Theatertreffen der Jugend 24. Mai - 01. Juni 2013 - www.berlinerfestspiele.de - Berliner Festspiele

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Theatertreffen der Jugend 24. Mai - 01. Juni 2013 - www.berlinerfestspiele.de - Berliner Festspiele
Bundeswettbewerbe der Berliner Festspiele
                                  34. Theatertreffen der Jugend 2013
                                                                              Theatertreffen der Jugend
                                                                              24. Mai – 01. Juni 2013

                                                                                    www.berlinerfestspiele.de

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Inhaltsverzeichnis

              03          Grußworte
                          03 Bundesministerium für Bildung und Forschung
                          05 Senat für Bildung, Jugend und Wissenschaft des Landes Berlin

              06          Vorwort Juryvorsitzender Martin Frank
              08          Bühne
                          11   Almost Lovers – ein Theater Mobil-Projekt
                          15   Parallele Welten – Die Insel
                          21   hell erzählen
                          27   Lochland
                          31   99 Prozent
                          37   Romeo und Julia
                          43   Hamlet
                          47   Urban Sounds Clash Classic
                          52   Bühne Spezial
                          54   Nominierungen 2013

              56          Campus
                          58 Praxis
                          64 Dialog
                          67 Spezial

              68          Forum
                          71 Praxis
                          80 Dialog
                          81 Fokus

              82          Jury
              85          Kuratorium
              86          Statistik
              88          Bundeswettbewerbe
              89          Impressum

                                                                 1

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Theatertreffen der Jugend 24. Mai - 01. Juni 2013 - www.berlinerfestspiele.de - Berliner Festspiele
Theatertreffen der Jugend

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Theatertreffen der Jugend 24. Mai - 01. Juni 2013 - www.berlinerfestspiele.de - Berliner Festspiele
Grußwort

         Theatertreffen der Jugend: Das ist eine Woche           Ohne das Engagement der Berliner Festspiele –
         voller kreativer Theateraufführungen. Eine Wo-          durch die umfangreiche Vorbereitung, Koordi-
         che, in der an jedem Abend ein anderes Theater-         nierung, Organisation und dem Bereitstellen
         Ensemble seine Produktion zeigt. Und eine Wo-           professioneller Theaterumgebung –, von Spiel-
         che voller spannender Diskussionen darüber.             leiterinnen und Spielleitern der Theatergruppen
         Begleitet werden die Aufführungen durch Work-           und natürlich von den Akteuren auf der Bühne
         shops mit Theatermusikern, Tänzern und Cho-             wäre ein solches, inzwischen in der Kultur- und
         reografen, Regisseuren und Theaterautoren.              Kunstszene fest verankertes Event, nicht möglich.
         Darüber hinaus ermöglicht das neue struktu-
         rierte Konzept der Berliner Festspiele eine im-         Ich danke deshalb allen, die sich für den Thea-
         mer stärkere Vernetzung unserer gemeinsamen             ternachwuchs engagieren. Dem diesjährigen
         Bundeswettbewerbe. So wird das Rahmenpro-               Theatertreffen der Jugend wünsche ich einen
         gramm zum „Theatertreffen der Jugend“ von               großen Erfolg, unvergessliche Aufführungen und
         ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmern              Begegnungen sowie Ausstrahlung weit über die
         der anderen beiden Bundeswettbewerbe, dem               Berliner Theaterwoche hinaus.
         „Treffen junge Musik-Szene“ und dem „Treffen
         junger Autoren“, gestaltet.

         In diesem Jahr haben insgesamt 102 Theater-
         gruppen am Theaterwettbewerb teilgenommen,
         acht Ensembles wurden zum Theatertreffen der
         Jugend 2013 nach Berlin eingeladen. Inzwischen          Prof. Dr. Johanna Wanka
                                                                 Bundesministerin für Bildung und Forschung
         ist das „Theatertreffen der Jugend“ zu einer fes-
         ten Größe im Berliner Kulturprogramm gewor-
         den. Es wird von vielen Menschen mit großer
         Spannung erwartet und mit Begeisterung jeden
         Abend begleitet.

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Theatertreffen der Jugend 24. Mai - 01. Juni 2013 - www.berlinerfestspiele.de - Berliner Festspiele
Theatertreffen der Jugend

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Theatertreffen der Jugend 24. Mai - 01. Juni 2013 - www.berlinerfestspiele.de - Berliner Festspiele
Grußwort

         Liebe Festivalgäste,                                     Gebildet, sprachgewandt und weltoffen ist sie
                                                                  auf der Suche nach einem Lebensziel, für sie
         ein wichtiges Ziel des Bundeswettbewerbs                 scheint alles möglich, die Welt scheint offen für
         „Theatertreffen der Jugend“ ist es, Trends und           sie. In der Titelfigur findet sie sich wieder:
         Tendenzen der gegenwärtigen Theaterarbeit                Selbstzweifel, Angst und Überforderung. Mit
         von und mit Jugendlichen zu zeigen. „Unser               „Romeo und Julia“ bricht die Liebe über eine
         ganzes Leben besteht aus Welten, die wir nach            junge Theatertruppe herein. Sie verändert alles.
         und nach verlassen...“ Dieses Zitat aus der              Ein wichtiges Thema. „Almost Lovers“ - nur von
         Schreibwerkstatt vom Theater Bielefeld verweist          Jungs! Nicht nur für Jungs?! Auf der Suche nach
         auf die Themen: Junge Menschen erobern neue              ihrem Stück, nach ihrer Welt setzen die jungen
         Welten, sie wandern zwischen den Welten und              Theaterschaffenden bei ihren Erfahrungen an,
         sie stellen sich den damit verbundenen Fragen            sie loten die eigenen Möglichkeiten und Grenzen
         und Problemen. Sie vergleichen ihre Suche nach           aus und versuchen, sie zu überwinden. Sie pro-
         einem Platz in der Welt mit einem Computerspiel,         bieren alles aus, alle künstlerischen Formen sind
         bei dem auch stets zwischen den Levels gewech-           erlaubt, sie heben die Grenzen der Kunstgat-
         selt wird.                                               tungen auf. All das macht junges Theater aus.
                                                                  Vor allem aber gelingt es, alle Jugendlichen ein-
         Auf sehr unterschiedliche Weise prägen ihre Er-          zubinden, gerade auch diejenigen, die bisher
         fahrungen die acht prämierten Produktionen.              wenig Berührung mit der Kunstform des Theaters
         Die jungen Gewinnerinnen und Gewinner sind               hatten. Auch wenn das oft mühsam ist. Die kul-
         wie immer eingeladen, ganz wie beim Theater-             turelle Teilhabe aller zu ermöglichen, das nimmt
         treffen der Großen, im Haus der Berliner Festspie-       das Jugendtheater ernst. Damit liegt der Wett-
         le ihre Stücke zu zeigen. Ihnen gratuliere ich           bewerb wirklich im Trend.
         ganz herzlich.
         Das Jugendtheater wird politischer, ein Trend,           Danken möchte ich allen, die zum erfolgreichen
         der anhält und sich verstärkt. Die einzige Welt,         Gelingen des 34. Wettbewerbs beigetragen haben.
         die wir haben, zum Besseren verändern, ist ein           Ich wünsche allen Beteiligten eine anregende und
         Anliegen. Das junge Ensemble aus Solingen will           ereignisreiche Woche und aufregende Begeg-
         mit der Veränderung in den eigenen Köpfen be-            nungen zwischen den vielen Welten in der ganz
         ginnen und die anderen „99 Prozent“ gewinnen.            besonderen Welt der Berliner Festspiele.
         Sie wollen Mut machen und scheuen auch nicht
         das Wort Revolution. Andere erzählen vom                 Es grüßt Sie herzlich
         Zwiespalt, der auszuhalten ist, wenn die eigene
         Kultur, die Heimat verlassen und eine neue ge-
         funden werden muss oder davon, was passiert,
         wenn die bisher gewisse Heimat, die Region zer-
         stört, „abgebaggert“ wird.
                                                                  Sandra Scheeres
                                                                  Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft
         Sicher nicht zufällig ist Shakespeare bei diesem         des Landes Berlin
         Bundeswettbewerb zweimal vertreten. „Hamlet“
         verkörpert symbolisch eine ganze Generation.

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Theatertreffen der Jugend 24. Mai - 01. Juni 2013 - www.berlinerfestspiele.de - Berliner Festspiele
Vom Mut,
         unter neuen Bedingungen mitzuspielen
         Am 25. März 2013 um 11:30 Uhr knallten im Sit-          standhalten. Auch das dokumentiert dieser
         zungszimmer der Berliner Festspiele die Sekt-           Wettbewerb. Da sind Schul-Ensembles, die sich
         korken. Zu diesem Zeitpunkt stand endlich,              mit neuen schulkompatiblen Theater-Formaten
         nach zweieinhalbtägiger Debatte, die Entschei-          befassten und es schafften, sich in der Zwischen-
         dung der Jury für die Programmierung des 34.            und Endauswahl zu positionieren.
         Theatertreffens der Jugend fest. Es war ein
         schwieriger Entscheidungsvorgang, der zu dem            Die acht schlussendlich ausgewählten Inszenie-
         Spektrum führte, wie wir es nun vorstellen.             rungen repräsentieren diese vielfältige Theater-
                                                                 szene. Allein diese zu entdecken wäre nicht
         Dabei hatte die diesjährige Wettbewerbssich-            schwierig gewesen im diesjährigen Wettbewerb.
         tung mit einer unschönen Überraschung begon-            Beispielhafte Theater-Aspekte sind bei den
         nen. Ein markanter Rückgang der Bewerbungs-             meisten der neunzehn Inszenierungen, die es in
         zahlen gab Anlass zu Diskussionen. Er ist, so           die Zwischenauswahl geschafft hatten, zu fin-
         stellte sich bald heraus, hauptsächlich im Be-          den. Wie bei jeder Juryentscheidung gab es
         reich Schulen zu verzeichnen. Das überrascht            auch bei der diesjährigen heftige Befürworter
         wiederum niemand − im ersten Jahr, in dem G8            anderer Inszenierungen. Und es gibt, aufgrund
         voll durchschlägt. Als ob aus den Pisa-Studien          des Ausscheidungsverfahrens, immer den Weh-
         nichts zu lernen gewesen wäre, konzentrieren            mutstropfen, dass große Theatermomente in
         sich viele Schulen offenbar darauf, jene sozialen       Berlin nicht gezeigt werden können.
         und künstlerischen Aktivitäten einzudämmen,
         die die Stärken der erfolgreichsten Schulmodelle        Zwei Aspekte sprechen besonders für das Pro-
         im Pisa-Vergleich waren. Es müsste doch umge-           gramm: Die Spieler der eingeladenen Gruppen
         kehrt genau darum gehen, gerade jene Lernfel-           haben in den Gesprächen mit den angereisten
         der zu fördern und damit Kreativität, Selbstbe-         Juroren keinen Zweifel daran gelassen, dass die
         wusstsein und Motivationspotentiale                     Produktionen vom Geist und den Ideen der En-
         aufzubauen. Dem Theater an Schulen Raum zu              sembles getragen und in großer Bewusstheit
         geben und hier Theaterformate zu fördern, die           über die verwendeten Mittel und deren Wirkung
         dem Gegenwartstheater entsprechen, das wäre             erarbeitet wurden. Ein weiteres wesentliches
         ein konstruktiver Schritt. Und tatsächlich gibt es      Kriterium im Auswahlverfahren war, dass die
         Schulbewerbungen, die den neuen Bedingungen             Produktionsformate, die nun gezeigt werden,

                                                   Theatertreffen der Jugend

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Theatertreffen der Jugend 24. Mai - 01. Juni 2013 - www.berlinerfestspiele.de - Berliner Festspiele
für alle drei hier vertretenen Theater-Szenen           grafien und fordern die „Älteren“ in der Diskus-
         leistbar gewesen wären. Dabei durfte nicht ent-         sionsrunde, dass es eine Freude ist.
         scheidend sein, ob die eine oder andere Gruppe
         über bessere Sachmittel, eine professionellere          Die Jury beobachtet eine sich in vielerlei Hinsicht
         Infrastruktur oder unvergleichbar mehr Proben-          verändernde Jugend-Theaterszene. Veränderun-
         zeit verfügte. Die Jury stellte sich immer wieder       gen in den Bedingungen, wie derzeit an den
         die Frage, ob die Qualitäten, die mit einer gege-       Schulen zu erleben, und Veränderungen in den
         benen Spielweise und Inszenierungsform er-              künstlerischen Formen und darstellerischen For-
         reicht wurden, unter den Arbeitsbedingungen             maten. Darüber möchte sie gerne mit anderen
         eines Jugendclubs wie unter den Bedingungen             Fachleuten und mit den eingeladenen Jugendli-
         einer Schule oder denen einer freien Gruppe             chen diskutieren. Der Fokus des Forumspro-
         möglich gewesen wären. Unter diesem Aspekt              gramms „Die Bedingungen rund ums Jugend-
         weisen viele Inszenierungen interessante An-            theater sind im Wandel…“ wird dazu ebenso
         sätze auf, wie es möglich ist, an die Dinge neu         Gelegenheit geben wie die Begegnungen in den
         heranzugehen, indem beispielsweise Formen               Impuls- und Intensiv-Workshops oder den Auf-
         des Recherchetheaters oder des performativen            führungsgesprächen für Theatermacher.
         Theaters angewandt oder Textvorlagen in post-
         dramatischen Dramaturgien tatsächlich vom               Gerade in Zeiten der Bedingungswechsel braucht
         Ensemble anverwandelt werden.                           es den Mut, die Dinge anders, neu anzugehen.
                                                                 Solchen Mut dokumentiert die diesjährige Auswahl
         Sicherlich ist es eine komplexe Aufgabe, die Ver-       sicherlich. Gleichzeitig mit dem Festival startet
         gleichbarkeit der Formate einzuschätzen. Die            der Wettbewerb für das 35. Theatertreffen der
         neunköpfige Jury setzt sich aus Praktikern mit          Jugend. Möge das diesjährige für viele eine Ermu-
         großem Erfahrungsspektrum in der Theaterar-             tigung sein, dabei eine Rolle zu spielen.
         beit zusammen. Vertreter aus allen Produk-
         tionsfeldern der Szene reden hier mit, mancher
         kennt die Schulszene so gut wie die Arbeitsbe-          Martin Frank
         dingungen der freien Szene oder die des profes-         Juryvorsitzender
         sionellen Theaters. Unsere Jungjuroren verfügen
         beide bereits über eindrucksvolle Theaterbio-

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Theatertreffen der Jugend

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Almost Lovers – ein Theater Mobil-Projekt
         Junges Schauspielhaus Düsseldorf

         Freitag, 24. Mai 2013, 20:00 Uhr                      Das Ensemble über sich und die Produktion

         Es spielen: Philipp Brand, Sebastian Czwordon,        Theater Mobil macht sich auf die Suche
         Ali Dilekci, Islam Dulatov, Tamik Dulatov,            nach der Wirklichkeit und geht dahin,
         Dennis Duszczak, Taleb-El-Haf, Kevin Galla,
                                                               wo sonst kein Theater hinkommt. Mit
         Maximilian Gängel, Astrit Muharemi,
         Mohammad Sawalha, Leon Wegener,                       dem Theater Mobil – einem Wohnwagen
         Hana Zunic (Mädchen im Video)                         – sind Künstlerinnen und Künstler im
                                                               Auftrag des Jungen Schauspielhauses
                                                               in der Stadt unterwegs. Sie verlassen
         Regie: Ines Habich                                    das Theater und recherchieren vor Ort
         Ausstattung: Miriam Chouaib
         Choreografie: Corey Action
                                                               zu aktuellen gesellschaftlichen Themen.
         Video: Sami Bill                                      Dann kehren sie mit den interessierten
         Dramaturgie und Theaterpädagogik:                     Jugendlichen ins Theater zurück und
         Dorle Trachternach                                    entwickeln aus dem gesammelten Ma-
                                                               terial eine Produktion für die Bühne.
         Regieassistenz: Bente Loubier, Wera Mahne
         Assistenz des Choreografen: Aldo da Silva
                                                               In einem Projekt wie „Almost Lovers“
         Kostümassistenz: Riet Desoete                         gibt es vor Beginn der Proben kein Stück.
         Ausstattungshospitanz: Tatjana von der Beek           Es gibt auch keine Teilnehmer, die sich
                                                               zu diesem Projekt anmelden. Erst einmal
                                                               gibt es einen Wohnwagen und ein Künst-
                                                               lerteam, das sich auf die Suche nach
                                                               Jugendlichen macht. Die meisten von
                                                               ihnen haben freiwillig noch kein Theater
                                                               von innen gesehen. Alles, was das Team
                                                               im September 2012 im Gepäck hatte,
                                                               waren Neugierde und viele Fragen zu
                                                               männlichen Rollenvorbildern, Klischees,
                                                               Wünschen und Träumen.

                                                               Für „Almost Lovers“ gingen wir zu-
                                                               nächst dorthin, wo man der Klischees
                                                               halber junge Männer vermutet. Dort,
                                                               in Boxclubs, auf der Kaartbahn und am
                                                               Stadion von Fortuna Düsseldorf, wurde
                                                               mit unserem Wohnwagen eine mobile
                                                               Station etabliert, wo wir viele verschie-
                                                               dene Jungs und junge Männer kennen
                                                               lernten und über persönliche, kulturelle,

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soziale und politische Themen ins Ge-           unbedingt etwas Gutes. Unsere Realität
         spräch kamen. Einige fingen Feuer und           ist nicht immer gut. Aber wir können
         kamen mit uns. Das Wichtigste ist, die          durch unsere Fantasie aus ihr heraus.
         richtige Mannschaft zusammenzustel-             Das ist das, was diese Gruppe verbindet,
         len. Experten aus allen möglichen Be-           ob wir nun 12 oder 22 Jahre alt sind, und
         reichen zu finden. Der Fußballfanatiker,        egal woher wir kommen. Wir sehen einen
         der Boxer, der Paintballspieler, der Mäd-       Querschnitt der männlichen Gesell-
         chenschwarm. Einen aus der Hochhaus-            schaft, Jungs und junge Männer zwischen
         siedlung und einen aus dem Einfamilien-         12 und 22 Jahren. Es ist weder ein Stück
         haus. Man muss alle ernst nehmen. Und           von und über Jungs aus der Vorstadt
         dann muss man einfach genau zuhö-               noch ein Stück mit Gymnasiasten.
         ren. Was erzählt uns der Einzelne? Und          Die große Qualität unserer Produktion
         wenn du einen riesigen Haufen einzel-           ist der Querschnitt, den wir zeigen.
         ner Geschichten, Schicksale, Biografien         Es sind alle dabei. Unsere Gesellschaft.
         hast, dann beginnt die Arbeit erst. Du          Unsere Jungs.
         spürst auch, welche Geschichten sich
         wiederholen. Welche Themen häufen
         sich? Der Vater zum Beispiel hat bei al-
         len eine riesige Bedeutung. Und diese
         komischen Allmachtsfantasien, ein Su-
         perheld zu sein, wenn man sich gerade
         aber eigentlich ganz klein und ohn-
         mächtig fühlt, die kannten alle, und
         das war wichtig zu zeigen.

         Über Jungs wird eher negativ berichtet,
         im Zweifelsfall in Zusammenhang mit
         Straftaten, Schulschwänzereien, schlech-
         ten Noten, Aggression. Mädchen schei-
         nen irgendwie in allem besser zu sein.
         Die Gesellschaft fragt heutzutage nicht
         ab, ob man gut im Boxen ist. Das ist ein
         Hobby. Aber es ist trotzdem wichtig zu
         wissen, dass Jungs darin gut sein können
         und was das alles bedeutet. Was wir in
         „Almost Lovers“ beschreiben wollen:
         Wir können raus aus unserer Realität,
         weil wir träumen können, und das ist

                                           Theatertreffen der Jugend

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Die Jury zur Auswahl – von Ulrike Hatzer

         Die Sache läuft schon, wenn         Das Frauenbild ist zwiespältig,       dass man da über Kondomkauf
         wir, das Publikum, dazu kom-        liegt irgendwo zwischen Mutter        und dessen Peinlichkeit reden
         men. Umkleidekabine, Fitness-       und Puppe, ist idealisiert, wenn      muss. Die Choreografien oder
         studio, Geruch nach Schweiß         es freilich ans Eingemachte           die Anmache übers Mikro zeigen
         und Tränen (oder Theaternebel?)     geht, wird es schwierig. Wie          unmissverständlich die Dis-
         liegt in der Luft. Hier ist Kraft   schreibt man einen Brief? Wie         tanz der Spieler zur eigenen Un-
         am Start, und Technik, Trauer,      redet man über Liebe? Tut man         beholfenheit. Sie können über
         Träume und Humor.                   das überhaupt?                        sich selbst lachen. Über Themen
                                                                                   wie Altern kann man dagegen
         „Almost“ heißt „fast“, nicht        Dann doch lieber in die Welt          nicht reden: „Scheiß Thema“.
         „ganz“. Es heißt auch: Da fehlt     des Fans von Fortuna Düssel-
         noch was. Wenn man fragt,           dorf. Da kann man sich bewei-         Reden wir lieber über Geld.
         was da noch fehlt, stellt man       sen, lärmen, drohen, Feindbil-        Wenn man nur welches hätte.
         schnell fest, dass das Stück        der schüren, aber auch übers          Was wäre wenn? Wenn der
         auch „Almost Sons“, „Almost         Ziel hinausschießen bis hin zur       Traum von 100.000 € wahr
         Winners“ oder „Almost Heroes“       Verhaftung. Da hat man dann           würde? Ja dann ... mehr wird
         heißen könnte. Es fehlen die        Zeit, sich mit seiner Zelle ausein-   nicht verraten.
         Väter, die Zukunftsaussichten,      anderzusetzen. Da kommen dann
         die Möglichkeiten zu zeigen,        die Ideen von Kampf und Krieg.        In „Almost Lovers“ vom Jungen
         was man kann, zu welchen            Aber wofür? Für die Freiheit?         Schauspiel Düsseldorf kommen
         Größen man aufsteigen könn-                                               alle Ängste und Nöte von Jungs
         te, wenn, ja wenn nicht immer       Die Erwachsenen sprechen              zur Sprache, alle Träume und
         alles nur „fast“ wäre: Fast ein     über Projektionen zu den Jungs,       Hoffnungen. Sie sind nicht
         zu Hause, fast eine Kindheit,       sind real zunächst nicht exis-        mehr Junge und noch nicht
         fast eine Zukunft.                  tent. Dann aber doch ein un-          Mann, noch nicht Liebhaber,
                                             glaublich berührender Monolog         Ehemann, Steuerzahler. Sie be-
         Man wäre so gerne ein Held.         des Sohnes an der Hand des            mühen sich und meistens reicht
         Papa lebt es ja vor, er erwartet    Vaters über dessen permanen-          es nur fast, nicht ganz, im wah-
         es von „Fast-schon“. Mit tapfe-     te Abwesenheit in Notlagen.           ren Leben, über das sie erzäh-
         rem Kampf mit Kraft und Mut         Mit wem spricht der Sohn da?          len, singen und tanzen. Auf der
         lässt sich die Welt bezwingen.                                            Bühne aber verschwindet das
         Nur keine Schwäche zeigen.          Und dann das leidige Thema            „fast“. Da sind sie nicht mehr
         Und so töten sie Drachen und        Weggehen, Disko, Party. Wo            „almost“, da sind sie „ganz und
         kämpfen um alles. Klar nur auf      sonst kann man sich bewäh-            gar“: überzeugend, berührend,
         der Bühne, aber „fast“ wie im       ren? Mit herrlicher Selbstironie      ironisch und durch und durch
         richtigen Leben.                    kommt aber auch zur Sprache,          ehrlich. Ein Genuss.

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Theatertreffen der Jugend

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Parallele Welten – Die Insel
         Ensemble Parallele Welten I – Theater Bielefeld

         Samstag, 25. Mai 2013, 20:00 Uhr                        Das Ensemble über sich und die Produktion

         Es spielen: Simon Belte, Patrick Dietrich,              Mit der Projektreihe „Parallele Welten“
         Onur Erkus, Merissa Ferati, Jamila Hutchinson,          wollte das Theater Bielefeld der Perspek-
         David Kasprowski, Lena Köppen, Delia Kornelsen,
                                                                 tive von Menschen, die im Zwiespalt
         Karolin Kronauer, Malice Mulijiji, Gaye Mutluay,
         Demokrat Ramadani, Liridone Ramadani,                   zwischen unterschiedlichen Werten und
         Natalia Schiano, Christin Schneider                     Traditionen leben, eine Bühne bieten.
         Band: ­Romina Wend, Patrick Düwell, Lucas Kluge         Die Schreib- und Theaterwerkstatt für
                                                                 Jugendliche mit Migrationsgeschichte
                                                                 bzw. islamischen Wurzeln hat die Reihe
         Regie und Ausstattung: Canip Gündogdu
         Dramaturgie: Martina Breinlinger
                                                                 eröffnet. Die Leitung der Schreibwerk-
         Schreibwerkstatt: Nuran David Calis                     statt übernahm der in Bielefeld aufge-
         Choreografie: Simon Wiersma                             wachsene Autor und Regisseur Nuran
         Grafik/Video: Alparslan Kale                            David Calis, dessen Eltern aus der Türkei
         Musikalische Leitung: Ramona Kozma                      stammen. Regie und theaterpädagogi-
         Ko-Regie: Cornelia Rössler
                                                                 sche Begleitung übernahm Canip Gün-
         Regiehospitanz: Anna Plätke
         Bühnenbildassistenz: Laura Hohnerkamp
                                                                 dogdu; auch seine Eltern stammen aus
                                                                 der Türkei, er ist in Castrop Rauxel auf-
                                                                 gewachsen und lebt in Bielefeld. Martina
                                                                 Breinlinger, seit 2006 als Theaterpäda-
                                                                 gogin am Haus, begleitete das Projekt
                                                                 als Dramaturgin/Projektleiterin.

                                                                 Ausgeschrieben war das Projekt für
                                                                 Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren,
                                                                 die in Brackwede wohnen (einem Stadt-
                                                                 teil mit hohem türkischem Bevölkerungs-
                                                                 anteil) oder die Freunde oder Verwandte
                                                                 im Ausland haben. Bei der­­Teilnehmerak-
                                                                 quise half der Student Demokrat Rama-
                                                                 dani mit seiner schulübergreifenden
                                                                 Theatergruppe und Canip Gündogdu,
                                                                 der viele Gespräche mit Eltern und Part-
                                                                 nern von Interessenten führte, wenn es
                                                                 Unsicherheiten auch auf Grund von
                                                                 Sprachproblemen gab. Über ein Brack-
                                                                 weder Jugendzentrum fand sich eine
                                                                 Band, die Lust hatte, die Inszenierung
                                                                 mit Livemusik zu begleiten. So entstand

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ein heterogenes Ensemble aus Schüler/           eine kollektive Autorenschaft zu etablie-
         -innen, Auszubildenden und einem                ren und Schutz für biografisches Mate-
         Studenten im Alter von 12 bis 24 Jahren:        rial zu bieten. Der Regisseur war schon
         ein Drittel der Leute hat keine Migra-­         während der gesamten Schreibphase
         tionsgeschichte und längst nicht alle           anwesend. Er machte szenische Experi-
         sind (gläubige) Muslime.                        mente und klopfte die Schreibergeb-
                                                         nisse auf ihre Bühnentauglichkeit ab.
         In der Spielzeit 2011/12 wurde nun eine         Der Autor versuchte, das Anliegen der
         Stückvorlage entwickelt, die nach der           Gruppe zu erfassen und stellte fest,
         Sommerpause mit derselben Gruppe in-            dass die kulturelle Kluft zwischen Eltern-
         szeniert und im Theater Bielefeld auf-          haus und neuer Heimat für die Teilneh-
         geführt wurde. Autor Nuran Calis                menden nicht so ein zentrales Thema
         schwebte der Arbeitstitel „Revolution“          war, wie für ihn in seiner Jugend. Das
         vor. Er war an allem interessiert, was          Verhältnis zu den Eltern schien weniger
         einen arabischen Frühling in Ostwest-           vom Drang nach Revolte als vielmehr
         falen aufscheinen lassen könnte. Canip          von Herzlichkeit und Loyalität geprägt.
         Gündogdu wollte die Schwierigkeiten             Er schlug vor, das Setting ins Internet zu
         darstellen, die immer noch mit dem              verlegen und das Medium als zusätzliches
         Aufwachsen als Kind von Einwanderern            Thema zu setzen. Außerdem bat er um
         verbunden sind, und das Verbindende −           fiktive Texte von Lebensmüden. Jetzt
         die Unschuld/Vitalität der Teilnehmen-          entstanden mehr als zuvor auch Texte
         den − betonen. Martina Breinlinger in-          zu eigenen Konflikten und schmerzli-
         teressierte das Geschlechterverhältnis          chen Erfahrungen.
         und die Einschätzung der Jugendlichen,
         ob ihr Funktionieren in parallelen Sys-         Bei der Bearbeitung des Materials woll-
         temen nach dem Schulabschluss/der               te Nuran David Calis nicht die Hetero-
         Partnerwahl weiter funktionieren kann           genität des Schreiberchores glätten
         und mit welchen Hoffnungen oder Sorgen          und verzichtete gänzlich darauf, Verän-
         sie diesen Ereignissen entgegen sehen.          derungen innerhalb einzelner Textfrag-
                                                         mente vorzunehmen und sich als Mit-
         Bei den monatlichen Schreibwerkstät-            autor des Stückes zu definieren. Er
         ten wurde gespielt und improvisiert; es         stellte aus den vorhandenen Texten und
         entstanden Stellungnahmen zu Themen             einigen verbindenden/strukturierenden
         wie Herkunft, Helden, Geschlechterrolle,        Zusätzen ein recht umfangreiches Ar-
         Anforderungen des Elternhauses, Ver-            beitsbuch zum Ende der Spielzeit zu-
         hältnis zum „Deutschen“, Lieblingsorten         sammen. Nach vielen Streichungen und
         sowie assoziative Texte zu Bildern. Die         dem Zusatz von biografischem Material
         Texte wurden anonym abgegeben, um               aus der Anfangsphase des Projektes sowie

                                           Theatertreffen der Jugend

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Sequenzen aus den Improvisationen
         und nachdem der Regisseur allen die
         Möglichkeit gegeben hatte, Passagen
         für sich, bzw. für die eigene Figur zu
         reklamieren und hinzuzufügen, ent-
         standen aus „geposteten“ Statements
         so etwas ähnliches wie 15 Figuren.

         Am Ende der Sommerferien begannen
         die Proben mit einer viertägigen Intensiv-
         phase, es folgten wöchentliche Proben,
         zwei Probenwochenenden, zwei Proben-
         wochen in den Herbstferien und eine
         Woche Endproben. Ramona Kozma kam
         als musikalische Leiterin hinzu, der Gra-
         fiker Alparslan Kale debattierte seine
         Videoprojektionen mit der Gruppe, der
         Tänzer Simon Wiersma machte die Cho-
         reografie und Kiki Rössler stieß als Ko-
         regisseurin dazu. Aufgeführte wurde das
         Stück am 17., 18. und 19. November 2012
         im Theater am Alten Markt vor jeweils
         300 Zuschauern. Für die Wiederaufnahme
         im Rahmen des Theatertreffens der Ju-
         gend müssen drei Darstellerinnen ersetzt
         werden, die sich im Auslandsjahr befinden
         bzw. auf Grund von Abiturprüfungen nicht
         zur Verfügung stehen können. Die Der-
         niere ist für den 10. Juni 2013 im Rahmen
         der Schultheaterwoche geplant.

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Die Jury zur Auswahl – von Sebastian Stolz

         Weiß ist die hellste unbunte        bestückt mit nur einem roten        passt zu wem? Welche Kombi-
         Farbe. Weiß ist physikalisch ge-    Detail. Rot erinnert an Blut, wie   nation zieht sich an, stößt sich
         sehen keine eigene Farbe, son-      Weiß an Nichts. Ein kleines ver-    ab? Individualisieren oder ver-
         dern entsteht durch die Überla-     letzliches Detail, ein Schluck      einheitlichen? Skype, Face-
         gerung aller Spektren des           Lebensdurst will sich seinen        book, Youporn & Co. Sie neh-
         Lichts. Weiß ist somit die „Sum-    Weg in eine leere, noch unbe-       men sich den virtuellen Raum
         me aller Farben“...                 schriebene Welt bahnen.             und hoffen auf Freiheit, auf
                                                                                 eine Spielwiese. Wieder unter-
         Weiß. Es ist weiß da draußen,       Eine weiße Spielerwand beginnt      bricht die Stimme aus dem Off,
         die Winterlandschaft glänzt         von der Rampe chorisch zu er-       es ist Anonymus: „ … ich habe
         von Ost nach West. Die Reise        zählen, von ihren Vorfahren         keine Freunde ...“, der Rest ver-
         geht nach Bielefeld. Angekom-       und deren Reise nach Deutsch-       bündet sich und spielt los. Sky-
         men. Es beginnt der Einlass mit     land aber auch von Verwand-         pen mit der Familie im Ausland.
         einer kleinen Band und melan-       ten in anderen Ländern. Ameri-      Das Netz überbrückt Distanzen
         cholischen     Gitarrenklängen.     ka, Schweden, Gran Canaria,         und macht uns alle zu einer
         Weiß. Die weißen Gartenstühle,      Kaukasus, Deutschland, Ex-Ju-       globalen Familie. Der nächste
         auf die wir uns setzen, knacken     goslawien, Russland, Kosovo,        Stuhl bricht. Anonymous ver-
         nach kurzer Zeit. Hin und wie-      Schweiz, Ostdeutschland. „Wir       kündet seine Selbstmordab-
         der sackt ein Zuschauer ab,         kommen zwar alle von hierher        sichten, es verbleibt nur eine
         reißt es uns schon jetzt vom        aber ich glaube es zieht uns in     Stunde zum Handeln. Die an-
         Hocker? Weiß. Der weiße Raum        die Ferne.“, sagt ein Mädchen.      deren User der Insel diskutieren
         mit von der Art sich unter-         Die Spieler verschwinden. Fe-       im Chat, Ersatz oder Evolution.
         scheidenden,     aber    weißen     dern fallen. Eine Stimme aus        Die Uhr tickt und plötzlich
         Stühlen wirkt steril, unschuldig    dem Off erklingt, sie klingt        droht das Netz ein Raum zu
         und ruft nach Geschichten. Im       traurig, erzählt vom Fliegen.       werden, in dem der Handlungs-
         Nebenraum ein Ensemble-             Egal. Die Insel ist erreicht und    spielraum eingeschränkt ist,
         kampfschrei, dann treten sie        alle sind im Chat. Nullen und       Anonymus scheinbar uner-
         herein. Weiß. Die Spieler in wei-   Einsen sortieren das Netz, die      reichbar, sein Selbstmord un-
         ßen Kleidern und Anzügen,           Musik schrammelt los. Wer           aufhaltsam. Anonymus „sucks“

                                                    Theatertreffen der Jugend

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und die Spieler tanzen und sin-     „Deutsche sind …“, ich habe          lust kann man sich nicht ent-
         gen mit ihrer Lebensfreude ge-      keine Ahnung was deutsch ist.        ziehen. Gelüste und Sehnsüch-
         gen Anonymus´ „shitstorm“ an.       Das Ensemble verrät es mir und       te brechen heraus, um wirklich
         Dennoch bröckelt die „Happy         rappte vom Sauerkraut. Die Iro-      zu leben musst du in eine paral-
         World“, Anonymus fordert Rei-       nie erreicht mich. Die Figuren       lele Welt, in die Vergangenheit
         bung, eine Haltung, Wahrheit        suchen nach Identität, ihrer         oder einfach an die frische
         und Geständnisse. Es wird sich      Identität. Was ist mitzuneh-         Luft. Dort herrscht Sommer
         geouted, diskutiert über Religi-    men aus der einen und der an-        und die kosovarischen Kühe
         on, die große reine Liebe – es      deren Welt? Ich frage mich           stehen friedlich auf dem Berg.
         wird existenziell. Das Ensemble     nach meinen parallelen Wel-          Anonymus bleibt unbeeindruckt,
         spielt, singt und bewegt sich       ten, bin ich echt deutsch, auch      die letzten 10 Minuten ticken.
         mit einer beeindruckenden           wenn ich seit Monaten kein           Es bleibt die Entscheidung für
         Souveränität und Durchlässig-       Sauerkraut auf dem Teller hat-       die eine oder die andere Welt
         keit. Sie nutzen eine einfache      te? Bin ich schon integriert,        oder eben nur unsere Träume.
         aber wirksame Theatralik. Der       nach 24 Jahren Mauerfall. Ich        Musik, Vollgas, Endspurt, dann
         ernste Ton wird mit leiden-         esse lieber asiatisch als deut-      Stille. Anonymus hat sich aus-
         schaftlichen      Musikeinsätzen    sche Hausmannskost, habe ich         geloggt oder ausgeknockt?
         und viel Humor gebrochen,           mich damit aus kulturellen           Mein Stuhl hält, genau wie die-
         mündet in simpler Poesie, die       Kontexten segregiert? Noch 20        ses so sympathische und kräf-
         Gitarre leicht gezupft und ver-     Minuten und Anonymus wird            tige Ensemble: „Hallo Welt, ich
         träumt. „Du musst Spuren in         sterben. Religionen verschmel-       bin Du und Du bist ich …“
         der Welt hinterlassen“, das ist     zen und es riecht nach gegrill-
         anstrengend, wie der Spagat         tem Steak; jedenfalls glaube
         zwischen zwei Welten, den par-      ich es mir einzubilden. Tatsäch-
         allelen Welten. Mein Stuhl          lich, ein Grill erobert die Bühne.
         knackt, er droht zu brechen.        Es gibt Buletten. Essen im Netz,
         Die Anonymen Ausländer reiten       eine schöne Zukunftsvision.
         auf Klischees, zerspielen sie       Wieder prallen Geschichten auf
         und füllen das Integrationspaket.   Anonymus, der Spiel- und Erzähl-

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Theatertreffen der Jugend

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hell erzählen
         Freie Jugendtheatergruppe Hellersdorf des Theater o.N.,
         Berlin
         Sonntag, 26. Mai 2013, 20:00 Uhr                       Das Ensemble über sich und die Produktion

         Es spielen: Nathalie-Michelle Bremer,                  „Ich stehe auf, gehe ins Bad, seh’ in den
         René Bresinski, Paul Figur, Paul-Justin Forche,        Spiegel Erkenne Needy und weiß ganz
         Stefan Huras, Jass Köhler, Lara Maier,
                                                                genau, dass dies ein beschissener Tag
         Melisa Munack, Pia Ziehe
                                                                werden wird mit all dem Wahnsinn, der
                                                                ständig in meiner Welt geschieht…Ich
         Regie: Cindy Ehrlichmann                               schlucke meine Gefühle herunter, über-
         Dramaturgie: Dagmar Domrös                             schminke meine Angst, schlüpfe in mei-
         Ausstattung: Martina Schulle                           ne Uniform und mache gute Miene zum
         Musik: Gerhard Schmitt, Minas Suluyan
         Choreografie: Mandy Pfennig
                                                                bösen Spiel. Dann gehe ich hinaus in
         Stimmbildung: Caroline Intrup                          meine farblose Welt voller Pappaufsteller,
                                                                in der sich immer nur dieselbe Scheiße
                                                                abspielt. Schule, chillen, Therapiestun-
                                                                den, Familienbesuche. Doch bevor ich
                                                                losgehe, werfe ich Needy noch einen
                                                                verächtlichen Blick zu, denn ich weiß,
                                                                sie ist nicht ich!“ (Jass, 15 Jahre)

                                                                Etwas muss sich ändern. Etwas wird
                                                                sich ändern! Wir sind 8 Hellersdorfer
                                                                Jugendliche zwischen 11 und 15 Jahren,
                                                                die dieses Theaterstück über Alltag und
                                                                Aufbruch geschrieben und erprobt ha-
                                                                ben. Wir haben uns damit beschäftigt,
                                                                was es bedeuten kann, ein „Held“ oder
                                                                eine „Heldin“ zu sein. Wir stellten fest,
                                                                dass es auch sehr heldenhaft sein kann,
                                                                in seinem Alltag eine Veränderung, und
                                                                sei sie noch so klein, zu wagen. Dann
                                                                beschäftigten wir uns mit unserem Alltag
                                                                und mit Veränderungen, die in diesem
                                                                stattfanden oder stattfinden könnten.

                                                                Es gab eine Zeit, in der war uns nicht
                                                                klar, dass „hell erzählen“ so viele Men-
                                                                schen erreichen wird. Zu Beginn unserer
                                                                Arbeit waren wir ein paar einzelne Per-
                                                                sonen und es war sehr schwer, andere

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Jugendliche in Hellersdorf zu finden, die         bestätigt, dass es gut und wichtig ist,
         sich auch für Theater interessieren. Wir          unsere Stimmen in die Welt zu tragen.
         haben in unseren Schulen, Freundeskrei-
         sen und Wohngruppen davon erzählt                 Über den Kiezrand hinaus – Das Theater o.N.
         und viele Flyer verteilt. Es dauerte Monate
         bis wir eine richtige Gruppe wurden und           „hell erzählen“ ist das zweite Theater-
         mit der Stückentwicklung konkret be-              projekt des Theater o.N. von und mit
         ginnen konnten.                                   Jugendlichen aus Berlin-Hellersdorf. Im
                                                           Juni 2012 wurde „was dann passiert –
         Mit der Premiere von „hell erzählen“ fei-         Dasein und Konsequenzen“ aufgeführt.
         ern wir das Ergebnis von sechs Monaten            Seit 2010 richten wir den Blick über den
         Probenzeit. Wir haben uns im letzten              Kiezrand hinaus und legen einen
         halben Jahr mit einem Team des Thea-              Schwerpunkt unseres Engagements auf
         ter o.N. auf die Theaterarbeit eingelas-          die Theaterarbeit im Bezirk Hellersdorf.
         sen. Wir lasen Texte und philosophier-            Wir, das Theater o.N., arbeiten mit den
         ten, übten aufrecht zu stehen und zu              Jugendlichen auf der Grundlage des
         schauen ohne zu lachen, improvisierten            biografischen Theaters. Wir bringen das
         Szenen. Wir entwickelten Figuren und              Handwerkszeug mit; die jungen Leute
         schrieben Texte. Wir lernten die Texte            nutzen es so, wie es ihnen entspricht:
         auswendig, tanzten, trommelten, näh-              als Ventil, als Sprengstoff, als Gedicht,
         ten, malten und spielten. Anfangs fan-            als Ausrufezeichen.
         den die Proben einmal pro Woche statt,
         in den letzten drei Monaten kamen viele
         Wochenenden dazu. Die Geschichten,
         die wir erzählen, sind unsere Nachricht
         an die Welt. Momentaufnahmen aus un-
         serem Leben und unserer Phantasie.

         „hell erzählen“ haben wir im Theater
         o.N., in Berlin-Hellersdorf, in Hamburg-
         Wilhelmsburg und Dresden-Prohlis auf-
         geführt. Dabei haben wir Jugendliche
         getroffen, denen es ähnlich geht und
         die unter ähnlichen Bedingungen auf-
         wachsen. Sie sagten, dass sie sich in
         den Texten und in den Figuren wieder
         finden können. Diese Begegnungen
         haben uns sehr berührt und darin

                                             Theatertreffen der Jugend

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Die Jury zur Auswahl – von Maike Plath

         „Ich kenn' böse und gute Men-        man am meisten lernen kann.        Voraussetzung dafür ist wohl
         schen. Ich kenn' Ghettos und         Cindy Ehrlichmann, Dagmar          der wahre Mut zum Risiko des
         Nobelviertel. Ich kenn Liebe         Domrös und neun Jugendliche        Scheiterns.
         und Hass.” (Needy)                   aus Hellersdorf haben diesen
                                              Mut. Und harren aus – bis aus      „Heute ist der Tag der Nieder-
         Wie ist es im Stadtteil Hellers-     Widerstand, Zweifel und uner-      lage. Laut sein müssen. Brüllen.
         dorf? – „Vielleicht nicht der        müdlicher Suche dann plötzlich     Den Gesichtern entgegenhal-
         schlimmste Bezirk, aber schon        ein künstlerisches Statement       ten, dass man gleich keine Lust
         Ghetto - dezent asozial halt.”       wird.                              mehr auf die Probe hat. „Reiß
         (Jass, 15 Jahre)                                                        dich zusammen!”, „Konzentrier
                                              „hell erzählen” ist ein kleines    dich!”, „Lass das!” Wann habe
         Kulturelle Bildung ist ein Muss.     Wunder. Oder ein großes. Weil      ich diesen Feldwebelkurs ge-
         „In Deutschland wachsen fast         neun Jugendliche aus Hellers-      macht? Jetzt bekommen die
         vier Millionen Kinder unter 18       dorf sich auf eine Welt einlas-    Jugendlichen, was sie kennen:
         Jahren, also mehr als ein Vier-      sen, die ihnen vollkommen          Eine überforderte Erwachsene,
         tel dieser Altersgruppe, in min-     fremd ist, weil sie ihre Skepsis   die sie anbrüllt und ihnen im
         destens einer sozialen, finanzi-     und ihre Ängste überwinden         Minutentakt rückmeldet, was
         ellen oder kulturellen Risikolage    und Vertrauen fassen in eine       sie alles nicht können. Das galt
         auf, die ihre Bildungschancen        kleine Gruppe von Künstler/-in-    es doch zu vermeiden. Das war
         schmälert.” (Annette Schavan, frü-   nen, die ihnen einen Weg durch     doch meine Mission.”
         here Bundesbildungsministerin).      das Gestrüpp der alltäglichen
                                              Katastrophen weisen – und          Das schreibt Cindy Ehrlich-
         Der Regisseur René Pollesch hat      zwar ausschließlich über die       mann in aller Offenheit über
         in seinem letzten Stück Brecht       Mittel der Kunst.                  die Momente des Zweifelns im
         zitiert: Dass man am Ort der                                            Prozess. Umgekehrt wird es die
         Niederlage bleiben soll, weil        Hier soll niemandem „geholfen”,    Jugendlichen aus Hellersdorf
         man da was lernen kann. Und          niemand therapiert werden. Das     irritiert haben, dass „Theater”
         dass man sich hüten soll vor         Ziel der gemeinsamen Arbeit ist    nicht immer das war, was sie
         dem Ruhm. Denn der sei der Nie-      ein künstlerisches Produkt −       sich unter „Theater” vorgestellt
         dergang, der Anfang vom Ende.        nicht mehr und nicht weniger.      hatten. Vielleicht auch, dass
                                                                                 diese Arbeit ihnen mehr abver-
         Es gibt nicht viele unter uns, die   Was passiert, wenn sich beide      langte, als sie zunächst bereit
         den Mut haben, am Ort der            Seiten auf einen künstlerischen    waren zu geben. Disziplin, Zu-
         Niederlage zu bleiben. Dort, wo      Prozess einlassen? Die erste       verlässigkeit,    Konzentration

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und oft auch Arbeitsweisen, die    „Jugendlichen aus Hellersdorf”     Orte führen, die wir kennen.
         ihnen gänzlich fremd erschie-      und „Das sind die komischen        Und die uns berühren. Alles,
         nen und die in ihnen deshalb       Künstler aus Prenzlauer Berg”      was wir in „hell erzählen” auf
         zunächst Widerstände erzeug-       ist eine beiderseitige Verwun-     der Bühne sehen, wirkt zutiefst
         ten. Wir alle neigen schließlich   derung über die mögliche Nähe      persönlich und gleichzeitig all-
         dazu, das Fremde zunächst ein-     geworden. Über die Möglich-        gemeingültig. Wir erfahren
         mal skeptisch zu betrachten...     keit, etwas anderes zu sehen,      nicht nur etwas über diese Kin-
                                            als das vermeintlich Offen-        der, sondern vor allem etwas
         Warum aber sind diese Jugend-      sichtliche. Eine Verwunderung      über uns selbst und den gesell-
         lichen den Weg bis zur Premie-     über die Erkenntnis, dass so-      schaftlichen Zustand, in dem
         re, bis zum herzklopfenden         wohl die „komischen Künstler”      wir leben. „hell erzählen” ist damit
         „Sich-Zeigen” vor Publikum ge-     als auch die „Hellersdorfer        in seiner kleinen, leisen Privat-
         gangen? Wie ist es ihnen gelun-    Kids” einander tatsächlich in      heit großes politisches Theater.
         gen, ein Theaterstück zu entwi-    gleichen Teilen etwas geben
         ckeln, das seine eigenen,          können, das beiden Seiten vor-
         künstlerischen Mittel in direk-    her für ihr „Weltbild” – für ihr
         tem, persönlichen Austausch        Verständnis von Welt − gefehlt
         miteinander ertastet und mit       hat. Über den Widerstand, den
         der daraus resultierenden Aus-     Zweifel und das vorsichtige,
         drucksstärke und persönlichen      aber unermüdliche „Sich-Ein-
         Unmittelbarkeit den direkten       lassen” auf das Fremde, fand
         Weg zum Zuschauer findet?          jede und jeder in dieser Gruppe
         Cindy Ehrlichmann schreibt:        am Ende zu sich selbst und
         „Die Jugendlichen, mit denen       gleichzeitig zum Ganzen − zu
         wir arbeiten, sind einzigartig,    ihrer Geschichte.
         stark, mutig und unmittelbar.
         Sie sind Überlebenskämpfer.”       Genau das vermittelt sich dem
         Offensichtlich hat hier eine Be-   Zuschauer in „hell erzählen”
         gegnung statt gefunden, die es     auf leisen Sohlen und mit voller
         allen Beteiligten ermöglicht       Wucht. Wir sehen selbstbe-
         hat, sich über Gefühle der         wusste, junge Menschen, die
         Fremdheit und der bloßen Zu-       uns klar in die Augen schauen
         schreibungen hinweg zu set-        und sagen: „Das bin ich”, und
         zen. Aus: „Das sind die            die uns an innere und äußere

                                                   Theatertreffen der Jugend

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Theatertreffen der Jugend

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Lochland
         poco*mania, Theatergruppe Käthe-Kollwitz-Gesamtschule,
         Grevenbroich
         Montag, 27. Mai 2013, 20:00 Uhr                      Das Ensemble über sich und die Produktion

         Es spielen: Elisabeth Riahi Dehkordi, Deborah        „Unser Dorf war irgendwann weg, ein-
         Habicht, Tasha Helten, Oliver Hilden, Roxana         fach verschwunden, von einem Tag auf
         Hünnekens, Maxi Jatzkowski, Kamilla Anna
                                                              den anderen, mir nichts, dir nichts auf
         Kleiner, Tom Radermacher, Marco Schichtel,
         Monique Schubert, Jasmin Schulz                      und davon, wie aus heiterem Himmel…
                                                              Viele – auch ich – haben noch lange da-
                                                              nach gesucht, aber es war und blieb
         Regieteam: Axel Mertens und Ensemble                 verschwunden. Es hatte lediglich die
         Assistentin: Miriam Poppke                           Straßen dagelassen und das alte Strom-
         Technik: Marcel Röber, Mike Peitz,
         Dominik Schotten
                                                              häuschen; die wollten aber nichts sagen
         Videos: Marcel Röber, Klaus Stimpel                  und waren ein bisschen später auch
         Bühne: Klaus Stimpel                                 weg, haben sich aus dem Staub ge-
                                                              macht, im Dunkel der Nacht…
                                                              Na ja, wäre auch traurig gewesen;
                                                              die waren doch vorher auch immer alle
                                                              zusammen…“ (aus: Lochland)

                                                              Lochland gibt es wirklich, liegt mitten
                                                              im Meer von Äckern, schwarz-braune
                                                              Wellen, die so durch’s Land schwappen.
                                                              Und eben da tat sich von einem Tag auf
                                                              den anderen ein Loch auf. Zuerst war
                                                              das Loch ziemlich klein, vielleicht hand-
                                                              tellergroß… Doch dann konnten schon
                                                              bald zwei Männer aufrecht drin stehen!
                                                              Das Loch wurde größer und größer und
                                                              tiefer und tiefer und es dauerte gar nicht
                                                              lange, da fiel eine Straße in das Loch hin-
                                                              ein, einfach so. Dann kippten auch noch
                                                              ein paar Bäume über den Rand… Und
                                                              als sich das Loch den ersten Dörfern nä-
                                                              herte, mussten die Menschen, die dort
                                                              wohnten, ihre Häuser verlassen. Sie be-
                                                              kamen neue Häuser – nur halt woanders.
                                                              Und ihnen wurde gesagt, sie sollten dank-
                                                              bar sein, dass man so gut für sie sorgt…

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Wir erzählen in unserer Eigenproduktion         und es zu immer wieder neu zu kombi-
         „Lochland“ von unserer Heimat, dem              nieren: Kamerafahrten durch alte und
         rheinischen Braunkohletagebaugebiet.            neue Lebenswelten gehen in Fotos von
         Allerdings ging es uns von Anfang an            zerstörten Dörfern auf, Klänge, Geräu-
         nicht so sehr um den klimaschädlichen           sche oder O-Töne kommentieren in der
         CO2-Ausstoß der Kohlekraftwerke, um             Improvisation die sich stetig wandeln-
         die durchaus gesundheitsgefährdenden            den Bildwelten. Doch „Lochland“ hat
         Feinstaubbelastungen oder um die Zer-           nicht nur die Reportage zum Ziel.
         störung einer uralten Kulturlandschaft.         „Lochland“ will auch Kindergeschichte,
         Wir wollten vielmehr von den Menschen           Märchen sein. Denn im Märchen begeg-
         erzählen, deren Dörfer beim großen Ab-          net uns das, was wir zu kennen glauben,
         räumen im Weg sind. Wir gingen zunächst         neu und anders. Im Märchen verliert die
         von unseren eigenen Erfahrungen mit             Region das Regionale. „Lochland“ wird
         dem Tagebau aus. Doch dauerte es nicht          so zum Symptom für eine Gesellschaft,
         lange, da wurde uns klar, dass wir auch         die das Kohlemachen zum Prinzip erhebt.
         andere Menschen zu Wort kommen lassen           Für uns, die wir dort leben, ist „Lochland“
         wollten. Und wir fanden viele Menschen,         aber vor allem ein Abgesang auf abge-
         die uns von ihrem „Lochland“ erzählten;         baggerte Augenblicke, verheizte Erinne-
         davon, wie das Loch gerade alles Leben          rungen und eine Region, die schon lan-
         aus ihrem Dorf saugt oder davon, wie            ge mit der Gewissheit leben muss, dass
         es sich lebt in einem umgesiedelten Ort         außer einem Loch nichts bleiben wird.
         ohne Geschichte und Geschichten und
         mit dem Wissen, dass dort nichts mehr           Unser Ensemble, bietet Schüler/-innen
         ist, wo einst Zuhause war. Bei diesen           der Jahrgänge 10 bis 13 sowie Ehemali-
         Gelegenheiten nahmen wir O-Töne auf,            gen die Möglichkeit, in ihrer Freizeit
         machten Kamerafahrten durch alte                Theater zu spielen. Wir möchten uns ei-
         und neue Lebenswelten und verbrachten           ner Öffentlichkeit jenseits der eigenen
         viel Zeit damit, die verlassenen Orte auf       Schule stellen. Darum treten wir auch
         uns wirken zu lassen. Die von der Um-           an anderen Schulen der Region auf und
         siedlung betroffenen Menschen stellten          spielen seit unserer Gründung an freien
         uns Fotos zur Verfügung, öffneten uns           Theatern in Düsseldorf, Dortmund, Köln
         verlassene Häuser, zeigten uns Schleich-        und Mönchengladbach. poco*mania ist
         wege zu den alten und mittlerweile ab-          Kooperationspartner des Aachener
         gesperrten Orten. Vor allem aber schenk-        Netzwerks für humanitäre Hilfe und in-
         ten sie uns viel Offenheit.                     terkulturelle Friedensarbeit e.V. und
                                                         spielte im Rahmen des Friedenstheater-
         Wir begannen, mit dem entstandenen              projekts „Bina Mira“ - Bühne des Friedens
         Ton- und Bildmaterial zu experimentieren        - im Jahr 2012 in Banja Luka/Bosnien.

                                           Theatertreffen der Jugend

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Die Jury zur Auswahl − von Sepp Meißner

         Wenn die Meinungstyrannen            nicht unmittelbar betroffen          entwurzelt und in gleichförmi-
         und Ranking-Junkies aus dem          sind, haben wir schnell ver-         ge Reihenhaus­ siedlungen um-
         bunten deutschen Blätterwald         nünftige Sachzwänge zur Ent-         getopft zu werden, lässt sich
         feststellen, dass deine Heimat-      schuldigung parat. Sobald            nicht vertreiben. Die finanziel-
         stadt die dreckigste des Landes      poco*mania uns aber diese            len Vorteile der Konzerne sind
         ist, dann ist es an der Zeit, sich   perfide Grausamkeit mit der          nicht zu leugnen, Plünderer
         zu wehren. Früher wäre man ja        Harmlosigkeit einer Märchen-         und Gaffertourismus tun ein
         auf die Barrikaden geklettert,       erzählung aus „Lochland“ nä-         Übriges, den Betroffenen die
         hätte sich vor Firmeneingän-         her bringt, erwirken sie tiefe       Würde zu nehmen. Die Aussicht
         gen postiert und alle möglichen      Betroffenheit, decken sie die        auf    renaturierte   blühende
         Schmähparolen skandiert. Die         Boshaftigkeit des realen Han-        Landschaften zum Schwim-
         Verursacher von derlei Schand-       delns bis hin zu dessen Zynis-       men, Segeln oder Kanufahren
         malen mussten gebrandmarkt,          mus schonungslos auf.                klingen da wie blanker Hohn.
         mussten zur Verantwortung
         gebracht werden.                     Ihr Protest ist ein ganz stiller,    Mit einer Vielzahl unterschiedli-
                                              ein unschuldiger, aber ein um        cher theatraler Mittel geht die
         Nichts von alledem lauten Tra-       nichts weniger eindringlicher.       Gruppe zu Werke. Da steht Sa-
         ra führen die Grevenbroicher         Sie wissen sehr wohl, dass sie       tirisches neben derber Komik,
         Jugendlichen von der Käthe-          mit ihren Eltern im Dilemma          Lyrisches neben Plakativem, Vi-
         Kollwitz-Gesamtschule im Sinn.       stecken. Wer hackt schon die         deoeinspielung neben Klangin-
         Sie haben schon viel früher ge-      Hand ab, die einen füttert?          stallation, Puppenspiel neben
         spürt, dass sich in ihrer Heimat     Und dennoch zwingt das un-           personalem Spiel. Auf diese
         Beängstigendes auftut – ein          mittelbare Miterleben zu ver-        Weise erhält jede der 15 Szenen
         Loch nämlich. Und dieses Loch        antwortungsvoller Darstellung        einen, ihr angemessenen Cha-
         wird um der Braunkohle, um           dessen, was die vielfältige Re-      rakter, um schließlich in archa-
         der ach so dringend benötigten       cherche bei den Betroffenen zu       ischer Form das böse Märchen
         Energie willen nach und nach         Tage befördert hat.                  vom Verlust der Heimat zu er-
         Wälder, Felder, Höfe, Häuser,                                             zählen. Damit werfen die Gre-
         Dörfer, Städte, Existenzen ver-      Und so erleben wir einen Bilder-     venbroicher eindringlich grund-
         schlingen, Geschichten vernich-      bogen von rücksichtslosem            sätzliche Fragen nach unserem
         ten. 1000 Jahre altes Kulturland     Vorgehen, von berührenden            Umgang mit Umwelt und uralter
         muss dem Fortschritt weichen.        Verlusten, von stillen Schmer-       Kultur auf.
                                              zen. Da mag sich der Großkon-
         Solange wir von den Großpro-         zern noch so bemühen, das Ge-
         jekten dieser Welt, sei es in Bra-   fühl, über den Tisch gezogen,
         silien, China oder sonst wo,         der Kindheitserinnerungen beraubt,

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Theatertreffen der Jugend

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99 Prozent
         spinaTheater − junges ensemble solingen

         Dienstag, 28. Mai 2013, 20:00 Uhr                      Das Ensemble über sich und die Produktion

         Es spielen: Fabian Bauer, Johannes Berkholz,           Hallo, wir sind das spinaTheater, eine
         Aylin Cam, Caroline Heiner, Lena Mergard, Julia        junge Theatergruppe aus Solingen, die
         Nau, Daphne Sassin, Marie Stute, Dustin Weber
                                                                sich kritisch mit sozialen und politischen
                                                                Fragen auseinandersetzt. Uns gibt es
         Regie: Christoph Stec, Jan-Marco Schmitz               seit 2003 und mit „99 Prozent“ präsen-
         Choreografie: Gabriela Tarcha                          tieren wir euch unser aktuelles Stück.
         Kostüme: Marie Stute                                   Besonders hierbei ist, dass es zum ersten
         Stimmbildung: Corinna Elling-Audersch                  Mal keine künstlerische Leitung gab,
         Empfohlen ab 14 Jahren
                                                                sondern wir ganz in Eigenregie arbeite-
                                                                ten. Die Leitung übernahmen ehemalige
                                                                Darsteller, unter deren Regie das Stück
                                                                geplant und entwickelt wurde. So hatten
                                                                wir am Anfang nichts, außer dem Titel
                                                                „99 Prozent“, dem Thema Demokratie
                                                                und Revolution, dem Willen ein Stück zu
                                                                entwickeln, das den bisherigen Produkti-
                                                                onen des spinaTheaters gerecht wird und
                                                                natürlich der Ambition die Welt zu retten.

                                                                „99 Prozent“ entstand nach dem Leitbild
                                                                demokratischen Theaters, nach dem
                                                                das spinaTheater schon immer funktio-
                                                                nierte. Während der intensiven Proben-
                                                                zeit tauschten wir uns aus, sammelten
                                                                verschiedenstes Material, schrieben ei-
                                                                gene Texte, entwickelten Szenen, setz-
                                                                ten eigene thematische Schwerpunkte.
                                                                Wobei wir nicht selten das Gefühl hat-
                                                                ten, tief durch den Schlamm unserer
                                                                Welt zu kriechen bis dann, kurz vor der
                                                                Premiere und nach einigem Ausprobie-
                                                                ren, Verschieben, Verändern und Raus-
                                                                werfen das Stück seinen vorerst finalen
                                                                Zustand erreichte, wenn man diesen
                                                                bei solch einer Produktion überhaupt
                                                                erreichen kann.

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In „99 Prozent“ beschäftigten wir uns           Doch in vielen Teilen der Welt weht der
         mit Menschen, die jetzt oder in der Ver-        Wind der Veränderung, wird der Schrei
         gangenheit schon ihre Meinung laut              nach Gerechtigkeit und neuen gesell-
         vertraten, aufstanden und zu den Milli-         schaftlichen Strukturen größer, hörbar,
         onen gehörten, die teils unter Einsatz          fassbar. Menschen gehen auf die Stra-
         ihres Lebens, für Demokratie und Frei-          ßen, riskieren blaue Flecken, ihre Freiheit
         heit protestierten. All diese Menschen          oder ihr Leben, um für das zu kämpfen,
         treibt der Wunsch nach Veränderung              was ihnen wichtig ist.
         und die Hoffnung auf eine bessere Zu-
         kunft, in der Geld und Macht nicht einer        „99 Prozent“ ist der Versuch sich per-
         Minderheit, den „1 Prozent“, zufließen          formativ, mit Elementen aus Tanz und
         während sich der Großteil der Bevölke-          Videokunst, der Frage zu nähern, wie
         rung durch Elend zu kämpfen hat. Wir            weit jeder einzelne von uns gehen würde,
         setzen uns mit der herrschenden Unge-           oder was uns Revolutionen am anderen
         rechtigkeit und mit dem zusehends               Ende der Welt überhaupt angehen.
         schwindenden persönlichen Freiraum
         jedes einzelnen auseinander. Wir empö-
         ren uns über eine (scheinbar) unsicht-
         bare Macht, die sich auf die reichsten
         und einflussreichsten unserer Welt kon-
         zentriert und die das Weltgeschehen zu
         lenken scheint – und das nicht zuguns-
         ten der breiten Bevölkerung, sondern
         um Fragen in Politik und Wirtschaft zu
         eigenen Gunsten zu beeinflussen. Und
         wir? Wir schauen zu, wie unser wachs-
         tumssüchtiges Wirtschaftssystem wei-
         ter dafür sorgt, dass die Armen arm
         bleiben und die Reichen immer reicher
         werden. Kriege werden auf den Rücken
         der Ärmsten ausgetragen und andere
         kassieren das Geld für die Waffen, wäh-
         rend die Medien es uns einfach machen
         als teilnahmslose Konsumenten auf
         dem heimischen Sofa zu enden. Ein
         Kreislauf, aus dem wir uns selbst nicht
         herausnehmen können.

                                           Theatertreffen der Jugend

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Die Jury zur Auswahl – von Carmen Waack

         „Schlag zurück! Schlag zurück!    Welt ringsum immer gewalttä-       wir unsere Ärsche hochkriegen
         Schluck's nicht – spuck's aus,    tiger wird, „Hol die Ellenbogen    müssten, um die Welt zu ret-
         schlag zurück!                    raus − Bück dich hoch“, Eine       ten, (Doch dazu sind wir viel zu
         Mit Worten, mit Fäusten, mit      Runde Mitleid in der Mitleid er-   faul!), wie mit der Heckensche-
         Lachen, mit Schreien – Es gibt    regendsten Show Deutschlands       re auf die Schokoregale im Su-
         tausend Wege, finde deinen.“      mit der kleptomanischen Karo       permarkt loszugehen, mit dem
         Früchte des Zorns                 und der mickrigen Marie, ein       Feuerzeug das Öl anzünden,
                                           abgeholzter Wald, tote Küken,      neunundneunzig Prozent ist ein
         99 Prozent                        Kindersoldaten, die Forderung,     Schlag zurück...
         Neunundneunzig Prozent ist        dass die Welt aufhört, einem
         knapp einhundert Prozent,         ein schlechtes Gewissen zu ma-     Aber um erst mal die Grundla-
         aber eben nicht ganz. Neun-       chen: Man will nicht wissen,       gen zu klären: Neunundneunzig
         undneunzig Prozent ist eine       welche Kinderhände die eige-       Prozent ist ein offenes Stück!
         Drohung und ein Versprechen.      nen T-Shirts genäht haben, wie     Das heißt, wer will, kann mit-
         Neunundneunzig Prozent ist        ein Actionfilm, in dem schon       machen. Es ist jederzeit mög-
         eine Sammlung.                    längst alles explodiert wäre,      lich, sich zu beteiligen. Jede
                                           eine Huldigung an die Lebens-      und jeder ist also gefragt, die-
         Neunundneunzig Prozent ist:       mittelkonzerne dieser Welt,        ses Stück mitzugestalten und
         Ein Papierflieger, der in einen   (Geheiligt werden eure Mar-        zu den 99 Prozent das hinzuzu-
         Turm stürzt, der Beginn des       ken!), wie der Song „Wenn mal      geben, dass zu den hundert
         Kampfes gegen den unsichtba-      mein Herz unglücklich liebt“,      Prozent vielleicht noch fehlt.
         ren Terrorismus, eine stürzende   das Versprechen von „No more       Raushalten geht nicht. Wer den
         Mauer, ein flackerndes Herz,      nightmares“, die Vermutung,        Raum betritt gehört unweiger-
         die Freude über einen Burger,     dass keiner wohl Lust haben        lich dazu. Die Grenzen ver-
         der weniger als einen € kostet,   wird, so lange zu warten, bis      schwimmen: Politische Ver-
         oder auch nicht, Waffen, die      ein Hungerstreik vorbei wäre,      sammlung       oder    Lecture-
         sechs Wände Stahlbeton durch-     die Chance, „Tabu“ zu spielen      Performance, aktuelle Nach-
         brechen, zu Hause im Wohn-        mit Kevin Normalverbraucher,       richtencollage oder Folterkabi-
         zimmer sitzen während die         die Gewissheit darüber, dass       nett, Tanz oder satirische

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