MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume

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MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
MIETERECHO
   Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V.   www.bmgev.de Nr. 416 April 2021

Kampf um die Berliner Mitte
   Geschichtsrevisionismus und
     Verwertungsstrategien
    gegen offene Stadträume
MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
IMPRESSUM                                                                              GESCHÄFTSSTELLE
 Herausgeberin: Berliner MieterGemeinschaft e.V.		                                      Berliner MieterGemeinschaft e.V.
                                                                                        Möckernstraße 92 (Ecke Yorckstraße), 10963 Berlin
 Redaktion MieterEcho: Joachim Oellerich (V.i.S.d.P./ Chefredaktion),                   Telefon: 030 - 2168001, Telefax: 030 - 2168515
 Andreas Hüttner, Philipp Mattern, Rainer Balcerowiak (Schlussredaktion/                www.bmgev.de
 CvD), Hermann Werle, Philipp Möller, Matthias Coers (Bildredaktion),
 G. Jahn (Mietrecht)                                                                    ÖFFNUNGSZEITEN
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 Grafik: nmp (Gestaltung/ Satz/ Bildredaktion)                                          Freitag 10 bis 13 Uhr und 14 bis 16 Uhr

 Titelbild: nmp (Bilder: Conbrio (li.), Dmicha (mi.), Marcus Pink (re.)/Wikipedia)      Fahrverbindung:
 Belichtung und Druck: Königsdruck Berlin                                               u Möckernbrücke, Mehring­damm, Yorckstraße, i Yorckstraße, ; M19
 Redaktionsschluss: 30.03.2021                                                          Bankverbindung:
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                                                                                                                                                                                              Möckernstraße 92 · 10963 Berlin · Telefon 216 80 01
                                                                                     Berliner MieterGemeinschaft e.V.
j Betriebskostenabrechnung                j Mietvertrag
                                                                                     Möckernstraße 92
j Eigentümerwechsel                 j Modernisierung                       10963 Berlin

j Heizkosten­abrechnung                   j Schönheitsreparaturen
                                                                                     NAME

j Kündigung durch den                  j Umwandlung und
  Vermieter                                     Wohnungsverkauf                      VORNAME

j Mängelbeseitigung                     j Untermiete                         STRASSE

j Mieterhöhung                            j Wohnfläche
                                                                                     PLZ                            ORT

j Mietpreisbremse                      j Wohnungsbewerbung

j Mietsicherheit/Kaution		              j Zutritt und Besichtigung

 BEZIRKSGRUPPENTREFFEN                                                                Neukölln Jeden letzten Montag im Monat, 19 Uhr
                                                                                      Beratungsstelle, Sonnenallee 101
                                                                                      u Rathaus Neukölln ; M41, 104, 167
 Friedrichshain Jeden 3. Donnerstag im Monat, 20 Uhr                                  E-Mail: neukoelln@bmgev.de
 Stadtteilbüro, Warschauer Straße 23, -
 u Frankfurter Tor Ee M10                                                             Prenzlauer Berg Jeden 2. Mittwoch im Monat, 20 Uhr
 E-Mail: friedrichshain@bmgev.de                                                      im Nachbarschaftshaus Helmholtzplatz, Raumerstraße 10
                                                                                      u Eberswalder Straße Ee M10, M2
 Kreuzberg Jeden 1. Donnerstag im Monat, 19 Uhr                                       i Prenzlauer Allee i Schönhauser Allee
 Geschäftsstelle der Berliner MieterGemeinschaft, Möckernstraße 92
 u Möckernbrücke, Mehringdamm, Yorckstraße i Yorckstraße ; M19                        Wedding Jeden 2. Donnerstag im Monat, 19 Uhr
 E-Mail: kreuzberg@bmgev.de                                                           Tageszentrum Wiese 30, Wiesenstraße 30
                                                                                      u und i Wedding u Nauener Platz i Humboldthain
 Lichtenberg Jeden 1. Montag im Monat, 18 Uhr                                         E-Mail: wedding@bmgev.de
 Kiezspinne, Schulze-Boysen-Straße 38
 u und i Frankfurter Allee ; 240                                                      Folgende Bezirksgruppen treffen sich unregelmäßig:
 E-Mail: lichtenberg@bmgev.de                                                         Schöneberg, Spandau, Tempelhof
                                                                                      Ort und Termin der Treffen bitte erfragen unter 030 – 21002584.
 Marzahn Jeden letzten Montag im Monat, 19 Uhr                                        Aktuelle Termine unter: www.bmgev.de/verein/bezirksgruppen.html
 Lebensnähe e.V. Begegnungsstätte, Alt-Marzahn 30                                     Bei den Bezirksgruppentreffen findet keine Rechtsberatung statt. Rechtsbe-
 i Marzahn Ee M6, M8, 18 ; X54, 154, 192, 195                                         ratung erfolgt ausschließlich durch Rechtsberater/innen in den dafür ausge-
                                                                                      wiesenen Beratungsstellen (siehe hintere Umschlagseite).
MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
INHALT                                                              Liebe Leserinnen und Leser,
 TITEL
                                                                    Signa plant Großes. Karstadt am Hermannplatz spielt zukünf-
                                                                    tig vielleicht nur noch eine Nebenrolle in den Konzernplänen.
4        Mit Kreuz und Kapital gegen die soziale Moderne            Nachdem der russische Monarch-Konzern Ende 2019 am
         Die Zukunft von Berlins Mitte steht auf der Kippe		        Alexanderplatz mit dem Bau des 150 m hohen Alexander-
         Simone Hain                                                turms für 380 Luxuseigentumswohnungen begonnen hatte
                                                                    und der französische Immobilienkonzern Covivio einen Turm
                                                                    von 130 m Höhe mit 200 ebenfalls zur Luxusklasse gehö-
8        Kampf um den Freiraum am Fernsehturm		                     renden Eigentumswohnungen sowie zahlreichen Büroräumen
         Widerstand gegen die Bebauung des Areals
                                                                    plant, zieht es auch Signa in die immer wertvoller werdende
         Matthias Grünzig
                                                                    Mitte. Bereits im Sommer dieses Jahres will das Unterneh-
                                                                    men mit dem Bau eines Hochhauses von 134 m Höhe und
10       Volkspalast ohne Geschäftsgrundlage		                      eines Sockelbaus unmittelbar am bestehenden Galeria-Waren-
         Chronologie eines ideologischen Durchmarsches		            haus beginnen. Wohnungen sind nicht vorgesehen, dafür im
         Rainer Balcerowiak                                         Erdgeschoss kleinteiliger Einzelhandel, im sechsten Oberge-
                                                                    schoss ein „Food Culture Market“ und neben wenigen miet-
                                                                    preisreduzierten Flächen für gemeinwohlorientierte Nut-
12       „Nationalsymbol unter nationaler Kontrolle“                zungen massenhaft Büroräume. Fertig soll das Ganze bereits
         Humboldt Forum als Ort der Geschichtsklitterung		          2025 sein. Signa hat gute Chancen, als Erster die bezugsferti-
         Interview mit Philipp Oswalt                               gen Büroräume anbieten zu können, denn der Verzicht auf die
                                                                    Schließung von drei Galeria Karstadt-Kaufhäusern brachte
                                                                    der Firma einen vorteilhaften Deal mit dem Senat. Für die
14       Die „Wiederkehr des Alten Wahren“		                        Planungen der Signa, zu denen auch ein Turm am Ku’damm
         Schönheit in der Stadtplanung ist nicht unpolitisch
                                                                    gehört, wurden alle erdenklichen Unterstützungen verspro-
         Tom Kaden
                                                                    chen. Theo Herzberg, der Chef der Signa Real Estate Germa-
                                                                    ny, zeigt sich erfreut. Der aktuelle Planungsstand am Alex sei
16       Mit Kreuz und Reichsapfel			                               Ausdruck einer konstruktiven und partnerschaftlichen Zusam-
         Schlossattrappe als Schaufenster kolonialer Raubkunst 		   menarbeit zwischen Signa und dem Land Berlin und für die
         Dirk Teschner                                              Projekte am Kurfürstendamm und am Hermannplatz würden
                                                                    ebenso positive Signale des Senats erwartet, meinte er. Wei-
                                                                    tere Hochhäuser am Alex sind in der Planung oder zumindest
BERLIN
                                                                    im Gespräch, alles läuft auf ein Klein-Manhattan hinaus.
                                                                    Das in unmittelbarer Reichweite dieses Hochhauskonglome-
                                                                    rats gelegene Rathausforum, der zur Stadtkrone des sozialis-
18       Mietendeckel scharf stellen                                tischen Berlins gehörende Freiraum, wird plötzlich zu einer
         Bezirke setzen das Gesetz nicht konsequent um
                                                                    Immobilie von enormem Wert. Jeder Quadratmeter zählt,
         Philipp Möller
                                                                    denn hier lässt sich der große Bedarf an Townhouses für die
                                                                    besserbezahlten Angestellten aus den hochwertigen Bürotür-
                                                                    men befriedigen. Benedikt Goebel, als Gründer und Sprecher
20       Grundstücksnutzung als Leihkapital
         Das Land Berlin setzt verstärkt auf Erbbauvergabe
                                                                    der Planungsgruppe Stadtkern stets vielfältig und immer ein-
         Karl-Heinz Schubert                                        flussreich in Sachen Stadtplanung unterwegs, äußerte sich be-
                                                                    reits 2014 in einem Interview mit dem RBB über die Zukunft
                                                                    des Rathausforums: „Unsere Vorstellung ist, dass hier die Vor-
22       Gewinner und Verlierer der Corona-Pandemie                 kriegsparzellen wieder bebaut werden, von einzelnen Bau-
         Immobilienbranche jubelt über blendende Geschäfte		        herren mit Wohn- und Geschäftshäusern.“ Dadurch, plädiert
         Andrej Holm                                                er, würde städtisches Leben hergestellt, und zwar zusammen
                                                                    mit Galerien und Restaurants, „in die man gerne geht“.
                                                                    Der umtriebige Münsteraner Stadtplaner Goebel, Freund von
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                                                                    Restaurants gehobener Preisklasse, verheiratet mit einer Ar-
                                                                    chitektin und Mitglied der SPD, erhält Unterstützung von eta-
24       Mieter/innen fragen – wir antworten			                     blierten Stadtplanern wie Harald Bodenschatz und anderen.
         Mängelbeseitigung und Mietminderung 			                    Und er weiß genau, dass es sich bei dem Projekt „Rathausfo-
         Hans-Christoph Friedmann                                   rum“ um Deals mit einem Volumen von über 5 Milliarden Eu-
                                                                    ro handelt. Dass sich aber seine stadtplanerischen Visionen
                                                                    ausschließlich darum drehen, würde er sicher nicht so gerne
27       RECHT UND RECHTSPRECHUNG			                                bestätigen.
31       SERVICE
32       RECHTSBERATUNG                                             IHR MIETERECHO

MieterEcho 416 April 2021                                                                                                        3
MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
TITEL

                           Mit Kreuz und Kapital gegen
                               die soziale Moderne
                                Noch ist der Kampf um die Zukunft von Berlins Mitte nicht entschieden

        Von Simone Hain						                                                           autark, aber eine überwölbende bauliche Form sollte den
        				                                                                            Zusammenhang verkörpern. Diese Idee hat Berlins Mitte in
        Der Diskurs über die „Offene Mitte“ von Berlin hat eine kom-                    eigentümlicher Weise geprägt. Auch wenn der sinngebende
        plexe Entwicklungsgeschichte und mehr als einen rein bo-                        Glaspalast abgebrochen worden ist, bleibt rund um den Fern-
        denwirtschaftlichen Hintergrund. Einerseits reagiert er ge-                     sehturm ein städtebauliches Ensemble, das sich vielschichtig
        zwungenermaßen auf einen diametralen Richtungswechsel                           und kunstreich um eine Riesennadel dreht. Diese Nadel sagt:
        der Stadtentwicklungspolitik. Wie überall in der kapitalisti-                   Hier, genau hier spielt die Musik. Hier passiert im Großen
        schen Welt finden auf ehemals sozialisiertem Raum mit der                       und Ganzen und vor aller Augen, was ihr auch nicht in Eu-
        Postmoderne Kräfte ihren Entfaltungsraum, die unter dem                         ren Kiezen haben wollt. Denn im symbolischen Zentrum der
        Leitbild der „Rückkehr der Stadt“ oder der „Renaissance                         Stadt tobt jene wütende Kraft der Durchkreuzung, die in den
        des Städtischen“ mit dem 20. Jahrhundert abrechnen. Das                         Quartieren zur strukturellen Gewalt gerinnt. Die zukünftige
        20. Jahrhundert hatte – mit den Worten von Bruno Taut ge-                       Gestaltung der Berliner Stadtkrone, die mit dem laufenden
        sprochen – den „sozialen Gedanken“ als zentralen Glau-                          Ideenwettbewerb aktuell aufgerufen ist, wird richtungsent-
        bensinhalt gesetzt, indem es das Gemeinwohl klar über                           scheidend sein. Schach matt dem schwarzen König!
        den Eigennutz der Immobilienwirtschaft erhob.
                                                                                        Abrechnung mit der Moderne
        Sozialismus war weit mehr als nur eine Utopie, sondern mit                      Unter der expliziten Absage an die angeblich so aggressive,
        dem Bewusstsein um Mittel und Wege jederzeit Plan für eine                      Stadtbild und Eigentumsschema verändernde, licht-, luft- und
        bessere Welt. Wo einst der Palast der Republik als gläsernes                    gründurchwirkte Moderne wird seit geraumer Zeit mit preis-
        Volkshaus und der große Garten zu Füßen des Fernsehtur-                         bezogenen Aufwertungsabsichten eine baupolitische und äs-
        mes stand, hat der Geist der Abrechnung eine unübersehbare                      thetische Rückkehr zum vorgeblich besseren Städtebau des
        Bresche geschlagen.                                                             bürgerlichen Zeitalters betrieben. Die Restitution fokussiert
        Noch aber kann die Planfigur der Emanzipation, die einen                        auf das eigentumsrechtliche Prinzip der Parzelle, die ord-
        Freiraum zum Mittelpunkt des Gemeinwesens hat, jeglichen                        nungspolitische Wirksamkeit des Fluchtlinienplanes, den als
        Versuchen der Enteignung trotzen. Tauts Vision einer die                        heilig erklärten Stadtgrundriss und die traditionelle Häuslich-
        Kathedralen und Schlösser der Vergangenheit ersetzenden                         keit simulierende, steinerne Lochfassade. „You couldn’t do it
        sozialen Stadtkrone war als Monument einer vom Besitz be-                       better“ ist eine Losung, mit der ursprünglich Prince Charles
        freiten Menschheit gedacht, für die die Erde eine gute Woh-                     Taskforce für „New Urbanism“ den postmodernen Traditiona-
        nung ist. Alle Siedlungen waren autonom und weitgehend                          lismus einer marktorientierten Architektenschaft angeblasen
                                                                                        hat. In Berlin hatte sich mit ihrem „Planwerk Innenstadt“ aus-
                                                                                        gerechnet die Sozialdemokratie die postmoderne Revision der
                                                                                        sozialen Bestände zu eigen gemacht. Schon die gesamte Ar-
                                                                                        chitekturentwicklung des 20. Jahrhunderts, so die Behauptung,
                                                                                        sei eine Fehlentwicklung gewesen, aber die DDR-Gestaltung
                                                                                        der Innenstadt habe dem „Mord am Bürgertum“ noch die Kro-
                                                                                        ne aufgesetzt. Die öffentliche Herabwürdigung der gebauten
                                                                                        Umwelt dieser Epoche, auch wenn sie leiser und vorsichtiger
                                                                                        geworden ist, bedeutet eine krasse Verkehrung jener kulturel-
                                                            Foto: Sissy Furgker

                                                                                        len Werte, die den Spekulationsstädtebau einem Bruno Taut
                                                                                        einst als „gebaute Gemeinheiten“ erscheinen ließen. Die an-
                                                                                        tisoziale Ästhetisierung von Parzelle, Bauflucht und steiner-
                                                                                        ner Lochfassade dagegen ist ein programmatisch ausgerichte-
                                                                                        ter Gegenschlag, der einst in Harvard als Polemik gegen den
            Prof. Dr. Simone Hain ist Architekturhistorikerin, Mitglied der Deutschen   „unamerikanischen“ Sozialismus der deutschen Architektur-
            Akademie für Städtebau und Landesplanung und war zuletzt Leiterin des
                                                                                        Immigranten vom Bauhaus begann.
            Instituts für Stadt- und Baugeschichte an der Technischen Universität
            Graz. Ihre Schwerpunkte sind Stadtforschung und Geschichte des
                                                                                        Als die maßgebliche, umweltgestalterische Option des Neoli-
            modernen Planens und Bauens.                                                beralismus hat sie sich seit den 80er Jahren weltweit durch-
                                                                                        gesetzt. Jetzt kehrt die Front der globalen Auseinandersetzung

        4                                                                                                                         MieterEcho 416 April 2021
MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
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Dem Fernsehturm als Symbol der sozialistischen Hauptstadt der DDR wird jetzt die Attrappe des Hohernzollernschlosses als Symbol der Restauration gegenüber-
gestellt. Foto: Matthias Coers

gewissermaßen an den Berliner Ursprung zurück. Genau da-                           geteilten Hauptstadt, jenem architektonisch reif ausformulier-
hin, wo der siegreiche Lauf der Sozialisierung mit der Archi-                      ten Epizentrum des Kalten Krieges, wird der Gegenangriff der
tektur des Arbeitsrates für Kunst und den Architekten der No-                      Konterrevolution noch einige Stockwerke tiefer geführt. Hier
vembergruppe einst begann, dem die DDR im Wiederaufbau                             geht es nicht allein um Aufwertungskonzepte und triumphale
ein einst gefeiertes eigenes Kapitel hinzufügte. Weil die neo-                     Siegeszeichen durch „wertige Architektur“, sondern um Ein-
liberale Umweltgestaltung grundsätzlich auf Reprivatisierung                       bruch in das kollektive Unterbewusstsein. Revanchistisch ist
öffentlich gewidmeter Freiräume und dem Rückbau soziali-                           in Berlin nicht allein die Stadtentwicklung, sondern auch die
sierter moderner Bauensembles beruht, ist der Charakter dieser                     mentale Verarbeitung der „Wende“ gewesen. Als grundsätzli-
Politik längst entlarvt. Alain Touraine hat die „Renaissance der                   cher, endgültiger Abschied von den Utopien wie von den kon-
Stadt“ einen „Adelsnamen für eine Politik der Ausgrenzung“                         kreten Tatsachen einer energisch sozialisierten Welt.
genannt. Denn hinter dem Angriff auf Häuser und Freiräume
verbirgt sich leicht erkennbar der Angriff auf Menschen, die                       Brainwashing für neues Selbstbild
künftig keinen Platz in den von Konsum und Mietspekulation                         Während wir uns wahrscheinlich leicht darüber einig sind, dass
gezeichneten städtischen Zentren mehr finden werden. So wie                        auf das seit 1918 baulich zunehmend kommunalsozialistisch,
der französische Soziologe haben es auch namhafte amerikani-                       genossenschaftlich und staatssozialistisch geprägte Berlin im
sche Stadtforscher klar benannt: Neil Smith sprach von „revan-                     Jahr 1990 der rauschhaft entfesselte Neoliberalismus herein-
chistischem Städtebau“ und Christine Boyer von einem total                         brach und sich bis heute austobt, ist eine andere Entwicklung
geführten Angriff auf sämtliche Errungenschaften einer mehr                        nicht recht fassbar im Dunkeln geblieben. Irgendwie unterir-
als hundert Jahre lang paradigmatisch marxistisch geprägten                        disch, aber zu jedem Zeitpunkt der vergangenen drei Jahrzehn-
Politik der Integration arbeiterlich lohnabhängiger Mieter,                        te erkennbar, ging es auch darum, nicht nur die Stadtgestalt
Nicht-Eigentümer von Grund und Boden. Zur Erinnerung:                              an sich, sondern auch das Selbstbild der Berliner umzudrehen.
Privater Grundbesitz und demokratische Teilhabe, namentlich                        Wenn alle widerstandslos mitmachen, wenn die Musik spielt.
passives Wahlrecht, waren historisch so eng verbunden, dass                        Das kollektive Brainwashing wurde beharrlich als Bilderstreit
nach dem Fall des Sozialistengesetzes die Arbeiterpartei für                       ausgetragen und die soziale Realität der wiederaufgebauten
ihre Führer Häuser kaufen musste, damit sich diese auch tat-                       Stadt als hässlich, architektonisch arm und vor allem viel zu
sächlich zur Wahl stellen konnten. Hier haben wir also ein Bür-                    landschaftlich, ja unerträglich grün in Frage gestellt. Das, was
gerlichkeitsideal aus der Bismarckzeit, in der der Zugang zum                      Berlin ausmacht, der sozial-räumliche Bestand einer transfor-
politischen Raum unmittelbar mit einem Grundbucheintrag                            mierten wie revolutionierten Gesellschaft galt als Unwert. Als
verbunden war. Reprivatisierung und politische Entmündigung                        solle sie auch architektonisch alle Irrläufe und Verwerfungen
der Mieter, gewissermaßen Freiheitsberaubung, sind zwei Sei-                       der Geschichte hinter sich lassen, nahm die ohnehin laufen-
ten einer Medaille. So weit, so grenzenlos schlecht.                               de neoliberale Immobilisierung der Werte in Berlin zugleich
In Deutschland allerdings, zumal in seiner systemisch lange                        noch die Form eines kulturellen Wertewandels an. Es ging um

MieterEcho 416 April 2021                                                                                                                                     5
MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
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        das Bewusstsein von einem „normalen“ Lauf der Geschichte            das steinerne Versatzstück am sensibelsten Ort der Stadt. Was
        als Zielpunkt der Revision. Bei dieser gedanklichen Operati-        also wird es bei so viel Überdruss wohl demnächst anstiften?
        on spielte der im berühmten „Historikerstreit“ der 80iger Jah-      Zank mit dem Fernsehturm, Auslaufen ins benachbarte räumli-
        re namhaft gemachte deutsche Sonderweg eine maßgebliche             che Vakuum? Wird es sich seinen Neptunbrunnen rauben oder
        Rolle. Dabei handelt es sich kurz gesagt um eine vom Westen         am Ende einfach zu wenig auf dem Sprung gewesen sein, den
        deutlich abweichende, sehr eigentümlich deutsche Variante der       Kampf um die Berliner Liebe zu bestehen?
        Despotie. Als könne man den Prozess der Zivilisation damit          Wenn zu seiner Entzauberung noch irgend etwas gefehlt haben
        auflösen, wird anstelle des ewigen Kämpfens bis an die Gren-        sollte, damit seine Zwanghaftigkeit offenbar wird, so hat es die
        ze des Bürgerkrieges, anstelle der prekären demokratischen          Kuppel mit dem umlaufenden Spruchband an den Tag gebracht.
        Mehrheiten und systemischen Schwächen des Kapitalismus              Der Spruch hat die ganze Gegenutopie dreist in die Stadt ge-
        eine deutsche Apartheid behauptet.                                  spuckt. Das Schloss steht und fällt mit seiner einzig gegebenen
        Die mentale Operation ist so spekulativ wie ansteckend gewe-        Funktion, zur Idee der sozialen Stadtkrone in Widerspruch zu
        sen: Alle Stämme, Klassen, Stände, Länder und Kommunen              gehen. Er wirft ein Preußentum mit Darth Vader-Fassade in
        seien unter dem Dach Preußens in einer machtvollen identitä-        die Waagschale, auf deren anderer Seite der Fernsehturm und
        ren Umklammerung in Bann geschlagen gewesen, vorbildlich            seine wunderbare psychedelische Kugelhaut herausfordernd
        zur Raison gebracht. Allein durch Paternalismus, Strenge und        gegenübersteht. Da steht eine Monsterarchitektur von Schloss
        Kunst hätte sich jene autoritäre Ordnungsmacht legitimiert,         und will für Abkehr von 1. Sozialismus (Ausradierung eines
        die Deutschland lange Zeit dominierte. In jenem idealisierten       Volkspalastes), 2. Demokratie (schwarz-weiß-roter Sonder-
        Preußen als normativem staatlichen Ideal, so die an Volltrun-       weg) und 3. Kommune (Der Urkonflikt: Schon die Hohenzol-
        kenheit erinnernde Verblendung, habe jene „machtgeschützte          lernburg wurde zwangsweise auf städtischem Grund errichtet
        Innerlichkeit“ (Thomas Mann) blühen können, durch die sich          und ist immer bekämpft worden) werben, und beachtet doch
        die Deutschen als Kulturnation auszeichneten. Innerlichkeit         nicht, dass die sachliche Gegnerschaft so unendlich reicher,
        soll den seit Luthers reformatorischem Staatschristentum gras-      verheißungsvoller vorgetragen ist. Welche Seite der Berliner
        sierenden Mangel an Öffentlichkeit aufwiegen. Der kritische         Stadtkrone wird wohl siegen? Das völlig nutzlose „Schloss“
        Citoyen wird durch den Bildungsbürger ersetzt, universelle          oder die schlanke Stecknadel, die sagt: Hier ist Berlin, hier be-
        Werte durch bürgerliche Befindlichkeiten und Narzissmus.            weise Deine Kunst als Tänzer! Mache die Welt schön, lade zum
        Wie verführerisch das spekulative Wesens-Palaver ist, zeigt         Gastmal. In einem offenen Raum, der Himmel, Erde, Spree
        sich darin, dass ein Thomas Mann diese Überlegungen im Wi-          und Kunst, Marx und Engels, Zuckererbsen, Engel, Spatzen,
        derstreit mit seinem Bruder in denkbar ausführlichster Weise        Stadthasen und Regentropfen lustvoll vereint.
        ausgebreitet hat. Genau die hier gegebene Form des politisch        Mitten in Berlin, im Herzen, wie man so schön sagt, stehen
        unverantwortlichen Redens über alles auf einmal entspricht          sich damit auf kürzester Distanz zwei Welten gegenüber. Das
        dem Wertekanon der neokonservativen Bewegung perfekt.               Angebot der Revanchisten läuft auf völlige Unterwerfung
        Sein Gegenbild ist der klar strukturierte analytische kritische     durch Kniefall und mit den Wölfen heulen hinaus. Die pflegli-
        Diskurs. Eine geniale Konstruktion im Grunde genommen, mit          che Weiterentwicklung der „Offenen Mitte“ dagegen bedeutet
        der die faktische Weltverlorenheit und Entfremdung in eine          ein anderes Berlin. Die Dinge haben sich aber nicht einfach
        Tugend verwandelt werden kann. So unglaublich es klingt: Die        nur von selber zur letzten Entscheidung aufgestellt. Sie sind
        Verwandlung des politischen Raumes zu einer substantialisti-        Ergebnis einer ausführlichen, vom Historikerstreit abzweigen-
        schen Nabelschau ist lange vor Corona die eigentliche gesell-       den Diskursschiene gewesen, in der zwar viel von Heilung die
        schaftliche Pandemie gewesen. Weit bedrohlicher als ein Virus       Rede war, während aber tatsächlich immer mehr Menschen an
        hat sich das reaktionäre Muster festgesetzt, nach dem die uni-      der Reaktion verzweifelten und erkrankten. Möglicherweise
        versellen Werte von Christentum, Sozialismus wie Liberalis-         haben sie in den Kiezen, den Mietergemeinschaften und Häu-
        mus und revolutionäre egalitäre Forderungen eine Bedrohung          sersyndikaten noch mal neu das Kämpfen gelernt, um jetzt, wo
        sind. Wer nun glaubt, das alles hat mit der Mitte Berlins und       es Zeit wird, auch für das Ganze einer Richtungsentscheidung
        insbesondere mit der Gemeinschaft aller Berliner Mieter/innen       bereit zu sein. Denn die Stadtkrone betrifft alle Berliner, so
        überhaupt nichts zu tun, dem möchte ich folgende Gedanken           autonom sie auch leben mögen. Sie gibt den „Spirit“ vor.
        antragen.						                                                     Dabei ist wichtig, auch die weniger sichtbaren Fallstricke und
        							                                                             unterirdisch verbundenen Gänge im Blick zu behalten. Ausge-
        Der Aufstand der Dinge                                              hend vom Feuilleton und den Geschichtsdokumentationen der
        Ernst Bloch hatte die traumhafte Idee, die Dinge würden,            Fernsehsender ist ein Geschichtsbild aufgebaut, mit dem das
        wenn wir nicht hinsehen, wie Schiffe nachts auf dem Wann-           Spiel um Blut und Boden unmerklich wieder gesellschaftsfä-
        see von selber auf Kollisionskurs gehen. Wir brauchen, zumal        hig geworden ist. Und Eigentum verpflichte zu rein gar nichts
        mit unseren unter der Zangengeburt schmerzenden Köpfen, ei-         mehr. Im grassierenden Lob des Bürgertums und des preußi-
        gentlich gar nichts tun: Unsere Baulichkeiten, die Häuser, die      schen Idealismus festgezurrt, werden aalglatt und geschwind
        Spreebrücken und auch die Denkmäler trügen die Spannungen           die Geschäfte der Immobilienwirtschaft optimiert. Damit es
        und Konflikte irgendwie ganz von alleine aus. Und es crasht         nicht so brutal und raffgierig wirkt, wie es ist, wird Preußisch
        auch gewaltig in Berlin. Einfach weil hier weiter ein Gespenst      Blau drüber gepinselt. Denn sie gehören zusammen gedacht
        umgeht. Im letzten Jahr ist nicht allein der Flughafen fertig ge-   und auch in Werkgemeinschaft begriffen: Jene Think Tanks bei
        worden, sondern ein weiteres, ebenso unzeitgemäßes wie heil-        FAZ und Die Welt, denen die Ressorts Zeitgeschichte und Im-
        los unnützes Großprojekt, das jetzt sinnlos daliegt und auf tolle   mobilien gleichermaßen redaktionelle Heimat war. Wer Land
        Abenteuer aus ist. Das sogenannte Schloss ist fertig geworden,      erobern will, muss das intellektuell vorbereiten. Das ist in im-
        und niemand weiß, was man damit künftig überhaupt anfan-            mer größer werdenden Kreisen geschehen, die ihren Ausgang
        gen soll. Man kann ja noch nicht einmal hinsehen, so weh tut        bei Joachim Fest oder Rainer Zitelmann, um Arnulf Baring

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MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
TITEL

Das Niederkartätschen der Märzrevolution von 1848 diente als Vorlage für den Schriftzug an der seinerzeit gerade im Bau befindlichen Schlosskuppel. Damals wie
heute wird vom Volk gefordert, sich bedingungslos der staatlichen und göttlichen Gewalt zu unterwerfen. Foto: akg-images

oder Alexander Gauland, um Karl Schlögel und dem Erz-Ter-                           und besonders den vor den Toren des Schlosses kämpfenden
minator des DDR-Sozialismus, Bernd Faulenbach, nahmen.                              Demokraten die totale Unterwerfung befohlen. Der geforderte
Das „Schloss“, die geraubten Benin-Bronzen inklusive, ist                           Kniefall ist ein ikonografischer Topos der sich mit der Idee des
nicht einfach unterlaufen. Sondern es gab den übergeordne-                          Rittertums, genau genommen des in den Stand erhebenden Rit-
ten Plan, die kulturelle Hegemonie der Linken und den Geist                         terschlages, der Akkolade, verbinden lässt. Rückt anstelle der
von 1968 zu brechen. Es hat einen Erdrutsch gegeben als der                         ursprünglich adelnden „Frau Welt“ wie am Berliner Schloss
reale Sozialismus zusammenbrach und die westdeutsche Lin-                           hingegen Jesus als Weltenherrscher ins Bild, so wird mit dem
ke mitriss. An Raubzug und Kolonialisierung beteiligt, hat sie                      Kniefall neben der Reichsidee die tausend Jahre alte Gotteskrie-
sich weitgehend kompromittiert. Deutschland hat am „Ende                            gerschaft adressiert. Es geht dabei nicht allein um die Milizen
der Utopien“ nach einer starken Gegenerzählung gesucht und                          des Herrn, sondern historiographisch konkret um Heroisierung
sie unter Aufgabe der „Kritischen Theorie“ auch ausgelie-                           der gentilen Landnahme, um Reconquista als Rückeroberung,
fert. Das Herbeischreiben einer ständestaatlichen alternativen                      oder um die Kolonisierung der Welt im Namen des Christen-
Ordnungsidee – für die der Schlossneubau steht – ist nicht im                       tums. Das durchsetzungsstark vorangebrachte Schlossprojekt
publizistischen Nirwana geschehen. Ein Aufbaukommando                               bedeutet also weit mehr als fleißige Heimatkunde und folgt nur
hat zielstrebig auf die Schlussfolgerung hingearbeitet, die uns                     an der Oberfläche betrachtet einem restaurativen Impuls. Im
noch immer bass erstaunt. Und schließlich in der Behauptung                         Grunde genommen sollen wir alle durch Faktizität dazu ver-
gipfelt, dass Naziherrschaft und Kommunistische Republik nur                        führt werden, uns einer vorgetäuschten elitären Wirklichkeit
ein „Fliegenschiss“ oder bestenfalls eine Fußnote der großen                        zu fügen. Den konservativen Wertewandel durch Zustimmung
Geschichte der Deutschen seien. Genau hier nämlich gründet                          affirmieren. Wir sollen alle mitspielen, uns gewöhnen, protofa-
diskursanalytisch betrachtet der Spruch: „Hol Dir Dein Land                         schistisch immer mehr aufladen lassen, völlig wehrlos werden.
zurück!“ Doch hübsch der Reihe nach. 			                                            Wer in den Anfängen der „Schlossdebatte“ aufmerksam die
							                                                                             forcierenden Schriften von Joachim Fest, Wolf Jobst Siedler
Der Kniefall als Symbol                                                             oder Arnulf Baring gelesen hat, konnte das Ziel bereits sehen,
Der Zusammenstoß zwischen der steinernen Masse des soge-                            noch ehe das Denken in die Verwirklichungsphase überging.
nannten Schlosses mit dem luftig-landschaftlichen Park unter                        Es ging, und das ist die besondere Crux im Falle der deutschen
dem Fernsehturm ergibt eine stadtbildliche Konfrontation, die                       Antimoderne, das im Vergleich einmalig Hinterhältige, schon
zum Himmel schreit. Dem freien, offenen Raum im Osten steht                         ganz früh um eine verführerische Gegenutopie. Die stolze Idee
am anderen Ufer – im Westen – nun jener gebaute Kniefall ge-                        der Plebejer von einem jenseits der eigenen existenziellen Inte-
genüber, wie ihn die Kuppel in goldenen Lettern manifestiert.                       ressen liegendem emanzipatorischen Ziel war Herausforderung
Sie wurde in den Märzkämpfen 1848 errichtet und ist, wie jede                       genug, jene projektive Idee der besseren Welt, des Heimkeh-
Kuppel, ein Symbol der Totalität und im politischen Kontext                         rens im Sinne von Bloch. Noch aber ist sie in Berlin als Städte-
imperial. Mit dem Spruch wird dem ganzen lebenden Erdkreis,                         bau der Freizügigkeit konkret zu erleben.                     h

MieterEcho 416 April 2021                                                           							                                                        7
                                                                                    
MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
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                             Kampf um den Freiraum
                                am Fernsehturm
            Die Initiative Offene Mitte Berlin stemmt sich gegen die Privatisierung und Bebauung des Areals

        Von Matthias Grünzig      			                                   der Initiative Offene Mitte Berlin (IOM), die sich seit über fünf
                                                                        Jahren für die Erhaltung und Weiterentwicklung des Freirau-
        Im Zentrum Berlins, rings um den Fernsehturm, besteht           mes einsetzt.
        eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite befindet sich      Bereits im Herbst 2013 beschloss das Abgeordnetenhaus ein
        hier ein Ensemble, das mit genau jenen sozialen und öko-        ergebnisoffenes Bürgerbeteiligungsverfahren mit dem Titel
        logischen Qualitäten aufwarten kann, die heute aktueller        „Alte Mitte – neue Liebe“, in dem über die Zukunft dieses
        denn je sind. Hier befinden sich über 2000 Wohnungen in
        bester Innenstadtlage, die sich allesamt im Eigentum der
        landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Mitte befinden
        und auch für Normalverdiener bezahlbar sind. Hier gibt
        es einen großen öffentlichen Freiraum, in dem sich jeder
        aufhalten kann und der von einer vielfältigen Nutzerschaft
        bevölkert wird. Hier existieren große Grünflächen mit zahl-
        reichen Bäumen, die das Stadtklima positiv beeinflussen.
        Und hier stehen natürlich wichtige Architekturikonen, wie
        der Fernsehturm, die zu den Attraktionen Berlins gehören.

        Doch gleichzeitig ist dieses Ensemble seit Jahren massiven
                                                                                                                         Foto: Privat

        Angriffen ausgesetzt. Immer wieder melden sich gut organi-
        sierte Interessengruppen zu Wort, die eine Privatisierung und
        Bebauung des Freiraumes propagieren. Vor allem die Pla-
        nungsgruppe Stadtkern im Bürgerforum Berlin betreibt eine         Matthias Grünzig arbeitet als als freier Journalist und Bauhistoriker und
        systematische Kampagne für eine Bebauung dieses Raums.            engagiert sich in der Initiative Offene Mitte Berlin.
        Diese Konflikte bilden den Hintergrund für das Engagement

        8                                                                                                                               MieterEcho 416 April 2021
MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
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Gebietes entschieden werden sollte. Auf der Auftaktveran-          nien für die Berliner Mitte. Anschließend ging es darum, die
staltung am 18. April 2015 unterschrieben die baupolitischen       Bürgerleitlinien mit Leben zu füllen. Ein erster Erfolg war die
Sprecher/innen aller Fraktionen des Abgeordnetenhauses ein         Eröffnung der Stadtwerkstatt in der Karl-Liebknecht-Straße im
„Dialogversprechen“ und versicherten, dass sie die Ergebnis-       Sommer 2018. Dort entstand ein vielseitig nutzbarer Veranstal-
se des Partizipationsverfahrens akzeptieren würden. Es folgte      tungs- und Ausstellungsraum. In der Stadtwerkstatt finden Be-
eine Vielzahl an Veranstaltungen, wie Fachcolloquien, Bürger-      teiligungsveranstaltungen zu Projekten der Senatsverwaltun-
werkstätten, Foren, Online-Dialoge, „Partizipatives Theater“       gen statt, daneben können aber auch Initiativen eigene Projekte
und eine Jugendbeteiligung. Insgesamt beteiligten sich rund        vorstellen. Auch die IOM nutzte die Stadtwerkstatt für eigene
100.000 Bürger/innen an dem Verfahren.                             Veranstaltungen.
Eine wichtige Zwischenetappe bildete das Halbzeitforum
am 5. September 2015, auf dem die Bürger per TED-Ab-               Wettbewerb mit Bürgerbeteiligung
stimmung über verschiedene Thesen zur Zukunft des Ge-              Ein zweiter Schwerpunkt war eine attraktivere Gestaltung der
bietes befinden konnten. Zur Auswahl standen sowohl die            Grünflächen und eine Erhöhung der Aufenthaltsqualität. Am
Erhaltung des Freiraums als öffentlicher Grünraum, als auch        14. Januar 2021 wurde ein diesbezüglicher Wettbewerb aus-
die Privatisierung und Bebauung des Gebietes. Eine klare           gelobt, dem ein umfangreicher Bürgerbeteiligungsprozess
Mehrheit votierte für die Weiterentwicklung des Freiraums          vorausging. Zwischen Ende 2018 und der coronabedingten
als öffentlicher, nicht kommerzieller Raum und eine grü-           Schließung im März 2020 fanden zahlreiche Partizipationsver-
ne Oase. Außerdem wurden eine Verkehrsberuhigung und               anstaltungen statt, auf denen die Bürger/innen ihre Vorstellun-
eine bessere Gestaltung des Spreeufers gefordert.                  gen einbringen und auf Augenhöhe mit Mitarbeiter/innen der
 						                                                            Verwaltung und Wissenschaftler/innen Zukunftsthemen der
Starke Privatisierungslobby                                        Stadt erörtern konnten. Fragen des Regenwassermanagements
Dieses Bürgerbeteiligungsverfahren bildete auch die Keimzel-       und der Biodiversität spielten ebenso eine Rolle, wie die Ver-
le der IOM. Denn in den Veranstaltungen trafen sich Bürger/        kehrswende und die Anpassung an den Klimawandel.
innen, die sich für diesen öffentlichen Freiraum begeisterten.     Im Rahmen dieser Debatte kristallisierten sich auch neue Fra-
Sie alle standen vor einem gemeinsamen Problem: Damals gab         gen heraus. So zeigten viele Bürger/innen großes Interesse an
es zwar starke Interessengruppen, die für eine Privatisierung      der Geschichte des Ensembles. Die IOM reagierte darauf mit
und Bebauung eintraten. Es existierte aber keine Initiative, die   einem umfangreichen Ausstellungs- und Veranstaltungspro-
sich explizit für den Erhalt des öffentlichen Freiraumes enga-     gramm. Im Februar und März 2019 fand in der Stadtwerkstatt
gierte. Gleichzeitig war allen bewusst, dass der Raum auch un-     die Ausstellung „Der Komplex Karl-Liebknecht-Straße – zwi-
ter Defiziten litt und deshalb weiterentwickelt werden musste.     schen Utopie und Realität“ statt. Im Oktober 2019 folgte die
Ein Problem waren die Autoschneisen der Spandauer Straße           Ausstellung „50 Jahre Berliner Fernsehturm – zwischen All-
und der Karl-Liebknecht-Straße, die den Raum zerschnitten.         tagsleben und Weltpolitik“, die bis zum Januar 2020 auf dem
Ein weiteres Defizit war die wenig einladende Gestaltung des       Freiraum am Fernsehturm gezeigt wurde. Parallel dazu gab es
Spreeufers. Problematisch war zudem die Nutzung der angren-        Vortragsreihen, bei der renommierte Expert/innen und Zeit-
zenden Gebäude. Dort gab es neben den Wohnungen auch at-           zeug/innen zur Architektur, zur Landschaftsarchitektur und zur
traktive Gewerbegeschosse, die allerdings wenig einfallsreich      Kunst am Bau referierten.
genutzt wurden. Filialisten und andere kommerzielle Angebote       Ein weiterer Schwerpunkt war der Verkehr. Laut den Bür-
sorgten für Eintönigkeit. Unser Ziel war eine vielfältige Nut-     gerleitlinien sollten die Spandauer Straße und die Karl-Lieb-
zungsmischung mit kulturellen und zivilgesellschaftlichen Ak-      knecht-Straße, die den Freiraum zerschneiden, eine Verkehrs-
teuren.                                                            beruhigung erfahren. Doch die zuständige Senatsverwaltung
Die Konflikte ließen nicht lange auf sich warten. Denn nach        für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz unternahm wenig Ak-
den Ergebnissen des Halbzeitforums bestand die Gefahr, dass        tivitäten, um diesen Beschluss des Abgeordnetenhauses umzu-
das Dialogverfahren abgebrochen würde. Die Planungsgrup-           setzen.
pe Stadtkern bezeichnete das Verfahren als „verschwendetes         Daher entwickelten wir im Frühjahr 2019 ein Konzept für eine
Geld“ und forderte seinen Abbruch. Das Hauptanliegen der           Verkehrsberuhigung. Unserer Forderung verliehen wir durch
IOM bestand deshalb zunächst darin, das Verfahren überhaupt        ein „autofreies Protestpicknick“ am 31. August 2019 öffent-
zu Ergebnissen zu führen. Dieses Ziel wurde mit der Erarbei-       lichkeitswirksamen Nachdruck. Gemeinsam mit anderen Kli-
tung von zehn sogenannten „Bürgerleitlinien“ erreicht. Darin       maschutz- und Verkehrsinitiativen haben wir die Spandauer
wurden wichtige Eckpunkte wie die Erhaltung des Freiraumes         Straße temporär gesperrt.
als öffentlicher, nicht kommerzieller Raum und seine Entwick-      Das Ergebnis all dieser Aktivitäten ist ein Auslobungstext zum
lung zu einer grünen Oase festgeschrieben. Weitere Punkte wa-      Wettbewerb Rathausforum/Marx-Engels-Forum, der auch
ren eine vielfältigere Nutzung der angrenzenden Gebäude und        viele unserer Vorstellungen beinhaltet. Nach den jetzigen Pla-
die Reduzierung des Autoverkehrs.                                  nungen soll der Wettbewerb im August 2021 abgeschlossen
Der nächste Streit ging um die Frage, ob die Bürgerleitlini-       werden. Doch auch nach dem Wettbewerb wird noch viel zu
en durch das Abgeordnetenhaus beschlossen werden sollten.          tun bleiben. Eine Herausforderung bleibt der Verkehr. Wir wol-
Die Planungsgruppe Stadtkern fuhr starke Geschütze auf, um         len den Bereich um den Fernsehturm zu einem Modellgebiet
den gesamten Beteiligungsprozess zu diskreditieren. In dem         für die Verkehrswende machen, mit einer autofreien Flanier-
Verfahren wären „fachlich nicht ausgebildete Personen nach         meile vom Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor. Und als
ihren Vorstellungen und Vorlieben“ befragt worden, und die         Fernziel streben wir eine Kommunalisierung der Fernsehturm-
Ergebnisse seien deshalb irrelevant. Doch auch diese Interven-     Umbauung an, damit auch hier attraktive Nutzungen entstehen
tion blieb erfolglos. Am 9. Juni 2016 beschloss das Abgeord-       können. Der Initiative Offene Mitte Berlin werden jedenfalls
netenhaus mit den Stimmen aller Fraktionen die Bürgerleitli-       auch künftig nicht die Themen ausgehen.		                    h

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MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
Foto: Istvan/Wikipedia
TITEL

        Volkspalast ohne Geschäftsgrundlage
                       18 Jahre vergingen zwischen der Schließung des Palastes der Republik und
                     der Vollendung des Abrisses – Chronologie eines ideologisches Durchmarsches

        Von Rainer Balcerowiak 				                                      Gesellschaftsordnung, das verschwinden muss – um somit zu
                                                                         einem Symbol des Sieges im Kampf der Systeme zu werden.
        Manchmal sind es kleine bürokratische Akte, die in der           Bald tauchte auch die Idee des Aufbaus einer Replik des al-
        Folge enorme politische Dimensionen entwickeln. Am 19.           ten Hohernzollernschlosses auf, das sich auf dem Areal einst
        September 1990 verfügte die Bezirkshygieneinspektion             befand und dessen im Krieg weitgehend zerstörte Ruine 1950
        Berlin, den Palast der Republik „mit sofortiger Wirkung aus      gesprengt worden war.
        Gründen der Gesundheitsgefährdung durch Asbest für die
        gesamte öffentliche Nutzung zu sperren“ . Noch am selben         Nutzlose Wettbewerbe und Gremien
        Tag bestätigte der Ministerrat der DDR diese Verfügung           Doch zunächst passierte wenig Konkretes. Im März 1993 be-
        durch einen entsprechenden Erlass. Knapp 14½ Jahre nach          schlossen der Bund und das Land Berlin die Auslobung eines
        seiner feierlichen Eröffnung wurde damit das endgültige          internationalen städtebaulichen Ideenwettbewerbes, der insge-
        Ende dieses politischen, kulturellen und architektonischen       samt 1100 Teilnehmer fand. Den ersten Preis errang 1994 der
        Leuchtturms der DDR-Hauptstadt eingeläutet.                      Architekt Bernd Niebuhr mit seiner Vorstellung eines moder-
        					                                                            nen Baukörpers in den Dimensionen des Schlosses, wobei er
        Allen Beteiligten war bereits damals klar, dass eine einfache    sich dezidiert gegen eine Schloss-Attrappe positionierte. Deren
        Wiederöffnung nach erfolgter Asbestsanierung keine realisti-     Befürworter, allem voran der von dem Landmaschinenunter-
        sche Option sein konnte. Denn der Palast mit seiner Doppel-      nehmer Wilhelm von Boddien 1992 gegründete Förderverein
        funktion als politisches Zentrum und Volkshaus der sozialisti-   für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses, rührten derweil
        schen Gesellschaft hatte mit der Überführung der DDR in die      kräftig die Trommel und durften sich 1993 mit einer auf einem
        kapitalistische Bundesrepublik seine Geschäftsgrundlage ver-     Gerüst vor dem gesperrten Palast platzierten Schlossfassade
        loren. Von nun an ging es um die künftige Gestaltung und Ver-    präsentierten.
        wertung des Areals im Herzen der vereinten Hauptstadt. Lange     Im Mai 1996 beschloss der gemeinsame Ausschuss von Bund
        Jahre ging es dabei vor allem darum, ob der Palast komplett      und Land schließlich ein Konzept, das ein Konferenzzentrum
        abgerissen wird, oder nach Sanierung teilweise in ein neues      mit Hotel, eine große Bibliothek, eine Ausstellungsfläche, so-
        Gebäudeensemble integriert werden sollte. Eine Auseinan-         wie Läden und Geschäfte vorsah. Ein Jahr später begann ein
        dersetzung, die weniger städtebaulich als ideologisch geführt    entsprechendes Interessenbekundungsverfahren, 1998 wurden
        wurde. Denn große Teile der herrschenden deutschen Eliten        14 Arbeiten ausgewählt. Das Verfahren wurde allerdings ohne
        begriffen den Palast als verhasstes Symbol einer verhassten      Zuschlag beendet, da laut dem Ausschuss kein Vorschlag eine

        10                                                                                                          MieterEcho 416 April 2021
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überzeugende Lösung bot. Im Oktober 1997, sieben Jahre nach                   ine gegossen, fast 8.000 Quadratmeter Teppichboden verlegt
der Schließung, begann schließlich die Asbestsanierung des                    und neues Licht installiert. Hier wurde vor allem der Sieg über
allmählich verfallenden Gebäudes, wobei bereits einige Ge-                    den Sozialismus gefeiert, die 1.200 Gäste ließen sich von Ster-
bäudeteile abgerissen wurden. Im November entrollten Gre-                     neköchen verköstigen und konnten unter anderem Reden von
gor Gysi und der Berliner PDS-Abgeordnete Freke Over vom                      Gerhard Schröder, Angela Merkel, Guido Westerwelle und
Dach des Palastes ein Transparent mit der Aufschrift „Stoppt                  dem polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski
den Palast-Abriss“ – und trafen damit auch die Stimmung in                    lauschen.
der Stadt, deren Bewohner/innen sich laut Erhebungen mehr-                    Diese Phase gab den Befürwortern einer irgendwie gearteten
heitlich gegen einen Abriss aussprachen.                                      Bewahrung des Palastes oder wenigstens seiner Funktion als
Der Bund-Länder-Ausschuss beschloss schließlich die Ein-                      offener Kultur- und Begegnungsstätte kurzzeitig Aufwind.
richtung einer Expertenkommission, die im Januar 2001 ihre                    Auch viele bekannte Künstler und Intellektuelle wie Günter
Arbeit aufnahm. Ende Dezember 2001 entschied sich die                         Grass, Dario Fo, Christoph Schlingensief und Daniel Brühl
Kommission mit einer Stimme Mehrheit für den Abriss des                       setzten sich für ein Moratorium ein. Doch Versuche der Linken
Palastes und einen Nachbau des Stadtschlosses mit seinen                      und Grünen im Bundestag, den Abriss zu stoppen und neue
barocken Fassaden. In dem Schlossbau sollte das „Humboldt-                    Konzeptverfahren zu starten, wurden im Januar 2006 mit der
Forum“, eine Kombination aus Museum, Bibliothek und Ver-                      Mehrheit der anderen Parteien abgeschmettert. Der CDU-Ab-
anstaltungsbereich entstehen. Im Juli entschied der Deutsche                  geordnete Wolfgang Börnsen machte in der Debatte deutlich,
Bundestag auf dieser Grundlage, dass auf dem Areal ein Ge-                    worum es geht: Die DDR habe mit der Sprengung des Schlos-
bäude in der Kubatur des Stadtschlosses errichtet werden soll.                ses ein „geschlossenes Ensemble“ zerstört, um im Zentrum
Ein erneuter Beschluss zum Abriss des Palastes folgte rund ein                der Republik ein Symbol für sich zu sichern. Dafür könne es
Jahr später.						                                                            keinen Bestandsschutz geben. Wenige Wochen später begann
							                                                                       der Abriss, am 1. Dezember 2008 vollendete ein Bagger das
Skurrile Siegesfeier in Ruine                                                 Zerstörungswerk.
Damit waren die Würfel eigentlich gefallen. Da sich die Asbest-               Da auch die künftige bauliche Gestaltung und Nutzung der
sanierung als schwierig erwies und entsprechend lange hinzog,                 Schlossattrappe bereits weitgehend geregelt war, ging es an-
vor einem Abriss komplizierte geologische Untersuchungen des                  schließend vor allem um die Finanzierung des Vorhabens, des-
sumpfigen Areals und seines Umfeldes notwendig waren und                      sen Gesamtkosten seinerzeit auf 480 Millionen Euro taxiert
das Planungs- und Vergabeverfahren sich ebenfalls sehr zeit-                  wurden. Der Bund bestand auf einer Kostenbeteiligung des
aufwendig gestaltete, war an einen schnellen Baubeginn nicht                  Landes Berlin als Bedingung für die Nutzung von großen Tei-
zu denken. Es folgte die Phase der Zwischennutzungen mit                      len des Gebäudes durch das „Humboldt-Forum“, was in der
Ausstellungen, Performances, Konzerten, Workshops, Sport-                     damals regierenden „rot-roten“ Koalition kurzzeitig für Krach
wettkämpfen und politischen und anderen Veranstaltungen.                      sorgte. Am 12. April 2007 erklärte Berlins Kulturstaatsekretär
Skurrilstes Event war sicherlich die Großveranstaltung des                    André Schmitz (SPD) im Tagesspiegel: „Die Gespräche mit
Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) am 15. Juni                     dem Bund sind auf gutem Weg. Berlin wird zu seiner politi-
2004. Dafür wurde extra neuer Estrich in die skelettierte Ru-                 schen und finanziellen Verantwortung stehen“. Berlins heutiger
                                                                              Kultursenator Klaus Lederer (Linke), damals Landesvorsitzen-
                                                                              der der PDS, hielt dagegen: „Wir bringen die landeseigenen
                                                                              Grundstücke mit ein. Eine weitere Finanzierung lehnen wir
                                                                              ab“, sagte Lederer, auch unter Verweis auf den geltenden Ko-
                                                                              alitionsvertrag.
                                                                              Knapp zwei Wochen später gab es Entwarnung, die PDS knick-
                                                                              te ein. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit und
                                                                              Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee (beide SPD) ließen es
                                                                              sich nicht nehmen, das Ergebnis der Verhandlungen zwischen
                                                                              Bund und Land im Skelett des ehemaligen Volkskammersaals
                                                                              im Palast der Republik bekannt zu geben.
                                                                              Die Tageszeitung junge Welt kommentierte Lederers Rolle
                                                                              rückwärts damals mit bissigen Worten: „Wenn eine Allianz aus
                                                                              DDR-Hassern, preußentümelnden Dumpfbacken, obskuren
                                                                              Geschäftemachern und stadtplanerischen Geisterfahrern einen
                                                                              der zentralen Plätze der Hauptstadt mit einer Stadtschloß-At-
                                                                              trappe verunstalten will, darf die Hauptstadt-Linkspartei.PDS
                                                                              natürlich nicht abseits stehen. Und nachdem Kulturstaatsmi-
                                                                              nister Bernd Neumann (CDU) vor einigen Tagen einen finan-
                                                                              ziellen Beitrag Berlins eingefordert hatte, drängelte sich PDS-
                                                                              Landeschef Klaus Lederer (...) pflichtschuldigst in die erste
                                                                              Reihe der Schloßfinanzierer.“ Anscheinend habe Lederer - wie
                                                                              viele seiner Parteifreunde – „noch eine große historische und
                                                                              persönliche Schuld abzutragen. Wer, wie Lederer, 1987 in der
Ein Graffiti auf dem Fundament des 2008 abgerissenen Palastes der Republik    jungen Welt als Jung-FDJler in der Rubrik ‚Ich bin vierzehn‘
beschreibt präzise eines der ideologischen Motive dieses kulturhistorischen   verkündet hat: ‚Wenn ich groß bin, werde ich ein Kommunist‘,
Kahlschlages. Foto: Schreibkraft/Wikipedia                                    hat einiges gutzumachen“.				                                h

MieterEcho 416 April 2021                                                                                                                 11
Foto: Matthias Coers
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                                „Nationalsymbol unter
                                 nationaler Kontrolle“

        Interview mit Philipp Oswalt				                               wahren. Wir sollten aber nicht nur über Fassaden reden, son-
        							                                                        dern auch über die Frage der Art der Öffentlichkeit, die ent-
        Am 17. Dezember 2020 eröffnete das Humboldt Forum in           steht. Wir haben es in dem Bereich der Stadt mit einer stark
        den wiederaufgebauten Fassaden des Berliner Schlosses.         von Repräsentationsbedürfnissen geprägten Stadtgestaltung
        Kritiker sehen im Humboldt Forum ein Projekt zur natio-        zu tun. Es gibt Botschaften, Ministerien, Autohäuser und so
        nalen Identitätsstiftung und den Versuch, die deutsche Ge-     weiter. Das Herz der Stadt Berlin bräuchte aber eine andere
        schichte ab 1919 zu verdecken.				                             Art von städtischer, ziviler Öffentlichkeit, so wie wir es bei
                                                                       temporären Nutzungen des Volkspalastes in begrenztem Maße
        MieterEcho: Wie fühlen Sie sich angesichts der Eröffnung
        des Humboldt Forums?
        Philipp Oswalt: Ich fand es bemerkenswert, wie kritisch die
        öffentliche Rezeption war. Das haben sich die Protagonisten
        sicher anders vorgestellt. Seit dem Start der Debatte gab es
        eine breite öffentliche Kritik an den Aufbauplänen und Um-
        fragen, in denen sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen den
        Schlossaufbau aussprach. Diese Kritik der Öffentlichkeit ist
        offenbar bestehen geblieben. Man muss aber auch sehen, dass
        die Befürworter den Schlossaufbau nicht als den Schlusspunkt
        einer Entwicklung, sondern als Startpunkt eines Kulturkamp-
                                                                                                                      Foto: Nicolas Wefers

        fes sehen, um von dort ausgehend weitere Rekonstruktionen
        einzufordern.

        Welche Alternativen hätte es zum Wiederaufbau des
        Schlosses gegeben?
        Als Alternative empfahl die Expertenkommission bei einer         Philipp Oswalt, Architekt und Publizist, unterrichtet seit 2006 an der
        Neubebauung zu prüfen, inwieweit man Teile des Palastes in       Universität Kassel Architekturtheorie und Entwerfen. Von 2009 bis 2014
        den Neubau integrieren kann. Dazu gab es Entwürfe. Das wäre      war er Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau.
        adäquat gewesen, um die Geschichtlichkeit des Ortes zu be-

        12                                                                                                                                   MieterEcho 416 April 2021
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hingekriegt haben. Es gab mal den Vorschlag, dort die Berliner      des Mangels an Wohnraum hat ein sehr großes Gewicht im öf-
Stadtbibliothek zu errichten. Das wäre eine Art der Öffentlich-     fentlichen Diskurs angenommen. Es gibt Diskurse um die Ver-
keit gewesen, die diesem Ort gutgetan hätte, statt ihn gemein-      kehrswende und Mobilität. Insofern sind die Identitätsfragen
sam mit der Museumsinsel dem touristischen Geschäft zuzu-           der 90er Jahre in den Hintergrund geraten und wir haben heute
schlagen. Neben der Frage der Fassade wurde die Frage der           funktionalere Anforderungen als in den 90er Jahren. Gleichzei-
Programmierung falsch entschieden.			                               tig gibt es keinen wirklichen Bruch mit diesen Städtebaudis-
			                                                                 kursen, wie derzeit am Molkenmarkt zu beobachten ist. Das
Sie sagten, der Schlossaufbau sei kein Schlusspunkt, son-           Problem sind natürlich auch die sehr langen Planungs- und
dern eher ein Anfang gewesen. Was kommt als Nächstes?               Entscheidungsprozesse bei städtebaulichen Maßnahmen.
Es steht nicht nur der Nachbau der Schinkelschen Bauaka-
demie bevor. Ich war beim Richtfest zum Zwischenstand               Wie müsste ein Paradigmenwechsel aussehen?
des Bauprozesses und vor Ort waren Stände, etwa von der             Die Fragen von Geschichts- und Symbolpolitik und Identität
Gesellschaft Historisches Berlin und anderen Vereinigun-            sind sicherlich nur eine Facette des Städtebaus und der Stadt-
gen, die die Verlegung des Neptunbrunnens, die Überbauung           entwicklung, insofern war ihre Überbetonung problematisch.
des Marx-Engels Forums als neue Altstadt ebenso wie die             In einer Hauptstadt mit einer sehr problematischen Geschichte
Nachbildung historischer Innenräume im Schloss forder-              hat sie jedoch eine gewisse Relevanz. Es ist wichtig, dass der
ten. Ob das gesellschaftlich durchsetzbar ist, wird sich zei-       Diskurs um das Bodeneigentum und den Bodenmarkt eine Pri-
gen. Aber das ist die Auseinandersetzung, die zu führen ist.        orisierung erfahren hat. Was die Fragen der Geschichtspolitik
							                                                             und der Stadtentwicklung angeht, würde es für mich darum
Sie haben in einem Aufsatz über die Rekonstruktion des              gehen, die Stadt, wie sie besteht zu akzeptieren und weiter-
Stadtschlosses mal geschrieben: „Dieser Bau ist zuerst ein          zuschreiben, statt revisionistisch unterwegs zu sein. Die Stadt
gesellschaftliches Symbol, seine Gebrauchsfunktion ist se-          sollte stärker aus dem Gebrauch ihrer Bürger heraus und nicht
kundär.“ Was genau meinen Sie damit?			                             nach ästhetischen Fragen gedacht werden. Es geht um Fragen
Die Politik hat sich in den 90er Jahren zunächst für den Fassa-     von Raum- und Aufenthaltsqualitäten. Dann stellt sich natür-
denaufbau entschieden und erst danach eine Nutzung gesucht,         lich die Frage: Was ist mit dem öffentlichen Raum?
mit der man das legitimieren kann. Im Sinne einer Political
Correctness wurde die Idee des Humboldt Forums geboren,             Nochmal zurück zum Schloss. In der jüngeren Vergangen-
das eine preußische Selbstbestimmung des heutigen Deutsch-          heit gab es viele Diskussionen über das vergoldete Kreuz
lands mit einer vermeintlichen Interkulturalität ausbalancieren     auf der Kuppel. Sie selbst haben das Kreuz einmal eine ra-
sollte. Genau genommen ist das eine ziemlich perverse Form          dikale Orthodoxie genannt. Was meinen Sie damit?
der Neokolonialisierung, weil es die anderen Kulturen nicht         Die Rekonstruktionsprozesse seit den 80er Jahren sind eine
nur in Haftung nimmt, sondern instrumentalisiert, um diese          neue Form, nämlich eine Rekonstruktion aus der Fotografie.
Formen deutscher Identitätsgebung zu legitimieren. Schließ-         Es geht darum, verloren gegangene Bauten fotorealistisch
lich ist das Ganze zu einem Rohrkrepierer geworden, weil            zu reproduzieren. Eine solche Rekonstruktion gab es bis da-
die koloniale Vorgeschichte der Sammlungen inzwischen den           hin nicht. Rekonstruktion war bis dato immer eine kulturelle
Diskurs sehr stark prägt. Der Fassadenaufbau ist ein Versuch        Aneignung eines historischen Erbes durch die Gegenwart und
einer nationalen Setzung ohne Autorenschaft. Aufgrund der           eine Interpretation. Das war so gewollt und es war auch gar
eigenen Geschichte traut sich Deutschland momentan keine            nicht anders möglich, weil die Überlieferungen gar nicht so
nationale Setzung zu machen, sondern vollzieht sie durch den        genau waren.
Wiederaufbau eines historischen Baus. Hier kann man sich in         Von den heutigen Rekonstruktionsbefürwortern ist das nicht
einer vermeintlichen Form von Sachlichkeit und Objektivität         gewollt. Statt einer kulturellen Aneignung soll es eine tech-
verstecken. Man sagt Schlüter sei der Autor. Aber natürlich ist     nisch-wissenschaftliche Rekonstruktion des Vorgängerbaus
die Entscheidung dieses preußische Herrscherschloss wieder          sein. Man konstruiert eine Art Sachzwang, demnach eine Re-
aufzurichten, ein Versuch der Bundesrepublik nach 1990 eine         konstruktion nur echt ist, wenn sie fotoidentisch ist. Durch die
Geschichte zu geben, die sich auf die Zeit vor 1919 bezieht.        Frage der Aneignung kommen Sie aber zu der Frage der Be-
Ich habe die westdeutsche Perspektive immer so verstanden,          wertung. Wie positionieren Sie sich selber zu dem historischen
als dass die Bundesrepublik ein neues Staatswesen sei, das eine     Sachverhalt? Unter dem vermeintlichen Siegel der Objektivität
Vorgeschichte hat und versucht, eine neue Verfasstheit der Ge-      verweigert man es, diesen Wertediskurs zu führen. Stattdessen
sellschaft auf den Weg zu bringen. Nun haben wir an vielen          tut man so, als ginge es darum, verloren gegangene Bauten
Stellen dieses Drängen danach, das gesellschaftliche Selbst-        zu reproduzieren, und um Schönheit. Unter dem Signum der
verständnis weit tiefer in die Geschichte, in vordemokratische      historischen korrekten Rekonstruktion verbergen sich aber de
Zeiten zurück zu verwurzeln. Das ist meines Erachtens die           facto Wertediskurse, Identitätsdiskurse und politische Diskur-
wesentliche Botschaft, die dieser Bau aussendet. Er wird als        se über das Gesellschaftsverständnis. Das ist beim Kreuz na-
Nationalsymbol benutzt und steht unter nationaler Kontrolle.        türlich ganz extrem, weil die Kuppel und das Kreuz sowohl
Das Schloss ist kein kulturelles, sondern ein politisches Projekt   Ausdruck eines reaktionären Gesellschaftsverständnisses und
der Identitätsstiftung.					                                        sehr problematischen Religionsverständnisses aus dieser post-
				                                                                revolutionären, restaurativen preußischen Zeit nach 1848 sind,
Sehen Sie im Bereich des Städtebaudiskurses eine Verände-           als auch Ausdruck von Herrschaft und von Unterwerfung.
rung durch die rot-rot-grüne Regierung in Berlin?
Ich sehe keinen Paradigmenwechsel, sondern eine Verschie-           Vielen Dank für das Gespräch.
bung von Themen, was den Anforderungen der Zeit geschuldet
ist. Die Problematik der Immobilien- und Bodenpreise sowie          Das Interview führte Philipp Möller.

MieterEcho 416 April 2021                                                                                                        13
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