STAATSCOMPLIANCE - UPDATE 2018: FÜR EINEN PARADIGMENWECHSEL IN DER STEUERPOLITIK - Argumente zu Marktwirtschaft und Politik - Stiftung Marktwirtschaft
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STAATSCOMPLIANCE 2 – UPDATE 2018: Das Mandat der Preisstabilität FÜR EINEN PARADIGMENWECHSEL IN DER STEUERPOLITIK Argumente zu Marktwirtschaft und Politik Nr. 143 | November 2018 Barbara Bültmann-Hinz
Compliance-Ampel Staatscompliance – Update 2018 Compliance-Ampel 2018 Die Anforderungen des Staates gegenüber dem Steuer- sungsrechtlich geschützten Sphären dar. Die Stiftung Markt- pflichtigen, sich „adäquat“ rechtstreu zu verhalten, werden wirtschaft überprüft im Rahmen der „Compliance-Ampel“ immer höher, ohne dass dem eine entsprechende Selbstver- regelmäßig die Fortschritte anhand der unten genannten pflichtung des Staates gegenüberstünde. So hält der Staat fünf Kriterien. Die „Compliance-Ampel 2018“ berücksichtigt seine eigenen Regeln oft nicht ein, obwohl er dies vom Bür- Veränderungen seit der ersten Auflage der Staatscompliance ger verlangt. Das Steuerrecht eignet sich im Besonderen als 2016 und bewertet neuere Entwicklungen des Steuerrechts Gradmesser für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger – die jedoch leider keine wesentlichen Fortschritte und damit – stellt es doch aus Sicht des Bürgers und aus Sicht der auch keine bessere Bewertung im Vergleich zu 2016 bewirkt Unternehmen einen einschneidenden Eingriff in die verfas- haben. Kriterium Gesetzgebung Bewertung: Die vermehrte Orientierung am Miss- Kontinuität, ordnungsgemäße Gesetzgebungsverfahren brauchsfall zu Lasten des ordentlichen Steuerbürgers sowie die Ausrichtung der Gesetzgebung und die Häufig- setzt sich fort, verbunden mit einem Hang des Gesetzge- keit der Gesetzesänderung sind wesentliche Kriterien für bers zur Überregulierung (z.B. nationale Anzeigepflicht für eine faire Gesetzgebung. Steuergestaltungen) und zunehmender Steuerbürokratie. Der Gesetzgeber verhält sich wenig rechtstreu, wenn er die Steuerprogression befürwortet, die entsprechende progressive Entlastung jedoch ablehnt. Kriterium Rechtssicherheit Bewertung: Das BMF hält an der Praxis der Nichtanwen- Rechtssicherheit ist für den Standort Deutschland von dungserlasse fest. Ein echter Rechtsanspruch auf ver- höchster Bedeutung. Im Steuerrecht sind diesbezügliche bindliche Auskunft fehlt nach wie vor. Erste Erfahrungen Orientierungspunkte die Häufigkeit von Nichtanwen- mit der Fristenregelung zeigen keine Beschleunigung dungserlassen, das Vorgehen im Rahmen der Betriebs- – zumal das Verstreichen der Frist ohne Konsequenzen prüfungen, das Recht auf verbindliche Auskunft, verbun- bleibt. Die Forderung nach mehr Rechtssicherheit bei der den mit echten Fristen und die Gesetzesauslegung. umsatzsteuerlichen Organschaft ist aufgrund der Einbe- ziehung von Personengesellschaften noch dringlicher. Kriterium Daten und Digitalisierung Bewertung: Der Umfang der von den Steuerpflichtigen Der Umfang und der Schutz der zur Verfügung gestellten zu erhebenden Daten nimmt stetig zu, ohne entspre- Daten und die Beschränkung des Datenzugriffs sind we- chende Gegenleistung. Deutschland fällt bei der Digi- sentliche Punkte für den Steuerpflichtigen. Die Zulieferung talisierung seiner Verwaltung im europäischen Vergleich von Daten an die Finanzverwaltung muss auch mit Vortei- weiter zurück, oft fehlt es an der technischen Umsetzung. len für den Steuerpflichtigen verbunden sein. Die Erhebung Positiv ist die Forderung nach einer Prüfung der Digital- sollte sich an den ohnehin verfügbaren Daten orientieren, tauglichkeit von Gesetzen im Koalitionsvertrag. um den Steuerpflichtigen nicht übermäßig zu belasten. Bewertung: Die Verfahrensdauer bleibt zu lang, um effek- Kriterium Verfahren tiven Rechtsschutz zu bieten. Wenn nicht die Ungleichbe- Die Dauer der Verfahren ist von höchster Bedeutung für handlung, so wird zumindest die Höhe der Zinsen derzeit Rechtssicherheit und Ressourcenplanung in den Unter- diskutiert. Bürokratieabbau bedeutet auch das Vermeiden nehmen. Der Aufwand zur Erfüllung steuerlicher Pflichten neuer Bürokratie (z.B. Anzeigepflicht). muss begrenzt sein. Kriterien sind Zinsen, Fristen, Ver- teilung von Aufwand und Risiken, Waffengleichheit etc. Bewertung: Es fehlen weitreichende Auskunftsansprü- Kriterium Transparenz che bzw. Informationspflichten. Die Regelungen der Da- Transparenz für mehr Akzeptanz beinhaltet u.a. die Ein- tenschutzgrundverordnung sind hier ebenfalls nicht aus- beziehung der Betroffenen, Auskunftsanspruch für Steu- reichend. Der Staat hält sich zudem sehr bedeckt bei der erpflichtige über vorliegende Daten und übermittelte Da- Zurverfügungstellung steuerlicher Daten. ten (Informationsaustausch).
Staatscompliance – Update 2018 Vorwort Vorwort Die Interessenlage von Staat und Steuerpflichtigen scheint oft ser beinhaltet die Forderung nach einem rechtstreuen Staat gegensätzlich zu sein. Der eine setzt die Regeln (mitunter zu und die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen seinem Vorteil) und schafft immer neue Hürden, um vermu- Rechts- und Fiskalstaat und der Beseitigung der größten tete Steuervermeidung zu verhindern. Der andere fühlt sich Ärgernisse im Steuerrecht zugunsten eines kooperativen gegängelt, mit übermäßiger Bürokratie und Regulierung bela- Steuersystems zum Nutzen von Staat und Bürger. Die Stif- stet und versucht (dem Anschein nach) steuerrechtliche Re- tung Marktwirtschaft behandelt das Thema in Form eines gelungen zu umgehen, um in seinem Wirtschaften nicht über- politischen Monitorings und bewertet die Einhaltung der mäßig eingeschränkt zu werden. Dies führt wiederum dazu, Staatscompliance in den zentralen Bereichen Gesetzge- dass der Staat Steuerpflichtige und vor allem Unternehmen bung, Rechtssicherheit, Daten/Digitalisierung, Verfahren quasi unter Generalverdacht stellt, sich der Besteuerung und Transparenz. weitmöglichst entziehen zu wollen, worauf er mit weiteren Eine Rückkehr zum vertrauensvollen Miteinander, konse- Repressionen reagiert. Das Titelbild illustriert die unterschied- quente Rechtsstaatlichkeit und die Besinnung auf eine maß- liche Sichtweise: Strampelt sich der Bürger ab, um den ste- volle Steuerpolitik mit dem Ziel, den Standort Deutschland tig wachsenden Anforderungen gerecht zu werden – oder und das Vertrauen zwischen Staat und Bürger zu stärken, versucht er sich den Regelungen zu entziehen? Übersehen liegt im allseitigen Interesse. wird dabei, dass ein effizientes, transparentes und einfaches Steuersystem im Interesse beider läge und Kooperation oft Die Stiftung Marktwirtschaft bedankt sich für die zahlreichen sinnvoller ist als Konfrontation. wertvollen Reaktionen, Anregungen und Informationen aus Darüber hinaus mutet der Steuerstaat in seinem Han- der steuerberatenden und unternehmenssteuerlichen Pra- deln oft widersprüchlich an. So erschweren komplexe und xis. Die Forderung nach einem complianten Staat setzt sich unverständliche Gesetze die Befolgung des Rechts und eine durch.1 Gesetzgebung, die vorrangig den Missbrauch im Blick hat, behindert ordentliche Steuerpflichtige zu oft in ihrem Wirt- Wir wünschen eine anregende Lektüre und freuen uns über schaften und fördert so die Ausweichreaktionen, die sie ei- Ihr Interesse und Ihre Rückmeldungen. gentlich verhindern möchte. Wird tatsächliche oder vermu- tete Niedrigbesteuerung verurteilt, so schützt der Staat die Steuerpflichtigen nur unzureichend vor Doppelbesteuerung oder zu hoher Steuerbelastung. Das Bedürfnis des Steuer- pflichtigen nach Rechtssicherheit wird mit unlauterem Ge- staltungswillen verwechselt. Transparenz wird von Unter- nehmen und Steuerpflichtigen gefordert – verbunden mit erheblichem Bürokratieaufwand, während der Staat sich selbst wenig transparent verhält. Prof. Dr. Michael Eilfort Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen Vor diesem Hintergrund hat die Stiftung Marktwirt- Vorstand Vorstand schaft den Begriff der „Staatscompliance“ geprägt. Die- der Stiftung Marktwirtschaft der Stiftung Marktwirtschaft 1 Vgl. z.B. Bäuml et al. (2017). 3
STAATSCOMPLIANCE – UPDATE 2018: FÜR EINEN PARADIGMENWECHSEL IN DER STEUERPOLITIK Barbara Bültmann-Hinz Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, Nr. 143 Inhaltsverzeichnis Vorwort 03 1 Die Forderung nach einem rechtstreuen Staat 05 2 Standortbestimmung: Internationaler Vergleich 06 3 Der Staat als Gesetzgeber 09 3.1 Zwischenbilanz 09 3.2 Qualität der Gesetze 10 3.3 Paradigmenwechsel in der Steuergesetzgebung 11 3.4 Überregulierung vermeiden – die Anzeigepflicht für Steuergestaltungen 12 3.5 Administrierbarkeit als Maßstab des materiellen Steuerrechts 14 3.6 Gleicher Maßstab für alle – von Steuerprogression, Regression und Solidaritätszuschlag 15 4 Rechtssicherheit 17 4.1 Zwischenbilanz 17 4.2 Die verbindliche Auskunft als zentrales Instrument für mehr Rechtssicherheit 18 5 Daten/Digitalisierung 21 5.1 Zwischenbilanz 21 5.2 Die Digitalisierung der Verwaltung 22 6 Verfahren 23 6.1 Zwischenbilanz 23 6.2 Zinsen im Steuerrecht 24 6.3 Steuerbürokratie abbauen – neue Bürokratie vermeiden 25 7 Transparenz 26 7.1 Zwischenbilanz 26 7.2 Nachvollziehbare Regelungen für mehr Akzeptanz 26 7.3 Daten in der öffentlichen Verwaltung 27 8 Exkurs: Der Staat als „unehrlicher Haushälter“ 27 9 Ein Lösungsansatz: Strukturelle Reformen statt Korrektur der Korrektur 28 9.1 Der Vorteil struktureller Reformen 28 9.2 Grundsteuer 28 9.3 Niedrigzinsen und betriebliche Altersvorsorge 28 9.4 Förderung von Wohneigentum 29 9.5 Rückführung der §§ 8c, 8d KStG auf eine reine Missbrauchsbekämpfung 30 Literaturverzeichnis 31 Executive Summary 32 © 2018 Stiftung Marktwirtschaft (Hrsg.) Charlottenstraße 60 Die Publikation ist auch über den QR-Code 10117 Berlin kostenlos abrufbar. Telefon: +49 (0)30 206057-0 Telefax: +49 (0)30 206057-57 ISSN: 1612 – 7072 www.stiftung-marktwirtschaft.de Titelbild: © samuraitop – 123rf.com / Montage
Staatscompliance – Update 2018 Die Forderung nach einem rechtstreuen Staat 1 Die Forderung nach einem rechtstreuen Staat „Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben bürokratischen Belastungen von Unternehmen und Steuer- nicht alle den gleichen Horizont.“ Konrad Adenauer pflichtigen. Die Einhaltung einer Staatscompliance – d.h. die Forde- Der Staat muss sich an seine eigenen Regeln halten. Dieses rung nach einem rechtstreuen Staat – kann zwar keine Steu- an sich selbstverständliche Prinzip ist scheinbar in Verges- erreform ersetzen, aber zur Standortattraktivität beitragen senheit geraten. Sogar noch mehr: der Staat hält sich nicht und gleichzeitig das Verhältnis zwischen Staat und Bürger nur nicht an seine eigenen Regeln, er erschwert Unterneh- verbessern. men und Steuerpflichtigen dazu noch die Regelbefolgung. Diese Publikation bewertet den Status der Staatscom- Dies belastet das Verhältnis zwischen Staat und Bürger – und pliance in Deutschland anhand der Kriterien Gesetzgebung, den Standort Deutschland. Rechtssicherheit, Verfahren, Daten und Transparenz. Dabei Wenn es um mögliche steuerpolitische Impulse geht, erfolgt zunächst eine kurze Einordnung Deutschlands als richtet sich der Blick deutscher Steuerpflichtiger in den letz- Steuerstandort im internationalen Vergleich. Dann werden ten Jahren ohnehin vermehrt begehrlich ins Ausland. Denn die einzelnen Kriterien der Staatscompliance2 dargelegt. Da- während andere Länder – namentlich USA, Frankreich und bei erfolgt in jedem Abschnitt vorangestellt unter dem Punkt Großbritannien – umfassende Steuerreformen und Steuer- Zwischenbilanz ein Überblick über die Kritikpunkte der letz- senkungen durchführen oder zumindest in Aussicht stellen, ten Ausgabe der Staatscompliance 2016 sowie die steuer- beschäftigt sich die deutsche Steuerpolitik eher mit der Si- rechtliche Weiterentwicklung und deren Bewertung. In einem cherung des Besteuerungssubstrats, kleinteiligen Steuer- weiteren Schritt werden neu hinzugekommene Aspekte und rechtsänderungen und mit zunehmenden steuerlichen und Entwicklungen berücksichtigt, erläutert und bewertet. Begriff „Staatscompliance“: Seit einigen Jahren fordert die Stiftung Marktwirtschaft unter dem Schlagwort „Staatscompliance“ Rechtstreue und regel- konformes Verhalten für staatliches Handeln.3 Der Begriff „Compliance“ richtet sich üblicherweise an Unternehmen und Steuerpflichtige, während der Staat die Regeln festlegt und deren Einhaltung überwacht. Doch gerade aus dieser umfas- senden Rolle des Staates ergibt sich eine Verantwortung, bei Regelsetzung und -durchsetzung Waffengleichheit zu bewahren und eigenen Interessen nicht übermäßig gegenüber den Belangen des Steuerpflichtigen den Vorzug zu geben. Nichtan- wendungserlasse, unterschiedliche steuerliche Behandlung von Erstattungs- und Nachzahlungszinsen, Reportingpflichten ohne Auskunftsrechte sind nur einige Beispiele für die zweierlei Maßstäbe, die der (Steuer-)Staat anlegt, wenn es um sein Verhalten und nicht um das Handeln des Steuerpflichtigen geht. Der Staat verhält sich in seiner Regelsetzung auch häufig widersprüchlich: So wird z.B. einerseits die Digitalisierung des Steuervollzugs vorangetrieben, andererseits konterkariert die (zunehmende) materiell-rechtliche Komplexität der Regelungen eine echte digitale Vollziehbarkeit. Die Gesetzgebung muss sich wieder auf die Struktur der Gesetze besinnen und Rechtssicherheit und Effizienz des Besteuerungsverfahrens in den Vordergrund rücken, statt ausufernde Missbrauchsgesetzgebung mit ausufernden Korrekturtatbeständen zu vermengen. Die Qualität des Steuerrechts und des Steuersystems prägen die Beziehung der Bürger zu ihrem Staat und die allgemeine Steuermoral.4 Ein transparentes und nachvollziehbares Steuersystem trägt entscheidend zur Steuerehrlichkeit bei. 2 Vgl. Bültmann (2016). 3 Vgl. Bültmann (2017). 4 Vgl. Birk et al. (2017). 5
Standortbestimmung: Internationaler Vergleich Staatscompliance – Update 2018 2 Standortbestimmung: Internationaler Vergleich Steuern sind im internationalen Wettbewerb ein wichtiger unter den G7-Staaten, was die steuerliche Belastung der Un- Standortfaktor. Dabei gehen von Steuersätzen und Steuer- ternehmen betrifft, einsamer Spitzenreiter. vergünstigungen die offensichtlichsten Impulse aus. In einem Vergleich der Steuersätze der wichtigsten Steu- Ein Vergleich mit anderen EU-Staaten bzw. großen In- erarten innerhalb der Europäischen Union (EU) ist ein Trend dustrienationen zeigt, dass Deutschland bei der steuerlichen zu sinkenden Unternehmenssteuersätzen festzustellen, wäh- Belastung von Unternehmensgewinnen inzwischen fast rend die Einkommensteuersätze der EU-155 im Schnitt in an der Spitze liegt (vgl. Abbildung 1), insbesondere auf- etwa gleich geblieben sind – nach einem vorübergehenden grund der Steuersenkungen in den USA und in Belgien. Auch leichten Absinken in der Mitte der 2000er Jahre. Deutlich ist Frankreich, derzeitiger Spitzenreiter, hat steuerliche Entlas- hingegen ein Anstieg der Umsatzsteuersätze zu beobachten tungen beschlossen. Damit wird Deutschland mittelfristig (vgl. Abbildung 2). Abbildung 1: Unternehmenssteuersätze 2018 im internationalen Vergleich Quelle: OECD (2018). 40 35 30 25 20 15 10 5 0 d sc h n n nd n xe o) rg ed SA de Sp h No ien en k en ei ) nd nd len ien n ich nd en nd rn ich ar ic pa e lie ic hie an ak ri bu ga lgi eg ed au lan nla tla nla ttla Irla De kre rre an Po en re U a m Ita ür Ja Sc Slow hl ec nt Un Be m nig Es Lit rw hw ne ow (Z er he Fin te Le an (O ch Ös Dä Kö iec eiz Sc Sl Fr ut Lu Ts da Ni hw Gr in. na re Ka Ve Kombinierter Unternehmenssteuersatz (in Prozent) 5 EU-15 wird als Begriff für die Länder verwendet, die der Europäischen Union bis April 2004 beigetreten sind: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien und das Vereinigte Königreich. 6
Staatscompliance – Update 2018 Standortbestimmung: Internationaler Vergleich Abbildung 2: 120% Entwicklung der Steuersätze der wichtigsten Steuern 100% in der EU-15 (2000–2017) 80% Basisjahr 2000 = 100% Quelle: ZEW Mannheim basierend auf Daten der Europäischen 60% Kommission (2017). 40% 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 Gewinnsteuer Einkommensteuer Umsatzsteuer Im internationalen Steuerwettbewerb sind allerdings steuer, Abgaben und Umsatzsteuer) nachzukommen, die An- nicht nur Steuersätze, sondern auch Bürokratieumfang, zahl der Steuerzahlungen sowie ein sog. Post-Filing-Index.7 Rechts- und Planungssicherheit und die Qualität staat- Deutschland schneidet im Vergleich zu Ländern wie der lichen Handelns von Bedeutung.6 Die Weltbank gibt jedes Schweiz, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich Jahr den Paying Taxes Index heraus, der steuerliche Para- und selbst den USA schlechter ab (vgl. Abbildung 3). Auffäl- meter verschiedener Standorte miteinander vergleicht. In den lig ist insbesondere der vergleichsweise hohe Zeitaufwand Index gehen folgende Indikatoren ein: Die Abgabenquote, die für die Erfüllung der Steuererklärungspflichten in Deutschland. Zeit, die durchschnittlich aufgewendet werden muss, um den Nur Polen und Italien weisen innerhalb der EU einen höheren wesentlichen Steuererklärungspflichten (Gewinnsteuer, Lohn- Zeitaufwand für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten auf. 6 Vgl. Bräutigam et al. (2018) zu den verschiedenen Dimensionen des Steuerwettbewerbs. 7 Dieser basiert auf vier Bestandteilen: Zeitaufwand für eine Umsatzsteuererstattung (in Stunden); Zeitaufwand, um eine Umsatzsteuererstattung zu er- halten (in Wochen); Zeitaufwand, um einen versehentlichen Fehler in einer Körperschaftsteuererklärung zu korrigieren (inklusive einer eventuellen entspre- chenden Steuerprüfung) (in Stunden) und die Zeitdauer einer eventuellen Betriebsprüfung im Bereich der Körperschaftsteuer bis zur Erledigung (in Wochen). 7
Standortbestimmung: Internationaler Vergleich Staatscompliance – Update 2018 Abbildung 3: 100 300 Steuerbürokratie im Vergleich 80 250 Quelle: Weltbank/PWC 2018. 200 60 150 40 100 20 50 0 0 nd nd nd nd ei z de ich en i en A h n h n n ic le eic pa lie US ed lan Irla nla tla hw a re an re Po Ita Ja hl kr nig r Es hw Sp er Fin te Sc sc an ed Ös Kö Sc Fr ut Ni De in. re Ve Paying Taxes Index (1 - 100, linke Skala) Zeitaufwand (Stunden pro Jahr, rechte Skala) Vergleicht man wiederum den Trend der Entwicklung der rung notwendigen Arbeitsstunden festzustellen ist, während für die Erstellung der Steuererklärung notwendigen Arbeits- in Deutschland im gleichen Zeitraum der Zeitaufwand sogar stunden in Deutschland mit dem Durchschnitt der EU-15 seit gestiegen ist (vgl. Abbildung 4). Dies könnte auf die wachsen- 2005 zeigt sich, dass bei den EU-15 durchschnittlich eine de Komplexität des Steuerrechts bzw. auf die mangelnde Nut- deutliche Reduktion der für die Erstellung der Steuererklä- zung der Möglichkeiten der Digitalisierung zurückzuführen sein. Abbildung 4: 250 Entwicklung der für die Erstellung der Steuer- 200 erklärung notwendigen 150 Arbeitsstunden 100 Quelle: Weltbank/PWC 2018. 50 0 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 Deutschland EU-15-Durchschnitt • Im internationalen Steuerwettbewerb sind die deutschen Steuersätze vergleichsweise hoch. • Deutschland schneidet auch im Hinblick auf den Aufwand zur Erfüllung der steuerlichen Pflichten auffallend schlecht ab. • Deutschland fällt als attraktiver Steuerstandort weiter zurück. 8
Staatscompliance – Update 2018 Der Staat als Gesetzgeber 3 Der Staat als Gesetzgeber „Wenn man Zehntausend Vorschriften erlässt, vernichtet man Die Gesetzgebungskompetenz steht Bund und/oder jede Achtung für das Gesetz.“ Winston Churchill den Ländern zu (Art. 105 Grundgesetz). Die Gesetzesvor- lagen, die durch die Bundesregierung, den Bundesrat oder aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden, werden 3.1 Zwischenbilanz regelmäßig im Bundesfinanzministerium oder in den Länder- finanzministerien erarbeitet. Über die Gesetzesvorlagen ent- scheiden Bundestag und Bundesrat überwiegend gemein- Als Gesetzgeber fungiert der Staat als Regelsetzer, d.h. sam. Aus der Situation, dass der Staat in unterschiedlichen er setzt den Rechtsrahmen, in dem sich Steuerpflichtige Funktionen eingebunden wird, erwächst eine besondere und Verwaltung bewegen. Bei Einhaltung der Staatscompli- Verantwortung, bei der Rahmensetzung die Waffengleich- ance sollte der Staat als Rechtsetzer ein faires und ausgewo- heit zwischen Staat und Steuerpflichtigen zu wahren, welcher genes Regelwerk schaffen und sich selbst keine ungebühr- der Gesetzgeber in Teilen nicht gerecht wird. lichen Vorteile schaffen. Box 1: Zwischenbilanz Gesetzgebung Staatscompliance 2016–2018 Thema Forderung/Kritik 2016 Entwicklungen Bewertung der Rechtsentwicklung Gesetzgebung Die Gesetzgebung Der neue § 8d Die neue Regelung des § 8d KStG soll Gesell- für den richtet sich am Miss- KStG ergänzt § 8c schaften in Gründung die Verlustnutzungsmög- ordentlichen brauchsfall aus, zu KStG. lichkeiten erweitern. Die Norm ist jedoch zu eng Steuerbürger Lasten des ordent- § 8c Satz 1 KStG gefasst, so dass der Anwendungsbereich minimal lichen Steuerpflich- verfassungswidrig. ist. Die Beschränkung der Verlustnutzungsmöglichkeiten bleibt tigen, der in seinem Neuregelung des gerade für neugegründete Gesellschaften ein Hinderungsgrund. Wirtschaften behindert § 50 i EStG. Positiv ist die ersatzlose Aufhebung der bislang geltenden quo- wird (z.B. Verlustnut- talen Verlustuntergangsnorm des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG als zung des § 8c KStG Reaktion auf das Urteil des BVerfG.8 und § 50 i EStG). Konstanz Forderung nach Die Abgeltungsteu- Das System der Besteuerung von Kapitalerträgen und Planungs- mehr Konstanz in der er auf Zinserträge steht vor einschneidenden Veränderungen. Damit sicherheit Gesetzgebung für soll abgeschafft verbundene Rechtsunsicherheiten und Kosten der größere Planungs- und werden. Systemanpassung belasten den Steuerpflichtigen. Rechtssicherheit. Kalte Vollständige Besei- Der Gesetzgeber Es fehlt weiterhin ein Automatismus im Hinblick auf Progression tigung der Wirkung hat die Anhebung die Beseitigung der Wirkung der kalten Progres- der kalten Progres- der GWG-Grenze sion. Der Koalitionsvertrag 2018 zwischen Union sion (Automatismus) beschlossen (mit und SPD beinhaltet zumindest die Absicht, an der und Anpassung von dem Gesetz zur Praxis des alle zwei Jahre erstellten Berichts zur Entwicklung der Pausch- und Freibe- Einführung der kalten Progression festzuhalten mit anschließender Bereinigung trägen. Lizenzschranke). des Einkommensteuertarifs. Zudem soll eine Anpassung der pauschalen Steuerfreibeträge für Menschen mit Behinderung geprüft werden. Die Anhebung der Grenze für geringwertige Wirtschaftsgüter ist zu begrüßen, auch wenn betragsmäßig eine weitere Anhebung sachgerecht wäre. Deutliche Leichte Keine Veränderung bzw. Leichte Deutliche Legende: Verbesserung Verbesserung neutrale Entwicklung Verschlechterung Verschlechterung 8 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zum „Entwurf eines Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“, BT-Drs. 19/5595. 9
Der Staat als Gesetzgeber Staatscompliance – Update 2018 weniger für Laien. Dazu sind Gesetze oft nachbesserungsbe- 3.2 Qualität der Gesetze dürftig und in der Umsetzung bürokratie- und kostenintensiv und oft wenig vollzugstauglich. Die Geschwindigkeit, mit der Gesetze erlassen werden und die zunehmende Komplexi- Die Qualität der Steuergesetze lässt häufig zu wünschen üb- tät der gesetzlichen Regelungen führen – fast zwangsläufig rig. Gesetze sind zu lang, unsystematisch, kompliziert, wenig – zu einer abnehmenden Qualität der Gesetze. Unklarheiten verständlich für professionelle Rechtsanwender und noch und Zweifelsfragen gehen zu Lasten des Steuerpflichtigen, Abbildung 5: Ausgewählte Urteile des Bundesverfassungsgerichts Quelle: Eigene Darstellung. Vermögensteuer:10 Rückwirkung im Erhebung nicht mit Häusliches Steuerrecht II:15 Kernbrennstoff- Arbeitszimmer:13 Erbschaftsteuer II:17 dem Gleichheits- Absenkung steuer:20 satz vereinbar Neuregelung Beteiligungsquote Erhebung nicht mit Das Kernbrenn- wegen der Privile- verfassungswidrig teilweise verfas- dem GG vereinbar stoffsteuergesetz gierung bestimmter wegen Verstoß sungswidrig. wegen der Privile- ist mit dem Grund- Vermögensarten. gegen den Gleich- gierung bestimmter gesetz unvereinbar Wird seit 1997 heitssatz. Vermögensarten. und nichtig. nicht mehr erhoben. 7. Nov. 2006 9. Dez. 2008 7. Juli 2010 29. März 2017 10. April 2018 22. Juni 1995 6. Juli 2010 17. Dezember 2014 17. April 2017 Verlustnutzung:18 Erbschaftsteuer I:11 Rückwirkung im Regelung des §8c Grundsteuer:21 Erhebung nicht mit Steuerrecht I:14 Rückwirkung im Satz 1 KStG (jetzt Pendlerpauschale:12 Vorschriften zur dem Grundge- Verlängerung der Steuerrecht III:16 §8c Abs. 1 Satz 1 Verfassungs- Einheitsbewertung setz vereinbar. Spekulationsfrist Teilweise KStG) zum (anteiligen) verfassungs- widrigkeit der Die Privilegierung bei Grundstücks- verfassungswidrig. Verlustuntergang bei widrig. Frist zur Neuregelung der bestimmter Ver- Pendlerpauschale veräußerungsge- Anteilseignerwechsel Neuregelung bis mögensarten auf wegen Verstoßes schäften teilweise verfassungswidrig. Frist 31.12.2019. Um- Bewertungsebene gegen den Gleich- verfassungswidrig. zur Neuregelung bis setzungsfrist nach ist verfassungs- heitssatz. Verstoß gegen 31.12.2018 mit Rück- Neuregelung fünf widrig. Vertrauensschutz. wirkung 1.1.2008.19 Jahre. 9 BVerfG Urteil vom 10.04.2018, - 1 BvL 11/14 -, - 1 BVL 12/14 -, 1 BvL 1/15 -, - 1 BvR 639/11 -, - 1 BvR 889/12. 10 BVerfG, Beschluss vom 22.06.1995 - 2 BvL 37/91, BStBl. 1995 II, S. 655. 11 BVerfG, Beschluss vom 07.11.2006 - 2 BvL 1/07. 12 BVerfG Urteil vom 09.12.2008, - 1 BvL 11/14 -, - 1 BVL 12/14 -, 1 BvL 1/15 -, - 1 BvR 639/11 -, - 1 BvR 889/12. 13 BVerfG, Beschluss vom 06.07.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268-286. 14 BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 – 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1-31. 15 BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 – 2 BvR 748/05, BVerfGE 127, 61-87. 16 BVerfG; Beschluss vom 07.07.2010 – 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31-60. 17 BVerfG, Urteil vom 17.12.2014, 1 BvL 21/12 – BVerfGE 138, 136 – 255. 18 BVerfG, Beschluss vom 29.03.2017, 2 BvL 6/11 – BVerfGE 145, 106 – 170. Eine weitere Entscheidung des BVerfG zu § 8 Abs. 1 Satz 2 KStG wird noch erwartet. 19 Das Jahressteuergesetz 2018 sah ursprünglich eine gesetzliche Neuregelung in Form einer Anwendung des § 8c Abs.1 Satz 1 KStG erst ab dem 1.1.2016 vor. Der Regierungsentwurf des nun in „Entwurf eines Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Ände- rung weiterer steuerlicher Vorschriften“ umbenannten Gesetzes sieht diese Regelung nun nicht mehr vor. 20 BVerfG, Beschluss vom 13.04.2017, 2 BvL 6/13 – BverfGE 145, 171 – 248. 21 BVerfG, Urteil vom 10.04.2018, 1 BvL 11/14, 1 BvR 889/12, 1 BvR 639/11, 1 BvL 1/15, 1 BvL 12/14 – www.bundesverfassungsgericht.de. 10
Staatscompliance – Update 2018 Der Staat als Gesetzgeber der neue Regelungen im Rahmen der Steuererklärung oder lichen Belastung entziehen kann. Problematisch wird die- Steuervoranmeldung o.ä. anwenden muss – meist bevor se zunehmende Tendenz zur Missbrauchsgesetzgebung Rechtsprechung und Verwaltungsanweisungen Interpretati- dann, wenn der Steuerpflichtige quasi unter „General- onshilfen bieten. verdacht“ gestellt wird. Gesetze, die vorrangig den Miss- Gänzlich unnötig und oft irreführend sind sprachliche brauch im Blick haben, sind oft so weit gefasst, dass auch Fehler oder falsche Verweisungen. Dennoch benötigt es der ordentliche Steuerpflichtige in den Anwendungsbereich teilweise erhebliche Zeit bis derart offensichtliche Fehler kor- der Gesetzesnorm gerät. So können wirtschaftlich sinn- rigiert werden. Noch langwieriger sind Änderungen in der volle Verhaltensweisen verhindert oder „bestraft“ werden. Sache. So hat es der Gesetzgeber beispielsweise lange Zeit Ein Beispiel hierfür ist die Verlustnutzung des § 8c Satz 1 versäumt, die offensichtliche Verfassungswidrigkeit der Ein- KStG, der zwischenzeitlich vom BVerfG als verfassungs- heitswerte als Bemessungsgrundlage für die Grundsteuer widrig erklärt wurde.24 Das BVerfG hatte insbesondere kri- anzugehen und stattdessen das Urteil des Bundesverfas- tisiert, dass die Verlustnutzungsbeschränkung des § 8c sungsgerichts (BVerfG) vom 10. April 2018 abgewartet. Satz 1 KStG die Grenzen der zulässigen Typisierung über- Die mangelnde Qualität der Gesetze lässt sich auch an schritten hat, indem diese lediglich an die Übertragung von den Urteilen des BVerfG ablesen (vgl. Abbildung 5). Dabei mehr als 25 Prozent der Anteile anknüpft, ohne dass ein mutiert das BVerfG immer mehr zum Impuls- und Ideengeber tatsächlicher Missbrauch erkennbar ist.25 Nicht jede Anteils- einer ansonsten statischen Steuerpolitik und zum „Repara- übertragung ist per se missbräuchlich. Im Gegenteil dienen turbetrieb“.22 Anteilskäufe z.B. der Erweiterung des Geschäftsfeldes. Zwi- schenzeitlich hat der Gesetzgeber als Reaktion auf das Urteil des BVerfG die kritisierte Regelung des quotalen Verlustunter- • Unsicherheiten dürfen nicht zu Lasten des Steuer- gangs aufgehoben – die Regelung zum vollständigen Verlust- pflichtigen gehen. untergang (§ 8c Abs. 1 Satz 2 KStG) hingegen beibehalten. • Die Qualität der Gesetze muss im Interesse von mehr Der Generalverdacht der missbräuchlichen Steuer- Rechtssicherheit Priorität haben. gestaltung entspricht anscheinend auch zunehmend der öffentlichen Wahrnehmung. Dabei ist mitnichten jede Steu- ergestaltung missbräuchlich. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ist Steuergestaltung oft die einzige Möglich- keit, erhebliche steuerliche Nachteile durch Doppelbesteue- 3.3 Paradigmenwechsel in der Steuer- rung zu vermeiden. Bei inländischen Sachverhalten basiert gesetzgebung die Möglichkeit, steuersparend zu agieren häufig sogar auf bewusstem gesetzgeberischem Willen (z.B. Privilegierung Die deutsche Steuergesetzgebung ist derzeit stark auf den von Betriebsvermögen im Erbschaftsteuerrecht). Eine Ver- (potentiellen) Missbrauch ausgerichtet, d.h. die Gesetzge- sachlichung der politischen Debatte wäre hier zuträglich. Eine bung geht nicht in erster Linie vom ordentlichen Steuerpflich- Besteuerung nach moralischem Empfinden ist mit dem tigen aus, sondern vorrangig von demjenigen, der Steuern Rechtsstaat nicht vereinbar. vermeiden will.23 Diese Entwicklung ist – nicht nur, aber auch – internationalen Entwicklungen wie dem BEPS-Projekt (Base Erosion and Profit Shifting Project) der OECD (Organisation • Das Steuerrecht bedarf eines Paradigmenwech- for Economic Co-Operation and Development) und den sels: die Steuergesetzgebung darf den Steuer- Schwierigkeiten bei der Besteuerung digitaler Geschäftsmo- pflichtigen nicht unter Generalverdacht stellen. delle geschuldet. • Wirtschaftlich sinnvolles Verhalten darf nicht durch Diese Missbrauchsorientierung erscheint auf den das Steuerrecht behindert werden. ersten Blick unbedenklich, schließlich basiert unser Steuer- • Eine Besteuerung nach moralischem Empfinden ist system und dessen Akzeptanz darauf, dass die Steuerlast mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar. gerecht verteilt ist und sich keiner ungebührlich der steuer- 22 Vgl. Handelsblatt vom 10.04.2018. 23 Vgl. Bültmann (2016). 24 Vgl. Bültmann (2016). 25 Vgl. BVerfG (2017). 11
Der Staat als Gesetzgeber Staatscompliance – Update 2018 Beispiele hierfür sind: 3.4 Überregulierung vermeiden – die Anzeigepflicht für Steuergestaltungen • Lizenzschranke: über die BEPS-Empfehlung zu Aktions- punkt 5 „unfairer Steuerwettberb“ hinaus hat Deutschland mit Wirkung ab 2018 ein teilweises Abzugsverbot für Li- Im Zuge zunehmender Internationalisierung und Digitalisierung zenzzahlungen zwischen verbundenen Unternehmen nehmen internationale Vereinbarungen auch im Steuerrecht gemäß § 4j EStG in das Einkommensteuergesetz aufge- an Bedeutung zu. Aus gutem Grund lassen sich doch viele nommen.27 Mit der Regelung soll die Verschiebung von unerwünschte Verwerfungen und Probleme nur international Gewinnen mittels Lizenzzahlungen in Länder mit Steuer- lösen. Der deutsche und auch der europäische Steuergesetz- vergünstigungen in Form von Patentboxen o.ä. verhindert geber greift allerdings internationalen Entwicklungen gerne werden. vor, um Standards zu setzen. Dies ist nicht immer sinnvoll, denn der Steuerpflichtige kann so durch ungünstige steuer- • Digitalsteuer: Die EU-Kommission hat bereits im März liche Regelungen und zunehmende Bürokratie belastet Pläne zu einer Digitalsteuer vorgelegt. Mittelfristig soll die werden und im internationalen Vergleich einen Wettbewerbs- Besteuerung der digitalen Wirtschaft über eine digitale nachteil erleiden. Der Staat wird hier seiner Aufgabe als fairer Betriebsstätte ermöglicht werden. Mit den Plänen zur Di- Rechtssetzer nicht gerecht und stellt sein Fiskalinteresse über gitalsteuer steht die EU bislang weitgehend alleine da. legitime Interessen der Steuerpflichtigen. Das Projekt erscheint verfehlt und droht Europa als Stand- Ein Beispiel ist das BEPS-Projekt. Dieses wurde ur- ort und die heimischen Unternehmen zu belasten. Es ist sprünglich von der OECD ins Leben gerufen, um den Bestre- fraglich, ob digitale Geschäftsmodelle überhaupt per se bungen internationaler Unternehmen zur Reduzierung der niedriger besteuert werden. Und wenn ja, ob diese nied- steuerlichen Bemessungsgrundlage und zur Gewinnverlage- rige Besteuerung nicht auf einer bewussten steuerlichen rung (Base Erosion and Profit Shifting) entgegenzuwirken. Auf Förderung innovativer Geschäftsmodelle durch Patentbo- internationaler Ebene (OECD und G20) herrschte Einigkeit, xen, Forschungsförderung etc. beruht, die durch eine Di- dass diesen Bestrebungen nur in internationaler Zusammen- gitalsteuer konterkariert würden und ob diese Digitalsteuer arbeit Einhalt geboten werden kann. Die OECD hat daraufhin überhaupt die Unternehmen treffen würde, die wettbe- einen Aktionsplan mit 15 Punkten erarbeitet und abgestimmt. werbsverzerrend vermeintlich zu wenig Steuern bezahlen. Eine Pflicht zur Umsetzung besteht jedoch für die unterzeich- Abhilfe gegen Steuervermeidung schafft nur ein internati- nenden Staaten lediglich für die sog. Mindeststandards.26 Zur onal abgestimmtes Vorgehen, etwa durch Durchsetzung Umsetzung der ersten Aktionspunkte hat die EU die soge- von Umsatzsteueransprüchen und die Prüfung neuer Kon- nannte Anti-Tax-Avoidance-Directive (ATAD) I und II auf den zepte wie das einer digitalen Betriebsstätte oder einer Da- Weg gebracht, die nun in den Mitgliedsstaaten umgesetzt tensteuer.28 werden sollen. Bereits ATAD I und II gehen im Hinblick auf die getroffenen Regelungen inhaltlich, aber auch in der zeit- • Country-by-Country Reporting: Das Country-by-Country lichen Umsetzungsverpflichtung über den BEPS-Aktionsplan Reporting ist Teil des BEPS-Maßnahmenpakets (Aktions- hinaus. Zusätzlich plant auch der deutsche Gesetzgeber Re- punkt 13) und beinhaltet die Erstellung länderbezogener gelungen, die wiederum weiter greifen als die Pläne der EU Berichte über Gewinne, Steuern und Wirtschaftstätigkeit – zum Nachteil der deutschen Steuerpflichtigen. multinational tätiger Unternehmen zur Meldung an und 26 Zu den Mindeststandards zählen die Bekämpfung schädlicher Steuerpraktiken (Aktionspunkt 5), Verhinderung von Abkommensmissbrauch (Aktionspunkt 6), Country-by-Country Reporting (Aktionspunkt 13) Verbesserung der Verwaltungszusammenarbeit in Verständigungs- und Schiedsverfahren (Aktionspunkt 14). 27 Vgl. Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken in Zusammenhang mit Rechteüberlassungen v. 27.06.2017 (BGBl. 2017 I, S. 2074). 28 Vgl. Fuest (2018) und Bültmann/Lenz (2018). 12
Staatscompliance – Update 2018 Der Staat als Gesetzgeber zum automatischen Austausch zwischen Steuerbehörden. chen sind z.B. der Erwerb verlustreicher Unternehmen Das Country-by-Country Reporting zum Zwecke des Aus- zur Nutzung der Verluste oder Ringgeschäfte durch tauschs zwischen Steuerbehörden kann der Offenlegung Einbeziehung zwischengeschalteter funktionsloser Un- von Steuervermeidung oder -verlagerung dienlich sein. Für ternehmen. Die allgemeinen und auch einige besondere den Steuerpflichtigen ist der Aufwand allerdings erheblich, Kennzeichen führen jedoch nur dann zu einer Melde- zumal das Formblatt der OECD zum Teil nicht auf beste- pflicht, wenn das Modell den „main-benefit“-Test erfüllt, hende Informationen zurückgreift, sondern die Daten vom d.h. der Nachweis erbracht werden kann, dass der oder Steuerpflichtigen extra ermittelt werden müssen. Verfehlt einer der Hauptvorteile des Modells das Erreichen eines ist jedoch der Ruf nach einem öffentlichen Country-by- Steuervorteils ist. Country Reporting in der EU bzw. in Deutschland. Werden sensible Daten nicht nur den Steuerbehörden, sondern der - Die Meldepflicht ist in zwei Stufen angelegt. Zunächst Allgemeinheit zur Verfügung gestellt, ist dies aus mehrerlei erfolgt eine Meldung durch den Intermediär oder Steu- Hinsicht problematisch: Zum einen können sich Konkur- erpflichtigen an die nationale Steuerbehörde, dann soll renten Vorteile verschaffen. Zum anderen besteht Verhet- die Information vierteljährlich über eine zentrale Daten- zungspotential, wenn Steuerdaten ungefiltert und ohne bank mit den Mitgliedstaaten ausgetauscht werden. Ein Erklärung veröffentlicht werden. Verstoß gegen die Meldepflicht soll sanktioniert werden. • Anzeigepflicht für grenzüberschreitende Steuergestal- - Für Intermediäre, die nach nationalem Recht einem Be- tungen: Über die Empfehlungen der OECD hinaus gehen rufsprivileg unterliegen, gegen welches die Meldepflicht auch die Bestrebungen im Hinblick auf eine Anzeige- verstoßen würde (z.B. Rechtsanwälte, Steuerberater pflicht für Steuergestaltungen. Basierend auf dem nicht oder Wirtschaftsprüfer) besteht eine Befreiung von der verpflichtend umzusetzenden Aktionspunkt 12 des OECD Meldepflicht. Diese geht dann auf andere Intermediäre BEPS-Projekts zur Vermeidung aggressiver Steuergestal- bzw. den Steuerpflichtigen über. tung, hat sich die EU im März 2018 über die Einführung einer Anzeigepflicht grenzüberschreitender Steuergestal- - Die Richtlinie ist bis zum 31.12.2019 durch die Mitglied- tungen für Intermediäre geeinigt und die entsprechende staaten in nationales Recht umzusetzen. Richtlinie im Mai 2018 verabschiedet:29 • Anzeigepflicht für nationale Steuergestaltungen: Be- - Gemäß der Richtlinie sollen sog. Intermediäre30 und reits die Richtlinie der EU ist höchst umstritten. Knack- Steuerpflichtige verpflichtet werden, den jeweiligen Steu- punkt ist unter anderem der Bestimmtheitsgrad bzw. erbehörden Informationen über bestimmte grenzüber- Unbestimmtheitsgrad der Regelungen. Um möglichst alle schreitende Steuergestaltungen zu melden. auch noch nicht bekannten denkbaren Steuergestaltungen zu erfassen, ist die Meldepflicht so weit gefasst, dass sie - Ob grenzüberschreitende Modelle meldepflichtig sind, notwendigerweise nicht bestimmt genug ist.31 Deutsch- bestimmt sich nach bestimmten allgemeinen oder be- land geht mit seinem Vorstoß bezüglich einer Meldepflicht sonderen Kennzeichen (sog. Hallmarks). Allgemeine für rein nationale Steuergestaltungen weit über die EU- Kennzeichen sind z.B. Modelle, bei denen der Steuer- Vorgabe hinaus. Die nationale Anzeigepflicht soll dem pflichtige zur Vertraulichkeit über das Modell verpflichtet Steuergesetzgeber zeitnah die Möglichkeit geben, auf be- wird oder wenn eine Beteiligung an der Steuerersparnis deutsame und insbesondere haushaltsrelevante Steuerge- für den Intermediär vereinbart wird. Besondere Kennzei- staltungen zu reagieren.32 29 Vgl. Europäische Kommission (2018). 30 Intermediäre sind Personen, die grenzüberschreitende Steuergestaltungsmodelle konzipieren, vermarkten, organisieren oder zur Nutzung bereitstellen (vgl. Art. 1 Abs. 1 (b) 21 der Richtlinie). 31 Vgl. Osterloh-Konrad et al. (2016). 32 Vgl. Medien Information des Finanzministeriums Schleswig-Holstein vom 19.06.2018, https://www.schleswig-holstein.de/DE/Landesregierung/VI/Presse/PI/ PDF/2018/180621_shareDeals.pdf?_blob=publicationFile&V>2, zuletzt abgerufen am 11.11.2018. 13
Der Staat als Gesetzgeber Staatscompliance – Update 2018 • Die Meldepflicht(en) sind aus mehrerlei Hinsicht abzuleh- tigen, ohne ihnen im Gegenzug Rechtssicherheit und Pla- nen: nungssicherheit zu vermitteln. Wer dennoch eine nationale Anzeigepflicht befürwortet sollte die Umsetzung der EU- - Eine weitreichende Meldepflicht droht aufgrund der ho- Richtlinie abwarten und von ersten Erfahrungen profitieren. hen Zahl an potentiellen Meldungen zu einem bürokra- Bewährt sich die Regelung wider Erwarten, kann man sie un- tischen Ungetüm zu werden. ter Umständen auf nationale Gestaltungen ausweiten. - Notwendigerweise ist eine weitreichende Meldepflicht unbestimmt und führt zu Rechtsunsicherheiten. • Keine nationale Anzeigepflicht für Steuergestal- tungen. - Um Mehrfachmeldungen zu vermeiden, müsste die • Keine überbordende Regulierung und keine Allein- Meldepflicht eng begrenzt werden und genau geregelt gänge bei Themen, die nur international abge- werden, wer eine Steuergestaltung melden muss. Eine stimmt sinnvoll gelöst werden können. Anderen- Beschränkung auf wenige relevante Modelle ist ge- falls drohen Wettbewerbsnachteile. setzlich wenig greifbar. Bereits der „main-benefit“-Test der EU-Richtlinie kann nicht verhindern, dass an sich vollkommen unbedenkliche steuerliche Gestaltungen meldepflichtig sind. - Der Bundesfinanzhof (BFH)33 und das Bundesverfas- sungsgericht (BVerfG) urteilen in ständiger Rechtspre- 3.5 Administrierbarkeit als Maßstab des chung, dass „es grundsätzlich jedem Steuerpflichtigen materiellen Steuerrechts freisteht, seine Angelegenheiten so einzurichten, dass er möglichst wenig Steuern zu zahlen hat.“34 Wird die Mel- depflicht zu weit gefasst, droht im Widerspruch zu dieser Gesetzliche Regelungen müssen in der Praxis umsetzbar Rechtsprechung jegliche Steuergestaltung kriminali- sein – mit vertretbarem administrativen Aufwand. An der siert zu werden. Komplexität steuerlicher Regelungen krankt zunehmend die Administrierbarkeit von Gesetzen. Der Gesetzgeber führt die - Die Haftung bei fehlerhafter oder unterbliebener Mel- wachsende Komplexität regelmäßig auf die immer komple- dung ist problematisch. xeren und internationaleren Lebenssachverhalte zurück, die dem Steuerrecht zugrunde liegen. Dieser Argumentation - Die bisherigen Steuersparmodelle waren längst be- kann jedoch nur bedingt gefolgt werden. Die Gesetze werden kannt, doch die Politik ist trotz Kenntnis – siehe cum-ex vor allem deswegen immer komplexer, weil der Gesetzgeber – lange untätig geblieben. Es scheint daher unverhältnis- versucht, durch ausufernde Regelungen Missbrauch zu anti- mäßig, eine zusätzliche nationale Anzeigepflicht in Kraft zipieren und dem vermuteten Missbrauch Herr zu werden. So zu setzen, die die Steuerpflichtigen bürokratisch belastet schafft er über Regelungslücken und Ähnliches immer neue und den Standort Deutschland weniger attraktiv werden Einfallstore für Steuergestaltungsmöglichkeiten oder macht lässt. Die Relation zwischen Aufwand und möglichem diese vielfach erst notwendig. Aufgrund der ausufernden Nutzen weist ein krasses Missverhältnis auf. Die Rege- Missbrauchsgesetzgebung35 wird inzwischen wirtschaft- lung ist einseitig und bietet dem Steuerpflichtigen weder lich sinnvolles Verhalten durch steuerrechtliche Regelungen die Rechtssicherheit einer verbindlichen Auskunft noch be- oder gar verhindert. Dies erfolgt zum Nachteil der „or- effektiven Schutz vor Mehrbelastung (Zinsen o.ä.). dentlichen“ Steuerpflichtigen – und im Übrigen auch der Verwaltung, die mit der äußert knappen Personaldecke den Die geplante nationale Anzeigepflicht für Steuergestaltungen ordnungsgemäßen Vollzug der Gesetze nicht gewährleisten erscheint insgesamt verfehlt. Sie belastet die Steuerpflich- kann. 33 Vgl. z.B. BFH (1964). 34 Vgl. BVerfG (1959). 35 Bültmann-Hinz (2018). 14
Staatscompliance – Update 2018 Der Staat als Gesetzgeber Ein Beispiel hierfür ist das neue Erbschaftsteuerrecht. oder nicht. Die Frage nach Steuergerechtigkeit und der ad- Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte die Vorgänger- äquaten Verteilung der steuerlichen Lasten wird sehr unter- regelung insbesondere der Begünstigung der Übertragung schiedlich bewertet. In Deutschland ist die Besteuerung nach von Betriebsvermögen als verfassungswidrig angesehen36 der Leistungsfähigkeit, d.h. dass jeder nach Maßgabe seiner und dem Gesetzgeber zum wiederholten Mal eine Neure- individuellen ökonomischen Verhältnisse zur Finanzierung gelung aufgegeben. Der Gesetzgeber schreckte vor einer staatlicher Leistungen beitragen soll, als Ausfluss aus dem umfassenden Reform zurück – zugunsten eines „minimalin- Gleichheitssatz des Art. 3 Grundgesetz, das vorherrschende vasiven“ Eingriffs, der die bestehende Regelung nur insoweit Prinzip.37 Das bedeutet, dass die Einkommens- bzw. Vermö- anpassen sollte, als sie das BVerfG beanstandet hatte. Dank gensverhältnisse für die Verteilung steuerlicher Lasten berück- aufwändiger Unternehmensbewertungen, der neu hinzugetre- sichtigt werden. Ausfluss des Leistungsfähigkeitsprinzips tenen Bedürftigkeitsprüfungen, komplizierten Abgrenzungen ist z.B. die Steuerprogression im Einkommensteuerrecht. von verschonungswürdigem Vermögen, der erforderlichen Dieses im Grunde akzeptierte und etablierte Besteue- Analyse gesellschaftsrechtlicher Regelungen und langen Vor- rungsprinzip führt allerdings immer dann zu Diskussionen, und Nachbehaltensfristen ist die reformierte Erbschaftsteuer wenn es um steuerliche Entlastungen geht. Denn denknot- inzwischen kaum noch handhabbar. Dies gilt insbesondere wendigerweise profitiert derjenige, der durch eine steuerliche auch für die Verwaltung, die derart komplexe Regelungen Maßnahme besonders belastet wird, auch besonders von kaum umsetzen kann und insbesondere mit den langen Vor- steuerlichen Entlastungen. und Nachbehaltensfristen an die Grenzen ihrer Belastung ge- Ein Beispiel hierfür ist der Solidaritätszuschlag. Der rät. Darunter leiden Rechtssicherheit und der Vollzug. Solidaritätszuschlag wird als Ergänzungsabgabe zur Einkom- mens- und Körperschaftsteuer erhoben (Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG).38 Die (Wieder-)Einführung des Solidaritätszuschlags 1995 war Teil des Maßnahmenpakets zur Abdeckung der be- • Echte strukturelle Reformen sollten im Hinblick auf sonderen finanziellen Belastungen der Wiedervereinigung.39 Rechtssicherheit und Vollzug Vorrang haben. Obwohl der Solidaritätszuschlag per se nicht befristet und die • Kein Erlass nicht administrierbarer Gesetze für einen Mittelverwendung nicht zweckgebunden ist,40 hat die Politik glaubwürdigeren Gesetzgeber. bei Einführung41 und auch in den Jahren danach stets das Versprechen abgegeben, beim Solidaritätszuschlag hande- le es sich um eine vorübergehende Maßnahme. Auch aus der Gesetzesbegründung und der Konzeption des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG ergibt sich, dass die Erhebung einer Ergän- 3.6 Gleicher Maßstab für alle – zungszulage für einen konkreten Mehrbedarf gedacht ist und von Steuerprogression, Regression und nicht zur Deckung eines allgemeinen, strukturellen Mehrbe- Solidaritätszuschlag darfs genutzt werden darf.42 Mit Auslaufen des Solidarpakts II ist zu erwarten, dass das Gericht seine Beurteilung ändern wird.43 Der Koalitionsvertrag sieht nun eine teilweise Abschaf- Die Prinzipien der gewählten Besteuerungen sollten konse- fung des Solidaritätszuschlags für das Ende der Legislatur- quent verfolgt werden. Der Gesetzgeber kann hier kein Rosi- periode vor. Dies ist aus mehrerlei Hinsicht problematisch. nenpicken ausüben – je nachdem, ob ihm das Ergebnis gefällt Zum einen bricht die Politik ein gegebenes Versprechen, den 36 BVerfG Urteil vom 17.12.2014, 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136-255. 37 Demgegenüber steht das sog. Äquivalenzprinzip, wonach sich die Steuer nach dem Nutzen bemisst, den der einzelne Steuerpflichtige aus den staatlichen Leistungen zieht. 38 Auf Basis von Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG kann der Bund zur Deckung eines zusätzlichen Finanzbedarfs eine Ergänzungsabgabe erheben, vgl. Kube (2017). 39 Vgl. BT-DS 12/4801. 40 Vgl. Kube (2017). 41 „[…] Die Bundesregierung schlägt deshalb mit Wirkung ab 1. Januar 1995 einen – mittelfristig zu überprüfenden – Zuschlag zur Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer für alle Steuerpflichtigen vor […]“, vgl. BT-Drs. 12/4401, S. 51. 42 Vgl. Kube (2017). 43 Vgl. Kube (2017). 15
Der Staat als Gesetzgeber Staatscompliance – Update 2018 Abbildung 6: 50% Einkommensteuertarif 2018 Grundtabelle 45% Quelle: Eigene Darstellung. 40% 35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0% € € € € € € € € € € € € € € € € € 0 00 00 00 00 00 00 0 3 0 0 0 0 0 0 0 0 00 00 53 00 00 00 00 00 00 00 00 .0 .0 .0 .0 .0 .0 8. 0. 0. 0. 0. 0. 0. 0. 0. 0. 0. 10 20 40 55 70 90 15 26 40 60 80 00 00 00 00 00 1. 3. 5. 7. 9. Durchschnittsteuersatz Grenzsteuersatz Solidaritätszuschlag nur vorübergehend zu erheben, darun- gerechtfertigt, dass der Abgeordnete sich im Sinne der Ge- ter leidet die Glaubwürdigkeit. Zum anderen ist eine fortge- waltenteilung nicht für seine Ausgaben vor der Verwaltung setzte Erhebung des Solidaritätszuschlags über 2019 hinaus rechtfertigen soll. Dies kann man nachvollziehbar finden, in verfassungsrechtlich nicht gedeckt. Zudem aber scheut die jedem Fall ist es aber ein eklatanter Widerspruch zur son- Politik vor allem die Umkehr der Steuerprogression. Wer die stigen Nachweispflicht für Ausgaben und Werbungskosten. Steuerprogression will, muss auch die Regression, d.h. die Zumal es die Pauschale auch ermöglicht, Ausgaben steuer- entsprechende progressive Entlastung, ertragen. frei zu finanzieren, die ansonsten in der Steuererklärung nicht Diese Diskussion zieht sich durch sämtliche Pläne zur oder nur begrenzt abzugsfähig sind (z.B. Kinderbetreuungs- steuerlichen Entlastung in der Einkommensteuer, sei es bei kosten). einer Erhöhung der Kinderfreibeträge, sei es bei Tarifkorrek- turen. Derjenige, der mehr Steuern zahlt, profitiert spiegelbild- lich von Entlastungen. Beim Solidaritätszuschlag wird dies • Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit be- umso deutlicher, als geringe Einkommen von der Erhebung dingt eine entsprechende progressive Entlastung. des Solidaritätszuschlags gänzlich befreit sind. Mit zwei- • Will die Politik die Systematik und Akzeptanz des erlei Maß misst der Gesetzgeber auch bei der steuerfreien Steuersystems nicht in Frage stellen, muss sie beide Kostenpauschale für Abgeordnete. Diese erhalten über ihre Prinzipien vertreten und konsequent durchsetzen. Diäten hinaus eine steuerfreie Pauschale in Höhe von derzeit • Das Rechtsstaatlichkeitsgebot erlaubt kein Rosi- 52.000 Euro im Jahr, z.B. zum Unterhalt eines Wahlkreis- nenpicken. büros. Während der Steuerpflichtige über den Werbungs- • Die vollständige Abschaffung des Solidaritätszu- kostenpauschbeitrag von 1.000 Euro hinaus jeden Betrag schlags ist zwingend notwendig, um glaubwürdig einzeln belegen muss, haben Abgeordnete hier wesentlich zu bleiben. mehr Spielraum. Die Steuer- und „Beleg“freiheit wird damit 16
Staatscompliance – Update 2018 Rechtssicherheit 4 Rechtssicherheit „Jede neue Steuer hat etwas erstaunlich ungemütliches für Pflichten geben. Dem Steuerpflichtigen darf die Regelbefol- denjenigen, der sie zahlen oder auch nur auslegen soll.“ gung nicht unnötig erschwert werden. Das Steuerrecht bietet Otto von Bismarck jedoch viel Auslegungsspielraum, so dass die Rechtslage für den Steuerpflichtigen auch unter Zuhilfenahme von Aus- legungshilfen und steuerlicher Beratung oft nicht klar erkenn- 4.1 Zwischenbilanz bar ist. Der Steuerpflichtige trägt dann das Auslegungsrisiko, verbunden mit ggf. erheblichen finanziellen Folgen. Verständ- Die Prinzipien Rechtssicherheit und Berechenbarkeit lichere Gesetze und schnelle Rechtssicherheit in Zweifelsfäl- staatlichen Handelns gehören zu den Grundwerten un- len ist für den Steuerpflichtigen daher von immenser Bedeu- seres Rechtssystems. Es darf keine Zweifel über Rechte und tung. Box 2: Zwischenbilanz Rechtssicherheit Staatscompliance 2016–2018 Thema Kritik/Forderung 2016 Neuere Entwicklungen Bewertung der Rechtsentwicklung Normen- Steuergesetze sind komplex Keine Veränderung. Keine Veränderung. klarheit und unverständlich. Rechtsun- sicherheiten gehen zu Lasten des Steuerpflichtigen, der die Gesetze anwenden muss bevor Interpretationshilfen zur Verfü- gung stehen. Verwaltungs- Verwaltungsvorschriften kon- Weiterführende Erläuterungen Der umfangreiche, koor- vorschriften kretisieren den Gesetzeswort- und die Klärung von Einzelfra- dinierte Ländererlass zum laut und legen in Zweifelsfragen gen durch Erlasse zur Erläu- Erbschaftsteuergesetz ist ein die Verwaltungsauffassung dar, terung der Verwaltungsauffas- weiteres Beispiel, wie sinnhaft bieten aber nicht die Rechts- sung sind hilfreich, ersetzen Verwaltungsanweisungen in Einzelfragen sicherheit einer gesetzlichen jedoch nicht den gesetzgebe- sein können, dabei jedoch häufig über den Regelung. rischen Willen und schaffen nur gesetzgeberischen Willen hinausgehen. bedingt Rechtssicherheit. Nicht- Die Zulässigkeit der Praxis der Im Regierungsprogramm 2013 Das Thema der Nichtanwen- anwendungs- Nichtanwendungserlasse, mit war die Absicht verankert, dungserlasse scheint auf der erlasse denen die Finanzverwaltung die Nichtanwendungserlasse re- Prioritätenliste nach hinten zu Grundsätze eines höchstrich- striktiv zu handhaben. Dennoch rücken. Das Bundesfinanzmi- terlichen Urteils als nicht über ergingen weiterhin Nichtanwen- nisterium hält weiterhin an der Praxis der den entschiedenen Einzelfall dungserlasse. Das Regierungs- Nichtanwendungserlasse fest. hinaus anwendbar erklärt, ist programm 2018 behandelt die höchst strittig. Thematik nicht. 17
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