grenzt            weisen, dass das mütterliche Benennen von
         den triangulären Blickkontakt von einer         Gegenständen im kindlichen Aufmerksam-
         zufälligen, gemeinsamen Aufmerksamkeit          keitsfokus 15 Monate alter Kinder positiv
         bezüglich eines Zieles ab, die beispielsweise   mit der erlernten Anzahl neuer Wörter mit
         entsteht, wenn 2 Nachbarn aus dem 1. und        21 Monaten zusammenhängt.
         2. Stock, ohne von der Aktivität des anderen    Parallel zur Fähigkeit der gemeinsamen
         zu wissen, aus dem Fenster schauen und das      Aufmerksamkeit nehmen Kinder zunächst
         Silvesterfeuerwerk beobachten.                  das Verhalten ihrer Eltern als absichtsvoll
         Empirische Studien deuten darauf hin, dass      wahr und setzen dann selbst intentional
         der Mechanismus des triangulären Blick-         Gestik, Lautäußerungen oder Verhalten ein
         kontakts einen entscheidenden Einfluss auf      (Papoušek 2006). Mit dieser intentionalen
         die sprachliche, soziale und kognitive Ent-     Kommunikation machen die Kinder nicht
         wicklung von Kindern hat.                       nur dem Gegenüber ihre Bedürfnisse ver-
         Bezogen auf die sprachliche Entwicklung         ständlich, sie erwarten hierauf auch eine
         bietet der trianguläre Blickkontakt einen       Reaktion des Kommunikationspartners und
         gemeinsamen Bezugsrahmen für das Kind           nutzen hierfür zum Ende des 1. Lebensjahres
         und seine Bezugsperson, indem eine direkte      Gesten wie das Zeigen auf ein Kuscheltier,
         Beziehung zwischen dem Ziel (z. B. einem        damit die Mutter es ihnen bringt.
Sprachentwicklung im Überblick
                                                                              15                  1

   Entwicklung des Sprachverständ­                      – Erkennen von Wörtern anhand der
   nisses – Meilensteine im 1. Lebensjahr                 Betonungsmuster, zuerst Wörter mit
   (in Anlehnung an Gebhard 2008; Hachul                  dem typischen Betonungsmuster
   und Schönauer-Schneider 2012; Mathieu                  der Sprache: Im Deutschen werden
   1995; Schönauer-Schneider und Eiber                    Zweisilber typischerweise auf der
   2010)                                                  1. Silbe betont (Trochäus), Drei-
   5 Im Mutterleib:                                       und Viersilber auf der vorletzten
      – Hören ab der ca. 24. Schwanger-                   Silbe.
        schaftswoche                                    – Fähigkeit zur geteilten Aufmerk-
      – Vertrautwerden mit Prosodie der                   samkeit (Joint Attention) als
        Sprache (Rhythmus, Tempo, Ton-                    Grundlage des Sprachverstehens
        fall, Intonation usw.)                          – Lexikalisches Verständnis sehr ver-
      – Reaktion auf geringe lautliche Ver-               trauter Wörter („Mama“, „Papa“)
        änderung ab der 32. Schwanger-                  – Verstehen der Situation, nicht der
        schaftswoche                                      Aufforderung selbst: „Setz dich auf
   5 Nach der Geburt bis zum 6. Monat:                    den Stuhl, es gibt Essen.“
      – Unterscheidung von Geräuschen                   – 10. bis 12. Monat: lexikalisches Ver-
        und Sprachlauten                                  ständnis von 50 bis 100 Wörtern
      – Kategoriale Unterscheidung aller
        Laute der Welt
      – Sensibilität gegenüber der Mutter-
        sprache
                                                  1.2.1.2  Entwicklung der
      – Erkennen der prosodischen Sprach-                 Sprachproduktion im
        muster der Muttersprache                          1. Lebensjahr
      – Ab 4. Monat: Erkennen des eigenen
        Namens aus dem Lautstrom („Woh            z   Phonologie
        atsichnurderjohannesversteckt?“)          Als erster kindlicher Laut gilt der Schrei
      – Aktives Zuwenden des Kopfes als           nach der Geburt. Dabei dienen das
        Reaktion auf den eigenen Namen            Schreien und andere Vokallaute dem
   5 6. bis 12. Monat:                            Säugling in dieser frühen Phase seines
      – Spezialisierung für Laute der Mutter-     Lebens dazu, eigene Befindlichkeiten wie
        sprache                                   Müdigkeit, Hunger oder Zufriedenheit zu
      – Gedankliches Segmentieren von             kommunizieren (Papoušek 2014). Bereits
        Sprachäußerungen und Heraus-              dieses Schreien lässt sich als Vorläufer der
        filtern neuer Wörter                      Sprachentwicklung verstehen, da es mutter-
      – Erkennen von Wahrscheinlichkeiten,        sprachähnlich bzw. zielsprachtypisch und
        mit denen ein Laut auf einen anderen      in Bezug auf die Sprachmelodie und den
        folgt (auf /st/ folgt am Wortanfang /r/   Rhythmus immer komplexer werdend
        oder ein Vokal, nach /m/ am Wort-         bereits von 4 Tage alten Säuglingen variiert
        anfang folgen Vokale usw.)                wird (Fox-Boyer und Schäfer 2015; Mampe
      – Sensibilität für Verteilungsmuster        et al. 2009). Darüber hinaus konnte gezeigt
        der Laute: Bestimmte Lautkombi­           werden, dass die melodische Komplexi-
        nationen gibt es im Deutschen             tät der Schreimuster in den ersten beiden
        nicht, z. B. /t/ und /m/ oder /t/         Monaten eine prognostische Validität
        und /b/ stehen nie gemeinsam am           für die weitere Sprachentwicklung auf-
        Wortanfang, aber an Wortgrenzen           weist. So war die Wahrscheinlichkeit einer
        treffen sie aufeinander („fährt mit“,     Sprachentwicklungsverzögerung (SEV) mit
        „malt Blätter“).                          2;6 Jahren 5-fach erhöht für Kinder, deren
16    A.-K. Bockmann et al.

    Schreie während ihres 2. Lebensmonats           und Meltzoff 1982; Legerstee 1990;
1   unterhalb einer melodischen Komplexität         Meltzoff und Moore 1977). Zudem sind
    bzw. Variabilität von 45 % lagen (Wermke        sie sensibel für Stimmklang und mög-
    et al. 2007). Die ersten beiden Lebens-         liche Stimmungen, die dieser ausdrückt.
    monate werden in der Spracherwerbs-             Diese Entwicklung geht einher mit dem
    forschung als Phonationsstadium bezeichnet.     ersten aktiven Zuwenden des Kopfes zu
    In dieser Phase besitzen Säuglinge als          Geräuschquellen sowie der Reaktion auf
    „anatomisches Handicap“ im Mund- und            den eigenen Namen.
    Rachenraum einen hoch gelagerten Kehl-               Ein Meilenstein in der Sprach-
    kopf und einen hierdurch zu geringen Raum       entwicklung im 1. Lebensjahr ist das
    für die Zunge, um Vokale und Laute deut-        kanonische Babbeln bzw. Lallen nach
    lich zu artikulieren (Kauschke 2012, S. 30).    etwa einem halben Jahr. Nach einer Vor-
    Erst durch die Streckung des Halses und         stufe (marginales Babbeln) sind Kinder
    das Absenken des Kehlkopfes zwischen            fähig, Silben zu sprechen, die aus einer
    dem 3. und 6. Lebensmonat entstehen             ­Konsonant-Vokal-Kombination bestehen
    Resonanz- und Bewegungsräume für eine            (z. B. /ba/, /ta/; Oller 1986). Im weiteren
    differenziertere Lautproduktion (Kauschke        Verlauf werden diese Kombinationen zu
    2012; Ploog 1992).                               mitunter sehr langen Silbenketten ver-
        Nach einer Phase, in der die Säuglinge       knüpft (z. B. „babababa“, „tatatatatata“)
    überwiegend Gurrlaute aus dem Rachen-            und      später     mit    unterschiedlichen
    bereich (z. B. „grrr“) hervorbringen, ent-       Vokalen und Konsonanten variiert (z. B.
    wickeln sie ab dem 3. Lebensmonat die            „tadatade“, „mamemame“), was als
    Fähigkeit, Laute gezielter zu produzieren        reduplizierendes bzw. variiertes Babbeln
    und spielerisch zu explorieren. Auf diese        bezeichnet wird (Hoff 2009). Ab dem
    Weise lautieren Säuglinge in einer enorm         9. Monat ziehen Kinder phonotaktisch
    großen Bandbreite. Sie quietschen, lachen,       zulässige Lautkombinationen aus ihrer
    glucksen, murmeln, brummen, schnalzen,           Muttersprache denen aus Nichtmutter-
    flüstern,    seufzen,    prusten,    zischen,    sprachen vor und erkennen Wörter aus der
    schmatzen und Ähnliches. Kurzum: Sie             Muttersprache anhand phonotaktischer
    spielen mit den wachsenden Möglich-              Regelmäßigkeiten (Jusczyk et al. 1993).
    keiten ihres Sprechapparats. In dieser Phase     Darauf aufbauend entwickeln Kinder
    erzeugen Säuglinge auch Laute, die nicht         ab dem 10. Monat eine Art „Babbel-
    in der eigenen Muttersprache existent sind.      Jargon“, bei dem sie längere Äußerungen
    Das freie Spiel mit verschiedenen Lauten         produzieren, die sie an die Melodie und
    in der ersten Hälfte ihres 1. Lebensjahres       Intonation ihrer Muttersprache anpassen
    ermöglicht es den Säuglingen, ihre eigene        (Kent und Miolo 1995). Auf diese Weise
    Aussprache mit der dargebotenen Aus-             verschwinden nicht der Muttersprache
    sprache von Lauten abzugleichen und ihre         zugehörige Laute zugunsten mutter-
    Aussprache allmählich an die Zielsprache         sprachspezifischer Laute aus dem Laut-
    anzupassen (Kuhl et al. 2008).                   repertoire des Kindes (Polka und Werker
        Während Kinder zu Beginn ihres               1994; Werker und Lalonde 1988; Werker
    Lebens vor allem Mundbewegungen ihrer            und Tees 1984). In einer internationalen
    Bezugspersonen        motorisch    imitieren,    Studie konnten Gemeinsamkeiten und
    beziehen sie im 4. und 5. Lebensmonat            Unterschiede des kanonischen Babbelns
    auch den Klang in das Nachahmen vor-             bei Kindern mit spanischer und deutscher
    gesprochener Vokale mit ein (Kuhl                Muttersprache festgestellt werden: So
Sprachentwicklung im Überblick
                                                                              17                 1
produzierten die deutschen Kinder u. a.           z   Semantik, Lexikon (und Grammatik)
mehr K ­ onsonant-Vokal-Folgen und nutzten        Die ersten eigenen Wortproduktionen
seltener Vokale am Beginn von Silben (Lléo        sind zwischen dem 10. und 14. Lebens-
und Prinz 1996).                                  monat zu beobachten, wobei es sich in den
    Die Entwicklungen in der Babbelphase          meisten Sprachen um die Wörter „Mama“
stehen in engem Bezug zur beginnenden             und „Papa“ handelt (Dale und Fenson
„Dialogführung“      zwischen     Säugling        1996; Grimm 2003). Auch hier gilt, dass die
und Bezugspersonen. Die Kinder lernen             Produktion eng mit der Situation und den tat-
in der Interaktion, Laute voneinander             sächlichen sozialen Handlungen (wie „winke,
abzugrenzen und so ihren eigenen Laut-            winke“, „komm, komm“, „heia, heia“) ver-
produktionen mehr Deutlichkeit und                knüpft ist (Kannengieser 2019; Nelson 1995).
Sprachmelodie zu verleihen.                       Des Weiteren zeigt sich, dass Kinder ab dem
    Das Nichteinsetzen des kanonischen            9. Lebensmonat prototypische Wörter aus
Babbelns bis zum 10. Lebensmonat kann in          Lautfolgen bilden, die sie kontextgebunden
Zusammenhang mit nachfolgenden Sprach-            für Gegenstände oder Lebewesen verwenden
entwicklungsstörungen (SES) stehen (Oller         (z. B. „Bada“ für alle Fahrzeuge; 7 Exkurs:
et al. 1999).                                     Wann ist ein Wort ein Wort?).

   Exkurs
   Wann ist ein Wort ein Wort?
   Die ersten Wortproduktionen (die sog. Proto-   sprechenden Zeitpunkt nicht wahrnimmt.
   wörter; Kauschke 2012) bestehen aus ein-       „Echte“ Wörter sind es auch erst dann, wenn
   fachen, phonetisch konstanten Silben und       sie phonetisch hinreichend korrekt aus-
   Silbenabfolgen. Sie existieren nicht in der    gesprochen werden, sodass Erwachsene sie
   Muttersprache, sondern werden eigens vom       identifizieren können.
   Kind erschaffen. Kinder benutzen Proto-        Wichtig ist, dass Protowörter nicht plötz-
   wörter stets fest gebunden an wiederkehrende   lich von „echten“ Wörtern abgelöst werden,
   Situationen und auf der Basis lockerer         sondern neben Protowörtern bereits erste
   Assoziationen zu Objekten, Handlungen,         „echte“ Wörter oder Mischformen aus Proto-
   Gefühlen usw. (z. B. „ha“ für den Wunsch, an   wort und „echtem“ Wort (z. B. „Afbaum“
   etwas zu gelangen, „gaga“ für Vögel).          für Apfelbaum, „Babaente“ für Badeente)
   Im Unterschied dazu entstammen die ersten      geäußert werden (Kauschke 2012).
   „echten“ Wörter aus dem muttersprach-          Zusammenfassend beschreibt Kauschke
   lichen Wortschatz und werden flexibel in       (2000, S. 11), dass es sich um „echte“
   verschiedenen Kontexten mit überein-           Wörter handelt, „wenn das Kind eine kon-
   stimmendem semantischem Bezug zwischen         ventionell festgelegte lexikalische Form als
   Gegenstand, Handlung, Gefühl usw. und          unabhängiges und flexibles Zeichen in unter-
   Wort eingesetzt. „Echte“ Wörter sind es        schiedlichen Kontexten und mit einem festen
   somit erst, wenn Kinder Wörter nicht           inhaltlichen Bezug verwendet“.
   nur nachsprechen, sondern diese eigenen        Gefördert wird der Erwerb vor allem durch
   mentalen Repräsentationen entspringen,         die gemeinsame Aufmerksamkeit des Kindes
   d. h., wenn Kinder auch ohne den ent-          und einer Bezugsperson auf ein Objekt
   sprechenden Kontext ein Bild von etwas „im     (Tomasello und Farrar 1986; vgl. 7 Exkurs:
   Kopf“ haben. Dies wäre beispielsweise der      Basale kommunikative Fähigkeiten des
   Fall, wenn ein Kind vom Hund des Nach-         Kindes: Turn-Taking, triangulärer Blick-
   barn spricht, obwohl es diesen zum ent-        kontakt und intentionale Kommunikation).
18      A.-K. Bockmann et al.

    z    Pragmatik/kommunikative Strategien            Die Entwicklung von Witz und
1   Säuglinge präferieren natürliche Stimmen,      Humor ist um das 1. Lebensjahr in Form
    Intonation, Prosodie sowie die Stimme          von inkongruenten Aktionen gegenüber
    der Mutter und versuchen, diese zu             Objekten zu beobachten (Achammer et al.
    imitieren. Das Schreien des Säuglings          2016). Auch sind Säuglinge zum Ende des
    kann als Signalverhalten für den Wunsch        1. Lebensjahres in der Lage, positive und
    nach Nähe interpretiert werden (Szagun         negative Emotionen anhand der Mimik zu
    2019). In den ersten Lebensmonaten ent-        unterscheiden (Saarni et al. 2007). Sie ver-
    wickeln Kinder soziales Lächeln und einen      wenden und verstehen dann Zeigegesten
    intensiven Blickkontakt in responsiver         und erkennen ihre eigene Empfängerrolle
    Interaktion mit dem Gegenüber (sog.            in der Kommunikation (Spreer und Sallat
    Protokonversationen;     Bateson     1975),    2015). Die verwendeten Zeigegesten ab dem
    und die Bezugspersonen reagieren auf           10. bis 12. Monat sind entscheidend für die
    das Lächeln des Säuglings mit einer Ver-       Lenkung der Aufmerksamkeit von Bezugs-
    längerung der Interaktion. Hierbei werden      personen und ermöglichen es den Kindern,
    die kommunikativ-pragmatischen Fähig-          auf Personen und Objekte hinzuweisen
    keiten entscheidend durch das Behandeln        (Achammer et al. 2016).
    des Kindes als Kommunikationspartner
    durch seine Bezugspersonen beeinflusst
    (Kannengieser 2019).                              Entwicklung der Sprachproduktion
        Erst in den folgenden Monaten ver-            von der Geburt bis zum Alter von
    binden die Kinder mit ihrem Verhalten (z. B.      1 Jahr
    Blick und Gestik) eine klare Erwartung            (in Anlehnung an: Grimm 2003; Szagun
    (Intentionalität) und beziehen sich auf           2019; Wendlandt und Niebuhr-Siebert
    Dinge außerhalb der Zweierinteraktion             2010)
    (referenzielle Absicht, Tomasello 2002;           5 Geburt bis 6. Monat:
    „triadische Interaktion“), sodass sie Ende           – Gurren, Juchzen und Quietschen
    des 1. Lebensjahres die Voraussetzungen              – Das Schreien wird differenzierter in
    erworben haben, über den zielgerichteten               Bezug auf die Sprachmelodie und
    Austausch mit anderen in das soziale Mit-              den Rhythmus und unterscheidet
    einander unserer Gesellschaft hineinzu-                sich je nach Bedürfnis.
    wachsen (Liszkowski 2015). So fordern sie            – Erste reaktive gezielte Laut-
    ab dem 9. Monat durch Lenken der Auf-                  produktion und -exploration
    merksamkeit der Bezugsperson Objekte und             – Vocal play: Sämtliche Laute aus
    Handlungen ein (Achammer et al. 2016).                 verschiedenen Sprachen der Welt
        Schon in den ersten Wochen sammeln                 werden ausprobiert und produziert.
    die Kinder durch die Interaktion mit der             – Soziales Lächeln.
    Mutter Hinweise für die Gesprächsführung          5 6. bis 12. Monat:
    über Vokalisation, Gesten und Turn-Taking            – Kontrolle     über    die   Sprech-
    (Karmiloff und Karmiloff-Smith 2001).                  werkzeuge
    Eltern interpretieren die Äußerungen                 – Erste Lautverbindungen werden
    des Kindes frühzeitig als Mitteilung und               produziert (kanonisches Babbeln:
    rahmen diese spätestens ab der ersten Lall-            „nananana“, „bababababa“; vari­
    phase mit dialogischer Struktur. So ent-               ierendes Babbeln: „banadana“,
    steht ein Wechselspiel der Äußerungen von              „manudi“).
    Eltern und Kind, und das Kind lernt, in              – Betonungsmuster der Umgebungs-
    den Sprechpausen der Eltern Äußerungen                 sprache werden nachgeahmt.
    zu machen (Kauschke 2012).
Sprachentwicklung im Überblick
                                                                          19              1
                                                2016). Man geht bei einem Verstehen
     – Bevorzugung         muttersprachlicher   von weniger als 50 Wörtern von einer
       Lautkombinationen, angepasst an          Produktion von 10 Wörtern und beim
       die Intonation und die Melodie der       Verstehen von 100 Wörtern von einem
       Muttersprache („Babbel-Jargon“).         Gebrauch von bis zu 50 Wörtern aus. Dabei
     – Vordere Konsonanten (/b/, /p/, /m/,      ist eine hohe interindividuelle Variation zu
       /n/, /d/, /t/) werden gesprochen.        beobachten. So verfügen Kinder im Schnitt
     – Referenzielle (mit dem Finger auf        mit 16 Monaten über einen rezeptiven
       etwas zeigen) und konventionelle         Wortschatz von 190 Wörtern, mit einer
       Gesten (Winken) werden eingesetzt.       Varianz von 78 bis 303 Wörtern. Ein großer
     – Bewusster Einsatz von Mimik und          rezeptiver Wortschatz garantiert nicht,
       Gestik zur Kommunikation.                dass ein Kind viele Wörter produktiv nutzt
   5 10. bis 14. Monat:                         (Bates et al. 1995). Kinder zwischen 12
     – Produktion erster, noch stark            und 18 Monaten verstehen 2 semantische
       kontextbezogener           Protowörter   Einheiten in einer bekannten Situation
       („mimi“ für Milch) und echter            und nutzen die Schlüsselwortstrategie zum
       Wörter („Mama“, „Aua“, „Ball“).          Verstehen. Fordert man sie z. B. auf, das
     – Die Zunahme neuer Wörter erfolgt         Spielzeugauto hinzustellen, dann geben sie
       langsam.                                 das Auto der Bezugsperson, weil sie nur
                                                das Wort „Auto“ verstanden haben. Diese
                                                Strategie ist somit stark kontextgebunden
1.2.2  Sprachentwicklung vom 2.                (Hachul und Schönauer-Schneider 2019).
       bis zum 6. Lebensjahr                        Generell ist das Sprachverständnis
                                                bis zu 24 Monaten sehr kontextabhängig
1.2.2.1  Entwicklung des                       (Striano et al. 2003). Kinder können jedoch
                                                ab dem 2. Lebensjahr reagieren, wenn
         Sprachverständnis vom 2.
                                                ihnen nichtsituative Aufforderungen, z. B.
         bis zum 6. Lebensjahr                  ein Spielzeug aus einem anderen Raum
Im 2. Lebensjahr liegt der Schwer-              zu holen, gestellt werden (Hachul und
punkt der Sprachverständnisentwicklung          Schönauer-Schneider 2019). Auch wenn
zunächst weiterhin auf dem Wortverstehen        ältere Kinder linguistische Hinweisreize
(Kannengieser 2019). Das Wortverstehen          einbeziehen, bleibt der Kontext für das
ist ein komplexer Vorgang, denn die Kinder      Entschlüsseln der Bedeutung von Sprache
müssen zunächst mentale Repräsentationen        wichtig. Beim Verstehen von Verben
von Objekten und Ereignissen bilden, ihre       werden zunächst generelle (z. B. „machen“)
Aufmerksamkeit fokussieren, das Klang-          und dann spezifische Verben (z. B. „essen“)
muster des Wortes erinnern sowie den            erworben.
Höreindruck und den visuellen Eindruck              Interessant ist der Befund von Mani
miteinander verbinden (Tincoff und Jusczk       und Borovsky (2017), der zeigt, dass bei
2012). Der passive Wortschatz wächst            2-jährigen Kindern beim Hören eines
im 1. und 2. Lebensjahr im Allgemeinen          Wortes (z. B. „Hund“) auch semantisch
schnell, allerdings mit hoher Variabilität      ähnliche Begriffe (z. B. „Katze“) und
des Tempos.                                     phonologisch ähnliche Wörter (z. B.
    In der Regel geht das Wortverstehen         „Haus“) aktiviert werden. Interpretiert
der Wortproduktion voraus, wobei Kinder         wird dies als Vorteil, um möglichst schnell
mehr Wörter verstehen, als sie benutzen         die Bedeutung eines Wortes vorhersagen
(Kauschke 2015; Pauen 2018). Dies gilt          und dementsprechend schnell reagieren zu
vor allem bis zur 50-Wort-Grenze (Owens         können.
20     A.-K. Bockmann et al.

          Den 12–16 Monate alten Kindern                 Kannengieser (2019) beschreibt den
1     gelingt es, ein neues Wort einer               Schwerpunkt des Sprachverstehen im
      syntaktischen Strategie zuzuordnen (Höhle      3. Lebensjahr mit dem grammatischen Ver-
      et al. 2004). Abweichungen in der Wort-        stehen. So ziehen 2- bis 3-jährige Kinder
      bedeutung sind in den ersten Lebensjahren      grammatische Klassen heran, um neue
      gut zu erkennen. Kinder ordnen z. B.           Wörter zu verstehen (Waxman 1990). Im
      alle vierbeinigen Lebewesen dem Begriff        Alter von 18 bis 24 Monaten werden das
      „Katze“ zu (Überdehnung) oder das Wort         Subjekt und das Prädikat in einfachen
      „Hund“ gilt nur für ihren eigenen Hund         Sätzen erkannt und die Bedeutung des
      (Unterdehnung; Andresen 2005).                 Verbs aus Informationen der Phrasen-
          Wichtig ist für Kinder die Fähigkeit zu    struktur erschlossen (Hirsh-Pasek und
      erkennen, wenn eine Kommunikation miss-        Golinkoff 1996).
      lungen ist und entsprechend zu reagieren           Im Vorschulalter erschließen Kinder
      (Verständniskontrolle oder Monitoring).        selten die Bedeutung von Sätzen allein aus
      Frühe Ansätze des Monitorings lassen           den morphologischen und den syntaktischen
      sich bereits im Alter von 1;6 bis 2;6 Jahren   Strukturen (Hachul und Schönauer-
      beobachten, wenn Kinder auf falsche            Schneider 2019). Im 2. und 3. Lebensjahr
      Aufforderungen mit Verweigerung oder           können Kinder inhaltlich und sprachlich
      Irritation reagieren (Zollinger 1997).         Bezug auf die Beiträge der Bezugspersonen
          Der Übergang vom Wort- zum Satzver-        nehmen und zeigen im weiteren Verlauf ein
      stehen ist fließend (Gebhard 2008). Schon      Bemühen, sich kooperativ den typischen
      13–15 Monate alte Kinder können die            Kommunikationsregeln der Erwachsenen
      Struktur einfacher Sätze erkennen, und mit     anzupassen. Auch im Alter von 2 bis
      16–19 Monaten werden Wortreihenfolgen          6 Jahren unterstützen erwachsenen Bezugs-
      von Sätzen verstanden (Hirsh-Pasek und         personen die Entwicklung von Sprachver-
      Golinkoff 1996). Zum besseren Verstehen        stehen und -produktion ihrer Kinder durch
      werden ab einem Alter von 28 Monaten           ihren entsprechend fein abgestimmten
      im begrenzten Ausmaß Wortreihenfolgen          sprachlichen Input sowie ihre Rück-
      genutzt (Owens 2016).                          meldungen auf die Äußerungen des Kindes
          Im Alter von 18 bis 36 Monaten können      (Feintuning).
    einfache Subjekt-Verb-Objekt-Sätze sowie             Der Verstehensprozess von gramma­
    Sätze mit 2 Handlungen verstanden werden.        tischen Strukturen verläuft je nach
    Ironie zu verstehen, gelingt in diesem Alter     grammatischer Kategorie unterschiedlich.
    nicht. Als Sprachverständnisstrategie wird       Auf Personen bezogene Pronomen werden
    die pragmatische Strategie genutzt. Kinder       wie die einfachen Präpositionen „in“ und
    interpretieren sprachliche Äußerungen wie        „auf“ früher verstanden. Ebenso verhält
    „der Anhänger wird vom Trecker gezogen“          es sich mit Fragepronomen, die nach dem
    danach, was ihnen aufgrund ihrer bis-            Subjekt fragen („wer, was?“) vor solchen
    herigen Erfahrungen am wahrscheinlichsten        die nach dem Objekt („wen?“), adverbialen
    erscheint: „Der Trecker zieht den Anhänger.“     Bestimmungen („z. B. wann?“) und kausalen
    Eine weitere Sprachverständnisstrategie          Zusammenhängen         („warum?“)   fragen
    im frühen Alter von 1 bis 2 Jahren ist die       (Siegmüller et al. 2005). Verneinungen zu
    ­Kind-als-Handelnder-Strategie, gemäß der        verstehen, lernen Kinder im Verlauf vom
     die Kinder Handlungen von Akteurinnen           einfachen „Nein“ über „nicht“ und „kein“
     und Akteuren in sprachlichen Äußerungen         bis hin zu komplexen Negationsstrukturen
     auf sich beziehen und z. B. bei dem Satz „der   (8-Jährige; Schulz und Tracy 2011).
     Teddy winkt“ selber winken (Hachul und              Mit etwa 3 Jahren verstehen Kinder
     ­Schönauer-Schneider 2012, S. 23).              Alternativfragen, mehrgliedrige Aufträge
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