Sturmtief voraus? Wo Unternehmen trotz guter Konjunktur mit sektoralen Krisen rechnen müssen - Mai 2018 - Roland Berger

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Sturmtief voraus? Wo Unternehmen trotz guter Konjunktur mit sektoralen Krisen rechnen müssen - Mai 2018 - Roland Berger
Mai 2018

Sturmtief voraus?
Wo Unternehmen trotz guter Konjunktur mit sektoralen Krisen
rechnen müssen
Sturmtief voraus? Wo Unternehmen trotz guter Konjunktur mit sektoralen Krisen rechnen müssen - Mai 2018 - Roland Berger
2 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

Management Summary

Sturmtief voraus ...? So könnte man die Grundfrage un-
serer diesjährigen Umfrage unter Restrukturierungs-
und Transformationsexperten zusammenfassen. Die
deutsche Wirtschaft erweist sich zwar als stabiler Motor
und aktuelle Wirtschaftsdaten geben Anlass, optimis-
tisch zu sein. Dennoch mehren sich die Stimmen – dar-
unter die des renommierten Ökonomen Prof. Dr. Dr. h.c.
Bert Rürup –, dass die glänzende Fassade der deutschen
Wirtschaft schon bald ein paar Kratzer bekommen
könnte. Weil sich die Notwendigkeit zur Anpassung als
Erstes in einzelnen Branchen zeigt, bevor sie gesamt-
wirtschaftlich durchschlägt, wird der Anpassungsbedarf
oft unterschätzt. Woran liegt das? Unsere Studienteil-
nehmer glauben, es fehlt in guten Zeiten in vielen Unter-
nehmen am nötigen Druck, umfassende Veränderun-
gen anzustoßen. Sensibilität für diese ständige
Bereitschaft zur Transformation zu schaffen und sie zu
verwirklichen, diese Aufgabe wurde in den Studien der
vergangenen Jahre bereits als neues Betätigungsfeld
deutscher Chief Restructuring Officers und Chief Trans-
formation Officers (CROs und CTOs) identifiziert. Denn
wenn Unternehmen in unsicheren Zeiten Management-
fehler machen, ist das oft der Grund, dass der Verände-
rungsbedarf sich zu einer handfesten Krise auswächst,
sagen unsere Befragten. Nicht alle Branchen sind glei-
chermaßen betroffen. Deswegen schauen wir genauer
hin und beleuchten die Situation in deutschen Schlüs-
selindustrien und arbeiten heraus, was zu tun ist, damit
die Transformation gelingt.
Sturmtief voraus? Wo Unternehmen trotz guter Konjunktur mit sektoralen Krisen rechnen müssen - Mai 2018 - Roland Berger
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 3

                                         Inhalt

                                         1. Warum eine gut laufende Konjunktur nötige Anpassungen
                                            in Deutschland verzögert ........................................................................................................... 4
                                         	Kratzer im Lack. Ein Kommentar von Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup

                                         2. Strukturwandel und sektorale Krisen – ausgewählte Branchen
                                            unter der Lupe ................................................................................................................................. 10
                                         	Automobilindustrie: Im Strudel des Jahrhundert-Wandels

                                              Energiewirtschaft: Neue Geschäftsmodelle gesucht

                                              Maschinenbau: Die nächste industrielle Transformation stemmen

                                              Banken: Mehr Spezialisierung wagen

                                              Konsumgüter und Handel: Im Sog von Wertewandel und Digitalisierung

                                              Gesundheitswesen: Warten auf den großen Sturm
Titelbild: Ozgur Donmaz / Getty Images
4 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

Kapitel 1:

Warum eine gut laufende
Konjunktur nötige An-
passungen in Deutschland
verzögert
Ergebnisse der CRO/CTO-Befragung 2018
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 5

Unternehmen in Deutschland blicken optimistisch in
die Zukunft. Einer der Indikatoren dafür ist der Ifo-Ge-   A: Unternehmen investieren immer mehr
schäftsklimaindex. Er befindet sich im Höhenflug.          Investitionen [in % des BIP]
Auch haben der internationale Währungsfonds und an-
dere Institutionen die Wachstumsprognose für
Deutschland angehoben. Die Auftragsbücher der deut-                                                             19,6
schen Unternehmen sind voll. Gerade die in Deutsch-                                               19,4
land vertretenen starken Exporteure profitieren vom
                                                                  19,1              19,2
schwachen Euro und von einem anziehenden Welthan-
del. Auch um die Arbeitslosigkeit muss sich Deutsch-
land keine Sorgen machen. Sie ist mit 3,7% im europä-
ischen Vergleich auf einem Rekordtief. Davon dürfte
der private Konsum in den kommenden Jahren profitie-
ren. Das derzeit niedrige Zinsniveau und die niedrige
Inflation ermutigen Unternehmen zu investieren. Und
das tun sie auch. Die Investitionstätigkeit steigt seit
drei Jahren kontinuierlich: Von 19,1% wird sie sich auf
voraussichtlich 19,6% des Bruttoinlandsproduktes
(BIP) erhöhen. A/B
Wir haben Restrukturierungsexperten dazu befragt, ob
deutsche Unternehmen darauf vertrauen können, dass
dieser Erfolg sie in die Zukunft trägt. Darüber hinaus
wollten wir wie in den vergangenen Jahren erfahren, ob
sich die Situation der CROs und CTOs in diesem Kon-
text verändert (Ergebnisse siehe Einleger) und es stand
die Frage im Mittelpunkt, wie die Restrukturierer die
aktuelle konjunkturelle Situation einschätzen, ob und
wo sie künftig Anpassungsbedarf für Unternehmen
vermuten.
Die Befragten warnen davor, sich durch die aktuellen
Zahlen zu sehr in Sicherheit zu wiegen. Branchenspe-
zifischer Strukturwandel ist gerade in der Hochkon-
junktur ein wesentlicher Treiber für Anpassungen, so
die Meinung vieler Antwortgeber. Die Einschätzung
von Konjunkturaussichten beruht in der Regel auf ag-
gregierten, rückwärtsgerichteten Indikatoren. Sie                 2015               2016        2017           2018p
kann nicht mehr als eine punktuelle Bestandsaufnah-
me darstellen. Diese Daten eignen sich deshalb nur         Quelle: Roland Berger
6 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

                                                    bedingt, um mögliche zukünftige Herausforderungen
B: Arbeitslosigkeit – ein Problem von gestern?      zu identifizieren. Nach der Erfahrung unserer Exper-
Arbeitslosenquote [in %]                            ten verführen gut laufende Geschäfte sogar dazu, trä-
                                                    ge und unaufmerksam zu werden. Denn wo es gut
                                                    läuft, besteht kein Leidensdruck, und genau der ist
                                                    oft ein Treiber nötiger Veränderung in Unternehmen.
       4,6                                          Es ist wichtig, noch in guten Zeiten gegenzusteuern.
                                                    Deutsche Vorzeigebranchen wie Automobil oder Ma-
                        4,2                         schinenbau mögen derzeit noch florieren, müssen
                                                    aber jetzt handeln, um sich für zukünftige Entwick-
                                                    lungen zu wappnen. Die großen deutschen Automo-
                                  3,8               bilhersteller haben das größtenteils erkannt und re-
                                            3,7
                                                    agieren entsprechend, der Rest der Branche wird
                                                    folgen müssen.

                                                    DIE HERAUSFORDERUNGEN VON HEUTE SIND
                                                    DIE KRISEN VON MORGEN
                                                    Denn die nächsten Herausforderungen stehen bereits
                                                    vor der Tür. Die globalen Märkte befinden sich im Um-
                                                    bruch, das politische Klima ist instabil. Eine neue, pro-
                                                    tektionistische Haltung der USA wirkt sich auf den
                                                    Handel sowie die Wertschöpfungs- und Kostenstruktu-
                                                    ren aus; China bewegt sich immer weiter weg von einer
                                                    politischen Öffnung, was Auswirkungen auf den Han-
                                                    del und die Geschäfte westlicher Firmen – allen voran
                                                    Deutschland – haben könnte. Der Kampf um die digi-
                                                    tale Vorherrschaft ist im vollen Gange: So wurde auch
                                                    die Digitalisierung von den Befragten in unserer Stu-
                                                    die weiterhin als wesentliche Disruptionskraft ge-
                                                    nannt. Technologien wie künstliche Intelligenz entwi-
                                                    ckeln sich rasant weiter und finden zunehmend
                                                    Anwendung in den unterschiedlichsten Geschäftsmo-
                                                    dellen. Auf diese Weise verändert sich das Spiel: Markt-
                                                    eintrittsbarrieren für neue Wettbewerber aus anderen
                                                    Branchen sinken, Plattformbetreiber dominieren das
       2015             2016      2017      2018p   Geschäft – wie z.B. der Einzelhandel bereits schmerz-
                                                    lich erfahren musste. C/D
Quelle: Roland Berger
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 7

C: Ein Blick in einzelne Branchen lohnt sich
Welche Phänomene sorgen für Anpassungsbedarf trotz guter Konjunktur?
[% der Kategorien mit der höchsten Zustimmung]

Branchenspezifischer Strukturwandel                                                                   88,1%

Technologischer Wandel                                                                               85,7%

Globaler Wettbewerb                                                                        75,0%

Nachfrageverschiebungen                                                         61,5%

War for talent                                                        51,7%

Regulatorische Herausforderungen                              42,3%

Demografischer Wandel                                 33,3%

D: Transformation braucht bessere Führung
Was sind die Gründe für branchenspezifische Herausforderungen?

Managementfehler                                                                                        90,2%

Wettbewerb durch neue Anbieter                                                               77,8%

Digitalisierung und disruptive
                                                                                          74,3%
Technologien

Wettbewerb durch Produktsubstitute                                            59,3%
Veränderungen von Kunden-
                                                                        54,5%
präferenzen
Kostendruck in anderen Bereichen
                                                                        53,6%
(z.B. Einkauf)

Nachwuchs- und Talentsorgen                       27,3%

Gewerkschaftlicher Kostendruck                21,4%

"Andere" nicht mit aufgeführt
Quelle: Roland Berger
8 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

                                                            deutschen Wirtschaft weiter an Fahrt gewinnt, wird sich
                                                            dieser Mangel noch verschärfen. Infrastrukturprojekte
"Sektorale Krisen                                           und Investitionen in Bildung wurden verschleppt. Die
                                                            Innovationskraft unserer mittelgroßen Unternehmen
entstehen oft durch                                         lässt nach, wie das Institut der deutschen Wirtschaft
                                                            (IW) jüngst herausgefunden hat. Die Momentaufnahme
den Einfluss der                                            der Gesamtwirtschaft darf also nicht darüber hinweg-
                                                            täuschen, dass in vielen Branchen ein teilweise längst
Digitalisierung,                                            fälliger Strukturwandel ansteht, auf den viele Unterneh-
                                                            men – gerade aufgrund der guten aktuellen Lage – nicht
Angebotsalternativen                                        ausreichend vorbereitet sind.
                                                            Wir betrachten exemplarisch sechs strategisch wichtige
aus anderen Feldern                                         Branchen und Branchencluster in Deutschland: Auto-
                                                            mobilindustrie, Energiewirtschaft, Maschinenbau, Ban-
und mangelnde                                               ken, Konsumgüter/Handel und Unternehmen im Ge-
                                                            sundheitswesen. Wo kommt es bereits heute oder
Wandlungsfähigkeit                                          absehbar zu sektoralen Krisen? Was sind die Treiber für
                                                            Anpassungsbedarf in verschiedenen Branchen? In wel-
von Unternehmen."                                           chem Stadium befinden sich die Unternehmen im Hin-
                                                            blick auf diesen Anpassungsbedarf? Welche Wege schla-
TEILNEHMER DER STUDIE                                       gen die Beweglichen ein und was droht den Unbeweg-
                                                            lichen? Die Veränderungen im Portfolio unserer Perfor-
                                                            mance-Improvement- und Restrukturierungsfälle zei-
                                                            gen uns, wo auch in Zeiten guter allgemeiner Konjunk-
RUHE VOR DEM STURM?                                         tur Gefahr droht. Wir haben das zum Anlass genommen,
Womöglich wird es nicht die nächste Zinserhöhung            den strukturellen Handlungsbedarf in ausgewählten
sein, die deutsche Unternehmen flächendeckend in eine       Branchen zu umreißen. Es ist besonders in disruptiven
schwierige Situation bringt. Während wir scheinbar von      Zeiten gefährlich, seine Geschäftsmodelle nicht regel-
einem Rekordhoch zum nächsten gehen, zeichnen sich          mäßig zu hinterfragen. Unsere Befragten sehen Ma-
schon verschiedene Warnsignale ab: Wir befinden uns         nagementfehler als wesentlichen Grund dafür an, dass
in der längsten Boomphase seit dem Zweiten Weltkrieg.       Unternehmen in Krisen geraten. Es gilt mehr denn je,
Gleichzeitig verzeichnen wir von 2016 auf 2017 den          das Geschäft rechtzeitig anzupassen.
höchsten Zuwachs an Kreditvergaben seit 70 Jahren.
Engpässe treten auf, und zwar da, wo es für ein wissens-
getriebenes Wirtschaftsmodell am gefährlichsten ist:
bei den Köpfen. In der Industrie wird bereits seit Jahren
über Fachkräftemangel geklagt. Mehr als eine Million
Stellen sind unbesetzt. Wenn die Digitalisierung in der
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 9

                                     Kratzer im Lack
                                     Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup
                                     Präsident des Handelsblatt Research Institute, langjähriges Mitglied
                                     und Vorsitzender des Sachverständigenrates

US-Präsident Donald Trump stellt gerade mit seiner "Ame-            > Als Nebenwirkung der ultraleichten Geldpolitik der EZB sind
rica First"-Parole und seiner Isolationspolitik die Zukunft            in einer Reihe von Euroländern "Zombie-Unternehmen" ent-
des freien Welthandels infrage. China macht sich gezielt               standen, die bei einer Zinswende zur Gefahr für die jeweilige
daran, mit einer "Made in China 2025"-Strategie die west-              Volkswirtschaft werden können, insbesondere wenn es sich
lichen Industrienationen zu attackieren. Da hilft es mögli-            um Banken oder Versicherungen handelt. Doch auch Zom-
cherweise auch nicht viel, wenn in Deutschland die Steuer-             bie-Unternehmen anderer Branchen schaden der Volks-
einnahmen weiter so kräftig sprudeln, dass gleichzeitig                wirtschaft. Da sie nur dank der sehr niedrigen Zinsen nicht
neue Ausgabenprogramme finanziert werden können, ohne                  Konkurs anmelden müssen, verzögern sie den produktivi-
die alsbaldige Rückführung der Schuldenstandquote unter                tätsfördernden Strukturwandel.
die in den Europäischen Verträgen festgelegten 60% zu               Die EZB ist nicht die Nachfolgerin der Deutschen Bundesbank.
hinterfragen.                                                       Sie würde ihrem Auftrag nicht gerecht, wenn sie – wie auch
Dennoch gibt es auf der – auf den ersten Blick – glänzenden         von renommierten deutschen Ökonomen gefordert – ihre Poli-
Fassade der deutschen Ökonomie ein paar hässliche Kratzer, die      tik an den Erfordernissen der deutschen Volkswirtschaft aus-
in der aktuellen Diskussion beflissentlich übersehen werden:        richten würde. Das Direktorium dieser Notenbank mag den
> So ist die deutsche Volkswirtschaft im anerkannten "World        Auftrag, die Inflationsrate "nahe, aber unter 2% zu verankern"
   Competitiveness Ranking" des Lausanner International Ins-        extensiv ausgelegt haben, doch von einer mandatswidrigen Po-
   titute for Management Development (IMD) vom 6. Platz im          litik kann keine Rede sein. Für Deutschland geht die Bundes-
   Jahr 2014 auf den nunmehr 14. Rang heruntergestuft wor-          bank davon aus, dass der Anteil solcher nur dank der Geldpolitik
   den. Hinsichtlich der digitalen Wettbewerbsfähigkeit liegt       noch nicht aus dem Markt ausgeschiedenen Unternehmen je
   das Land sogar nur auf Platz 17.                                 nach Abgrenzung bei nicht mehr als 5 bzw. 2,2% liegt. Doch
> Als Folge der beschlossenen Senkung der Unternehmens-            ungeachtet dessen gab und gibt es auch in Deutschland eine
   besteuerung in den USA sowie in einer Reihe wichtiger eu-        ganze Reihe von Unternehmen, die sich durch die Niedrigzins-
   ropäischer Länder sinkt die Attraktivität des Investitions-      politik veranlasst sahen, Investitionen mit einer geringen inter-
   standorts Deutschland weiter.                                    nen Verzinsung zu tätigen. Bei einem schnellen geldpolitischen
> Seit fast zehn Jahren liegt die jährliche Zunahme der Arbeits-   Kurswechsel könnten sich diese Investments als Fehlinvestiti-
   produktivität bei bescheidenen 0,6%. Und das Wachstum            onen erweisen. Die Folge wäre dann kein Soft-Landing der
   der Totalen Faktorproduktivität (TFP) liegt derzeit nur bei      deutschen Konjunktur, sondern eine Rezession. Dies jedenfalls
   0,4% pro Jahr. Die TFP steht für gesamtwirtschaft-               befürchten Ökonomen des Kieler IfW und weisen damit auf
   liche Effizienzgewinne, also mögliche Produktionsauswei-         einen weiteren Kratzer auf der vermeintlich glänzenden Fassa-
   tungen ohne höheren Einsatz von Arbeit oder Kapital.             de der deutschen Ökonomie hin.
10 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

Kapitel 2:

Strukturwandel und
sektorale Krisen –
Ausgewählte Branchen
unter der Lupe
Wo Restrukturierungsexperten sektorale Krisen
erwarten
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 11

Wir wollten von unseren Restrukturierungs- und
Transformationsexperten wissen, in welchen Branchen       E: Strukturwandel in Sicht
sie den größten Anpassungsbedarf sehen. Deshalb ba-       Top 10 Nennungen der Restrukturierungsexperten
ten wir sie im Rahmen unserer Studie um ihre Ein-
schätzung. Roland Berger Branchenverantwortliche
beschreiben die jeweilige Situation in den folgenden      1. Automobilzulieferer
Kapiteln genauer und sagen, wie Unternehmen reagie-                                                                   94,4%
ren können.
Beim Handel und Großhandel ist der Umbruch augen-         2. Anlagenbau
fällig und schon seit Längerem im Gange. Disruptive                                                               86,7%
Entwicklungen durch die Digitalisierung haben insbe-
sondere die Geschäftsmodelle klassischer Händler ero-     3. Handel/Großhandel
diert. Sie müssen schnell gegensteuern, um im Wett-                                                              83,9%
lauf um die Kunden nicht den Anschluss zu verlieren.
Der Markt für Energieerzeuger und Banken befindet         4. Automotive Aftermarket
sich ebenfalls schon länger im Umbruch. Während zu-                                                            83,3%
mindest die großen Energieerzeuger ihre Organisatio-
nen und ihr Geschäftsmodell mittlerweile umfassend        5. Energieerzeuger
umgebaut haben, suchen die traditionellen deutschen                                                           81,3%
Banken immer noch nach einer geeigneten Antwort
auf künftige Herausforderungen.
Aber auch bei den deutschen Vorzeigebranchen wie
                                                          6. Maschinenbau
                                                                                                              81,3%
dem Anlagen- und Maschinenbau, bei den Automobil-
zulieferern sowie dem Automotive Aftermarket lohnt
es sich nach Ansicht der Befragten, genauer hinzuse-
                                                          7. Banken
                                                                                                         74,1%
hen. Bei vielen dieser Unternehmen ist die aktuelle
Lage derzeit noch zu gut, um sich über Anpassungsbe-
darf in der Zukunft Gedanken zu machen.                   8. Konsumgüter
Für den Healthcare-Sektor sind sich die Befragten un-                                         52,4%
eins: Nur rund die Hälfte erwartet signifikante Verwer-
fungen. Weniger akut ist die Lage in den Bereichen        9. Gesundheitswesen
Pharma, Chemie und Software sowie Telekommunikati-                                            51,9%
on, so die Meinung der Befragten. Die Dynamik dieser
Märkte bietet viele Chancen. Unsere Experten sehen        10. Versicherungen
deutsche Unternehmen offenbar als gut positioniert,                                       45,5%
um diese Entwicklungen aktiv mitzugestalten. E

                                                          Quelle: Roland Berger
12 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

Automobilindustrie

IM STRUDEL DES JAHRHUNDERT-WANDELS                               im Rahmen des Dieselskandals – verleiht dem Markt
(Norbert Dressler)                                               nun eine unerwartete Dynamik. 12% der Modelle
                                                                 deutscher Hersteller fahren bereits mit Elektroantrieb
Seit der Erfindung des Automobils hat sich die Branche           (gegenüber 9% in 2015). Kommt es kurzfristig zu
lange Zeit weitgehend linear weiterentwickelt. In den            Fahrverboten in Städten, entsteht ein zusätzlicher An-
vergangenen zwei Jahren konnten wir jedoch beobach-              reiz für deutsche Käufer, über alternative Antriebe
ten, wie sich – getrieben durch vier Trends – ein massiver       nachzudenken. F
Wandel ankündigte und teilweise auch schon vollzog.              Gerade die Zulieferer verspüren bei EBIT-Margen von
Das hat Auswirkungen auf Automobilhersteller, Zuliefe-           7,5% bislang noch wenig Handlungsdruck. Doch diese
rer und den Aftermarket.                                         Sicherheit ist trügerisch, wenn man bedenkt, dass der-
                                                                 zeit z.B. kein einziger deutscher Anbieter unter den füh-
                                                                 renden Entwicklern für Batterien ist. Der Umstieg von
TRENDS                                                           Verbrennungs- auf Elektromotoren ist ein großer Schritt
1. Alternative Antriebsformen: Die Entwicklung des Marktes      in Bezug auf die gesamte Wertschöpfungskette. Auch
    hin zur E-Mobilität veränderte substanziell das gesamte      wenn die Ladeinfrastruktur sich noch schleppend ent-
    Ökosystem, bestehend aus Zulieferern, Herstellern und        wickelt, müssen Automobilhersteller heute schon mas-
    Aftermarket.                                                 siv investieren, um startbereit zu sein. Auch vor dem
2. Mobilität statt Autofahren: Autofahrer haben bereits heute   Hintergrund der gesättigten Heimatmärkte müssen
    die Option, zahlreiche neue Mobilitätskonzepte wie Carsha-   sich Automobilhersteller immer stärker auf Wachstum
    ring oder Taxihailing als Alternativen zum eigenen Auto zu   in Schwellenländern konzentrieren. Die Anforderungen
    nutzen – zumindest in städtischen Gebieten.                  der Kunden in diesen Märkten unterscheiden sich z.T.
3. Autonomes Fahren: Vor allem die Zulieferer erleben einen     wesentlich von denen westlicher Kunden (Beispiel:
    massiven Umbruch. Die Unternehmen haben bereits und          Volvo wird nach dem Einstieg eines chinesischen Inves-
    werden weiter in Entwicklung investieren müssen, um          tors künftig nur noch Elektroautos neu entwerfen, weil
    neuen Anforderungen zum Beispiel an Innenraumgestal-         die chinesische Regierung rigide gegen Luftverschmut-
    tung, Sensorik oder Vernetzung gerecht zu werden.            zung vorgeht und damit Elektroautos in China ein enor-
4. Digitalisierung: Sie könnte die Art und Weise, wie Autos     mes Potenzial haben).
    verkauft werden, relativ schnell massiv verändern und        Die Batterie ist einer der technologischen Differenzie-
    auch das Geschäft im Aftermarket disruptieren.               rungsfaktoren. In diesem Feld werden asiatische und
                                                                 auch branchenfremde Zulieferer mit ihren Kompeten-
                                                                 zen punkten. Elektromotoren kommen mit 25% weni-
UNERWARTETE BESCHLEUNIGER                                        ger Komponenten aus. Die Hersteller von Komponenten
Die Anpassung des regulatorischen Rahmens macht                  für traditionelle Antriebe verzeichnen deutliche Rück-
derzeit die Veränderung von Antriebsformen in                    gänge in ihren Margen. Sie stehen vor der Herausforde-
Deutschland zum Treiber des Strukturwandels. Be-                 rung, schnell genug in neue Geschäftsfelder zu investie-
reits 2011 gab die Bundesregierung das Ziel aus, bis             ren, wenn sie weiterhin am Markt präsent sein wollen.
2020 eine Million E-Autos auf die Straße zu bringen.             Neue Chancen ergeben sich z.B. im Bereich von intelli-
Die Notwendigkeit, Emissionen zu reduzieren – auch               genten Charging-Lösungen im B2B- und im B2C-Seg-
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 13

                                                                               ment. Und die Elektromobilität ist nur ein erster Schritt
F: Wo die Musik spielt                                                         in Richtung eines autonomen Robotaxis. Auf diesem
Investitionen in zukünftige Mobilität                                          Weg werden noch viel erheblichere Investitionen in ganz
                                                                               neue Geschäftsfelder und Technologien notwendig
WAGNISKAPITAL FÜR MOBILITÄT UND                                                sein. Denn Mobilitätsservices, die wir heute kennen,
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ [USD MRD.]                                              werden sich sehr schnell noch weiter ausdifferenzieren.
                                                                               Sie werden sich mit anderen Transportformen vernet-
                                                                               zen. Die großen Automobilhersteller sind dabei, sich in
                                                                               diesem Geschäft zu positionieren. Sie stehen aber vor
                                                                               allem im Plattformgeschäft im Wettbewerb mit bran-
                                                                               chenfremden Unternehmen.
                    21,4                                     3,2
                                                                               MOBILITÄT DER ZUKUNFT
                                                                               Fahrzeuge werden auch morgen noch gebaut, aber die
                                                                               Entwicklungen im Markt für Mobilität werden eine
                                                                               sehr umfassende Transformation erfordern. Sie muss
                                                                               heute beginnen, wenn deutsche Unternehmen morgen
                                                                               in einer guten Startposition sein wollen. Das Kernge-
                                                                               schäft gehört auf den Prüfstand. Es muss noch besser
                                                                               und effizienter aufgestellt werden, damit genügend
                 +130%                                    +107%                Spielraum für die notwendigen Investitionen verbleibt.
                                                                               Es ist wichtig, alte, an physischen Fahrzeugen ausge-
                                                                               richtete Geschäftsmodelle mit neuen datengetriebe-
                                                                               nen Geschäftsmodellen zu verknüpfen. OEMs müssen
                                                                               mehr über ihre Kunden erfahren. Sie brauchen Daten,
                                                                               die über die reine Fahrzeugnutzung hinausgehen: wie
                                                                               sie parken, welche anderen Mobilitätsformen sie nut-
                                                                               zen, wo sie unterwegs sind, welche Aftermarket-Leis-
                     9,3                                      1,6              tungen sie benötigen. Diese Informationen helfen, die
                                                                               Kundenbeziehung neu zu definieren und in einer sinn-
                                                                               vollen Multichannel-Architektur abzubilden. Unter-
                                                                               nehmen in der Automobilindustrie müssen darüber
                Mobilität                               Künstliche             hinaus neue Organisationsformen und Führungs-
                                                        Intelligenz            modelle finden, um diese Transformation zu leben
    2016        2017
                                                                               und geeignete Mitarbeiter an sich zu binden. Kurz: Es
1 Inklusive Investitionen in Smart Cars. KI in Technologien für Transport,
                                                                               gilt, die Kultur in OEMs und bei Zulieferern in jeder
    autonome Fahrzeuge und KI-Infrastruktur                                    Hinsicht: für eine neue Generation von Mobilitätsnut-
Quelle: Roland Berger                                                          zern zu öffnen.
14 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

Energiewirtschaft

NEUE GESCHÄFTSMODELLE GESUCHT                                        EIN NEUES SPIEL?
(Torsten Henzelmann)                                                 Die ersten beiden Treiber – Dezentralisierung und De-
                                                                     karbonisierung – wirken kurz- und mittelfristig am
Die deutschen Energieversorger leben traditionell von                stärksten. Der Anpassungsdruck betrifft alle Geschäfts-
der Erzeugung und vom Handel mit Energie – Strom,                    bereiche. Besonders augenfällig ist der Rückgang der
Gas, Wärme – für Geschäfts- und Privatkunden. Sie ver-               Margen im Erzeugungsgeschäft, das sich in den ver-
dienen ihr Geld außerdem mit ihren Netzen, zuneh-                    gangenen Jahren massiv gewandelt hat: Kraftwerksbe-
mend auch mit ihrem Servicegeschäft. Die Branche hat                 treiber haben sich auf die noch vor wenigen Jahren
bereits durch strategische Neuorientierung und eine                  geltende Gesetzeslage verlassen. Durch die Energie-
zweite Konsolidierungswelle auf den Anpassungsbe-                    wende, aber auch die verschärften internationalen Ver-
darf reagiert. Wenige große Unternehmen dominieren                   einbarungen zu CO2-Emissionen sehen sie sich nun
den Markt, sie haben bereits nicht zukunftsträchtige                 mit einer faktischen Enteignung konfrontiert: Im Ver-
Teile abgespalten oder Geschäfte aufgegeben, wie z.B.                trauen an einen Cashflow für die nächsten 25 Jahre ha-
den B2B-Vertrieb. Der übrige Markt ist stark fragmen-                ben sie langfristig investiert und ihr Kapital gebunden.
tiert – kommunale und städtische Energieversorgungs-                 Beim Handel mit Energie haben sich ebenfalls qua Ge-
unternehmen charakterisieren die Landschaft. Vier                    setz starke Verschiebungen ergeben: Da Ökostrom bei
Treiber sorgen für weiteren Anpassungsdruck.                         der Einspeisung immer Vorrang hat, sinkt der Energie-
                                                                     preis für Unternehmen, die in Kraftwerke investiert
                                                                     haben, ihre Renditen brechen ein. Mit festgelegten
TRENDS                                                               Netznutzungsentgelten lässt sich nur bedingt gegen-
1. D
    ezentralisierung: In der Gesellschaft geht der Trend zur        steuern, diese werden vom Regulator festgelegt. Der
   Eigenversorgung, z.B. über erneuerbare Energieträger wie          definierte Basiszinssatz für die Fremdkapitalrendite
   die Fotovoltaik. Es entstehen individuelle Blockheizkraft-        der Netze beträgt knapp über 1%. Um sich in diesem
   werke, Fotovoltaik- und Windkraftanlagen.                         Marktumfeld mit langfristig niedrigem Margenniveau
2. Dekarbonisierung: Die Abkehr von fossilen Brennstoffen           erfolgreich zu positionieren und den operativen Auf-
    wird forciert durch die Energiewende und durch transnati-        wand des Netzbetriebs systematisch zu senken, müs-
    onale Vereinbarungen wie das Paris-Abkommen. Deutsch-            sen Energieversorger deshalb praktikable Strategien
    land ist als Industrieland Vorbild und deswegen besonders        entwickeln.
    in der Pflicht, schnell Lösungen zu finden.                      Die Transparenz über Konditionen hat im Zuge der Di-
3. V eränderung der Nutzergewohnheiten durch Digitalisie-           gitalisierung zugenommen. Kunden reagieren immer
    rung an der Kundenschnittstelle: Schon jetzt ist der Wech-       häufiger preissensitiv. Verbraucherportale ermögli-
    sel des Anbieters mit wenigen Klicks möglich.                    chen ihnen, mit nur einem Klick den günstigsten An-
4. S ektorenkopplung: Strom und Wärme, Mobilität und                bieter auszuwählen. Bisher wird dieses Potenzial noch
    Strom oder Telekommunikation und Strom, Power2Heat               wenig genutzt, die Wechselquote liegt bei 25%. Da aber
    etc. sind einige Beispiele für die zukünftig verstärkt zu fin-   die Digital Natives zunehmend über die Wahl des
    dende Kopplung der heute häufig singulär agierenden Sek-         Stromanbieters entscheiden, könnte die Wechselbe-
    toren.                                                           reitschaft weiter steigen. Die Folge für Vertrieb und
                                                                     Service von Energieanbietern: B2C- und B2B-Verträge
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 15

                                                                       bieten durch die höheren Kosten für die Akquise von
G: 120 Unternehmen haben keine Kredit-                                 Neukunden immer geringere Margen. Den meisten Un-
würdigkeit mehr                                                        ternehmen der Branche fällt es schwer, ihr Geschäfts-
Durchschnittliches operatives Betriebsergebnis                         modell und ihre Strukturen so schnell anzupassen, wie
nach Geschäftsmodell                                                   es der Markt verlangt.

EBITDA1-Marge [%]                                                      DIE LUFT WIRD DÜNNER
22
                                                                       Ungefähr 20% der Unternehmen entsprechen nicht
                                                                       mehr Investment Grade. Bewegte sich die EBITDA-Mar-
                                                                       ge der Energieversorger vor zehn Jahren noch bei über
                                                                       20%, liegt sie heute nur noch bei 6%. Der Verschul-
                                                                       dungsgrad vieler Versorger ist mit über 3,5 bereits beun-
20                                                                     ruhigend hoch. Die Eigenkapitalquoten der Unterneh-
                                                                       men liegen teilweise bei unter 30%, was für ein Asset-
                                                                       intensives Geschäft kritisch ist. Insolvenzen sind bei
                                         Geschäftsmodell               Versorgern, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist,
18                                    OHNE KONVENTIONELLE              in der Regel keine Option. Schwinden ihre Profite, zei-
                                          ERZEUGUNG                    gen sich die Auswirkungen an anderer Stelle: Ohne ihre
                                                                       Erträge lassen sich klassisch defizitäre kommunale oder
                                                                       städtische Betriebe wie Schwimmbäder etc. nicht mehr
                                                                       quersubventionieren. G
16
                                                                       Anpassungsmöglichkeiten bestehen darin, rechtzeitig
                                                                       in angrenzende Geschäftsfelder zu investieren: Unter-
                                                                       nehmen, die Infrastruktur besitzen, haben mehrere
                                                                       Möglichkeiten. Hier sind vor allem smarte Infrastruktu-
14                                                                     ren im Fokus wie z.B. Breitbandversorgung, 5G oder Ge-
                                                                       schäftsmodelle mit Plattformcharakter wie z.B. intermo-
                                           Geschäftsmodell             daler Verkehr, Ladeinfrastruktur oder dezentrale
                                       MIT KONVENTIONELLER             Erzeugungstechniken.
                                            ERZEUGUNG                  Weitere Optionen für Netzbetreiber sind leitungs-,
12
                                                                       rohr- oder datengebundene kon­ventionelle und smarte
                                                                       Technologien oder Commodities wie z.B. Strom, Gas,
                                                                       Wärme. Weiterhin können Energieversorger auf Kon-
                                                                       nektivität in smarter und dezentraler Form setzen oder
10
                                                                       auf Plattformen wie z.B. Peer2Peer-Netzwerke, Mobili-
 2004      2006      2007      2008      2009     2010   2011   2012
                                                                       tätsplattformen und Discount-Stromvertrieb.
1 Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen
Quelle: Roland Berger
16 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

Maschinenbau

DIE NÄCHSTE INDUSTRIELLE TRANSFORMATION                            in die Wettbewerbsfähigkeit der Zukunft investieren.
STEMMEN (Sven Siepen)                                              Kein Maschinenbau-Unternehmen kann es sich erlau-
                                                                   ben, diese Themen zu verschlafen. Denn das hätte exis-
Für Maschinen- und Anlagenbau ist Deutschland welt-                tenzielle Folgen. Vor allem die Digitalisierung muss
weit renommiert. Den zahlreichen Hidden Champions                  zum Topmanagement-Thema avancieren. Empfehlens-
ist es gelungen, sich relativ unbeschadet über die Krisen          wert ist die Einführung einer CDO-Position, unter-
der Vergangenheit zu retten. Auch im aktuell schwieri-             stützt von einem schlanken Kernteam aus Digitalisie-
gen politischen und wirtschaftlichen Umfeld (Brexit,               rungs- und Software-Experten sowie funktionalen
Vertrauenskrise in Europa und Deutschland, Trump als               Experten (Vertrieb, Logistik, Service). Ein solches Team
US-Präsident) behauptet sich der deutsche Maschinen-               kann zum Beispiel eine digitale Strategie "end-to-end"
bau weiter. Die Auftragslage entwickelt sich im Vergleich          definieren und zukunftsträchtige Projekte relativ
zum Vorjahr sehr gut und lässt für 2018 auf ein reales             schnell operativ vorantreiben. H
Wachstum hoffen.                                                   Das Geschäft mit neuen Maschinen gerät zunehmend un-
                                                                   ter Druck, unter anderem deshalb, weil Schlüsselbran-
                                                                   chen wie die Automobilindustrie langfristig weniger Ka-
TRENDS                                                             pazitäten brauchen. Außerdem setzen die Abnehmer
1.  Digitalisierung: Industrie 4.0 bzw. digitale Transformation   zunehmend Additive Manufacturing ein. Darüber hinaus
   erfordert die Stärkung von Softwarekompetenzen produ-           drängen chinesische Hersteller in den Markt. Zusätzliche
   zierender Unternehmen.                                          Angebote in Service und Aftersales können eine Differen-
2. N  eue Wettbewerber: Im Zusammenhang mit der Digitali-         zierung schaffen und damit Umsatz und Marge steigern.
     sierung und digitalen Geschäftsmodellen treten neue           Diese Potenziale liegen oft noch brach.
     Marktteilnehmer auf den Plan (IIoT-Plattformanbieter) und     Für eine weitere Professionalisierung im Service wie die
     definieren das Spielfeld neu.                                 Digitalisierung insgesamt ist es entscheidend, vor allem
3. A  dditive Manufacturing: Etabliert sich auch bei höheren      eines zu haben: gute Daten, z.B. Stücklisten, Stamm- und
     Stückzahlen zunehmend über das Prototyping hinaus und ge-     Bewegungsdaten, Kundendaten und Daten bestehender
     winnt gegenüber konventionellen Verfahren an Marktanteil.     Anlagen etc. Viele Maschinenbauer haben gerade hier
4. Chinesische Wettbewerber: Sie investieren strategisch,         große Defizite. Für Datenbereinigung, -integration und
     stärken das eigene Know-how und setzen deutsche Ma-           -analyse müssen sie so schnell wie möglich die notwendi-
     schinenbauer und deren China-Exportgeschäft stark unter       gen Ressourcen aufbauen.
     Druck.                                                        Weitere Kompetenzen brauchen Maschinenbauer, um
                                                                   neue Märkte und Wachstumschancen zu erschließen.
                                                                   Besitzen sie einen starken Fokus auf eine spezifische
FIT FÜR DIE ZUKUNFT?                                               Branche, z.B. die Herstellung von Teilen für den konven-
Die Trends bergen neben Chancen auch Risiken für                   tionellen Antriebsstrang in der Automobilindustrie,
den Maschinenbau. Unternehmen müssen diese so                      müssen sie rechtzeitig neue Anwendungsfelder für ihre
schnell wie möglich angehen. Denn der Anpassungs-                  Technologien suchen, z.B. in den Bereichen Medizin-
und Veränderungsdruck nimmt weiter zu. Für die Fir-                technik, Luft- und Raumfahrt. Es empfiehlt sich ein In-
men heißt das ganz konkret: Sie müssen bereits heute               novationsansatz, der gezielt nach strategischen Kunden
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 17

in neuen Märkten Ausschau hält, die bereit sind, Ent-        um zu wirken. Somit ist man gut beraten, ein entspre-
wicklungskosten und -risiken mit ihnen zu teilen ("Lead      chendes Programm noch zu lancieren, solange es dem
Customers").                                                 Unternehmen gut geht. Sinnvoll sind z.B. die Bereini-
                                                             gung des Produktportfolios verbunden mit einer Stan-
FREIRAUM SCHAFFEN                                            dardisierung, verbesserten Projektierung und Vermei-
Es ist sinnvoll, parallel (und möglichst früh) eine Per-     dung von Preiserosionen, die Optimierung von Einkauf
formance-Steigerung einzuleiten, um sich möglichst           und Fertigung, Entscheidungen über die eigene Wert-
großen Handlungsspielraum zu sichern. Erfahrungsge-          schöpfungstiefe ("make or buy") sowie Personalum-
mäß braucht ein solches Programm zwei bis drei Jahre,        schulungen und -training.

H: Wenig Veränderungsdruck
Entwicklung der deutschen Maschinenproduktion

REALE VERÄNDERUNG GEGENÜBER DEM VORJAHR [%]
                                        12,7

                      9,3

                                                                                                 3,0         3,0
                                               1,2             1,1        0,8

                                                                                    -0,3      Schätzung    Prognose
                                                      -1,2

     -24,7
     2009            2010               2011   2012   2013    2014       2015       2016        2017         2018

Quelle: Statistisches Bundesamt, VDMA
18 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

Banken

MEHR SPEZIALISIERUNG WAGEN                                     Als Konsequenz gehen Erträge zurück. Gleichzeitig stei-
(Klaus Juchem)                                                 gen die Kosten z.B. durch den Zwang zur Investition in
                                                               IT-Systeme, die den neuen regulatorischen Anforderun-
Das deutsche Bankensystem gilt derzeit als wenig profita-      gen genügen. Dass es Zeit ist zu handeln, haben die deut-
bel und wenig progressiv. In Sachen Digitalisierung be-        schen Banken erkannt. Aktuell sind sie dabei, ihre (Pro-
steht Nachholbedarf. Die Landschaft ist zersplittert in        visions-)Erträge zu steigern, z.B. durch neue Konto-
relativ kleine Einheiten von geringer internationaler Be-      Preismodelle, Kosten zu senken und Digitalisierungsin-
deutung. Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 wirkt       itiativen anzustoßen. Dabei ist das Thema Digitalisie-
bei den traditionellen Instituten immer noch nach. Sie         rung im Privatkundengeschäft schon deutlich weiter vo-
fesselt die Banken in einer dauerhaften Transformation:        rangeschritten als im Firmenkundengeschäft, denn bei
Bilanz- und Stresstests binden Kapazitäten, strengere re-      den Privatkunden sind die Prozesse standardisierbar
gulatorische Anforderungen und Auflagen sind zu meis-          und die Produkte weniger komplex. Dank technologi-
tern und verursachen weitere Kosten. Zudem steigen die         scher Entwicklungen wie künstlicher Intelligenz lassen
Anforderungen von Kunden insbesondere an das digitale          sich aber zunehmend auch andere Bereiche digitalisie-
Angebot. Gleichzeitig sinkt ihre Zahlungsbereitschaft für      ren – und bis zu einem gewissen Grad automatisieren.
Finanzdienstleistungen – unter anderem auch wegen der
höheren Kostentransparenz, z.B. durch Plattformen. Dies        GESUCHT: MUTIGE TRANSFORMIERER
bildet die Grundlage für die Herausforderungen, vor de-        Banken brauchen echte Innovation, um ihre traditionel-
nen deutsche Banken stehen.                                    len Geschäftsmodelle weiterzuentwickeln und neue Er-
                                                               tragsquellen zu erschließen. Wer über Digitalisierung
                                                               nachdenkt, muss die gesamte Wertschöpfungskette aus
TRENDS                                                         der Perspektive des Kunden neu denken. Eine solche
1. Intensiver Wettbewerb: Eine Vielzahl von Banken sowie      Neuausrichtung greift in weite Teile des Bankgeschäfts
    neue Marktteilnehmer – FinTechs, Technologieunterneh-      ein. Produkte müssen modular gestaltet werden und di-
    men – wollen sich attraktive Teile der Wertschöpfungs-     gitalisierbar sein. Es gilt, Prozesse "end-to-end" zu opti-
    kette sichern.                                             mieren und die gesamte Organisation schneller und
2. Margendruck: Laut eines aktuellen Diskussionspapiers der   flexibler zu machen. Dafür brauchen Banken eine zu-
    Bundesbank könnte ein anhaltendes Niedrigzinsumfeld die    kunftsfähige Personalstrategie. Sie müssen relevante
    Zinsmarge der Banken in Deutschland in vier Jahren um      Kompetenzen auf- und bestehende Fähigkeiten ausbau-
    weitere 16% verringern.                                    en. Unternehmen sollten über den eigenen Tellerrand
3. Steigende regulatorische Anforderungen: Hohe Einmal-       schauen. Sie können neue banknahe (z.B. Versicherun-
    kosten sowie laufende Zusatzkosten für regulatorische      gen) und bankferne (z.B. Maklerservices) Angebote
    Anforderungen (z.B. MiFID2) belasten die Ergebnisse der    durch Plattformen, Open Architecture oder die Integra-
    Banken.                                                    tion von Partnern über ein Ökosystem in die Kunden-
4. Modernisierungsdruck: Die IT-Infrastruktur ist häufig in   wertschöpfung integrieren.
     die Jahre gekommen. Banken müssen hier mit hohen In-      Diese Veränderungen müssen einer stimmigen Ge-
     vestitionskosten rechnen.                                 samtstrategie folgen. So muss z.B. künftig nicht mehr
                                                               jede Bank alles leisten. Wichtig ist es, ein Alleinstel-
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 19

lungsmerkmal zu entwickeln. Banken müssen neue                      nologieführer. Während Kundenbeziehungsexperten
Schwerpunkte setzen und daraus Mehrwert schöpfen,                   Erlöse vor allem über Beratung generieren, würden Pro-
anstatt alle Kategorien durchschnittlich zu bedienen.               duktexperten auf Zinserlöse und Technologieführer auf
Schnittstellen beispielsweise zu Kunden, anderen                    Lizenzgebühren oder Provisionen setzen. Eine solche
Marktteilnehmern wie FinTechs oder Technologieunter-                übergreifende Transformation konsequent anzugehen,
nehmen, müssen anders, d.h. zunehmend digital defi-                 fällt Banken schwer. Insbesondere die Bewältigung von
niert und Vertriebsaktivitäten reorganisiert werden.                Herausforderungen für die Personalstruktur, insgesamt
Künftig können sich Banken über drei grundlegende                   weniger Ressourcen mit neuen bzw. anderen Qualifika-
Kernkompetenzen positionieren: Über die Kundenbe-                   tionen, benötigt Zeit und Mut. I
ziehung, über die Produktbereitstellung oder als Tech-

I: Neue Schwerpunkte setzen
Zukünftige Positionierungsmodelle für Banken

            RELATIONSHIP-                                 PRODUKT-                                 TECHNOLOGY SERVICE
               EXPERTE                                     EXPERTE                                     PROVIDER

                 Kundenfokus                               Kundenfokus                                      Kundenfokus

    Technologie-                Produkt-       Technologie-                Produkt-             Technologie-                Produkt-
    fokus                          fokus       fokus                          fokus             fokus                          fokus

    Positionierung an der Schnittstelle       Positionierung als Spezialist/Anbieter           Positionierung nah an den technischen
                zum Kunden                      von ausgewählten Produkten und                          Systemen des Kunden
                                                         Dienstleistungen
      Fokus auf Kundenbetreuung und                                                                 Fokus auf Bereitstellung der
      Identifikation von Kundenbedarf               Fokus auf Erstellung und                               Infrastruktur
                                                 Bereitstellung von Produkten und
    Angebot fremder Dienstleistungen/                   Dienstleistungen                         Standards setzen und Plattformen
                 Produkte                                                                                      nutzen

Quelle: Roland Berger
20 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

Konsumgüter und Handel

IM SOG VON WERTEWANDEL UND                                            NAHTLOS ÜBER ALLE KANÄLE
DIGITALISIERUNG                                                       Um diesem Wandel zu begegnen, müssen Konsumgü-
(Matthias Hanke)                                                      terhersteller ihr Sortiment überprüfen und die Ver-
                                                                      triebs- und Distributionswege neu ausrichten. Dabei
Kaum jemals zuvor haben die Sektoren Konsumgüter                      bauen sie zunehmend selbst Kontakte zu Endkunden
und Handel einen größeren Strukturwandel erlebt als                   auf, z.B. über eine Vertikalisierung im Rahmen von
heute. Eine neue Generation von Käufern wirbelt mit                   Flagship Stores oder die Online-Ansprache des Konsu-
ihrem Wertesystem und ihrem veränderten Einkaufs-                     menten. Für das Einkaufen hat darüber hinaus das Be-
verhalten die Branche durcheinander. Bisher funktio-                  dürfnis nach Bequemlichkeit ("Convenience") stark an
nierende Wertschöpfungsketten werden neu definiert,                   Bedeutung gewonnen. Konsumenten sind heute nicht
Profit Pools verlagern sich. Die Auswirkungen lassen                  mehr bereit, weite Wege auf sich zu nehmen, wenn sie
sich kaum noch mit Effizienzsteigerungsprogrammen                     im Vergleich zur Online-Bestellung keinen Mehrwert bei
alleine bewältigen.                                                   einem Kauf im Geschäft haben. Am Ende wollen Kun-
                                                                      den häufig das eine tun und das andere nicht lassen –
                                                                      z.B. Modeartikel in angenehmer Atmosphäre anprobie-
TRENDS                                                                ren und sie dann später online kaufen. Unternehmen
1. Wertewandel: Eine neue Käufergeneration tritt auf den             stehen also vor der Herausforderung, ein Multi-Chan-
    Plan. Für Generation Y sind Statussymbole, Besitz und ma-         nel-Erlebnis ohne Brüche zu schaffen. Zum einen gilt es,
    terielle Sicherheit nicht so wichtig. Dieser Wertewandel          den stationären Handel nahtlos mit Online zu verzah-
    manifestiert sich in neuen Anforderungen an Konsumgüter:          nen. Aber auch die Gewohnheit der Konsumenten, Pro-
    Umweltverträglichkeit, Sharing, Fähigkeit zur Vernetzung,         dukte auf einem Mobilgerät zu suchen und den Kauf auf
    Vereinbarkeit mit Gesundheit und Wellness, Bedürfnis nach         einem anderen Gerät abzuschließen, muss abgebildet
    Markenwelten.                                                     werden. Zudem ist die schnelle Verfügbarkeit für Kun-
2. Veränderte Konsumentengewohnheiten: Der Käufer kann               den ein Thema. Sie möchten Produkte in einem immer
    heute auf vielen Wegen direkt mit Herstellern von Konsum-         kürzeren Zeitraum geliefert bekommen. Eine Lieferung
    gütern in Kontakt kommen. Das hat den herkömmlichen               am gleichen Tag ist mittlerweile machbar, im Food- oder
    Prozess "Produzent – Händler – Konsument" massiv durch-           Pharmabereich geht der Trend sogar zur Lieferung in-
    einandergewirbelt. Wertschöpfungsketten haben sich ver-           nerhalb weniger Stunden. J
    kürzt oder verlagert.                                             Auch der Handel befindet sich bereits mitten in einem
3. Mächtige neue Spieler: Online Händler sowie Anbieter von          massiven Umbruch: Kunden erwarten, dass Einzelhänd-
    Online-Marktplätzen nutzen den technologischen Fort-              ler ihre Bedürfnisse kennen – unabhängig von der Pro-
    schritt, den die Digitalisierung bietet. Sie verleiben sich das   duktkategorie. Werden sie mit für sie nicht relevanten
    Geschäft der traditionellen Anbieter in atemberaubendem           Angeboten behelligt, empfinden sie das zunehmend als
    Tempo ein, weil sie sehr schnell Antworten auf den Wandel         Belästigung und wenden sich ab. Umgekehrt verspricht
    der Konsumentengewohnheiten finden. Die großen E-Com-             zielgerichtete Kundenansprache signifikantes Umsatz-
    merce-Plattformen haben in kurzer Zeit ein Umsatzvolumen          potenzial. Kompetenz in der Analyse von Kundendaten
    erzielt, für das traditionelle Retailer Jahrzehnte brauchten.     und Personalisierung in der (digitalen) Kundenanspra-
                                                                      che sind deshalb ein Muss. Dazu müssen Handelsunter-
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 21

J: Unaufhaltsamer Siegeszug?
Prognose der Umsätze im E-Commerce weltweit bis 2022 [Mrd. USD]

                                                                                                                                 2.579
           +65,3%
                                                                                                        2.427

                                                                               2.231

                                                      2.015

                             1.787

    1.560

    2017                     2018                     2019                     2020                     2021                     2022

Quelle: Statista weltweiter Digital Market Outlook (ausgewählte Region), Oktober 2017, bezieht sich auf physische Produkte im B2C-Set-up, nicht eingeschlossen
sind Dienstleistungen, Media Streaming sowie B2B- und C2C-Geschäfte
22 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

nehmen ihre digitalen Technologien ständig weiterent-      DAS UNTERNEHMEN BEWEGLICH HALTEN
wickeln. Angebote im M-Commerce sind inzwischen            Viele Konsumgüterhersteller und Händler fahren Effi-
Standard. Die nächsten "heißen" Themen sind augmen-        zienzsteigerungsprogramme. Diese verschaffen ledig-
ted und virtuelle Realität sowie Spracherkennung. Beide    lich Zeit, bilden für sich genommen aber keine nach-
Technologien helfen dabei, auf innovative Art und Weise    haltige Lösung. Geschäftsmodelle von Konsumgüter-
mit Kunden zu interagieren. Spracherkennungstechno-        herstellern und Retailern sind grundsätzlich zu über-
logien werden das Einkaufen revolutionieren, da sie im     prüfen und gegebenenfalls neu zu definieren. Sie kön-
Vergleich zur Eingabe über eine Tastatur eine native       nen z.B. Sortimente neu ausrichten, ihre Wertschöp-
Mensch-Maschine-Kommunikation ermöglichen. Studi-          fung vertikalisieren oder in neue Regionen expandieren.
en zufolge wird z.B. die "Voice-Search" zunehmend das      Wachstum versprechen die Märkte China und Indien,
Eintippen von Suchbegriffen in verschiedene Devices        aber auch Südostasien und Lateinamerika.
ablösen. Bis 2020 soll sie einen Anteil von etwa 50% im    Nachfolgend ist das jeweilige Operating Model an die
Online-Handel einnehmen.                                   Geschäftsmodelle anzupassen. Es gilt, insbesondere
                                                           die Lieferkette und die Vertriebsstrategie zu überprü-
DAS ERLEBNIS ZÄHLT                                         fen. Untrennbar damit verbunden ist die konsequente
Wo stationärer Handel noch stattfindet, müssen Anbie-      Digitalisierung der Kundenansprache bis hin zur Aus-
ter massiv in das Einkaufserlebnis ihrer Kunden inves-     lieferung. Wenn der E-Commerce bis 2022 so massiv
tieren. Verlierer waren deshalb in den vergangenen Jah-    zunimmt wie erwartet, wird es zu einer Überlastung der
ren vor allem die klassischen Kaufhäuser und               Innenstädte kommen. Das hätte zur Folge, dass unter
Cash&Carry-Märkte vor den Toren der Stadt. Kunden          den bestehenden Anbietern im Fulfillment ein Kampf
wollen heute inspiriert werden und in einem angeneh-       um die letzte Meile zum Kunden entbrennt, denn die
men und wertigen Umfeld einkaufen. Im Zuge dessen          "Urban City Logistics" der Zukunft dürfte möglicher-
sind Lebensmittel-Discounter gerade dabei, neue La-        weise künftig ausschließlich durch regional lizenzierte
denformate auszurollen, bei denen Frische und Wertig-      Anbieter von zentralisierten Paket-Zustellpunkten aus
keit des Warenangebots im Vordergrund stehen. Ins-         abgewickelt werden. Die richtigen Partnerschaften für
gesamt ist das eigenständige, stationäre Retail-           die Lagerhaltung und die Auslieferung an den Konsu-
Geschäftsmodell jedoch gefährdet. Umsätze und Mar-         menten sind deshalb entscheidend, wenn es darum
gen sinken, weil der stationäre Handel Marktanteile an     geht, die Distributions- bzw. Fulfillment-Strategie neu
die Online-Händler verloren hat. Kunden wissen mit zu-     zu definieren.
nehmender Transparenz stets, wo das günstigste Ange-
bot mit einem Klick verfügbar ist. Differenzierung kann
daher nur durch kompetente Beratung und zusätzliche
Services oder andere Mehrwertangebote erzielt werden
– aber eben nicht in jedem Fall. Auch wächst die Konkur-
renz durch Konsumgüterhersteller selbst – vor allem im
Bereich Fashion –, die in ihren Markenwelten im Rah-
men integrierter Vertriebskonzepte direkt mit dem Kon-
sumenten in Kontakt treten.
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 23

Gesundheitswesen

WARTEN AUF DEN GROSSEN STURM                                    EIN NEUES ÖKOSYSTEM?
(Peter Magunia)                                                 Patienten haben heute mehr Möglichkeiten, ihre Ver-
                                                                sorgung selbst in die Hand zu nehmen. In anderen
Im Vergleich zur Dynamik in anderen Branchen hat                Ländern können wir bereits beobachten, wie das Ge-
sich das Gesundheitssystem in Deutschland in den ver-           samtsystem Gesundheitswesen zunehmend voraus-
gangenen Jahren kaum weiterentwickelt. Erkrankte be-            schauend, präventiv, personalisiert und partizipativ
geben sich immer noch in die Hände eines niedergelas-           arbeitet. Das Internet der Dinge und die Verfügbarkeit
senen Arztes, wenn ihnen etwas fehlt. Dieser stellt eine        von Informationen zu bewusster Ernährung, Präventi-
Diagnose, der ihnen Zugang zu weiterer Versorgung in            on, Diagnose und Therapie haben die Rolle des Patien-
Form von Krankenhausleistungen und Rehabilitation,              ten im Rahmen der Digitalisierung massiv verändert.
Medikamenten (über den geschützten Vertriebsweg                 Kunden, Patienten und Interessierte haben nun Zu-
Apotheke) oder therapeutisch wirkenden Behandlun-               gang zu qualitativ hochwertigen medizinischen Infor-
gen verschafft. Unter der Oberfläche brodelt aber längst        mationen. Sie können sich zum Beispiel online mit
eine Revolution, die früher oder später auch die Institu-       Medizinern über mögliche Diagnosen, mit anderen
tionen des Gesundheitswesens mitreißen wird. Vier               Patienten über Erfahrungen mit Ärzten oder über ver-
Trends tragen dazu bei:                                         schiedene Behandlungsoptionen austauschen.
                                                                Zudem entsteht ein ganz neues Angebot rund um das
                                                                Thema Prävention und Veränderung der Lebensfüh-
TRENDS                                                          rung, in dem auch Unternehmen aus der Consumer-
1. Selbstbestimmung: Die Digitalisierung ermöglicht Patien-    Electronics- und Sportartikelindustrie eine tragende
    ten zunehmend, selbst Verantwortung für ihre Gesundheit     Rolle spielen. Hier entwickelt sich ein ganz neues Feld,
    zu übernehmen, weil qualitativ hochwertige Informationen    das sich mit "Digital Health" umschreiben lässt. Es tre-
    rund um Prävention, Diagnose und Therapie 24 Std. online    ten neue Anbieter auf den Plan, die z.B. datengestützte
    verfügbar sind.                                             Diagnosen mithilfe künstlicher Intelligenz liefern und
2. DemografischerWandel: Er erhöht und verändert in            teilweise an die Stelle des Erstkontaktes zum Arzt treten
    Deutschland die Nachfrage und den Markt für Gesundheits-    können. Auf diese Weise haben Patienten Zugang zu
    dienstleistungen grundlegend, vor allem bei Leistungsträ-   Ressourcen, um immer mehr selbst Verantwortung für
    gern wie Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.            ihre Gesundheit zu übernehmen. Dementsprechend
3. Effizienzstreben: Im Spannungsfeld zur erhöhten Nach-       verändert sich das gesamte Ökosystem der traditionel-
    frage steht das Bestreben der Politik und der Krankenkas-   len Player – niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser oder
    sen, die Kostensteigerungen in Grenzen zu halten und die    Rehabilitationseinrichtungen, aber auch Versicherun-
    Effizienz des Gesundheitssystems zu steigern.               gen, Pharmaunternehmen, Medizintechnikhersteller
4. Fachkräftemangel: Der Engpass an qualifiziertem Personal    und Apotheken. K
    hat inzwischen alle Kompetenzbereiche des Gesundheitssys-   Der Markt als Ganzes wächst. Dennoch bleibt die Fra-
    tems erfasst – Ärzte, Pflegepersonal, Verwaltungskräfte –   ge, wie stark deutsche Unternehmen daran partizipie-
    und bremst das Wachstum. Es wird neue Anreize brauchen,     ren können. So steht ein massiver Strukturwandel im
    um diese Berufe für den Nachwuchs attraktiv zu machen.      institutionellen deutschen Gesundheitswesen noch
                                                                aus, der diese Trends konsequent für die eigene Trans-
24 Roland Berger Focus – Sturmtief voraus?

K: Disruption im Gesundheitswesen
Die Karten werden neu gemischt

DISRUPTIONS-                                  A                                  B                          C
FELDER                                  Prävention                           Diagnose                   Therapie

                                                        Krankenver-
                                                         sicherung

                                                              B                              B

                                                              C                              C                         C
                                Ausgewogene
                        A        Ernährung/
                                   Fitness

                                                                                        Allgemeines/
        Konsument/                                     Allgemeinarzt/
                                                                                         spezielles                   Reha
          Patient                                         Spezialist
                                                                                        Krankenhaus

                                    Notfall
                                                                                                         Sonder-
                                                                                                       konditionen/
                                                                                                         Verträge
                                                                             Apotheke

                                                                                                        Pharma/
                                  Heimische
              C                    Pflege
                                                                                                        Medizin-
                                                                                                        technik

    Patient       Anbieter   Bezahler     Pharma/Medizintechnik   Apotheke

Quelle: Roland Berger
Sturmtief voraus? – Roland Berger Focus 25

formation nutzt. Am stärksten unter wirtschaftlichem       halb kurzer Zeit werden beispielsweise stationäre und
Druck stehen in Deutschland seit Jahren die Kranken-       ambulante Pflegedienstleister sich von regionalen Ein-
häuser. Hier hat in den vergangenen Jahren bereits         heiten zu nationalen, teilweise auch international ska-
eine erste Konsolidierungswelle stattgefunden, viele       lierbaren Unternehmen wandeln.
Kliniken wurden an private Träger verkauft, einige gin-
gen in die Insolvenz. Trotzdem arbeiten auch heute         PATIENT ODER KUNDE?
noch 50% der Kliniken nicht profitabel. Nicht gelöst ist   Auch Medizintechnikhersteller und Pharmaunterneh-
zudem der massive und weiter zunehmende Fachkräf-          men stehen vor der Herausforderung, auf die großen
temangel, der die Weiterentwicklung des Gesundheits-       Trends im Gesundheitswesen zu reagieren. Medizin-
wesens stark bremst. Auch wenn die neue Bundesre-          technikhersteller werden sich vom reinen Hardwarelie-
gierung dies scheinbar erkannt hat, sind die bisher        feranten zunehmend zu Software- und Datenspezialis-
annoncierten Maßnahmen nicht ausreichend.                  ten wandeln müssen, um personalisierte Leistungen
                                                           anbieten zu können – ähnlich wie das auch in der übri-
STARRE STRUKTUREN                                          gen Industrie geschieht. Und nicht nur das: Sie müssen
Im Mittelpunkt der Bemühungen diverser Reformen            entscheiden, ob sie selbst Gesundheitsdienstleistun-
steht seit jeher die Verbesserung der Wirtschaftlich-      gen in ihrem Spezialbereich anbieten wollen. Der Ein-
keit, vor allem durch stärkeren Druck auf stationäre       stieg als Hersteller von Röntgengeräten in den Betrieb
Leistungserbringer, insbesondere Krankenhäuser. Die        von Radiologiepraxen ermöglicht es beispielsweise,
engen Handlungsspielräume und die starke Regulie-          deutlich näher an den Endkunden – den Patienten – zu
rung des Sektors machen es für die Beteiligten daher       rücken als bisher und basierend auf den gewonnenen
schwierig, eine weitreichende Transformation in die        Daten die Forschung und Entwicklung maßzuschnei-
Wege zu leiten und sich in Richtung eines neuen            dern. Ähnliches gilt für Pharmahersteller. Sie können
Ökosystems weiterzuentwickeln.                             sich in Zukunft weniger auf Blockbuster als Profit
Dabei müsste ein Wandel stattfinden, der Patienten         Pools verlassen. Da die Diagnostik immer schneller, ex-
noch stärker als bisher von stationären auf ambulante      akter und damit auch personalisierter wird, müssen sie
Leistungserbringer umverteilt (Ambulantisierung), der      massiv in die Personalisierung ihrer Produkte investie-
einer Digitalisierung Rechnung trägt und der die Per-      ren. Damit stehen auch sie vor der Herausforderung,
sonalisierung von medizinischen Leistungen ermög-          wie sie ein besseres Verständnis für den Endkunden
licht. Gleichzeitig sind ausländische Großkonzerne wie     erlangen können.
Google oder Apple oder Private-Equity-Unternehmen
auf dem Vormarsch und investieren erhebliche Sum-
men in skalierbare Gesundheitsdienstleistungen. We-
gen des demografischen Wandels wächst insbesondere
der Markt mit der Versorgung und Pflege von älteren
Menschen sehr dynamisch. Die deutschen Unterneh-
men profitieren davon aber nur in geringem Maße,
stattdessen haben ihn ausländische Investoren für sich
entdeckt. Hier steht der Umbruch kurz bevor: Inner-
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