STAATSLEXIKON Recht Wirtschaft Gesellschaft Sechster Band Volk - Zweites Vatikanisches Konzil - Stiftung ...
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Herder StL_8b / p. 3 / 16.9.2021 STAATSLEXIKON Recht · Wirtschaft · Gesellschaft Sechster Band Volk – Zweites Vatikanisches Konzil Abkürzungen Register
Herder StL_8b / p. 271 / 16.9.2021 513 Zentralasien 514 ne Gericht wird ausschließlich zur justiziellen Sicherung und Ehrenschutz [ Ehre]): Die Durchsetzung der → privater, d. h. nichtstaatlicher Belange tätig. Kon- Schranken unterliegt dem Verhältnismäßigkeitsgrund- sequenz: Wegen Klaus Manns Roman „Mephisto“ satz ( Verhältnismäßigkeit) und der gerichtlichen → (1936) durfte unter dem GG (1968) sogar ein gericht- Nachprüfung. Die wenig verfassungsästhetische Rede liches Publikationsverbot wegen Verletzung des post- von Nachzensur sollte unterbleiben. Rechtsnachteile mortalen Persönlichkeitsrechts von Gustaf Gründgens entstehen dadurch nicht. Das Verbot der Vorzensur ergehen (BVerfGE 30,173). bleibt allemal unangetastet. Es wirkt absolut und ist ab- cc) Auch bei der Aufschlüsselung des Sammelbegriffs wägungsresistent. Diese Direktive des GG gilt unmittel- Staat, dessen Z. ausgeschlossen sein soll, sind Differen- bar. Sie bedarf nicht erst einer Umsetzung durch den zierungen notwendig. Staat ist nicht jeder öffentlich- einfachen Gesetzgeber. rechtliche Funktionsträger. Für die politischen Partei- → en kommt dies schon deshalb nicht in Frage, weil sie Literatur ungeachtet einer gewissen Staatsnähe privatrechtlich H. Bethge: Art. 5, in: M. Sachs (Hg.): GG, Komm., 82019, formierte Faktoren der gesellschaftlichen Sphäre sind. Rdnr. 129–135d • H. D. Jarass: Art. 5, in: ders./B. Pieroth: Konsequenz: Parteiausschlüsse von radikalen Autoren GG, 152018, 192–251 • C. Grabenwarter: Art. 5, in: scheitern nicht an Art. 5 Abs. 1 S. 3. Auch die öffent- T. Maunz/G. Dürig (Hg.): GG, Komm., 2018, Art. 5 GG, 68. Erg.-Lfg., Stand Januar 2013, Rdnr. 115–119 • C. Gucht: Das lich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind wegen der Zensurverbot im Gefüge der grundrechtlichen Eingriffskaute- Staatsfreiheit des Mediums kein Teil der Staatsorganisa- len, 2000. HERBERT BETHGE tion. Konsequenz: Die Absetzung einer Sendung durch den Intendanten ist von dessen staatsunabhängiger Pro- grammverantwortung legitimiert. Eine unzulässige Staats-Z. ist das nicht. Noch signifikanter ist die Sonder- Zentralasien stellung von Religionsgesellschaften. Sie sind zwar viel- fach mit dem rätselhaften Ehrentitel einer K.d.ö.R. aus- 1. Begriffsentwicklung gestattet (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV). Sie Als „Z.“ wird eine Region im Zentrum des eurasischen erfüllen indes keine Staatsaufgaben; sie sind nicht Teil Kontinents bezeichnet, die keine klar umrissenen natur- der Staatsorganisation. Konsequenz: Die Verweigerung räumlich-geografischen Grenzen aufweist und deren der Druckerlaubnis für die Schrift eines Kirchenbediens- Konturen seit dem Aufkommen des Begriffs im frühen teten durch den vorgesetzten Bischof (sog.es nihil obs- 19. Jh. unterschiedlich weit gefasst wurden. Der Begriff → tat, d. h. die Verweigerung des Imprimatur) ist kein Fall Z. selbst wurde von europäischen Forschungsreisenden einer von Art. 5 Abs. 1 S. 3 untersagten Staats-Z. und Geografen geprägt und war zunächst an Gegeben- b) Nur die staatliche Vorzensur oder Präventiv-Z. ist heiten der physischen Geografie orientiert. Der Geograf ausgeschlossen. Die Integrität der Meinungsfreiheit für und Chinaforscher Ferdinand Freiherr von Richthofen den Bürger wie für Massenmedien hat Vorrang gegen- fasste als Z. die ausgedehnten abflusslosen Räume zwi- über allen präventiven Kontrollmaßnahmen des Staates. schen dem Hochland von Tibet und dem Altai, zwi- Das gilt auch dann, wenn die beabsichtigte Meinungs- schen der Wasserscheide im Pamir und im Tienschan kundgabe inhaltlich nicht mit den Schranken des Art. 5 sowie dem Chingan-Gebirge. Neben dieser geogra- Abs. 2 GG übereinstimmt, also gegen die allg.en Ge- fischen Bestimmung des als Z. bezeichneten Raumes, setze verstößt. Nachträgliche Kontrollsanktionen des der die Mongolei und Teile Südsibiriens sowie West- Staates bleiben zulässig. Eine vollständige Freistellung chinas, nicht aber Transoxanien, d. h. die Oasenkulturen von jeder Bindung genießt der zunächst vom präven- zwischen Amu- und Syrdarja (in der antiken Geografie: tiven Z.-Verbot profitierende Akteur also nicht. Die Oxus und Jaxartes) einschließt, entwickelte sich seit Kommunikationsgrundrechte sind wie jedes andere dem 19. Jh. ein Z.-Begriff, der sich an den historisch-po- Freiheitsrecht in die staatliche Rechtsordnung einge- litischen Entwicklungen orientiert. Vor dem Hinter- bunden. Kein Freiheitsrecht ist schrankenlos. Eine um- grund der russisch-britischen Rivalität um den Zugang fassende Sanktionsimmunität der Medien würde gegen zum Indischen Ozean und die daran geknüpfte Kontrol- die Maxime der privilegienfeindlichen Demokratie des le des maritimen Handels gewannen die Gebiete östlich Verfassungsstaates verstoßen. des Kaspischen Meeres im 19. Jh. strategische Bedeu- c) Ob man die nachträgliche („repressive“) Überprü- tung für die Europäer. Im britisch-russischen Great fung einer Meinungskundgabe und ihre Beanstandung Game um Handelsmonopole und politischen Einfluss als „Nachzensur“ bezeichnen sollte, ist keine Ge- kam Afghanistan und den im Norden angrenzenden schmacksfrage. Der Begriff passt nicht. Mit der willkür- Gebieten Transoxaniens eine Schlüsselrolle als Transit- lichen Vorgehensweise eines grundrechtsindifferenten raum zu. Diese Konnotation Z.s als eines Raumes an der Obrigkeitsstaates hat die strikt gesetzlich determinierte Peripherie der umliegenden Reiche, der, selbst ohne fes- nachträgliche Realisierung der Rechtsbindung nichts ge- te Grenzen, den Hegemonialmächten als Korridor zur mein. Kontrollmaßstab ist schließlich allein die Schran- Erschließung weiterer Räume dient, verdichtete sich zu kentrias des Art. 5 Abs. 2 GG (allg.e Gesetze, Jugend- Beginn des 20. Jh. in der Heartland-Theorie des briti- →
Herder StL_8b / p. 272 / 16.9.2021 515 Zentralasien 516 schen Geografen Halford John Mackinder ( Geopoli- 2. Geografische und kulturräumliche Besonderheiten → tik). Dieser fasste den von Russland (später der UdSSR) Z. erstreckt sich über eine Fläche von knapp 4 Mio. km2, beherrschten Teil des eurasischen Kontinents als strate- von denen fast zwei Drittel auf Kasachstan entfallen. gischen Angelpunkt für die Herrschaft über den Globus Gleichzeitig lebt nur rund 1 % der Weltbevölkerung in und seine Ressourcen. Diese geopolitische Konzeption diesem Teil der Welt. Dies liegt maßgeblich an den geo- lebt als Folie für die Wahrnehmung Z.s bis heute fort grafischen Besonderheiten der Region. Z. zählt zu den und hat im Zusammenhang mit der chinesischen Ex- großen Trockenregionen der Welt, in denen Wasser eine pansionspolitik an Aktualität gewonnen. knappe und kostbare Ressource darstellt. Darüber hi- Für die Herausbildung des Z.-Begriffs in seiner heu- naus ist es eine Binnenregion, die keinen Zugang zu tigen Verwendung ist v. a. die russische Kolonialpolitik den Weltmeeren aufweist und deren Flüsse in Binnen- ( Kolonialismus) maßgeblich. Russland hatte seit dem seen münden oder versanden. Das geografische Profil → 16. Jh. an seinen südöstlichen Grenzen zwischen dem ist durch ausgedehnte aride und semiaride Tiefland- Kaspischen Meer und dem Altaigebirge eine grob dem und Gebirgsregionen bestimmt, die als Wärme- oder 50. Breitengrad folgende Linie von Militärstützpunkten Kältewüsten mit spärlicher Vegetation nur einge- errichtet und brachte im 18. Jh. die in Konföderationen schränkte Besiedlung erlauben. Der nördliche Teil der („Horden“) organisierten kasachischen Pastoralnoma- Region zählt zum eurasischen Steppengürtel, der sich den des Steppengürtels unter seine Herrschaft. Im Zuge von Osteuropa über Kasachstan bis in die Mongolei er- der Erschließung neuer Handelswege dehnte Russland streckt und eine geschlossene Grasdecke bildet, die ex- im 19. Jh. sein Einflussgebiet auch auf die stärker zen- tensive Weidewirtschaft (Pastoralismus) ermöglicht. Al- tralisierten Stadtstaaten des transoxanischen Zwei- pine Weiden finden sich in den niederen und mittleren stromlandes aus. Zur Bezeichnung dieses Gebiets hatte Lagen der Gebirge und werden für die Fernweidewirt- sich im 19. Jh. der Begriff Turkestan etabliert, nach der schaft (Transhumanz) genutzt. Im südlichen Tiefland da- persischen Bezeichnung für die mehrheitlich von tür- gegen haben sich an den Gebirgsaustritten von Flüssen, kischsprechenden Gruppen bewohnten Länder nördlich die den Hochgebirgsgletschern des Pamir und Tien- des Amudarja. Da sich der von ethnisch-linguistischen schan entspringen und zahlreiche kleinere Flüsse spei- Kriterien geprägte Begriff Turkestan auch auf chinesische sen, schon früh, d. h. seit dem 3. Jahrtausend v. Chr., Oa- Herrschaftsgebiete erstreckte, wurde zwischen West- senstädte mit künstlicher Bewässerung und intensiver bzw. Russisch-Turkestan und Ost- bzw. Chinesisch-Tur- Landwirtschaft entwickelt, die auch den Anbau von kestan unterschieden. In der administrativen Glie- Baumwolle einschloss. Die Koexistenz und gegenseitige derung der von der russischen Kolonialmacht be- Durchdringung von städtischer Oasenwirtschaft und anspruchten Territorien wurde der Begriff Turkestan bis Pastoralismus und die oft konflikthafte Interaktion von zur Gründung der UdSSR verwendet, danach jedoch Nomaden und Sesshaften spielt in der Gegenwart keine aufgegeben, da er von der politischen Bewegung der Rolle mehr, hat aber die historische Dynamik in Z. we- Pantürken, die für eine Autonomie Turkestans eintrat, sentlich geprägt. Der transkontinentale Fernhandel, der in Anspruch genommen wurde. Stattdessen etablierte bis zur Entdeckung des Seeweges nach Indien über die sich im russischen Schrifttum die Bezeichnung Mittel- durch Z. führenden Routen der sog.en Seidenstraße und asien. Sie umfasste die Sowjetrepubliken Kirgistan, Usbe- der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden „Pelzstraße“ kistan, Turkmenistan und Tadschikistan, die zwischen führte, war in Z. über komplexe Austauschbeziehungen 1924 und 1929 aus dem vormaligen Generalgouver- zwischen den urbanen Zentren der Oasen und den mo- nement Turkestan hervorgegangen waren. Die Sowjet- bilen Viehhirten der Steppenzone organisiert. republik Kasachstan, die aus Teilen des seit 1882 beste- Für die Entwicklung Z.s in der Moderne ist eine an- henden Generalgouvernements der Steppe hervor- dere naturräumliche Besonderheit bestimmend: der gegangen war, wurde nicht zu Mittelasien im engeren Reichtum an natürlichen Rohstoffen, v. a. fossilen Sinne gezählt, aber auch nicht zu Z. gerechnet. Unter Brennstoffen sowie Mineralien und Metallen, die seit diesem Begriff wurden vielmehr die Mongolei, Tibet dem 20. Jh. systematisch ausgebeutet werden. Kasachs- und Westchina (Ost-Turkestan) subsumiert. Im deut- tan, Usbekistan und Turkmenistan verfügen über rund schen und französischen Sprachraum wurde diese Be- 4 bzw. 6 % der global nachgewiesenen und förderbaren griffsverwendung übernommen und bis zur Auflösung Bestände an Erdöl bzw. Erdgas. Für alle drei Länder ist der UdSSR (1991) beibehalten. Die englischsprachige der Export dieser Rohstoffe heute die wichtigste Ein- Tradition dagegen übernahm diese Begriffsdifferenzie- nahmequelle. Darüber hinaus weisen v. a. Usbekistan rung nicht, sondern bezog den Begriff Z. auf alle fünf und Kasachstan bedeutende Gold- und Uranvorkom- Sowjetrepubliken – eine Konvention, die sich seit 1991 men auf. Bei der Produktion von Natururan steht allg. durchgesetzt hat. Die heutige Begriffsverwendung Kasachstan weltweit an erster Stelle, Usbekistan ist ist somit eine genuin politische, die sich an staatlichen ebenfalls unter den zehn größten Produzenten des Grenzen als Grundlage für das Konstrukt einer räum- Schwermetalls. Da die Staaten der Region infolge der lichen Einheit der Region orientiert. Binnenlage keinen direkten Zugang zu den Weltmärk- ten haben, ist der Export der Rohstoffe aufwändig und
Herder StL_8b / p. 273 / 16.9.2021 517 Zentralasien 518 kostspielig. Die erforderliche Infrastruktur – Pipelines, weiteres Mal wurden diese Herrschaftsgebiete im aus- Überlandstraßen und Schienenwege – wird erst seit Be- gehenden 14. Jh. unter dem turko-mongolischen War- ginn des 21. Jh. mit Hilfe ausländischer Investoren sys- lord Timur (Tamerlan) zu einem Imperium zusammen- tematisch ausgebaut. geführt. Samarkand, die Kapitale des Timuridenreichs und andere Städte im heutigen Usbekistan waren archi- 3. Vorkoloniale Geschichte tektonisch bis in die Gegenwart von dieser Epoche ge- Bis ins 6. Jh. v. Chr. dominierten in Z. Sprecher indo-ira- prägt. Unter Timur und seinen Nachfolgern gewann da- nischer (sogdischer) Idiome. Die ersten städtischen rüber hinaus der Sufismus in Z. an Bedeutung, der eine Siedlungen am Südrand der Region gehen auf solche wichtige Rolle bei der Islamisierung der nördlichen Gruppen zurück, ebenso wie die Domestikation des Steppengebiete spielte. Die Herrschaft in Transoxanien Pferdes. Diese Kulturleistung hat nicht nur die Heraus- übernahmen am Ende des 15. Jh. die Usbeken (Özbek) bildung der großräumig-mobilen Weidewirtschaft als und andere aus der mongolischen Aristokratie hervor- spezialisierter Lebensform ermöglicht, sondern ab dem gegangene Dynastien. Im Steppengürtel dominierten 1. Jahrtausend v. Chr. auch die Kriegführung revolutio- die mobilen Stammesverbände der Kasachen, die sich niert. Das Reiterkriegertum und die damit in Zusam- nur temporär zu zentralisierten militärisch-politischen menhang stehenden technologischen Innovationen Einheiten (Khanaten) zusammenschlossen und deren (Waffen und Kampftechniken) stellten bis in die Neu- Weidegebiete sich im Südosten mit denen der Kirgisen zeit eine Herausforderung für die agrarisch geprägten überlappten. Reiche an den Rändern Z.s – China, Persien, Russland – dar. Im 8. Jh. leitete die Eroberung Transoxaniens 4. Russische und sowjetische Herrschaft durch die Araber eine Epochenwende ein, indem sie Die russische Eroberung Z.s ab dem 18. Jh. bedeutete die Grundlage für die Islamisierung der Region legte, nach der arabischen Eroberung die zweite große histori- der chinesischen Westexpansion für viele Jahrhunderte sche Zäsur. In der Folge etablierte sich nicht nur die rus- ein Ende setzte und das Kalifat mit der Hauptstadt Bag- sische Sprache als lingua franca in Z.; die russische Kolo- dad zum politischen Bezugspunkt der lokalen Eliten nisation, v. a. aber die Integration Z.s in die UdSSR machte. In der Folge etablierten sich islamisierte lokale beeinflusste Z.s Kultur nachhaltig und legte den Grund- Dynastien im Zweistromland, darunter die Samaniden, stein für die heutige politische Gliederung der Region deren Verwaltungsgebiet (mit der Hauptstadt Buchara) und die Herausbildung der modernen Nationalstaaten. auch Teile Irans umfasste. Während der bis 999 dauern- den Herrschaft der Samaniden und in den folgenden 4.1 Zaristische Politik vier Jahrhunderten entwickelte sich das Zweistromland Die russische Kolonisation begann mit der Eroberung zu einem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum der der Steppe und ihrer Eingliederung in die zaristische islamischen Welt, von dem bedeutende Impulse für die Territorialverwaltung. Auch Transoxanien („Turkestan“) Entwicklung des islamischen Rechts (hanafitische wurde sukzessive Teil des russischen Herrschafts- Rechtsschule), der Philosophie (Avicenna), der Natur- bereichs, der Ende des 19. Jh. bis an die Grenze Afgha- wissenschaften (Abū Nasr Muhammad al-Fārābī, Abu nistans reichte. Anders als die Steppengebiete, die direkt r-Raihan Muhammad ibn Ahmad al-Bīrūnī) und der der Befehlsgewalt russischer Militärbeamter (General- neupersischen Sprache und Literatur ausgingen. Die gouverneure) unterstellt wurden, blieben die zentral re- Weidegebiete des zentralasiatischen Steppengürtels teil- gierten Oasenstaaten (Khanate, Emirate) des Zwei- ten sich türkische Verbände, die im Zuge einer Ost- stromlandes nominell unabhängig, wurden aber de West-Migration seit dem 10. Jh. in die Region vor- facto zu russischen Protektoraten. Die zaristische Macht gedrungen waren und für die der Zwischenhandel, über verfolgte in Z. vorwiegend ökonomische Interessen. den der Warenverkehr quer durch den eurasischen Kon- Zum einen ging es darum, die handels- und militärstra- tinent organisiert war, eine bedeutende ökonomische tegisch wichtige Region für den russischen Markt zu er- Ressource bildete. schließen, zum anderen um die Nutzung Z.s als Liefe- Die mongolische Eroberung im 13. Jh. integrierte Z. rant von Baumwolle, deren Kultivierung ab dem in ein Landimperium, das während seiner größten Aus- ausgehenden 19. Jh. durch die Einführung für die indus- dehnung in der ersten Hälfte des 13. Jh. von China bis trielle Produktion geeigneter amerikanischer Sorten sys- nach Osteuropa und von Anatolien bis zum Indus reich- tematisch ausgeweitet wurde. Rohbaumwolle aus Z. ver- te. Die Pax Mongolica etablierte nicht nur ein neues Mi- sorgte die russische Textilindustrie zu Beginn des ersten litär-, Verwaltungs- und Rechtssystem, sondern ermög- Weltkrieges mit der Hälfte des Gesamtbedarfes. Der lichte erstmals auch direkte Kontakte zwischen Europa Transport des Rohstoffs nach Russland wurde durch und dem Fernen Osten. In den nach dem Tod des den Ausbau des Eisenbahnnetzes ermöglicht, das Ende Reichsgründers (Dschingis Khan) von dessen Nachkom- des 19. Jh. Taschkent und das Ferganatal einschloss und men regierten Herrschaftsbereichen differenzierten sich zur Gründung industrieller Betriebe führte. Die Expan- jene politischen Entitäten aus, die für die Usbeken und sion der Baumwollwirtschaft und die damit einher- Kasachen der Gegenwart namengebend wurden. Ein gehende Integration Z.s in die imperiale Ökonomie des
Herder StL_8b / p. 274 / 16.9.2021 519 Zentralasien 520 Russischen Reiches veränderten das Wirtschaftsleben in logie der KPdSU zu ersetzen, wurden wie überall in der Z. nachhaltig. Sie führten in den Oasen des Ferganatals UdSSR die Künste (v. a. das Theater), neuartige Rituale zu einer Verdrängung des Getreideanbaus und zu einer und nicht zuletzt die Wissenschaften genutzt. Auch Abhängigkeit von russischen Importen. Der massenhaf- Städteplanung und Architektur dienten als Mittel der te, von St. Petersburg ermutigte Zustrom russischer Formung eines neuen Typs von Gesellschaft. Dadurch Siedler und (während des Ersten Weltkriegs) von veränderten sich die Städte Z.s nachhaltig. Dennoch ge- Kriegsflüchtlingen zog die Erschließung immer neuer lang es nicht, die neue Ideologie vollständig in Z. zu → Anbaugebiete durch den Ausbau der künstlichen Be- verankern. Zum einen beruhte die Politik der Indigeni- wässerung und die Enteignung von Land und Weide- sierung auf klar definierten nationalen Identitäten, → gründen nach sich. Dies führte zu sozialen Konflikten die im Zuge der Konstruktion von Nationalhistorien, mit den Einheimischen und wiederholten Revolten ge- Nationalsprachen und Nationalkulturen geschaffen gen die zaristischen Machthaber, die sich häuften, als wurden und die die Konservierung vorsowjetischer kul- Russland begann, die Bevölkerung der Kolonien zum tureller Traditionen begünstigten; zum anderen wurde → Erhalt kriegsnotwendiger Infrastruktur heranzuziehen. während des Zweiten Weltkrieges die Religionspolitik V. a. das Jahr 1916 war von Gewalt geprägt, die zu einem modifiziert und mit der Einrichtung einer Geistlichen Exodus Hunderttausender Zentralasiaten nach Afgha- Verwaltung der Muslime in Zentralasien und Kasachstan nistan, Persien und China führte. eine Struktur geschaffen, die religiöse Aktivität in einem kontrollierten Rahmen ermöglichte. Muslimische Ritu- 4.2 Sowjetische Herrschaft alpraxis und damit verbundene Verhaltensnormen wur- Nachdem im Oktober 1917 die Bolschewiki in Tasch- den so in den privaten Raum abgedrängt, jedoch ihres kent die Macht übernommen hatten, riefen muslimische intellektuellen Fundaments weitgehend beraubt. Reformer im Ferganatal eine Provisorische Regierung des Als „rückständig“ galt auch der Nomadismus, dessen Autonomen Turkestan aus, die jedoch schon im Frühjahr Mobilität die Grundlagen moderner Staatlichkeit in- 1918 von der Roten Armee niedergeschlagen wurde. In frage stellt. Die Kollektivierung der Landwirtschaft, die den Folgejahren festigten die Bolschewiki ihre Herr- eine rasche Industrialisierung ermöglichen und die da- schaft in Z. durch die systematische Einbindung lokaler für nötigen Ressourcen bereitstellen sollte, und die da- Kader in die Verwaltungsstrukturen (Indigenisierung) mit verbundene Sesshaftmachung der kirgisischen und und die Nutzung nationalistischer Rhetorik zur Mobili- kasachischen Nomaden führten unter letzteren Ende sierung der Bevölkerung für die Politik der neuen 1932/33 zu einer Hungersnot sowie zu einer neuerli- Machthaber. Die administrative Neugliederung der Re- chen Fluchtbewegung nach China. Die Kasachen wur- gion nach linguistischen und (vielfach konstruierten) den in diesen Jahren um etwa die Hälfte auf rund zwei ethnischen Gesichtspunkten mündete zwischen 1924 Mio. Menschen dezimiert und das Titularvolk zu einer und 1929 in die Gründung der fünf zentralasiatischen Minderheit in der Republik, der Massendeportationen Sowjetrepubliken, deren territoriale Delimitation weit- und Zwangsumsiedlungen (u. a. der Wolgadeutschen) gehend den heutigen Grenzen entspricht. während des Zweiten Weltkriegs ein multiethnisches Die Etablierung der Sowjetmacht und die damit ein- Gepräge verliehen. Nach dem Krieg begann man die ka- hergehende Modernisierung und ökonomische Er- sachische Steppe im Zuge der Neulandgewinnung für → schließung des zentralasiatischen Hinterlands waren den Getreideanbau und zur Gewinnung energiewirt- von Terror und Chaos überschattet. Die Einführung schaftlicher Rohstoffe (u. a. Erdöl, Steinkohle) zu er- → der neuen Ordnung begann 1926 mit der Zerschlagung schließen und zu industrialisieren. In den südlichen Re- der traditionellen Bildungsstrukturen. Die höheren isla- publiken (Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan) mischen Lehranstalten (Medressen) wurden geschlossen, setzten die Sowjets auf die Ausweitung der künstlichen Moscheen zerstört oder umfunktioniert, das religiöse Bewässerung zur maximalen Ausweitung des Baum- Personal in die Verbannung geschickt oder ermordet wollanbaus. Der Bau von großangelegten Bewässe- und damit eine jahrhundertealte Tradition der Erzeu- rungsprojekten (Kanäle, Staudämme), der von wieder- gung und Weitergabe von Wissen zerstört. Stattdessen kehrenden Politikwechseln begleitet war, ermöglichte wurden ein säkulares Schulwesen nach russischem Vor- schließlich die industrielle Produktion von Baumwolle, bild aufgebaut und (in den 1930ern) angepasste kyril- die im Wesentlichen auf Zwangsarbeit beruhte. Die in lische Alphabete für die zuvor in persischen Lettern ge- immer ausgedehnteren Monokulturen angebaute cash schriebenen und im Zuge der Indigenisierung zu crop wurde nicht vor Ort verarbeitet, sondern in den eu- Nationalsprachen erhobenen Idiome Z.s eingeführt. ropäischen Teil der UdSSR exportiert. Die südlichen Einen zentralen Angriffspunkt der Kulturrevolution bil- Republiken blieben daher agrarisch geprägt. Im Aus- deten gewohnheitsrechtlich verankerte Praktiken wie tausch für die Lieferung von Rohstoffen unterstützte Zwangsverheiratung und Polygamie sowie die traditio- Moskau die Republiken Z.s durch Subventionen und nelle Geschlechtertrennung und die daran geknüpfte Steuererleichterungen. Vor Ort wurden die Ressourcen- weibliche Körperverhüllung. Um die religiösen und tra- ströme durch informelle Netzwerke innerhalb des ditionalen Bindungen durch das Bekenntnis zur Ideo- Staats- und Parteiapparats kontrolliert, die dadurch sta-
Herder StL_8b / p. 275 / 16.9.2021 521 Zentralasien 522 bile Machtstrukturen aufbauen konnten. Dies gilt bes. dierte autoritäre Systeme herausgebildet, die sich ledig- für die Zeit nach 1960. Die unter Nikita Sergejewitsch lich graduell unterscheiden. Dass die in Usbekistan seit Chruschtschow in Z. eingesetzten Parteichefs behielten 2016 umgesetzten Reformen eine Trendumkehr einlei- ihre Ämter bis in die Ära Michail Sergejewitsch Gorba- ten, ist unwahrscheinlich. In Kirgistan wurde die Festi- tschows, dessen Antikorruptionskampagnen im Zuge gung des Autoritarismus 2005 durch eine Revolte unter- der Perestroika in Z. nationalistischen Stimmungen brochen, die zum Sturz des Präsidenten führte; doch ( Nationalismus) Auftrieb gaben. setzte dessen Nachfolger den autoritären Kurs mit umso → größerer Härte fort. Eine weitere Revolte führte 2010 zu 5. Zentralasien seit 1991 einem neuerlichen Regierungswechsel und zu einer Ver- 5.1 Politik fassungsänderung. Als einziges Land in Z. ist Kirgistan Als sich nach dem gescheiterten Putsch gegen M. S. seither eine parlamentarische Republik ( Parlament, → Gorbatschow im August 1991 das Ende der UdSSR ab- Parlamentarismus), in der kompetitive Wahlen durch- zeichnete, erklärten die zentralasiatischen Republiken geführt werden. Doch auch hier ist der Staatsapparat ihre Unabhängigkeit. Noch im selben Jahr wurden in weitgehend unter der Kontrolle der jeweils regierenden Kirgistan, Kasachstan und Usbekistan, 1992 auch in Partei und informeller Netzwerke in deren Umfeld. Turkmenistan, formale Präsidentschaftswahlen durch- geführt, die die bisherigen Parteivorsitzenden bzw. (seit 5.2 Wirtschaft, Ökologie 1990) Präsidenten der Unionsrepubliken im Amt be- Die politischen Ökonomien der Staaten Z.s sind maß- stätigten. In Tadschikistan, wo in den 1980er Jahren sä- geblich von der Rohstoffausstattung geprägt. In den res- kulare Intellektuelle und religiös-konservative Kräfte sourcenreichen Staaten Kasachstan, Usbekistan und politisch erstarkt waren, mündete der Machtkampf zwi- Turkmenistan verdankt sich die Wirtschaftsleistung im schen der nun Vereinigten Tadschikischen Opposition und Wesentlichen der rohstoffbasierten Produktion und den den Postkommunisten in einen Bürgerkrieg, der erst aus dem Export fossiler und mineralischer sowie land- → 1997 beendet wurde und auch hier einem Vertreter des wirtschaftlicher Ressourcen gewonnenen Einkünften. In ehemaligen kommunistischen Lagers ins Präsidenten- Kasachstan und Usbekistan kontrollieren oligarchisch amt verhalf. Die in den fünf Republiken zwischen 1992 strukturierte Eliten die strategischen Sektoren der → und 1995 verabschiedeten Verfassungen bekennen sich Wirtschaft, in Turkmenistan (und Tadschikistan) ist es zu Säkularismus, Rechtsstaatlichkeit ( Rechtsstaat) und die führende Familie. Wichtigster Abnehmer der Roh- → Gewaltenteilung sowie zu Parteienpluralismus und stoffe ist mittlerweile China. Chinesische Staatsunter- → freien Wahlen. Doch räumen sie den Präsidenten um- nehmen investierten seit der Jahrtausendwende massiv → fängliche Kontroll- und Leitungsbefugnisse für alle in den Bau von Pipelines, die den heimischen Markt mit staatlichen Funktionen ein. Durch diese unumschränkte Erdöl und Erdgas aus Z. beliefern; in Tadschikistan hat Machtfülle der zentralen Führungsinstanz wird das sich China die Schürfrechte im Gold- und Silberbergbau Prinzip der Gewaltenteilung ad absurdum geführt. Eine gesichert. Mit Ausnahme Kasachstans und Kirgistans unabhängige Gerichtsbarkeit existiert nirgendwo, die haben die zentralasiatischen Staaten nach dem Zerfall Parlamente fungieren als ausführende Organe zur Um- der UdSSR wesentliche Elemente der Planwirtschaft setzung von Vorgaben der Exekutive. ( Zentralverwaltungswirtschaft) beibehalten. Auch in → Während sich in Kirgistan und Kasachstan anfänglich Kasachstan, das bereits in den 1990er Jahren zu libera- parteipolitischer Wettbewerb entfalten konnte, bestan- len Wirtschaftsreformen überging, wurde ausländisches den solche Spielräume in Usbekistan und Turkmenistan Investitionskapital überwiegend in die Exploration von nicht. Dort war von Anfang an nur eine Partei zuge- Erdölfeldern und mineralischen Ressourcen gesteckt. lassen, in Usbekistan wurden oppositionelle Gruppie- Die Diversifizierung der Wirtschaft wurde dem gegen- rungen, darunter auch islamistische Akteure ( Islamis- über vernachlässigt, so dass die Wirtschaft stark an den → mus), ab 1992 ausgeschaltet und verlagerten ihre Ölpreis gebunden bleibt und entspr. krisenanfällig ist. Aktivitäten ins Ausland. Dort radikalisierte sich die isla- Usbekistan, das seit 2017 seine Wirtschaftspolitik neu → mistische Opposition und verübte wiederholt Anschläge ausrichtet und sich marktwirtschaftlichen Reformen öff- in Usbekistan, zuletzt 2004. Allein in Tadschikistan net, sucht mit Hilfe in- und ausländischer Investoren konnte sich infolge des Friedensabkommens von 1997 eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur aufzubauen eine echte Oppositionspartei, die Partei der Islamischen und, ebenso wie Kasachstan, den Anteil der industriel- Wiedergeburt, bis 2015 legal betätigen. Ab Mitte der len Produktion am Export zu stärken. Die ressourcen- 1990er Jahre festigen die amtierenden Präsidenten in armen Staaten Kirgistan und Tadschikistan sind seit der den zentralasiatischen Republiken ihre Macht, indem Auflösung der UdSSR weitgehend von ausländischen sie Referenden durchführen ließen, die es ihnen ermög- Unterstützungsleistungen abhängig: Diese tragen zur lichen, sich beliebig oft zur Wiederwahl zu stellen. Poli- staatlichen Stabilisierung bei, bedeuten aber eine enor- tische Freiheiten wurden immer weiter beschnitten und me Auslandsverschuldung. Der wichtigste Kreditor ist oppositionelle Kräfte an den Rand gedrängt oder ver- China. In Tadschikistan machten die Auslandsschulden boten. Auf diese Weise haben sich in ganz Z. konsoli- Anfang 2019 fast 40 % des BIP aus, etwa die Hälfte da-
Herder StL_8b / p. 276 / 16.9.2021 523 Zentralasien 524 von schuldet das Land China. Die Erzeugung und der chen Teilhabe ( Partizipation). Mit Ausnahme Ka- → Export von Elektrizität aus Wasserkraft haben aller- sachstans ist die Arbeitslosigkeit, v. a. unter Jugend- dings seit der Jahrtausendwende in beiden Ländern zu- lichen, hoch; ein großer Teil der Bevölkerung ist prekär genommen; die Mittel für die Bereitstellung der dafür beschäftigt, vielfach als Saisonarbeiter im Ausland. Mit nötigen Infrastruktur kommen v. a. von russischen, aber Ausnahme Kasachstans bestehen gravierende Defizite auch von westlichen Gebern sowie Entwicklungsban- im Bildungswesen, v. a. in Turkmenistan, Tadschikistan ken. Mit Ausnahme Kasachstans ist die Wirtschaft in und Kirgistan. Das Gesundheitssystem ist überall unter- Z. nach wie vor stark agrarisch geprägt. In Usbekistan, finanziert, vielfach fehlt es an qualifiziertem Personal. Kirgistan und Tadschikistan wird ein hoher Anteil am BIP durch die saisonale Arbeitsmigration (v. a. in Russ- 5.4 Identitätspolitik land) erwirtschaftet; bes. in Tadschikistan besteht eine Die Verfassungen der Staaten Z.s bekennen sich grund- ausgeprägte Abhängigkeit von den Rücküberweisungen sätzlich zum Prinzip einer staatsbürgerlichen Identi- der Gastarbeiter. Große Bedeutung für die wirtschaftli- fikation. Gleichzeitig ist das historische und kulturelle che Modernisierung wird überall der Digitalisierung → Selbstverständnis der zentralasiatischen Staaten maß- beigemessen. China ist dabei neben Russland der wich- geblich durch die von den Sowjets vorgenommene Auf- tigste Investor und Kooperationspartner. In Kasachstan, teilung der Region in nationale Republiken und die Usbekistan und Kirgistan soll künftig verstärkt in den damit einhergehende Kompilation von National- Ausbau erneuerbarer Energien investiert werden. Zu geschichten nach ethno-kulturellen Kriterien geprägt. den Kooperationspartnern zählt dabei auch die EU, Historische Persönlichkeiten aus vorsowjetischen Epo- → die diesen Sektor in den einschlägigen Regionalstrate- chen, die auf dem Gebiet der heutigen Nationalstaaten gien stark gewichtet. wirkten, wurden zu Gründungs- und Symbolfiguren der Die Entwicklung von Green Energy ist für Z. nicht zu- modernen Staaten stilisiert, deren Nationalkulturen letzt vor dem Hintergrund der ökologischen Problema- durch die jeweilige Titularmehrheit repräsentiert sind tik relevant. Die groß angelegte Erschließung der hydro- (die Kasachen haben diesen Status erst 1999 aufgrund energetischen Ressourcen während der Sowjetzeit und der Abwanderung von Russen und Ukrainern seit 1991 die Exploration der fossilen und mineralischen Energie- und der Rückholung von Kasachen aus China erlangt). träger, darunter der Kohle- und Uranbergbau, haben Dadurch werden Identitätsbildungen anhand sub-staat- enorme Folgeschäden hinterlassen. Die für die großflä- licher, ethnischer und linguistischer Kriterien in den chige Kultivierung von Baumwolle erforderliche inten- multinational zusammengesetzten Staaten festgeschrie- sive Bewässerung hat v. a. in den südlichen Republiken ben. Konflikte, etwa um die Nutzung von Land und zur Austrocknung von Flüssen und zur Versalzung von Wasser, entladen sich deshalb oft in inter-ethnischer Ge- Böden geführt, die zudem durch den Einsatz von Pesti- walt ( Ethnische Konflikte), v. a. in den dicht besiedel- → ziden und Düngemitteln verseucht wurden. Wasser hat ten Gebieten und Grenzregionen des Ferganatals. sich dadurch in den ariden Regionen zusätzlich ver- Gleichzeitig ist das Verhältnis zur russischen Kolonial- knappt. Sichtbarste Folge des ökologischen Raubbaus zeit und zur sowjetischen Epoche durchwegs ambiva- ist die Austrocknung des Aralsees. Maßnahmen zu Ret- lent. Zwar wurden Gedächtnisorte umgewidmet und tung des Sees sind bisher an der unzureichenden Ko- sowjetische Toponyme durch solche aus der jeweiligen operation der Anrainer gescheitert. Nationalkultur ersetzt, doch eine kritische Aufarbeitung der russischen und sowjetischen Fremdherrschaft und 5.3 Sozialstrukturelle Indikatoren der an ihrer Ausübung beteiligten und mit ihr identifi- Die Bevölkerung Z.s ist seit 1991 um fast 25 Mio. auf zierten indigenen Kader ist bisher ausgeblieben. knapp 74,5 Mio. Einwohner gestiegen, fast die Hälfte Eine höchste ambivalente Rolle spielt der Islam im → davon siedelt in Städten. Bei einem jährlichen Durch- Selbstverständnis der zentralasiatischen Staaten, deren schnittswachstum um 1,8 % werden 2050 über 100 Mio. Bevölkerungen mehrheitlich sunnitische Muslime sind. Menschen in Z. leben. Für das Wachstum sind neben Die kulturellen Leistungen muslimischer Gelehrter des der gestiegenen Lebenserwartung hohe Geburtenraten Mittelalters gelten als bedeutender Teil des historischen in Tadschikistan und Usbekistan verantwortlich; nur in Erbes, doch der gelebte Islam der Gegenwart stellt für Kasachstan stagnieren die Zahlen. Rund 30 % der Be- die Regierungen in Z. ein Problem dar. Seit 1991 er- völkerung sind jünger als 15 Jahre, das Durchschnitts- starkten überall Akteure, die muslimischen Ordnungs- alter beträgt 27,6 Jahre. Der Lebensstandard hat, nach und Wertvorstellungen stärkere, auch politische Gel- einem anfänglichen Einbruch in der ersten Dekade nach tung verschaffen wollen. Das Spektrum dieser Akteure der Unabhängigkeit, kontinuierlich zugenommen, v. a. reicht von pazifistischen Missionsgesellschaften bis hin seit 2000 haben sich die Bedingungen, gemessen an zu radikalen, international vernetzten dschihadistischen den Indikatoren des HDI, stark verbessert. Beim Pro- Gruppen. Gleichzeitig wächst in der Bevölkerung ein Kopf-Einkommen liegt Z. aber deutlich hinter Russland Bedürfnis nach religiöser Orientierung. Die staatliche und der Ukraine. Ausgeprägte Ungleichheiten bestehen Religionspolitik sucht der Herausforderungen durch bei der Verteilung des Reichtums und der gesellschaftli- gezieltes Monitoring der religiösen Landschaft zu be-
Herder StL_8b / p. 277 / 16.9.2021 525 Zentralasien 526 gegnen und einen staatskonformen Islamdiskurs durch- tan), schließt aber auch innenpolitische Aspekte ein, die zusetzen, ohne jedoch das Feld vollständig kontrollieren russische Interessen berühren. Eine bedeutende Funk- zu können. tion kommt dabei den von Russland ins Leben gerufe- nen Regionalorganisationen zu, die v. a. der Wahrung 6. Zentralasien in der internationalen Politik des russischen Einflusses dienen. Die traditionelle Be- 6.1 USA und Europa deutung Russlands wird zunehmend durch China infra- Z. rückte erst nach 1991 in den Fokus der internatio- ge gestellt, das seine Beziehungen mit den zentralasiati- nalen Politik. Dies war zum einen durch die reichen schen Staaten unter dem konzeptionellen Dach der 2013 Rohstoffreserven bedingt, an deren Ausbeutung sich ins Leben gerufenen „neuen Seidenstraße“ (Belt and zahlreiche ausländische Konzerne beteiligen. Auch mit- Road Initiative) erheblich ausgebaut hat. In diesem Kon- telständische Unternehmen aus Europa, den USA und zept fungiert Z. als strategischer Korridor nach Europa dem Nahen Osten entdeckten Z. als Produktionsstand- und Westasien, aber auch als Absatzmarkt für chinesi- ort und Absatzmarkt. Zum anderen war den Westmäch- sches Kapital sowie Waren und Arbeitskräfte. Auch chi- ten nach dem Ende der UdSSR daran gelegen, Z. in die nesische Investitionen in die digitalen Infrastrukturen euro-atlantische Welt einzubinden und einer demokra- und die Implementierung von Überwachungstechnolo- tischen Entwicklung den Weg zu bereiten. Große Be- gien aus China festigen die Bindungen zwischen Z. und deutung kommt dabei der OSZE zu, der die zentral- China, das dort auch politisch zunehmend selbst- → asiatischen Republiken als Nachfolgestaaten der UdSSR bewusst auftritt. seit der Überführung der KSZE in die OSZE im Jahr 1995 ebenfalls angehören. Als wichtigstes Instrument 6.3 Regionale Zusammenarbeit und Bündnisse der Demokratieförderung gelten die Wahlbeobachtun- Die regionale Kooperation ist maßgeblich durch die Ein- gen des Office for Democratic Institutions and Human bindung in von Russland dominierte multilaterale For- Rights der OSZE. Mit Beginn des in Afghanistan geführ- mate bestimmt. Während die GUS im Zuge der politi- → ten Krieges der USA gegen die al-Qāida (ab Oktober schen Fragmentierung des postsowjetischen Raumes an 2001) rückte Z. auch sicherheitspolitisch ins Blickfeld Gestaltungskraft verloren hat, ist die 2002 gegründete des Westens. Militärbasen in Kirgistan und Usbekistan Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit waren in die Versorgungslogistik der von der NATO (OVKS) weiterhin das wichtigste Format für die militär- → gestellten Unterstützungstruppe ISAF integriert, von und sicherheitspolitische Zusammenarbeit Russlands strategischer Bedeutung war (und ist) aufgrund seiner mit den zentralasiatischen Mitgliedstaaten Kasachstan, langen Grenze mit Afghanistan auch Tadschikistan. Kirgistan und Tadschikistan (sowie Armenien und Der Bedeutungszuwachs von Z. für Europa mündete Weißrussland). Kasachstan und Kirgistan sind (neben 2007 in einer Z.-Strategie der EU (neu aufgelegt 2019), Armenien und Weißrussland) auch in die 2015 gegrün- die seit 1999 Partnerschafts- und Kooperationsabkom- dete EWU eingebunden. Usbekistan, das zeitweise → men mit den Staaten Z.s unterhält. Die Stoßrichtung ist der OVKS angehörte, hat die Organisation 2012 verlas- v. a. eine ökonomische, die Abkommen beinhalten aber sen, ist jedoch der EWU 2020 als Beobachter beigetre- auch eine politische (Förderung von Rechtsstaatlichkeit ten. Turkmenistan, das 1995 seine permanente Neu- → und Zivilgesellschaft als Elemente demokratischer tralität in der Verfassung festgeschrieben hat, gehört → Entwicklung) und neuerdings auch eine klimapolitische keiner dieser Regionalorganisationen an. Im Gegensatz Dimension (Green Energy). Das westliche Engagement zu seinen zentralasiatischen Nachbarn ist Turkmenistan kam den Staaten Z.s ökonomisch wie politisch zugute auch kein Mitglied der SCO (gegr. 1996 bzw. 2001), die und bestärkte sie in ihrer „multivektoralen“ Außenpoli- den wohl wichtigsten Mechanismus zur Wahrung eines → tik, die auf eine strategische Balance abzielt, möglichst strategischen Gleichgewichts zwischen China und Russ- große Spielräume offenhält und ein breites Spektrum land auf dem eurasischen Kontinent darstellt. von Partnerschaften ermöglicht. Bis vor kurzem war die regionale Zusammenarbeit der Staaten Z.s von ausgeprägten Interessensgegensät- 6.2 Russland und China zen überschattet. Diese betrafen v. a. umstrittene Grenz- Diese außenpolitische Haltung resultiert nicht zuletzt verläufe und die Nutzung der Wasserressourcen durch aus der strategischen Bedeutung, die Z. für Russland die Ober- und Unterlieger der großen Ströme Amudarja und China besitzt. Für beide Regionalmächte steht da- und Syrdarja, die für die Stromerzeugung bzw. Land- bei der Zugang zu Rohstoffen, Märkten und Handels- wirtschaft der einzelnen Staaten von vitaler Relevanz wegen im Vordergrund. Russland, das neben China der sind. Zudem begünstigten die der Region von externen wichtigste Wirtschaftsakteur in der Region ist, be- Akteuren zugeschriebene Relevanz und das damit ver- ansprucht seit Wladimir Wladimirowitsch Putins bundene monetäre Engagement in Z. unilaterale und Machtübernahme 2000 eine privilegierte Position in Z. konfrontative Politikstile. Anreize zu einer verstärkten Dies bezieht sich neben der wirtschaftlichen Zusam- regionalen Zusammenarbeit, gar zur Gründung eines menarbeit v. a. auf die Militär- und Sicherheitspolitik genuin zentralasiatischen Kooperationsformats, wurden → (Nutzung von Militärbasen in Kirgistan und Tadschikis- nicht zuletzt durch die Einbindungspolitik Russlands
Herder StL_8b / p. 278 / 16.9.2021 527 Zentralasien 528 unterminiert. Mit dem Politikwechsel in Usbekistan 1976) der regelmäßigen Konsultation beider und ist ein 2016 und den von Taschkent ausgehenden außenpoliti- ernstzunehmender Ort innerkirchlicher sowie kirchen- schen Initiativen ist jedoch ein Prozess in Gang gekom- politischer Meinungs- und Willensbildung. men, der eine problemlösungsorientierte regionale Zu- In Geschichte und Gestalt des ZdK spiegeln sich sammenarbeit in Z. in den Bereich des Möglichen rückt. Selbstverständnis des Katholizismus bzw. Aufgaben → des Laienapostolats als Teil politischen, gesellschaft- Literatur lichen und kirchlichen Wandels in Deutschland seit A. Schmitz: Die Transformation Usbekistans: SWP-Studie 13 dem 19. Jh. wider. Die Anfänge gehen auf die von deut- (2020) • M. Russell: The EU’s new Central Asia Strategy • schen Katholiken getragene Petitionsbewegung zurück, P. Sartori: Of Saints, Shrines, and Tractors. Untangling the die 1848/49 die Freiheit der Kirche von staatlicher He- Meaning of Islam in Soviet Central Asia, in: JIS 30/3 (2019), gemonie einforderte. Die 1848 gewährte Vereins- und 367–405 • J. Reeves: China’s Silk Road Economic Belt Initia- Versammlungsfreiheit führte dazu, dass die Struktu- → tive. Network and Influence Formation in Central Asia, in: JCC 27/112 (2018), 502–518 • C. Teichmann: Macht der Un- ren eines deutschlandweit organisierten Katholizismus ordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920–1950, 2016 auf der Grundlage weltlichen Vereinsrechts entstanden • R. Kindler: Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Ka- und rasch anwuchsen. Dessen gesetzliche Beschränkun- sachstan, 2014 • S. N. Cummings: Understanding Central gen nach 1850 erforderten, die alljährlichen, später Asia. Politics and Contested Transformations, 2012 • J. Paul: unter dem Namen Deutsche Katholikentage bekannt Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 10, 2012 • M. Sapper/ werdenden Generalversammlungen (GV) entspr. an- V. Weichsel/A. Huterer (Hg.): Machtmosaik Zentralasien, zupassen (1848: GV des katholischen Vereins Deutsch- Osteuropa 8–9 (2007) • J. Stadelbauer: Mittelasien – Zentral- lands, 1858: GV der katholischen Vereine Deutschlands, asien. Raumbegriffe zwischen wissenschaftlicher Strukturie- 1872: GV der Katholiken Deutschlands). rung und politischer Konstruktion, in: PGM 147/5 (2003), Dem 1868 errichteten ZdK (Central-Komitee der katho- 58–63. ANDREA SCHMITZ lischen Vereine Deutschlands) fiel die Doppelaufgabe zu, das Potential der auf den GV vertretenen Einzelvereine durch straffere Koordination zu bündeln und ohne Ver- Zentralkomitee der deutschen Katholiken stoß gegen die politisch restriktive Vereinsgesetzgebung (ZdK) zu mobilisieren. Unter dem Eindruck von Reichsgrün- dung und einsetzendem Kulturkampf übernahm seit Das ZdK ist ein Zusammenschluss von Männern und → 1872 anstelle des ZdK ein Commissär der Generalver- Frauen aus katholischen Laienorganisationen und -rä- sammlung die Verantwortung für Organisation und ten sowie Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Durchführung der alljährlichen Zusammenkünfte. Die- Wissenschaft in Deutschland. Als eingetragener Ver- se kommissariatsgebundene Gestalt, welche die Be- → ein vertritt es die Anliegen der Katholiken in allen ge- handlung kirchenpolitischer Grundfragen ermöglichte, sellschaftlichen, staatlichen und kirchlichen Angelegen- blieb weit über die Kulturkampfjahre hinaus bestehen heiten. Die Vorbereitung und Durchführung der und wurde erst 1898 durch die Wiedereinsetzung eines zweijährlich stattfindenden Deutschen Katholikenta- ZdK (Central-Komitee für die Generalversammmlung der → ge sind sichtbarer Ausdruck dieses Gestaltungswillens. Katholiken Deutschlands) abgelöst. Als höchstes Organ des ZdK fasst die Vollversammlung Einflussreiche katholische Adlige bestimmten die aus gewähltem Präsidium und Delegierten ( katho- von außerordentlich großer Loyalität gegenüber Papst → → lischer Organisationen und Verbände, von Laienräten und Kirche getragene Arbeit des Kommissariats bzw. der Diözesen, katholischen Einrichtungen und geist- des ZdK. Namentlich die Fürsten zu Löwenstein-Wert- lichen Gemeinschaften sowie berufenen Einzelpersön- heim-Rosenberg übten in drei aufeinanderfolgenden lichkeiten) seine Beschlüsse in eigener Verantwortung Generationen (1868–1898: Karl-Heinrich, 1920–1948: und unabhängig von anderen Gremien. Diese werden Aloys, 1948–1968: Karl) das Ehrenamt des ZdK-Prä- von einem Generalsekretär gemeinsam mit dem in sidenten aus. Seit 1906 stand ihnen zusätzlich ein Geist- Bonn (demnächst Berlin) ansässigen Generalsekretariat licher als Generalsekretär zur Seite (1906–1921: Adolf umgesetzt. Donders, 1921–1927: Gustav Raps, 1927–1947: Theo- Die Deutsche Bischofskonferenz anerkennt das ZdK dor Legge, 1947–1952: Franz Hengsbach, anschließend als dem Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils über als Geistlicher Assistent). das Apostolat der Laien (Apostolicam Actuositatem 26) An der Schnittstelle zum politischen Katholizismus entspr.es Organ, das die Kräfte des Laienapostolats ko- der Zentrumspartei ( Zentrum) bewegte sich das ZdK → ordiniert und die apostolische Tätigkeit der Kirche för- permanent in einem Spannungsfeld zwischen reichswei- dert (Statut § 1, Abs. 2). Ein von der Bischofskonferenz ter Institutionalisierung des vielgestaltigen Vereins- und aus ihren Reihen bestellter Geistlicher Assistent berät Verbandskatholizismus einerseits und der auf Pfarrei das ZdK in geistlichen und theologischen Fragen. Die und Diözese ausgerichteten Zuständigkeit der Bischö- → Gemeinsame Konferenz von je zehn Mitgliedern der fe andererseits. Nach dem europaweiten Zusammen- Deutschen Bischofskonferenz und des ZdK dient (seit bruch der alten Herrschaftsordnung stellte sich die
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