Theatertreffen der Jugend 24. Mai - 01. Juni 2013 - www.berlinerfestspiele.de - Berliner Festspiele
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Bundeswettbewerbe der Berliner Festspiele 34. Theatertreffen der Jugend 2013 Theatertreffen der Jugend 24. Mai – 01. Juni 2013 www.berlinerfestspiele.de BFS_BWB_TTJ2013_Cover_RZ.indd 1 08.05.13 13:10
Inhaltsverzeichnis 03 Grußworte 03 Bundesministerium für Bildung und Forschung 05 Senat für Bildung, Jugend und Wissenschaft des Landes Berlin 06 Vorwort Juryvorsitzender Martin Frank 08 Bühne 11 Almost Lovers – ein Theater Mobil-Projekt 15 Parallele Welten – Die Insel 21 hell erzählen 27 Lochland 31 99 Prozent 37 Romeo und Julia 43 Hamlet 47 Urban Sounds Clash Classic 52 Bühne Spezial 54 Nominierungen 2013 56 Campus 58 Praxis 64 Dialog 67 Spezial 68 Forum 71 Praxis 80 Dialog 81 Fokus 82 Jury 85 Kuratorium 86 Statistik 88 Bundeswettbewerbe 89 Impressum 1 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 1 08.05.13 13:13
Grußwort Theatertreffen der Jugend: Das ist eine Woche Ohne das Engagement der Berliner Festspiele – voller kreativer Theateraufführungen. Eine Wo- durch die umfangreiche Vorbereitung, Koordi- che, in der an jedem Abend ein anderes Theater- nierung, Organisation und dem Bereitstellen Ensemble seine Produktion zeigt. Und eine Wo- professioneller Theaterumgebung –, von Spiel- che voller spannender Diskussionen darüber. leiterinnen und Spielleitern der Theatergruppen Begleitet werden die Aufführungen durch Work- und natürlich von den Akteuren auf der Bühne shops mit Theatermusikern, Tänzern und Cho- wäre ein solches, inzwischen in der Kultur- und reografen, Regisseuren und Theaterautoren. Kunstszene fest verankertes Event, nicht möglich. Darüber hinaus ermöglicht das neue struktu- rierte Konzept der Berliner Festspiele eine im- Ich danke deshalb allen, die sich für den Thea- mer stärkere Vernetzung unserer gemeinsamen ternachwuchs engagieren. Dem diesjährigen Bundeswettbewerbe. So wird das Rahmenpro- Theatertreffen der Jugend wünsche ich einen gramm zum „Theatertreffen der Jugend“ von großen Erfolg, unvergessliche Aufführungen und ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmern Begegnungen sowie Ausstrahlung weit über die der anderen beiden Bundeswettbewerbe, dem Berliner Theaterwoche hinaus. „Treffen junge Musik-Szene“ und dem „Treffen junger Autoren“, gestaltet. In diesem Jahr haben insgesamt 102 Theater- gruppen am Theaterwettbewerb teilgenommen, acht Ensembles wurden zum Theatertreffen der Jugend 2013 nach Berlin eingeladen. Inzwischen Prof. Dr. Johanna Wanka Bundesministerin für Bildung und Forschung ist das „Theatertreffen der Jugend“ zu einer fes- ten Größe im Berliner Kulturprogramm gewor- den. Es wird von vielen Menschen mit großer Spannung erwartet und mit Begeisterung jeden Abend begleitet. 3 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 3 08.05.13 13:13
Grußwort Liebe Festivalgäste, Gebildet, sprachgewandt und weltoffen ist sie auf der Suche nach einem Lebensziel, für sie ein wichtiges Ziel des Bundeswettbewerbs scheint alles möglich, die Welt scheint offen für „Theatertreffen der Jugend“ ist es, Trends und sie. In der Titelfigur findet sie sich wieder: Tendenzen der gegenwärtigen Theaterarbeit Selbstzweifel, Angst und Überforderung. Mit von und mit Jugendlichen zu zeigen. „Unser „Romeo und Julia“ bricht die Liebe über eine ganzes Leben besteht aus Welten, die wir nach junge Theatertruppe herein. Sie verändert alles. und nach verlassen...“ Dieses Zitat aus der Ein wichtiges Thema. „Almost Lovers“ - nur von Schreibwerkstatt vom Theater Bielefeld verweist Jungs! Nicht nur für Jungs?! Auf der Suche nach auf die Themen: Junge Menschen erobern neue ihrem Stück, nach ihrer Welt setzen die jungen Welten, sie wandern zwischen den Welten und Theaterschaffenden bei ihren Erfahrungen an, sie stellen sich den damit verbundenen Fragen sie loten die eigenen Möglichkeiten und Grenzen und Problemen. Sie vergleichen ihre Suche nach aus und versuchen, sie zu überwinden. Sie pro- einem Platz in der Welt mit einem Computerspiel, bieren alles aus, alle künstlerischen Formen sind bei dem auch stets zwischen den Levels gewech- erlaubt, sie heben die Grenzen der Kunstgat- selt wird. tungen auf. All das macht junges Theater aus. Vor allem aber gelingt es, alle Jugendlichen ein- Auf sehr unterschiedliche Weise prägen ihre Er- zubinden, gerade auch diejenigen, die bisher fahrungen die acht prämierten Produktionen. wenig Berührung mit der Kunstform des Theaters Die jungen Gewinnerinnen und Gewinner sind hatten. Auch wenn das oft mühsam ist. Die kul- wie immer eingeladen, ganz wie beim Theater- turelle Teilhabe aller zu ermöglichen, das nimmt treffen der Großen, im Haus der Berliner Festspie- das Jugendtheater ernst. Damit liegt der Wett- le ihre Stücke zu zeigen. Ihnen gratuliere ich bewerb wirklich im Trend. ganz herzlich. Das Jugendtheater wird politischer, ein Trend, Danken möchte ich allen, die zum erfolgreichen der anhält und sich verstärkt. Die einzige Welt, Gelingen des 34. Wettbewerbs beigetragen haben. die wir haben, zum Besseren verändern, ist ein Ich wünsche allen Beteiligten eine anregende und Anliegen. Das junge Ensemble aus Solingen will ereignisreiche Woche und aufregende Begeg- mit der Veränderung in den eigenen Köpfen be- nungen zwischen den vielen Welten in der ganz ginnen und die anderen „99 Prozent“ gewinnen. besonderen Welt der Berliner Festspiele. Sie wollen Mut machen und scheuen auch nicht das Wort Revolution. Andere erzählen vom Es grüßt Sie herzlich Zwiespalt, der auszuhalten ist, wenn die eigene Kultur, die Heimat verlassen und eine neue ge- funden werden muss oder davon, was passiert, wenn die bisher gewisse Heimat, die Region zer- stört, „abgebaggert“ wird. Sandra Scheeres Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft Sicher nicht zufällig ist Shakespeare bei diesem des Landes Berlin Bundeswettbewerb zweimal vertreten. „Hamlet“ verkörpert symbolisch eine ganze Generation. 5 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 5 08.05.13 13:13
Vom Mut, unter neuen Bedingungen mitzuspielen Am 25. März 2013 um 11:30 Uhr knallten im Sit- standhalten. Auch das dokumentiert dieser zungszimmer der Berliner Festspiele die Sekt- Wettbewerb. Da sind Schul-Ensembles, die sich korken. Zu diesem Zeitpunkt stand endlich, mit neuen schulkompatiblen Theater-Formaten nach zweieinhalbtägiger Debatte, die Entschei- befassten und es schafften, sich in der Zwischen- dung der Jury für die Programmierung des 34. und Endauswahl zu positionieren. Theatertreffens der Jugend fest. Es war ein schwieriger Entscheidungsvorgang, der zu dem Die acht schlussendlich ausgewählten Inszenie- Spektrum führte, wie wir es nun vorstellen. rungen repräsentieren diese vielfältige Theater- szene. Allein diese zu entdecken wäre nicht Dabei hatte die diesjährige Wettbewerbssich- schwierig gewesen im diesjährigen Wettbewerb. tung mit einer unschönen Überraschung begon- Beispielhafte Theater-Aspekte sind bei den nen. Ein markanter Rückgang der Bewerbungs- meisten der neunzehn Inszenierungen, die es in zahlen gab Anlass zu Diskussionen. Er ist, so die Zwischenauswahl geschafft hatten, zu fin- stellte sich bald heraus, hauptsächlich im Be- den. Wie bei jeder Juryentscheidung gab es reich Schulen zu verzeichnen. Das überrascht auch bei der diesjährigen heftige Befürworter wiederum niemand − im ersten Jahr, in dem G8 anderer Inszenierungen. Und es gibt, aufgrund voll durchschlägt. Als ob aus den Pisa-Studien des Ausscheidungsverfahrens, immer den Weh- nichts zu lernen gewesen wäre, konzentrieren mutstropfen, dass große Theatermomente in sich viele Schulen offenbar darauf, jene sozialen Berlin nicht gezeigt werden können. und künstlerischen Aktivitäten einzudämmen, die die Stärken der erfolgreichsten Schulmodelle Zwei Aspekte sprechen besonders für das Pro- im Pisa-Vergleich waren. Es müsste doch umge- gramm: Die Spieler der eingeladenen Gruppen kehrt genau darum gehen, gerade jene Lernfel- haben in den Gesprächen mit den angereisten der zu fördern und damit Kreativität, Selbstbe- Juroren keinen Zweifel daran gelassen, dass die wusstsein und Motivationspotentiale Produktionen vom Geist und den Ideen der En- aufzubauen. Dem Theater an Schulen Raum zu sembles getragen und in großer Bewusstheit geben und hier Theaterformate zu fördern, die über die verwendeten Mittel und deren Wirkung dem Gegenwartstheater entsprechen, das wäre erarbeitet wurden. Ein weiteres wesentliches ein konstruktiver Schritt. Und tatsächlich gibt es Kriterium im Auswahlverfahren war, dass die Schulbewerbungen, die den neuen Bedingungen Produktionsformate, die nun gezeigt werden, Theatertreffen der Jugend BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 6 08.05.13 13:13
für alle drei hier vertretenen Theater-Szenen grafien und fordern die „Älteren“ in der Diskus- leistbar gewesen wären. Dabei durfte nicht ent- sionsrunde, dass es eine Freude ist. scheidend sein, ob die eine oder andere Gruppe über bessere Sachmittel, eine professionellere Die Jury beobachtet eine sich in vielerlei Hinsicht Infrastruktur oder unvergleichbar mehr Proben- verändernde Jugend-Theaterszene. Veränderun- zeit verfügte. Die Jury stellte sich immer wieder gen in den Bedingungen, wie derzeit an den die Frage, ob die Qualitäten, die mit einer gege- Schulen zu erleben, und Veränderungen in den benen Spielweise und Inszenierungsform er- künstlerischen Formen und darstellerischen For- reicht wurden, unter den Arbeitsbedingungen maten. Darüber möchte sie gerne mit anderen eines Jugendclubs wie unter den Bedingungen Fachleuten und mit den eingeladenen Jugendli- einer Schule oder denen einer freien Gruppe chen diskutieren. Der Fokus des Forumspro- möglich gewesen wären. Unter diesem Aspekt gramms „Die Bedingungen rund ums Jugend- weisen viele Inszenierungen interessante An- theater sind im Wandel…“ wird dazu ebenso sätze auf, wie es möglich ist, an die Dinge neu Gelegenheit geben wie die Begegnungen in den heranzugehen, indem beispielsweise Formen Impuls- und Intensiv-Workshops oder den Auf- des Recherchetheaters oder des performativen führungsgesprächen für Theatermacher. Theaters angewandt oder Textvorlagen in post- dramatischen Dramaturgien tatsächlich vom Gerade in Zeiten der Bedingungswechsel braucht Ensemble anverwandelt werden. es den Mut, die Dinge anders, neu anzugehen. Solchen Mut dokumentiert die diesjährige Auswahl Sicherlich ist es eine komplexe Aufgabe, die Ver- sicherlich. Gleichzeitig mit dem Festival startet gleichbarkeit der Formate einzuschätzen. Die der Wettbewerb für das 35. Theatertreffen der neunköpfige Jury setzt sich aus Praktikern mit Jugend. Möge das diesjährige für viele eine Ermu- großem Erfahrungsspektrum in der Theaterar- tigung sein, dabei eine Rolle zu spielen. beit zusammen. Vertreter aus allen Produk- tionsfeldern der Szene reden hier mit, mancher kennt die Schulszene so gut wie die Arbeitsbe- Martin Frank dingungen der freien Szene oder die des profes- Juryvorsitzender sionellen Theaters. Unsere Jungjuroren verfügen beide bereits über eindrucksvolle Theaterbio- 7 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 7 08.05.13 13:13
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Almost Lovers – ein Theater Mobil-Projekt Junges Schauspielhaus Düsseldorf Freitag, 24. Mai 2013, 20:00 Uhr Das Ensemble über sich und die Produktion Es spielen: Philipp Brand, Sebastian Czwordon, Theater Mobil macht sich auf die Suche Ali Dilekci, Islam Dulatov, Tamik Dulatov, nach der Wirklichkeit und geht dahin, Dennis Duszczak, Taleb-El-Haf, Kevin Galla, wo sonst kein Theater hinkommt. Mit Maximilian Gängel, Astrit Muharemi, Mohammad Sawalha, Leon Wegener, dem Theater Mobil – einem Wohnwagen Hana Zunic (Mädchen im Video) – sind Künstlerinnen und Künstler im Auftrag des Jungen Schauspielhauses in der Stadt unterwegs. Sie verlassen Regie: Ines Habich das Theater und recherchieren vor Ort Ausstattung: Miriam Chouaib Choreografie: Corey Action zu aktuellen gesellschaftlichen Themen. Video: Sami Bill Dann kehren sie mit den interessierten Dramaturgie und Theaterpädagogik: Jugendlichen ins Theater zurück und Dorle Trachternach entwickeln aus dem gesammelten Ma- terial eine Produktion für die Bühne. Regieassistenz: Bente Loubier, Wera Mahne Assistenz des Choreografen: Aldo da Silva In einem Projekt wie „Almost Lovers“ Kostümassistenz: Riet Desoete gibt es vor Beginn der Proben kein Stück. Ausstattungshospitanz: Tatjana von der Beek Es gibt auch keine Teilnehmer, die sich zu diesem Projekt anmelden. Erst einmal gibt es einen Wohnwagen und ein Künst- lerteam, das sich auf die Suche nach Jugendlichen macht. Die meisten von ihnen haben freiwillig noch kein Theater von innen gesehen. Alles, was das Team im September 2012 im Gepäck hatte, waren Neugierde und viele Fragen zu männlichen Rollenvorbildern, Klischees, Wünschen und Träumen. Für „Almost Lovers“ gingen wir zu- nächst dorthin, wo man der Klischees halber junge Männer vermutet. Dort, in Boxclubs, auf der Kaartbahn und am Stadion von Fortuna Düsseldorf, wurde mit unserem Wohnwagen eine mobile Station etabliert, wo wir viele verschie- dene Jungs und junge Männer kennen lernten und über persönliche, kulturelle, 11 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 11 08.05.13 13:13
soziale und politische Themen ins Ge- unbedingt etwas Gutes. Unsere Realität spräch kamen. Einige fingen Feuer und ist nicht immer gut. Aber wir können kamen mit uns. Das Wichtigste ist, die durch unsere Fantasie aus ihr heraus. richtige Mannschaft zusammenzustel- Das ist das, was diese Gruppe verbindet, len. Experten aus allen möglichen Be- ob wir nun 12 oder 22 Jahre alt sind, und reichen zu finden. Der Fußballfanatiker, egal woher wir kommen. Wir sehen einen der Boxer, der Paintballspieler, der Mäd- Querschnitt der männlichen Gesell- chenschwarm. Einen aus der Hochhaus- schaft, Jungs und junge Männer zwischen siedlung und einen aus dem Einfamilien- 12 und 22 Jahren. Es ist weder ein Stück haus. Man muss alle ernst nehmen. Und von und über Jungs aus der Vorstadt dann muss man einfach genau zuhö- noch ein Stück mit Gymnasiasten. ren. Was erzählt uns der Einzelne? Und Die große Qualität unserer Produktion wenn du einen riesigen Haufen einzel- ist der Querschnitt, den wir zeigen. ner Geschichten, Schicksale, Biografien Es sind alle dabei. Unsere Gesellschaft. hast, dann beginnt die Arbeit erst. Du Unsere Jungs. spürst auch, welche Geschichten sich wiederholen. Welche Themen häufen sich? Der Vater zum Beispiel hat bei al- len eine riesige Bedeutung. Und diese komischen Allmachtsfantasien, ein Su- perheld zu sein, wenn man sich gerade aber eigentlich ganz klein und ohn- mächtig fühlt, die kannten alle, und das war wichtig zu zeigen. Über Jungs wird eher negativ berichtet, im Zweifelsfall in Zusammenhang mit Straftaten, Schulschwänzereien, schlech- ten Noten, Aggression. Mädchen schei- nen irgendwie in allem besser zu sein. Die Gesellschaft fragt heutzutage nicht ab, ob man gut im Boxen ist. Das ist ein Hobby. Aber es ist trotzdem wichtig zu wissen, dass Jungs darin gut sein können und was das alles bedeutet. Was wir in „Almost Lovers“ beschreiben wollen: Wir können raus aus unserer Realität, weil wir träumen können, und das ist Theatertreffen der Jugend BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 12 08.05.13 13:13
Die Jury zur Auswahl – von Ulrike Hatzer Die Sache läuft schon, wenn Das Frauenbild ist zwiespältig, dass man da über Kondomkauf wir, das Publikum, dazu kom- liegt irgendwo zwischen Mutter und dessen Peinlichkeit reden men. Umkleidekabine, Fitness- und Puppe, ist idealisiert, wenn muss. Die Choreografien oder studio, Geruch nach Schweiß es freilich ans Eingemachte die Anmache übers Mikro zeigen und Tränen (oder Theaternebel?) geht, wird es schwierig. Wie unmissverständlich die Dis- liegt in der Luft. Hier ist Kraft schreibt man einen Brief? Wie tanz der Spieler zur eigenen Un- am Start, und Technik, Trauer, redet man über Liebe? Tut man beholfenheit. Sie können über Träume und Humor. das überhaupt? sich selbst lachen. Über Themen wie Altern kann man dagegen „Almost“ heißt „fast“, nicht Dann doch lieber in die Welt nicht reden: „Scheiß Thema“. „ganz“. Es heißt auch: Da fehlt des Fans von Fortuna Düssel- noch was. Wenn man fragt, dorf. Da kann man sich bewei- Reden wir lieber über Geld. was da noch fehlt, stellt man sen, lärmen, drohen, Feindbil- Wenn man nur welches hätte. schnell fest, dass das Stück der schüren, aber auch übers Was wäre wenn? Wenn der auch „Almost Sons“, „Almost Ziel hinausschießen bis hin zur Traum von 100.000 € wahr Winners“ oder „Almost Heroes“ Verhaftung. Da hat man dann würde? Ja dann ... mehr wird heißen könnte. Es fehlen die Zeit, sich mit seiner Zelle ausein- nicht verraten. Väter, die Zukunftsaussichten, anderzusetzen. Da kommen dann die Möglichkeiten zu zeigen, die Ideen von Kampf und Krieg. In „Almost Lovers“ vom Jungen was man kann, zu welchen Aber wofür? Für die Freiheit? Schauspiel Düsseldorf kommen Größen man aufsteigen könn- alle Ängste und Nöte von Jungs te, wenn, ja wenn nicht immer Die Erwachsenen sprechen zur Sprache, alle Träume und alles nur „fast“ wäre: Fast ein über Projektionen zu den Jungs, Hoffnungen. Sie sind nicht zu Hause, fast eine Kindheit, sind real zunächst nicht exis- mehr Junge und noch nicht fast eine Zukunft. tent. Dann aber doch ein un- Mann, noch nicht Liebhaber, glaublich berührender Monolog Ehemann, Steuerzahler. Sie be- Man wäre so gerne ein Held. des Sohnes an der Hand des mühen sich und meistens reicht Papa lebt es ja vor, er erwartet Vaters über dessen permanen- es nur fast, nicht ganz, im wah- es von „Fast-schon“. Mit tapfe- te Abwesenheit in Notlagen. ren Leben, über das sie erzäh- rem Kampf mit Kraft und Mut Mit wem spricht der Sohn da? len, singen und tanzen. Auf der lässt sich die Welt bezwingen. Bühne aber verschwindet das Nur keine Schwäche zeigen. Und dann das leidige Thema „fast“. Da sind sie nicht mehr Und so töten sie Drachen und Weggehen, Disko, Party. Wo „almost“, da sind sie „ganz und kämpfen um alles. Klar nur auf sonst kann man sich bewäh- gar“: überzeugend, berührend, der Bühne, aber „fast“ wie im ren? Mit herrlicher Selbstironie ironisch und durch und durch richtigen Leben. kommt aber auch zur Sprache, ehrlich. Ein Genuss. 13 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 13 08.05.13 13:13
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Parallele Welten – Die Insel Ensemble Parallele Welten I – Theater Bielefeld Samstag, 25. Mai 2013, 20:00 Uhr Das Ensemble über sich und die Produktion Es spielen: Simon Belte, Patrick Dietrich, Mit der Projektreihe „Parallele Welten“ Onur Erkus, Merissa Ferati, Jamila Hutchinson, wollte das Theater Bielefeld der Perspek- David Kasprowski, Lena Köppen, Delia Kornelsen, tive von Menschen, die im Zwiespalt Karolin Kronauer, Malice Mulijiji, Gaye Mutluay, Demokrat Ramadani, Liridone Ramadani, zwischen unterschiedlichen Werten und Natalia Schiano, Christin Schneider Traditionen leben, eine Bühne bieten. Band: Romina Wend, Patrick Düwell, Lucas Kluge Die Schreib- und Theaterwerkstatt für Jugendliche mit Migrationsgeschichte bzw. islamischen Wurzeln hat die Reihe Regie und Ausstattung: Canip Gündogdu Dramaturgie: Martina Breinlinger eröffnet. Die Leitung der Schreibwerk- Schreibwerkstatt: Nuran David Calis statt übernahm der in Bielefeld aufge- Choreografie: Simon Wiersma wachsene Autor und Regisseur Nuran Grafik/Video: Alparslan Kale David Calis, dessen Eltern aus der Türkei Musikalische Leitung: Ramona Kozma stammen. Regie und theaterpädagogi- Ko-Regie: Cornelia Rössler sche Begleitung übernahm Canip Gün- Regiehospitanz: Anna Plätke Bühnenbildassistenz: Laura Hohnerkamp dogdu; auch seine Eltern stammen aus der Türkei, er ist in Castrop Rauxel auf- gewachsen und lebt in Bielefeld. Martina Breinlinger, seit 2006 als Theaterpäda- gogin am Haus, begleitete das Projekt als Dramaturgin/Projektleiterin. Ausgeschrieben war das Projekt für Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren, die in Brackwede wohnen (einem Stadt- teil mit hohem türkischem Bevölkerungs- anteil) oder die Freunde oder Verwandte im Ausland haben. Bei derTeilnehmerak- quise half der Student Demokrat Rama- dani mit seiner schulübergreifenden Theatergruppe und Canip Gündogdu, der viele Gespräche mit Eltern und Part- nern von Interessenten führte, wenn es Unsicherheiten auch auf Grund von Sprachproblemen gab. Über ein Brack- weder Jugendzentrum fand sich eine Band, die Lust hatte, die Inszenierung mit Livemusik zu begleiten. So entstand 15 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 15 08.05.13 13:13
ein heterogenes Ensemble aus Schüler/ eine kollektive Autorenschaft zu etablie- -innen, Auszubildenden und einem ren und Schutz für biografisches Mate- Studenten im Alter von 12 bis 24 Jahren: rial zu bieten. Der Regisseur war schon ein Drittel der Leute hat keine Migra- während der gesamten Schreibphase tionsgeschichte und längst nicht alle anwesend. Er machte szenische Experi- sind (gläubige) Muslime. mente und klopfte die Schreibergeb- nisse auf ihre Bühnentauglichkeit ab. In der Spielzeit 2011/12 wurde nun eine Der Autor versuchte, das Anliegen der Stückvorlage entwickelt, die nach der Gruppe zu erfassen und stellte fest, Sommerpause mit derselben Gruppe in- dass die kulturelle Kluft zwischen Eltern- szeniert und im Theater Bielefeld auf- haus und neuer Heimat für die Teilneh- geführt wurde. Autor Nuran Calis menden nicht so ein zentrales Thema schwebte der Arbeitstitel „Revolution“ war, wie für ihn in seiner Jugend. Das vor. Er war an allem interessiert, was Verhältnis zu den Eltern schien weniger einen arabischen Frühling in Ostwest- vom Drang nach Revolte als vielmehr falen aufscheinen lassen könnte. Canip von Herzlichkeit und Loyalität geprägt. Gündogdu wollte die Schwierigkeiten Er schlug vor, das Setting ins Internet zu darstellen, die immer noch mit dem verlegen und das Medium als zusätzliches Aufwachsen als Kind von Einwanderern Thema zu setzen. Außerdem bat er um verbunden sind, und das Verbindende − fiktive Texte von Lebensmüden. Jetzt die Unschuld/Vitalität der Teilnehmen- entstanden mehr als zuvor auch Texte den − betonen. Martina Breinlinger in- zu eigenen Konflikten und schmerzli- teressierte das Geschlechterverhältnis chen Erfahrungen. und die Einschätzung der Jugendlichen, ob ihr Funktionieren in parallelen Sys- Bei der Bearbeitung des Materials woll- temen nach dem Schulabschluss/der te Nuran David Calis nicht die Hetero- Partnerwahl weiter funktionieren kann genität des Schreiberchores glätten und mit welchen Hoffnungen oder Sorgen und verzichtete gänzlich darauf, Verän- sie diesen Ereignissen entgegen sehen. derungen innerhalb einzelner Textfrag- mente vorzunehmen und sich als Mit- Bei den monatlichen Schreibwerkstät- autor des Stückes zu definieren. Er ten wurde gespielt und improvisiert; es stellte aus den vorhandenen Texten und entstanden Stellungnahmen zu Themen einigen verbindenden/strukturierenden wie Herkunft, Helden, Geschlechterrolle, Zusätzen ein recht umfangreiches Ar- Anforderungen des Elternhauses, Ver- beitsbuch zum Ende der Spielzeit zu- hältnis zum „Deutschen“, Lieblingsorten sammen. Nach vielen Streichungen und sowie assoziative Texte zu Bildern. Die dem Zusatz von biografischem Material Texte wurden anonym abgegeben, um aus der Anfangsphase des Projektes sowie Theatertreffen der Jugend BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 16 08.05.13 13:13
Sequenzen aus den Improvisationen und nachdem der Regisseur allen die Möglichkeit gegeben hatte, Passagen für sich, bzw. für die eigene Figur zu reklamieren und hinzuzufügen, ent- standen aus „geposteten“ Statements so etwas ähnliches wie 15 Figuren. Am Ende der Sommerferien begannen die Proben mit einer viertägigen Intensiv- phase, es folgten wöchentliche Proben, zwei Probenwochenenden, zwei Proben- wochen in den Herbstferien und eine Woche Endproben. Ramona Kozma kam als musikalische Leiterin hinzu, der Gra- fiker Alparslan Kale debattierte seine Videoprojektionen mit der Gruppe, der Tänzer Simon Wiersma machte die Cho- reografie und Kiki Rössler stieß als Ko- regisseurin dazu. Aufgeführte wurde das Stück am 17., 18. und 19. November 2012 im Theater am Alten Markt vor jeweils 300 Zuschauern. Für die Wiederaufnahme im Rahmen des Theatertreffens der Ju- gend müssen drei Darstellerinnen ersetzt werden, die sich im Auslandsjahr befinden bzw. auf Grund von Abiturprüfungen nicht zur Verfügung stehen können. Die Der- niere ist für den 10. Juni 2013 im Rahmen der Schultheaterwoche geplant. 17 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 17 08.05.13 13:13
Die Jury zur Auswahl – von Sebastian Stolz Weiß ist die hellste unbunte bestückt mit nur einem roten passt zu wem? Welche Kombi- Farbe. Weiß ist physikalisch ge- Detail. Rot erinnert an Blut, wie nation zieht sich an, stößt sich sehen keine eigene Farbe, son- Weiß an Nichts. Ein kleines ver- ab? Individualisieren oder ver- dern entsteht durch die Überla- letzliches Detail, ein Schluck einheitlichen? Skype, Face- gerung aller Spektren des Lebensdurst will sich seinen book, Youporn & Co. Sie neh- Lichts. Weiß ist somit die „Sum- Weg in eine leere, noch unbe- men sich den virtuellen Raum me aller Farben“... schriebene Welt bahnen. und hoffen auf Freiheit, auf eine Spielwiese. Wieder unter- Weiß. Es ist weiß da draußen, Eine weiße Spielerwand beginnt bricht die Stimme aus dem Off, die Winterlandschaft glänzt von der Rampe chorisch zu er- es ist Anonymus: „ … ich habe von Ost nach West. Die Reise zählen, von ihren Vorfahren keine Freunde ...“, der Rest ver- geht nach Bielefeld. Angekom- und deren Reise nach Deutsch- bündet sich und spielt los. Sky- men. Es beginnt der Einlass mit land aber auch von Verwand- pen mit der Familie im Ausland. einer kleinen Band und melan- ten in anderen Ländern. Ameri- Das Netz überbrückt Distanzen cholischen Gitarrenklängen. ka, Schweden, Gran Canaria, und macht uns alle zu einer Weiß. Die weißen Gartenstühle, Kaukasus, Deutschland, Ex-Ju- globalen Familie. Der nächste auf die wir uns setzen, knacken goslawien, Russland, Kosovo, Stuhl bricht. Anonymous ver- nach kurzer Zeit. Hin und wie- Schweiz, Ostdeutschland. „Wir kündet seine Selbstmordab- der sackt ein Zuschauer ab, kommen zwar alle von hierher sichten, es verbleibt nur eine reißt es uns schon jetzt vom aber ich glaube es zieht uns in Stunde zum Handeln. Die an- Hocker? Weiß. Der weiße Raum die Ferne.“, sagt ein Mädchen. deren User der Insel diskutieren mit von der Art sich unter- Die Spieler verschwinden. Fe- im Chat, Ersatz oder Evolution. scheidenden, aber weißen dern fallen. Eine Stimme aus Die Uhr tickt und plötzlich Stühlen wirkt steril, unschuldig dem Off erklingt, sie klingt droht das Netz ein Raum zu und ruft nach Geschichten. Im traurig, erzählt vom Fliegen. werden, in dem der Handlungs- Nebenraum ein Ensemble- Egal. Die Insel ist erreicht und spielraum eingeschränkt ist, kampfschrei, dann treten sie alle sind im Chat. Nullen und Anonymus scheinbar uner- herein. Weiß. Die Spieler in wei- Einsen sortieren das Netz, die reichbar, sein Selbstmord un- ßen Kleidern und Anzügen, Musik schrammelt los. Wer aufhaltsam. Anonymus „sucks“ Theatertreffen der Jugend BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 18 08.05.13 13:13
und die Spieler tanzen und sin- „Deutsche sind …“, ich habe lust kann man sich nicht ent- gen mit ihrer Lebensfreude ge- keine Ahnung was deutsch ist. ziehen. Gelüste und Sehnsüch- gen Anonymus´ „shitstorm“ an. Das Ensemble verrät es mir und te brechen heraus, um wirklich Dennoch bröckelt die „Happy rappte vom Sauerkraut. Die Iro- zu leben musst du in eine paral- World“, Anonymus fordert Rei- nie erreicht mich. Die Figuren lele Welt, in die Vergangenheit bung, eine Haltung, Wahrheit suchen nach Identität, ihrer oder einfach an die frische und Geständnisse. Es wird sich Identität. Was ist mitzuneh- Luft. Dort herrscht Sommer geouted, diskutiert über Religi- men aus der einen und der an- und die kosovarischen Kühe on, die große reine Liebe – es deren Welt? Ich frage mich stehen friedlich auf dem Berg. wird existenziell. Das Ensemble nach meinen parallelen Wel- Anonymus bleibt unbeeindruckt, spielt, singt und bewegt sich ten, bin ich echt deutsch, auch die letzten 10 Minuten ticken. mit einer beeindruckenden wenn ich seit Monaten kein Es bleibt die Entscheidung für Souveränität und Durchlässig- Sauerkraut auf dem Teller hat- die eine oder die andere Welt keit. Sie nutzen eine einfache te? Bin ich schon integriert, oder eben nur unsere Träume. aber wirksame Theatralik. Der nach 24 Jahren Mauerfall. Ich Musik, Vollgas, Endspurt, dann ernste Ton wird mit leiden- esse lieber asiatisch als deut- Stille. Anonymus hat sich aus- schaftlichen Musikeinsätzen sche Hausmannskost, habe ich geloggt oder ausgeknockt? und viel Humor gebrochen, mich damit aus kulturellen Mein Stuhl hält, genau wie die- mündet in simpler Poesie, die Kontexten segregiert? Noch 20 ses so sympathische und kräf- Gitarre leicht gezupft und ver- Minuten und Anonymus wird tige Ensemble: „Hallo Welt, ich träumt. „Du musst Spuren in sterben. Religionen verschmel- bin Du und Du bist ich …“ der Welt hinterlassen“, das ist zen und es riecht nach gegrill- anstrengend, wie der Spagat tem Steak; jedenfalls glaube zwischen zwei Welten, den par- ich es mir einzubilden. Tatsäch- allelen Welten. Mein Stuhl lich, ein Grill erobert die Bühne. knackt, er droht zu brechen. Es gibt Buletten. Essen im Netz, Die Anonymen Ausländer reiten eine schöne Zukunftsvision. auf Klischees, zerspielen sie Wieder prallen Geschichten auf und füllen das Integrationspaket. Anonymus, der Spiel- und Erzähl- 19 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 19 08.05.13 13:13
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hell erzählen Freie Jugendtheatergruppe Hellersdorf des Theater o.N., Berlin Sonntag, 26. Mai 2013, 20:00 Uhr Das Ensemble über sich und die Produktion Es spielen: Nathalie-Michelle Bremer, „Ich stehe auf, gehe ins Bad, seh’ in den René Bresinski, Paul Figur, Paul-Justin Forche, Spiegel Erkenne Needy und weiß ganz Stefan Huras, Jass Köhler, Lara Maier, genau, dass dies ein beschissener Tag Melisa Munack, Pia Ziehe werden wird mit all dem Wahnsinn, der ständig in meiner Welt geschieht…Ich Regie: Cindy Ehrlichmann schlucke meine Gefühle herunter, über- Dramaturgie: Dagmar Domrös schminke meine Angst, schlüpfe in mei- Ausstattung: Martina Schulle ne Uniform und mache gute Miene zum Musik: Gerhard Schmitt, Minas Suluyan Choreografie: Mandy Pfennig bösen Spiel. Dann gehe ich hinaus in Stimmbildung: Caroline Intrup meine farblose Welt voller Pappaufsteller, in der sich immer nur dieselbe Scheiße abspielt. Schule, chillen, Therapiestun- den, Familienbesuche. Doch bevor ich losgehe, werfe ich Needy noch einen verächtlichen Blick zu, denn ich weiß, sie ist nicht ich!“ (Jass, 15 Jahre) Etwas muss sich ändern. Etwas wird sich ändern! Wir sind 8 Hellersdorfer Jugendliche zwischen 11 und 15 Jahren, die dieses Theaterstück über Alltag und Aufbruch geschrieben und erprobt ha- ben. Wir haben uns damit beschäftigt, was es bedeuten kann, ein „Held“ oder eine „Heldin“ zu sein. Wir stellten fest, dass es auch sehr heldenhaft sein kann, in seinem Alltag eine Veränderung, und sei sie noch so klein, zu wagen. Dann beschäftigten wir uns mit unserem Alltag und mit Veränderungen, die in diesem stattfanden oder stattfinden könnten. Es gab eine Zeit, in der war uns nicht klar, dass „hell erzählen“ so viele Men- schen erreichen wird. Zu Beginn unserer Arbeit waren wir ein paar einzelne Per- sonen und es war sehr schwer, andere 21 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 21 08.05.13 13:13
Jugendliche in Hellersdorf zu finden, die bestätigt, dass es gut und wichtig ist, sich auch für Theater interessieren. Wir unsere Stimmen in die Welt zu tragen. haben in unseren Schulen, Freundeskrei- sen und Wohngruppen davon erzählt Über den Kiezrand hinaus – Das Theater o.N. und viele Flyer verteilt. Es dauerte Monate bis wir eine richtige Gruppe wurden und „hell erzählen“ ist das zweite Theater- mit der Stückentwicklung konkret be- projekt des Theater o.N. von und mit ginnen konnten. Jugendlichen aus Berlin-Hellersdorf. Im Juni 2012 wurde „was dann passiert – Mit der Premiere von „hell erzählen“ fei- Dasein und Konsequenzen“ aufgeführt. ern wir das Ergebnis von sechs Monaten Seit 2010 richten wir den Blick über den Probenzeit. Wir haben uns im letzten Kiezrand hinaus und legen einen halben Jahr mit einem Team des Thea- Schwerpunkt unseres Engagements auf ter o.N. auf die Theaterarbeit eingelas- die Theaterarbeit im Bezirk Hellersdorf. sen. Wir lasen Texte und philosophier- Wir, das Theater o.N., arbeiten mit den ten, übten aufrecht zu stehen und zu Jugendlichen auf der Grundlage des schauen ohne zu lachen, improvisierten biografischen Theaters. Wir bringen das Szenen. Wir entwickelten Figuren und Handwerkszeug mit; die jungen Leute schrieben Texte. Wir lernten die Texte nutzen es so, wie es ihnen entspricht: auswendig, tanzten, trommelten, näh- als Ventil, als Sprengstoff, als Gedicht, ten, malten und spielten. Anfangs fan- als Ausrufezeichen. den die Proben einmal pro Woche statt, in den letzten drei Monaten kamen viele Wochenenden dazu. Die Geschichten, die wir erzählen, sind unsere Nachricht an die Welt. Momentaufnahmen aus un- serem Leben und unserer Phantasie. „hell erzählen“ haben wir im Theater o.N., in Berlin-Hellersdorf, in Hamburg- Wilhelmsburg und Dresden-Prohlis auf- geführt. Dabei haben wir Jugendliche getroffen, denen es ähnlich geht und die unter ähnlichen Bedingungen auf- wachsen. Sie sagten, dass sie sich in den Texten und in den Figuren wieder finden können. Diese Begegnungen haben uns sehr berührt und darin Theatertreffen der Jugend BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 22 08.05.13 13:13
Die Jury zur Auswahl – von Maike Plath „Ich kenn' böse und gute Men- man am meisten lernen kann. Voraussetzung dafür ist wohl schen. Ich kenn' Ghettos und Cindy Ehrlichmann, Dagmar der wahre Mut zum Risiko des Nobelviertel. Ich kenn Liebe Domrös und neun Jugendliche Scheiterns. und Hass.” (Needy) aus Hellersdorf haben diesen Mut. Und harren aus – bis aus „Heute ist der Tag der Nieder- Wie ist es im Stadtteil Hellers- Widerstand, Zweifel und uner- lage. Laut sein müssen. Brüllen. dorf? – „Vielleicht nicht der müdlicher Suche dann plötzlich Den Gesichtern entgegenhal- schlimmste Bezirk, aber schon ein künstlerisches Statement ten, dass man gleich keine Lust Ghetto - dezent asozial halt.” wird. mehr auf die Probe hat. „Reiß (Jass, 15 Jahre) dich zusammen!”, „Konzentrier „hell erzählen” ist ein kleines dich!”, „Lass das!” Wann habe Kulturelle Bildung ist ein Muss. Wunder. Oder ein großes. Weil ich diesen Feldwebelkurs ge- „In Deutschland wachsen fast neun Jugendliche aus Hellers- macht? Jetzt bekommen die vier Millionen Kinder unter 18 dorf sich auf eine Welt einlas- Jugendlichen, was sie kennen: Jahren, also mehr als ein Vier- sen, die ihnen vollkommen Eine überforderte Erwachsene, tel dieser Altersgruppe, in min- fremd ist, weil sie ihre Skepsis die sie anbrüllt und ihnen im destens einer sozialen, finanzi- und ihre Ängste überwinden Minutentakt rückmeldet, was ellen oder kulturellen Risikolage und Vertrauen fassen in eine sie alles nicht können. Das galt auf, die ihre Bildungschancen kleine Gruppe von Künstler/-in- es doch zu vermeiden. Das war schmälert.” (Annette Schavan, frü- nen, die ihnen einen Weg durch doch meine Mission.” here Bundesbildungsministerin). das Gestrüpp der alltäglichen Katastrophen weisen – und Das schreibt Cindy Ehrlich- Der Regisseur René Pollesch hat zwar ausschließlich über die mann in aller Offenheit über in seinem letzten Stück Brecht Mittel der Kunst. die Momente des Zweifelns im zitiert: Dass man am Ort der Prozess. Umgekehrt wird es die Niederlage bleiben soll, weil Hier soll niemandem „geholfen”, Jugendlichen aus Hellersdorf man da was lernen kann. Und niemand therapiert werden. Das irritiert haben, dass „Theater” dass man sich hüten soll vor Ziel der gemeinsamen Arbeit ist nicht immer das war, was sie dem Ruhm. Denn der sei der Nie- ein künstlerisches Produkt − sich unter „Theater” vorgestellt dergang, der Anfang vom Ende. nicht mehr und nicht weniger. hatten. Vielleicht auch, dass diese Arbeit ihnen mehr abver- Es gibt nicht viele unter uns, die Was passiert, wenn sich beide langte, als sie zunächst bereit den Mut haben, am Ort der Seiten auf einen künstlerischen waren zu geben. Disziplin, Zu- Niederlage zu bleiben. Dort, wo Prozess einlassen? Die erste verlässigkeit, Konzentration 23 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 23 08.05.13 13:13
und oft auch Arbeitsweisen, die „Jugendlichen aus Hellersdorf” Orte führen, die wir kennen. ihnen gänzlich fremd erschie- und „Das sind die komischen Und die uns berühren. Alles, nen und die in ihnen deshalb Künstler aus Prenzlauer Berg” was wir in „hell erzählen” auf zunächst Widerstände erzeug- ist eine beiderseitige Verwun- der Bühne sehen, wirkt zutiefst ten. Wir alle neigen schließlich derung über die mögliche Nähe persönlich und gleichzeitig all- dazu, das Fremde zunächst ein- geworden. Über die Möglich- gemeingültig. Wir erfahren mal skeptisch zu betrachten... keit, etwas anderes zu sehen, nicht nur etwas über diese Kin- als das vermeintlich Offen- der, sondern vor allem etwas Warum aber sind diese Jugend- sichtliche. Eine Verwunderung über uns selbst und den gesell- lichen den Weg bis zur Premie- über die Erkenntnis, dass so- schaftlichen Zustand, in dem re, bis zum herzklopfenden wohl die „komischen Künstler” wir leben. „hell erzählen” ist damit „Sich-Zeigen” vor Publikum ge- als auch die „Hellersdorfer in seiner kleinen, leisen Privat- gangen? Wie ist es ihnen gelun- Kids” einander tatsächlich in heit großes politisches Theater. gen, ein Theaterstück zu entwi- gleichen Teilen etwas geben ckeln, das seine eigenen, können, das beiden Seiten vor- künstlerischen Mittel in direk- her für ihr „Weltbild” – für ihr tem, persönlichen Austausch Verständnis von Welt − gefehlt miteinander ertastet und mit hat. Über den Widerstand, den der daraus resultierenden Aus- Zweifel und das vorsichtige, drucksstärke und persönlichen aber unermüdliche „Sich-Ein- Unmittelbarkeit den direkten lassen” auf das Fremde, fand Weg zum Zuschauer findet? jede und jeder in dieser Gruppe Cindy Ehrlichmann schreibt: am Ende zu sich selbst und „Die Jugendlichen, mit denen gleichzeitig zum Ganzen − zu wir arbeiten, sind einzigartig, ihrer Geschichte. stark, mutig und unmittelbar. Sie sind Überlebenskämpfer.” Genau das vermittelt sich dem Offensichtlich hat hier eine Be- Zuschauer in „hell erzählen” gegnung statt gefunden, die es auf leisen Sohlen und mit voller allen Beteiligten ermöglicht Wucht. Wir sehen selbstbe- hat, sich über Gefühle der wusste, junge Menschen, die Fremdheit und der bloßen Zu- uns klar in die Augen schauen schreibungen hinweg zu set- und sagen: „Das bin ich”, und zen. Aus: „Das sind die die uns an innere und äußere Theatertreffen der Jugend BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 24 08.05.13 13:13
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Lochland poco*mania, Theatergruppe Käthe-Kollwitz-Gesamtschule, Grevenbroich Montag, 27. Mai 2013, 20:00 Uhr Das Ensemble über sich und die Produktion Es spielen: Elisabeth Riahi Dehkordi, Deborah „Unser Dorf war irgendwann weg, ein- Habicht, Tasha Helten, Oliver Hilden, Roxana fach verschwunden, von einem Tag auf Hünnekens, Maxi Jatzkowski, Kamilla Anna den anderen, mir nichts, dir nichts auf Kleiner, Tom Radermacher, Marco Schichtel, Monique Schubert, Jasmin Schulz und davon, wie aus heiterem Himmel… Viele – auch ich – haben noch lange da- nach gesucht, aber es war und blieb Regieteam: Axel Mertens und Ensemble verschwunden. Es hatte lediglich die Assistentin: Miriam Poppke Straßen dagelassen und das alte Strom- Technik: Marcel Röber, Mike Peitz, Dominik Schotten häuschen; die wollten aber nichts sagen Videos: Marcel Röber, Klaus Stimpel und waren ein bisschen später auch Bühne: Klaus Stimpel weg, haben sich aus dem Staub ge- macht, im Dunkel der Nacht… Na ja, wäre auch traurig gewesen; die waren doch vorher auch immer alle zusammen…“ (aus: Lochland) Lochland gibt es wirklich, liegt mitten im Meer von Äckern, schwarz-braune Wellen, die so durch’s Land schwappen. Und eben da tat sich von einem Tag auf den anderen ein Loch auf. Zuerst war das Loch ziemlich klein, vielleicht hand- tellergroß… Doch dann konnten schon bald zwei Männer aufrecht drin stehen! Das Loch wurde größer und größer und tiefer und tiefer und es dauerte gar nicht lange, da fiel eine Straße in das Loch hin- ein, einfach so. Dann kippten auch noch ein paar Bäume über den Rand… Und als sich das Loch den ersten Dörfern nä- herte, mussten die Menschen, die dort wohnten, ihre Häuser verlassen. Sie be- kamen neue Häuser – nur halt woanders. Und ihnen wurde gesagt, sie sollten dank- bar sein, dass man so gut für sie sorgt… 27 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 27 08.05.13 13:13
Wir erzählen in unserer Eigenproduktion und es zu immer wieder neu zu kombi- „Lochland“ von unserer Heimat, dem nieren: Kamerafahrten durch alte und rheinischen Braunkohletagebaugebiet. neue Lebenswelten gehen in Fotos von Allerdings ging es uns von Anfang an zerstörten Dörfern auf, Klänge, Geräu- nicht so sehr um den klimaschädlichen sche oder O-Töne kommentieren in der CO2-Ausstoß der Kohlekraftwerke, um Improvisation die sich stetig wandeln- die durchaus gesundheitsgefährdenden den Bildwelten. Doch „Lochland“ hat Feinstaubbelastungen oder um die Zer- nicht nur die Reportage zum Ziel. störung einer uralten Kulturlandschaft. „Lochland“ will auch Kindergeschichte, Wir wollten vielmehr von den Menschen Märchen sein. Denn im Märchen begeg- erzählen, deren Dörfer beim großen Ab- net uns das, was wir zu kennen glauben, räumen im Weg sind. Wir gingen zunächst neu und anders. Im Märchen verliert die von unseren eigenen Erfahrungen mit Region das Regionale. „Lochland“ wird dem Tagebau aus. Doch dauerte es nicht so zum Symptom für eine Gesellschaft, lange, da wurde uns klar, dass wir auch die das Kohlemachen zum Prinzip erhebt. andere Menschen zu Wort kommen lassen Für uns, die wir dort leben, ist „Lochland“ wollten. Und wir fanden viele Menschen, aber vor allem ein Abgesang auf abge- die uns von ihrem „Lochland“ erzählten; baggerte Augenblicke, verheizte Erinne- davon, wie das Loch gerade alles Leben rungen und eine Region, die schon lan- aus ihrem Dorf saugt oder davon, wie ge mit der Gewissheit leben muss, dass es sich lebt in einem umgesiedelten Ort außer einem Loch nichts bleiben wird. ohne Geschichte und Geschichten und mit dem Wissen, dass dort nichts mehr Unser Ensemble, bietet Schüler/-innen ist, wo einst Zuhause war. Bei diesen der Jahrgänge 10 bis 13 sowie Ehemali- Gelegenheiten nahmen wir O-Töne auf, gen die Möglichkeit, in ihrer Freizeit machten Kamerafahrten durch alte Theater zu spielen. Wir möchten uns ei- und neue Lebenswelten und verbrachten ner Öffentlichkeit jenseits der eigenen viel Zeit damit, die verlassenen Orte auf Schule stellen. Darum treten wir auch uns wirken zu lassen. Die von der Um- an anderen Schulen der Region auf und siedlung betroffenen Menschen stellten spielen seit unserer Gründung an freien uns Fotos zur Verfügung, öffneten uns Theatern in Düsseldorf, Dortmund, Köln verlassene Häuser, zeigten uns Schleich- und Mönchengladbach. poco*mania ist wege zu den alten und mittlerweile ab- Kooperationspartner des Aachener gesperrten Orten. Vor allem aber schenk- Netzwerks für humanitäre Hilfe und in- ten sie uns viel Offenheit. terkulturelle Friedensarbeit e.V. und spielte im Rahmen des Friedenstheater- Wir begannen, mit dem entstandenen projekts „Bina Mira“ - Bühne des Friedens Ton- und Bildmaterial zu experimentieren - im Jahr 2012 in Banja Luka/Bosnien. Theatertreffen der Jugend BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 28 08.05.13 13:13
Die Jury zur Auswahl − von Sepp Meißner Wenn die Meinungstyrannen nicht unmittelbar betroffen entwurzelt und in gleichförmi- und Ranking-Junkies aus dem sind, haben wir schnell ver- ge Reihenhaus siedlungen um- bunten deutschen Blätterwald nünftige Sachzwänge zur Ent- getopft zu werden, lässt sich feststellen, dass deine Heimat- schuldigung parat. Sobald nicht vertreiben. Die finanziel- stadt die dreckigste des Landes poco*mania uns aber diese len Vorteile der Konzerne sind ist, dann ist es an der Zeit, sich perfide Grausamkeit mit der nicht zu leugnen, Plünderer zu wehren. Früher wäre man ja Harmlosigkeit einer Märchen- und Gaffertourismus tun ein auf die Barrikaden geklettert, erzählung aus „Lochland“ nä- Übriges, den Betroffenen die hätte sich vor Firmeneingän- her bringt, erwirken sie tiefe Würde zu nehmen. Die Aussicht gen postiert und alle möglichen Betroffenheit, decken sie die auf renaturierte blühende Schmähparolen skandiert. Die Boshaftigkeit des realen Han- Landschaften zum Schwim- Verursacher von derlei Schand- delns bis hin zu dessen Zynis- men, Segeln oder Kanufahren malen mussten gebrandmarkt, mus schonungslos auf. klingen da wie blanker Hohn. mussten zur Verantwortung gebracht werden. Ihr Protest ist ein ganz stiller, Mit einer Vielzahl unterschiedli- ein unschuldiger, aber ein um cher theatraler Mittel geht die Nichts von alledem lauten Tra- nichts weniger eindringlicher. Gruppe zu Werke. Da steht Sa- ra führen die Grevenbroicher Sie wissen sehr wohl, dass sie tirisches neben derber Komik, Jugendlichen von der Käthe- mit ihren Eltern im Dilemma Lyrisches neben Plakativem, Vi- Kollwitz-Gesamtschule im Sinn. stecken. Wer hackt schon die deoeinspielung neben Klangin- Sie haben schon viel früher ge- Hand ab, die einen füttert? stallation, Puppenspiel neben spürt, dass sich in ihrer Heimat Und dennoch zwingt das un- personalem Spiel. Auf diese Beängstigendes auftut – ein mittelbare Miterleben zu ver- Weise erhält jede der 15 Szenen Loch nämlich. Und dieses Loch antwortungsvoller Darstellung einen, ihr angemessenen Cha- wird um der Braunkohle, um dessen, was die vielfältige Re- rakter, um schließlich in archa- der ach so dringend benötigten cherche bei den Betroffenen zu ischer Form das böse Märchen Energie willen nach und nach Tage befördert hat. vom Verlust der Heimat zu er- Wälder, Felder, Höfe, Häuser, zählen. Damit werfen die Gre- Dörfer, Städte, Existenzen ver- Und so erleben wir einen Bilder- venbroicher eindringlich grund- schlingen, Geschichten vernich- bogen von rücksichtslosem sätzliche Fragen nach unserem ten. 1000 Jahre altes Kulturland Vorgehen, von berührenden Umgang mit Umwelt und uralter muss dem Fortschritt weichen. Verlusten, von stillen Schmer- Kultur auf. zen. Da mag sich der Großkon- Solange wir von den Großpro- zern noch so bemühen, das Ge- jekten dieser Welt, sei es in Bra- fühl, über den Tisch gezogen, silien, China oder sonst wo, der Kindheitserinnerungen beraubt, 29 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 29 08.05.13 13:13
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99 Prozent spinaTheater − junges ensemble solingen Dienstag, 28. Mai 2013, 20:00 Uhr Das Ensemble über sich und die Produktion Es spielen: Fabian Bauer, Johannes Berkholz, Hallo, wir sind das spinaTheater, eine Aylin Cam, Caroline Heiner, Lena Mergard, Julia junge Theatergruppe aus Solingen, die Nau, Daphne Sassin, Marie Stute, Dustin Weber sich kritisch mit sozialen und politischen Fragen auseinandersetzt. Uns gibt es Regie: Christoph Stec, Jan-Marco Schmitz seit 2003 und mit „99 Prozent“ präsen- Choreografie: Gabriela Tarcha tieren wir euch unser aktuelles Stück. Kostüme: Marie Stute Besonders hierbei ist, dass es zum ersten Stimmbildung: Corinna Elling-Audersch Mal keine künstlerische Leitung gab, Empfohlen ab 14 Jahren sondern wir ganz in Eigenregie arbeite- ten. Die Leitung übernahmen ehemalige Darsteller, unter deren Regie das Stück geplant und entwickelt wurde. So hatten wir am Anfang nichts, außer dem Titel „99 Prozent“, dem Thema Demokratie und Revolution, dem Willen ein Stück zu entwickeln, das den bisherigen Produkti- onen des spinaTheaters gerecht wird und natürlich der Ambition die Welt zu retten. „99 Prozent“ entstand nach dem Leitbild demokratischen Theaters, nach dem das spinaTheater schon immer funktio- nierte. Während der intensiven Proben- zeit tauschten wir uns aus, sammelten verschiedenstes Material, schrieben ei- gene Texte, entwickelten Szenen, setz- ten eigene thematische Schwerpunkte. Wobei wir nicht selten das Gefühl hat- ten, tief durch den Schlamm unserer Welt zu kriechen bis dann, kurz vor der Premiere und nach einigem Ausprobie- ren, Verschieben, Verändern und Raus- werfen das Stück seinen vorerst finalen Zustand erreichte, wenn man diesen bei solch einer Produktion überhaupt erreichen kann. 31 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 31 08.05.13 13:13
In „99 Prozent“ beschäftigten wir uns Doch in vielen Teilen der Welt weht der mit Menschen, die jetzt oder in der Ver- Wind der Veränderung, wird der Schrei gangenheit schon ihre Meinung laut nach Gerechtigkeit und neuen gesell- vertraten, aufstanden und zu den Milli- schaftlichen Strukturen größer, hörbar, onen gehörten, die teils unter Einsatz fassbar. Menschen gehen auf die Stra- ihres Lebens, für Demokratie und Frei- ßen, riskieren blaue Flecken, ihre Freiheit heit protestierten. All diese Menschen oder ihr Leben, um für das zu kämpfen, treibt der Wunsch nach Veränderung was ihnen wichtig ist. und die Hoffnung auf eine bessere Zu- kunft, in der Geld und Macht nicht einer „99 Prozent“ ist der Versuch sich per- Minderheit, den „1 Prozent“, zufließen formativ, mit Elementen aus Tanz und während sich der Großteil der Bevölke- Videokunst, der Frage zu nähern, wie rung durch Elend zu kämpfen hat. Wir weit jeder einzelne von uns gehen würde, setzen uns mit der herrschenden Unge- oder was uns Revolutionen am anderen rechtigkeit und mit dem zusehends Ende der Welt überhaupt angehen. schwindenden persönlichen Freiraum jedes einzelnen auseinander. Wir empö- ren uns über eine (scheinbar) unsicht- bare Macht, die sich auf die reichsten und einflussreichsten unserer Welt kon- zentriert und die das Weltgeschehen zu lenken scheint – und das nicht zuguns- ten der breiten Bevölkerung, sondern um Fragen in Politik und Wirtschaft zu eigenen Gunsten zu beeinflussen. Und wir? Wir schauen zu, wie unser wachs- tumssüchtiges Wirtschaftssystem wei- ter dafür sorgt, dass die Armen arm bleiben und die Reichen immer reicher werden. Kriege werden auf den Rücken der Ärmsten ausgetragen und andere kassieren das Geld für die Waffen, wäh- rend die Medien es uns einfach machen als teilnahmslose Konsumenten auf dem heimischen Sofa zu enden. Ein Kreislauf, aus dem wir uns selbst nicht herausnehmen können. Theatertreffen der Jugend BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 32 08.05.13 13:13
Die Jury zur Auswahl – von Carmen Waack „Schlag zurück! Schlag zurück! Welt ringsum immer gewalttä- wir unsere Ärsche hochkriegen Schluck's nicht – spuck's aus, tiger wird, „Hol die Ellenbogen müssten, um die Welt zu ret- schlag zurück! raus − Bück dich hoch“, Eine ten, (Doch dazu sind wir viel zu Mit Worten, mit Fäusten, mit Runde Mitleid in der Mitleid er- faul!), wie mit der Heckensche- Lachen, mit Schreien – Es gibt regendsten Show Deutschlands re auf die Schokoregale im Su- tausend Wege, finde deinen.“ mit der kleptomanischen Karo permarkt loszugehen, mit dem Früchte des Zorns und der mickrigen Marie, ein Feuerzeug das Öl anzünden, abgeholzter Wald, tote Küken, neunundneunzig Prozent ist ein 99 Prozent Kindersoldaten, die Forderung, Schlag zurück... Neunundneunzig Prozent ist dass die Welt aufhört, einem knapp einhundert Prozent, ein schlechtes Gewissen zu ma- Aber um erst mal die Grundla- aber eben nicht ganz. Neun- chen: Man will nicht wissen, gen zu klären: Neunundneunzig undneunzig Prozent ist eine welche Kinderhände die eige- Prozent ist ein offenes Stück! Drohung und ein Versprechen. nen T-Shirts genäht haben, wie Das heißt, wer will, kann mit- Neunundneunzig Prozent ist ein Actionfilm, in dem schon machen. Es ist jederzeit mög- eine Sammlung. längst alles explodiert wäre, lich, sich zu beteiligen. Jede eine Huldigung an die Lebens- und jeder ist also gefragt, die- Neunundneunzig Prozent ist: mittelkonzerne dieser Welt, ses Stück mitzugestalten und Ein Papierflieger, der in einen (Geheiligt werden eure Mar- zu den 99 Prozent das hinzuzu- Turm stürzt, der Beginn des ken!), wie der Song „Wenn mal geben, dass zu den hundert Kampfes gegen den unsichtba- mein Herz unglücklich liebt“, Prozent vielleicht noch fehlt. ren Terrorismus, eine stürzende das Versprechen von „No more Raushalten geht nicht. Wer den Mauer, ein flackerndes Herz, nightmares“, die Vermutung, Raum betritt gehört unweiger- die Freude über einen Burger, dass keiner wohl Lust haben lich dazu. Die Grenzen ver- der weniger als einen € kostet, wird, so lange zu warten, bis schwimmen: Politische Ver- oder auch nicht, Waffen, die ein Hungerstreik vorbei wäre, sammlung oder Lecture- sechs Wände Stahlbeton durch- die Chance, „Tabu“ zu spielen Performance, aktuelle Nach- brechen, zu Hause im Wohn- mit Kevin Normalverbraucher, richtencollage oder Folterkabi- zimmer sitzen während die die Gewissheit darüber, dass nett, Tanz oder satirische 33 BFS_TTJ2013_Programmheft_RZ.indd 33 08.05.13 13:13
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