MIETER ECHO - Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
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MIETERECHO Zeitung der Berliner MieterGemeinschaft e.V. www.bmgev.de Nr. 416 April 2021 Kampf um die Berliner Mitte Geschichtsrevisionismus und Verwertungsstrategien gegen offene Stadträume
IMPRESSUM GESCHÄFTSSTELLE Herausgeberin: Berliner MieterGemeinschaft e.V. Berliner MieterGemeinschaft e.V. Möckernstraße 92 (Ecke Yorckstraße), 10963 Berlin Redaktion MieterEcho: Joachim Oellerich (V.i.S.d.P./ Chefredaktion), Telefon: 030 - 2168001, Telefax: 030 - 2168515 Andreas Hüttner, Philipp Mattern, Rainer Balcerowiak (Schlussredaktion/ www.bmgev.de CvD), Hermann Werle, Philipp Möller, Matthias Coers (Bildredaktion), G. Jahn (Mietrecht) ÖFFNUNGSZEITEN Montag, Dienstag, Donnerstag 10 bis 13 Uhr und 14 bis 17 Uhr Kontakt: Telefon: 030 - 21002584, E-Mail: me@bmgev.de Mittwoch 10 bis 13 Uhr Grafik: nmp (Gestaltung/ Satz/ Bildredaktion) Freitag 10 bis 13 Uhr und 14 bis 16 Uhr Titelbild: nmp (Bilder: Conbrio (li.), Dmicha (mi.), Marcus Pink (re.)/Wikipedia) Fahrverbindung: Belichtung und Druck: Königsdruck Berlin u Möckernbrücke, Mehringdamm, Yorckstraße, i Yorckstraße, ; M19 Redaktionsschluss: 30.03.2021 Bankverbindung: Postbank Berlin, IBAN: DE62 1001 0010 0083 0711 09, BIC: PBNKDEFF © Berliner MieterGemeinschaft e.V. Nachdruck nur nach vorheriger Rücksprache. Der Bezugspreis ist durch den Die Berliner MieterGemeinschaft bietet ihren M itgliedern persönliche Mitgliedsbeitrag abgegolten. Namentlich gekennzeichnete Beiträge stimmen Mietrechtsberatung an (siehe Seite 31 und hintere Umschlagseite). nicht notwendigerweise mit der Meinung der Redaktion überein. Für unverlangt Die rollstuhlgerechten Beratungsstellen sind durch - gekennzeichnet. eingesandte Manuskripte oder Fotos wird keine Haftung übernommen. Achtung! In unserer Geschäftsstelle und in den Vor-Ort-Büros findet während der Öffnungszeiten keine Rechtsberatung statt. PROBLEME MIT DEM VERMIETER? Bei der Berliner MieterGemeinschaft können Ratsuchende kostenlos Bitte ankreuzen und mit Briefmarken im Wert von 0,95 € einfach an folgende Informationsblätter bestellen: folgende Adresse schicken: B ERLINER M IETERG EMEINSCHAFT E. V. Möckernstraße 92 · 10963 Berlin · Telefon 216 80 01 Berliner MieterGemeinschaft e.V. j Betriebskostenabrechnung j Mietvertrag Möckernstraße 92 j Eigentümerwechsel j Modernisierung 10963 Berlin j Heizkostenabrechnung j Schönheitsreparaturen NAME j Kündigung durch den j Umwandlung und Vermieter Wohnungsverkauf VORNAME j Mängelbeseitigung j Untermiete STRASSE j Mieterhöhung j Wohnfläche PLZ ORT j Mietpreisbremse j Wohnungsbewerbung j Mietsicherheit/Kaution j Zutritt und Besichtigung BEZIRKSGRUPPENTREFFEN Neukölln Jeden letzten Montag im Monat, 19 Uhr Beratungsstelle, Sonnenallee 101 u Rathaus Neukölln ; M41, 104, 167 Friedrichshain Jeden 3. Donnerstag im Monat, 20 Uhr E-Mail: neukoelln@bmgev.de Stadtteilbüro, Warschauer Straße 23, - u Frankfurter Tor Ee M10 Prenzlauer Berg Jeden 2. Mittwoch im Monat, 20 Uhr E-Mail: friedrichshain@bmgev.de im Nachbarschaftshaus Helmholtzplatz, Raumerstraße 10 u Eberswalder Straße Ee M10, M2 Kreuzberg Jeden 1. Donnerstag im Monat, 19 Uhr i Prenzlauer Allee i Schönhauser Allee Geschäftsstelle der Berliner MieterGemeinschaft, Möckernstraße 92 u Möckernbrücke, Mehringdamm, Yorckstraße i Yorckstraße ; M19 Wedding Jeden 2. Donnerstag im Monat, 19 Uhr E-Mail: kreuzberg@bmgev.de Tageszentrum Wiese 30, Wiesenstraße 30 u und i Wedding u Nauener Platz i Humboldthain Lichtenberg Jeden 1. Montag im Monat, 18 Uhr E-Mail: wedding@bmgev.de Kiezspinne, Schulze-Boysen-Straße 38 u und i Frankfurter Allee ; 240 Folgende Bezirksgruppen treffen sich unregelmäßig: E-Mail: lichtenberg@bmgev.de Schöneberg, Spandau, Tempelhof Ort und Termin der Treffen bitte erfragen unter 030 – 21002584. Marzahn Jeden letzten Montag im Monat, 19 Uhr Aktuelle Termine unter: www.bmgev.de/verein/bezirksgruppen.html Lebensnähe e.V. Begegnungsstätte, Alt-Marzahn 30 Bei den Bezirksgruppentreffen findet keine Rechtsberatung statt. Rechtsbe- i Marzahn Ee M6, M8, 18 ; X54, 154, 192, 195 ratung erfolgt ausschließlich durch Rechtsberater/innen in den dafür ausge- wiesenen Beratungsstellen (siehe hintere Umschlagseite).
INHALT Liebe Leserinnen und Leser, TITEL Signa plant Großes. Karstadt am Hermannplatz spielt zukünf- tig vielleicht nur noch eine Nebenrolle in den Konzernplänen. 4 Mit Kreuz und Kapital gegen die soziale Moderne Nachdem der russische Monarch-Konzern Ende 2019 am Die Zukunft von Berlins Mitte steht auf der Kippe Alexanderplatz mit dem Bau des 150 m hohen Alexander- Simone Hain turms für 380 Luxuseigentumswohnungen begonnen hatte und der französische Immobilienkonzern Covivio einen Turm von 130 m Höhe mit 200 ebenfalls zur Luxusklasse gehö- 8 Kampf um den Freiraum am Fernsehturm renden Eigentumswohnungen sowie zahlreichen Büroräumen Widerstand gegen die Bebauung des Areals plant, zieht es auch Signa in die immer wertvoller werdende Matthias Grünzig Mitte. Bereits im Sommer dieses Jahres will das Unterneh- men mit dem Bau eines Hochhauses von 134 m Höhe und 10 Volkspalast ohne Geschäftsgrundlage eines Sockelbaus unmittelbar am bestehenden Galeria-Waren- Chronologie eines ideologischen Durchmarsches haus beginnen. Wohnungen sind nicht vorgesehen, dafür im Rainer Balcerowiak Erdgeschoss kleinteiliger Einzelhandel, im sechsten Oberge- schoss ein „Food Culture Market“ und neben wenigen miet- preisreduzierten Flächen für gemeinwohlorientierte Nut- 12 „Nationalsymbol unter nationaler Kontrolle“ zungen massenhaft Büroräume. Fertig soll das Ganze bereits Humboldt Forum als Ort der Geschichtsklitterung 2025 sein. Signa hat gute Chancen, als Erster die bezugsferti- Interview mit Philipp Oswalt gen Büroräume anbieten zu können, denn der Verzicht auf die Schließung von drei Galeria Karstadt-Kaufhäusern brachte der Firma einen vorteilhaften Deal mit dem Senat. Für die 14 Die „Wiederkehr des Alten Wahren“ Planungen der Signa, zu denen auch ein Turm am Ku’damm Schönheit in der Stadtplanung ist nicht unpolitisch gehört, wurden alle erdenklichen Unterstützungen verspro- Tom Kaden chen. Theo Herzberg, der Chef der Signa Real Estate Germa- ny, zeigt sich erfreut. Der aktuelle Planungsstand am Alex sei 16 Mit Kreuz und Reichsapfel Ausdruck einer konstruktiven und partnerschaftlichen Zusam- Schlossattrappe als Schaufenster kolonialer Raubkunst menarbeit zwischen Signa und dem Land Berlin und für die Dirk Teschner Projekte am Kurfürstendamm und am Hermannplatz würden ebenso positive Signale des Senats erwartet, meinte er. Wei- tere Hochhäuser am Alex sind in der Planung oder zumindest BERLIN im Gespräch, alles läuft auf ein Klein-Manhattan hinaus. Das in unmittelbarer Reichweite dieses Hochhauskonglome- rats gelegene Rathausforum, der zur Stadtkrone des sozialis- 18 Mietendeckel scharf stellen tischen Berlins gehörende Freiraum, wird plötzlich zu einer Bezirke setzen das Gesetz nicht konsequent um Immobilie von enormem Wert. Jeder Quadratmeter zählt, Philipp Möller denn hier lässt sich der große Bedarf an Townhouses für die besserbezahlten Angestellten aus den hochwertigen Bürotür- men befriedigen. Benedikt Goebel, als Gründer und Sprecher 20 Grundstücksnutzung als Leihkapital Das Land Berlin setzt verstärkt auf Erbbauvergabe der Planungsgruppe Stadtkern stets vielfältig und immer ein- Karl-Heinz Schubert flussreich in Sachen Stadtplanung unterwegs, äußerte sich be- reits 2014 in einem Interview mit dem RBB über die Zukunft des Rathausforums: „Unsere Vorstellung ist, dass hier die Vor- 22 Gewinner und Verlierer der Corona-Pandemie kriegsparzellen wieder bebaut werden, von einzelnen Bau- Immobilienbranche jubelt über blendende Geschäfte herren mit Wohn- und Geschäftshäusern.“ Dadurch, plädiert Andrej Holm er, würde städtisches Leben hergestellt, und zwar zusammen mit Galerien und Restaurants, „in die man gerne geht“. Der umtriebige Münsteraner Stadtplaner Goebel, Freund von MIETRECHT AKTUELL Restaurants gehobener Preisklasse, verheiratet mit einer Ar- chitektin und Mitglied der SPD, erhält Unterstützung von eta- 24 Mieter/innen fragen – wir antworten blierten Stadtplanern wie Harald Bodenschatz und anderen. Mängelbeseitigung und Mietminderung Und er weiß genau, dass es sich bei dem Projekt „Rathausfo- Hans-Christoph Friedmann rum“ um Deals mit einem Volumen von über 5 Milliarden Eu- ro handelt. Dass sich aber seine stadtplanerischen Visionen ausschließlich darum drehen, würde er sicher nicht so gerne 27 RECHT UND RECHTSPRECHUNG bestätigen. 31 SERVICE 32 RECHTSBERATUNG IHR MIETERECHO MieterEcho 416 April 2021 3
TITEL Mit Kreuz und Kapital gegen die soziale Moderne Noch ist der Kampf um die Zukunft von Berlins Mitte nicht entschieden Von Simone Hain autark, aber eine überwölbende bauliche Form sollte den Zusammenhang verkörpern. Diese Idee hat Berlins Mitte in Der Diskurs über die „Offene Mitte“ von Berlin hat eine kom- eigentümlicher Weise geprägt. Auch wenn der sinngebende plexe Entwicklungsgeschichte und mehr als einen rein bo- Glaspalast abgebrochen worden ist, bleibt rund um den Fern- denwirtschaftlichen Hintergrund. Einerseits reagiert er ge- sehturm ein städtebauliches Ensemble, das sich vielschichtig zwungenermaßen auf einen diametralen Richtungswechsel und kunstreich um eine Riesennadel dreht. Diese Nadel sagt: der Stadtentwicklungspolitik. Wie überall in der kapitalisti- Hier, genau hier spielt die Musik. Hier passiert im Großen schen Welt finden auf ehemals sozialisiertem Raum mit der und Ganzen und vor aller Augen, was ihr auch nicht in Eu- Postmoderne Kräfte ihren Entfaltungsraum, die unter dem ren Kiezen haben wollt. Denn im symbolischen Zentrum der Leitbild der „Rückkehr der Stadt“ oder der „Renaissance Stadt tobt jene wütende Kraft der Durchkreuzung, die in den des Städtischen“ mit dem 20. Jahrhundert abrechnen. Das Quartieren zur strukturellen Gewalt gerinnt. Die zukünftige 20. Jahrhundert hatte – mit den Worten von Bruno Taut ge- Gestaltung der Berliner Stadtkrone, die mit dem laufenden sprochen – den „sozialen Gedanken“ als zentralen Glau- Ideenwettbewerb aktuell aufgerufen ist, wird richtungsent- bensinhalt gesetzt, indem es das Gemeinwohl klar über scheidend sein. Schach matt dem schwarzen König! den Eigennutz der Immobilienwirtschaft erhob. Abrechnung mit der Moderne Sozialismus war weit mehr als nur eine Utopie, sondern mit Unter der expliziten Absage an die angeblich so aggressive, dem Bewusstsein um Mittel und Wege jederzeit Plan für eine Stadtbild und Eigentumsschema verändernde, licht-, luft- und bessere Welt. Wo einst der Palast der Republik als gläsernes gründurchwirkte Moderne wird seit geraumer Zeit mit preis- Volkshaus und der große Garten zu Füßen des Fernsehtur- bezogenen Aufwertungsabsichten eine baupolitische und äs- mes stand, hat der Geist der Abrechnung eine unübersehbare thetische Rückkehr zum vorgeblich besseren Städtebau des Bresche geschlagen. bürgerlichen Zeitalters betrieben. Die Restitution fokussiert Noch aber kann die Planfigur der Emanzipation, die einen auf das eigentumsrechtliche Prinzip der Parzelle, die ord- Freiraum zum Mittelpunkt des Gemeinwesens hat, jeglichen nungspolitische Wirksamkeit des Fluchtlinienplanes, den als Versuchen der Enteignung trotzen. Tauts Vision einer die heilig erklärten Stadtgrundriss und die traditionelle Häuslich- Kathedralen und Schlösser der Vergangenheit ersetzenden keit simulierende, steinerne Lochfassade. „You couldn’t do it sozialen Stadtkrone war als Monument einer vom Besitz be- better“ ist eine Losung, mit der ursprünglich Prince Charles freiten Menschheit gedacht, für die die Erde eine gute Woh- Taskforce für „New Urbanism“ den postmodernen Traditiona- nung ist. Alle Siedlungen waren autonom und weitgehend lismus einer marktorientierten Architektenschaft angeblasen hat. In Berlin hatte sich mit ihrem „Planwerk Innenstadt“ aus- gerechnet die Sozialdemokratie die postmoderne Revision der sozialen Bestände zu eigen gemacht. Schon die gesamte Ar- chitekturentwicklung des 20. Jahrhunderts, so die Behauptung, sei eine Fehlentwicklung gewesen, aber die DDR-Gestaltung der Innenstadt habe dem „Mord am Bürgertum“ noch die Kro- ne aufgesetzt. Die öffentliche Herabwürdigung der gebauten Umwelt dieser Epoche, auch wenn sie leiser und vorsichtiger geworden ist, bedeutet eine krasse Verkehrung jener kulturel- Foto: Sissy Furgker len Werte, die den Spekulationsstädtebau einem Bruno Taut einst als „gebaute Gemeinheiten“ erscheinen ließen. Die an- tisoziale Ästhetisierung von Parzelle, Bauflucht und steiner- ner Lochfassade dagegen ist ein programmatisch ausgerichte- ter Gegenschlag, der einst in Harvard als Polemik gegen den Prof. Dr. Simone Hain ist Architekturhistorikerin, Mitglied der Deutschen „unamerikanischen“ Sozialismus der deutschen Architektur- Akademie für Städtebau und Landesplanung und war zuletzt Leiterin des Immigranten vom Bauhaus begann. Instituts für Stadt- und Baugeschichte an der Technischen Universität Graz. Ihre Schwerpunkte sind Stadtforschung und Geschichte des Als die maßgebliche, umweltgestalterische Option des Neoli- modernen Planens und Bauens. beralismus hat sie sich seit den 80er Jahren weltweit durch- gesetzt. Jetzt kehrt die Front der globalen Auseinandersetzung 4 MieterEcho 416 April 2021
TITEL TITEL Dem Fernsehturm als Symbol der sozialistischen Hauptstadt der DDR wird jetzt die Attrappe des Hohernzollernschlosses als Symbol der Restauration gegenüber- gestellt. Foto: Matthias Coers gewissermaßen an den Berliner Ursprung zurück. Genau da- geteilten Hauptstadt, jenem architektonisch reif ausformulier- hin, wo der siegreiche Lauf der Sozialisierung mit der Archi- ten Epizentrum des Kalten Krieges, wird der Gegenangriff der tektur des Arbeitsrates für Kunst und den Architekten der No- Konterrevolution noch einige Stockwerke tiefer geführt. Hier vembergruppe einst begann, dem die DDR im Wiederaufbau geht es nicht allein um Aufwertungskonzepte und triumphale ein einst gefeiertes eigenes Kapitel hinzufügte. Weil die neo- Siegeszeichen durch „wertige Architektur“, sondern um Ein- liberale Umweltgestaltung grundsätzlich auf Reprivatisierung bruch in das kollektive Unterbewusstsein. Revanchistisch ist öffentlich gewidmeter Freiräume und dem Rückbau soziali- in Berlin nicht allein die Stadtentwicklung, sondern auch die sierter moderner Bauensembles beruht, ist der Charakter dieser mentale Verarbeitung der „Wende“ gewesen. Als grundsätzli- Politik längst entlarvt. Alain Touraine hat die „Renaissance der cher, endgültiger Abschied von den Utopien wie von den kon- Stadt“ einen „Adelsnamen für eine Politik der Ausgrenzung“ kreten Tatsachen einer energisch sozialisierten Welt. genannt. Denn hinter dem Angriff auf Häuser und Freiräume verbirgt sich leicht erkennbar der Angriff auf Menschen, die Brainwashing für neues Selbstbild künftig keinen Platz in den von Konsum und Mietspekulation Während wir uns wahrscheinlich leicht darüber einig sind, dass gezeichneten städtischen Zentren mehr finden werden. So wie auf das seit 1918 baulich zunehmend kommunalsozialistisch, der französische Soziologe haben es auch namhafte amerikani- genossenschaftlich und staatssozialistisch geprägte Berlin im sche Stadtforscher klar benannt: Neil Smith sprach von „revan- Jahr 1990 der rauschhaft entfesselte Neoliberalismus herein- chistischem Städtebau“ und Christine Boyer von einem total brach und sich bis heute austobt, ist eine andere Entwicklung geführten Angriff auf sämtliche Errungenschaften einer mehr nicht recht fassbar im Dunkeln geblieben. Irgendwie unterir- als hundert Jahre lang paradigmatisch marxistisch geprägten disch, aber zu jedem Zeitpunkt der vergangenen drei Jahrzehn- Politik der Integration arbeiterlich lohnabhängiger Mieter, te erkennbar, ging es auch darum, nicht nur die Stadtgestalt Nicht-Eigentümer von Grund und Boden. Zur Erinnerung: an sich, sondern auch das Selbstbild der Berliner umzudrehen. Privater Grundbesitz und demokratische Teilhabe, namentlich Wenn alle widerstandslos mitmachen, wenn die Musik spielt. passives Wahlrecht, waren historisch so eng verbunden, dass Das kollektive Brainwashing wurde beharrlich als Bilderstreit nach dem Fall des Sozialistengesetzes die Arbeiterpartei für ausgetragen und die soziale Realität der wiederaufgebauten ihre Führer Häuser kaufen musste, damit sich diese auch tat- Stadt als hässlich, architektonisch arm und vor allem viel zu sächlich zur Wahl stellen konnten. Hier haben wir also ein Bür- landschaftlich, ja unerträglich grün in Frage gestellt. Das, was gerlichkeitsideal aus der Bismarckzeit, in der der Zugang zum Berlin ausmacht, der sozial-räumliche Bestand einer transfor- politischen Raum unmittelbar mit einem Grundbucheintrag mierten wie revolutionierten Gesellschaft galt als Unwert. Als verbunden war. Reprivatisierung und politische Entmündigung solle sie auch architektonisch alle Irrläufe und Verwerfungen der Mieter, gewissermaßen Freiheitsberaubung, sind zwei Sei- der Geschichte hinter sich lassen, nahm die ohnehin laufen- ten einer Medaille. So weit, so grenzenlos schlecht. de neoliberale Immobilisierung der Werte in Berlin zugleich In Deutschland allerdings, zumal in seiner systemisch lange noch die Form eines kulturellen Wertewandels an. Es ging um MieterEcho 416 April 2021 5
TITEL das Bewusstsein von einem „normalen“ Lauf der Geschichte das steinerne Versatzstück am sensibelsten Ort der Stadt. Was als Zielpunkt der Revision. Bei dieser gedanklichen Operati- also wird es bei so viel Überdruss wohl demnächst anstiften? on spielte der im berühmten „Historikerstreit“ der 80iger Jah- Zank mit dem Fernsehturm, Auslaufen ins benachbarte räumli- re namhaft gemachte deutsche Sonderweg eine maßgebliche che Vakuum? Wird es sich seinen Neptunbrunnen rauben oder Rolle. Dabei handelt es sich kurz gesagt um eine vom Westen am Ende einfach zu wenig auf dem Sprung gewesen sein, den deutlich abweichende, sehr eigentümlich deutsche Variante der Kampf um die Berliner Liebe zu bestehen? Despotie. Als könne man den Prozess der Zivilisation damit Wenn zu seiner Entzauberung noch irgend etwas gefehlt haben auflösen, wird anstelle des ewigen Kämpfens bis an die Gren- sollte, damit seine Zwanghaftigkeit offenbar wird, so hat es die ze des Bürgerkrieges, anstelle der prekären demokratischen Kuppel mit dem umlaufenden Spruchband an den Tag gebracht. Mehrheiten und systemischen Schwächen des Kapitalismus Der Spruch hat die ganze Gegenutopie dreist in die Stadt ge- eine deutsche Apartheid behauptet. spuckt. Das Schloss steht und fällt mit seiner einzig gegebenen Die mentale Operation ist so spekulativ wie ansteckend gewe- Funktion, zur Idee der sozialen Stadtkrone in Widerspruch zu sen: Alle Stämme, Klassen, Stände, Länder und Kommunen gehen. Er wirft ein Preußentum mit Darth Vader-Fassade in seien unter dem Dach Preußens in einer machtvollen identitä- die Waagschale, auf deren anderer Seite der Fernsehturm und ren Umklammerung in Bann geschlagen gewesen, vorbildlich seine wunderbare psychedelische Kugelhaut herausfordernd zur Raison gebracht. Allein durch Paternalismus, Strenge und gegenübersteht. Da steht eine Monsterarchitektur von Schloss Kunst hätte sich jene autoritäre Ordnungsmacht legitimiert, und will für Abkehr von 1. Sozialismus (Ausradierung eines die Deutschland lange Zeit dominierte. In jenem idealisierten Volkspalastes), 2. Demokratie (schwarz-weiß-roter Sonder- Preußen als normativem staatlichen Ideal, so die an Volltrun- weg) und 3. Kommune (Der Urkonflikt: Schon die Hohenzol- kenheit erinnernde Verblendung, habe jene „machtgeschützte lernburg wurde zwangsweise auf städtischem Grund errichtet Innerlichkeit“ (Thomas Mann) blühen können, durch die sich und ist immer bekämpft worden) werben, und beachtet doch die Deutschen als Kulturnation auszeichneten. Innerlichkeit nicht, dass die sachliche Gegnerschaft so unendlich reicher, soll den seit Luthers reformatorischem Staatschristentum gras- verheißungsvoller vorgetragen ist. Welche Seite der Berliner sierenden Mangel an Öffentlichkeit aufwiegen. Der kritische Stadtkrone wird wohl siegen? Das völlig nutzlose „Schloss“ Citoyen wird durch den Bildungsbürger ersetzt, universelle oder die schlanke Stecknadel, die sagt: Hier ist Berlin, hier be- Werte durch bürgerliche Befindlichkeiten und Narzissmus. weise Deine Kunst als Tänzer! Mache die Welt schön, lade zum Wie verführerisch das spekulative Wesens-Palaver ist, zeigt Gastmal. In einem offenen Raum, der Himmel, Erde, Spree sich darin, dass ein Thomas Mann diese Überlegungen im Wi- und Kunst, Marx und Engels, Zuckererbsen, Engel, Spatzen, derstreit mit seinem Bruder in denkbar ausführlichster Weise Stadthasen und Regentropfen lustvoll vereint. ausgebreitet hat. Genau die hier gegebene Form des politisch Mitten in Berlin, im Herzen, wie man so schön sagt, stehen unverantwortlichen Redens über alles auf einmal entspricht sich damit auf kürzester Distanz zwei Welten gegenüber. Das dem Wertekanon der neokonservativen Bewegung perfekt. Angebot der Revanchisten läuft auf völlige Unterwerfung Sein Gegenbild ist der klar strukturierte analytische kritische durch Kniefall und mit den Wölfen heulen hinaus. Die pflegli- Diskurs. Eine geniale Konstruktion im Grunde genommen, mit che Weiterentwicklung der „Offenen Mitte“ dagegen bedeutet der die faktische Weltverlorenheit und Entfremdung in eine ein anderes Berlin. Die Dinge haben sich aber nicht einfach Tugend verwandelt werden kann. So unglaublich es klingt: Die nur von selber zur letzten Entscheidung aufgestellt. Sie sind Verwandlung des politischen Raumes zu einer substantialisti- Ergebnis einer ausführlichen, vom Historikerstreit abzweigen- schen Nabelschau ist lange vor Corona die eigentliche gesell- den Diskursschiene gewesen, in der zwar viel von Heilung die schaftliche Pandemie gewesen. Weit bedrohlicher als ein Virus Rede war, während aber tatsächlich immer mehr Menschen an hat sich das reaktionäre Muster festgesetzt, nach dem die uni- der Reaktion verzweifelten und erkrankten. Möglicherweise versellen Werte von Christentum, Sozialismus wie Liberalis- haben sie in den Kiezen, den Mietergemeinschaften und Häu- mus und revolutionäre egalitäre Forderungen eine Bedrohung sersyndikaten noch mal neu das Kämpfen gelernt, um jetzt, wo sind. Wer nun glaubt, das alles hat mit der Mitte Berlins und es Zeit wird, auch für das Ganze einer Richtungsentscheidung insbesondere mit der Gemeinschaft aller Berliner Mieter/innen bereit zu sein. Denn die Stadtkrone betrifft alle Berliner, so überhaupt nichts zu tun, dem möchte ich folgende Gedanken autonom sie auch leben mögen. Sie gibt den „Spirit“ vor. antragen. Dabei ist wichtig, auch die weniger sichtbaren Fallstricke und unterirdisch verbundenen Gänge im Blick zu behalten. Ausge- Der Aufstand der Dinge hend vom Feuilleton und den Geschichtsdokumentationen der Ernst Bloch hatte die traumhafte Idee, die Dinge würden, Fernsehsender ist ein Geschichtsbild aufgebaut, mit dem das wenn wir nicht hinsehen, wie Schiffe nachts auf dem Wann- Spiel um Blut und Boden unmerklich wieder gesellschaftsfä- see von selber auf Kollisionskurs gehen. Wir brauchen, zumal hig geworden ist. Und Eigentum verpflichte zu rein gar nichts mit unseren unter der Zangengeburt schmerzenden Köpfen, ei- mehr. Im grassierenden Lob des Bürgertums und des preußi- gentlich gar nichts tun: Unsere Baulichkeiten, die Häuser, die schen Idealismus festgezurrt, werden aalglatt und geschwind Spreebrücken und auch die Denkmäler trügen die Spannungen die Geschäfte der Immobilienwirtschaft optimiert. Damit es und Konflikte irgendwie ganz von alleine aus. Und es crasht nicht so brutal und raffgierig wirkt, wie es ist, wird Preußisch auch gewaltig in Berlin. Einfach weil hier weiter ein Gespenst Blau drüber gepinselt. Denn sie gehören zusammen gedacht umgeht. Im letzten Jahr ist nicht allein der Flughafen fertig ge- und auch in Werkgemeinschaft begriffen: Jene Think Tanks bei worden, sondern ein weiteres, ebenso unzeitgemäßes wie heil- FAZ und Die Welt, denen die Ressorts Zeitgeschichte und Im- los unnützes Großprojekt, das jetzt sinnlos daliegt und auf tolle mobilien gleichermaßen redaktionelle Heimat war. Wer Land Abenteuer aus ist. Das sogenannte Schloss ist fertig geworden, erobern will, muss das intellektuell vorbereiten. Das ist in im- und niemand weiß, was man damit künftig überhaupt anfan- mer größer werdenden Kreisen geschehen, die ihren Ausgang gen soll. Man kann ja noch nicht einmal hinsehen, so weh tut bei Joachim Fest oder Rainer Zitelmann, um Arnulf Baring 6 MieterEcho 416 April 2021
TITEL Das Niederkartätschen der Märzrevolution von 1848 diente als Vorlage für den Schriftzug an der seinerzeit gerade im Bau befindlichen Schlosskuppel. Damals wie heute wird vom Volk gefordert, sich bedingungslos der staatlichen und göttlichen Gewalt zu unterwerfen. Foto: akg-images oder Alexander Gauland, um Karl Schlögel und dem Erz-Ter- und besonders den vor den Toren des Schlosses kämpfenden minator des DDR-Sozialismus, Bernd Faulenbach, nahmen. Demokraten die totale Unterwerfung befohlen. Der geforderte Das „Schloss“, die geraubten Benin-Bronzen inklusive, ist Kniefall ist ein ikonografischer Topos der sich mit der Idee des nicht einfach unterlaufen. Sondern es gab den übergeordne- Rittertums, genau genommen des in den Stand erhebenden Rit- ten Plan, die kulturelle Hegemonie der Linken und den Geist terschlages, der Akkolade, verbinden lässt. Rückt anstelle der von 1968 zu brechen. Es hat einen Erdrutsch gegeben als der ursprünglich adelnden „Frau Welt“ wie am Berliner Schloss reale Sozialismus zusammenbrach und die westdeutsche Lin- hingegen Jesus als Weltenherrscher ins Bild, so wird mit dem ke mitriss. An Raubzug und Kolonialisierung beteiligt, hat sie Kniefall neben der Reichsidee die tausend Jahre alte Gotteskrie- sich weitgehend kompromittiert. Deutschland hat am „Ende gerschaft adressiert. Es geht dabei nicht allein um die Milizen der Utopien“ nach einer starken Gegenerzählung gesucht und des Herrn, sondern historiographisch konkret um Heroisierung sie unter Aufgabe der „Kritischen Theorie“ auch ausgelie- der gentilen Landnahme, um Reconquista als Rückeroberung, fert. Das Herbeischreiben einer ständestaatlichen alternativen oder um die Kolonisierung der Welt im Namen des Christen- Ordnungsidee – für die der Schlossneubau steht – ist nicht im tums. Das durchsetzungsstark vorangebrachte Schlossprojekt publizistischen Nirwana geschehen. Ein Aufbaukommando bedeutet also weit mehr als fleißige Heimatkunde und folgt nur hat zielstrebig auf die Schlussfolgerung hingearbeitet, die uns an der Oberfläche betrachtet einem restaurativen Impuls. Im noch immer bass erstaunt. Und schließlich in der Behauptung Grunde genommen sollen wir alle durch Faktizität dazu ver- gipfelt, dass Naziherrschaft und Kommunistische Republik nur führt werden, uns einer vorgetäuschten elitären Wirklichkeit ein „Fliegenschiss“ oder bestenfalls eine Fußnote der großen zu fügen. Den konservativen Wertewandel durch Zustimmung Geschichte der Deutschen seien. Genau hier nämlich gründet affirmieren. Wir sollen alle mitspielen, uns gewöhnen, protofa- diskursanalytisch betrachtet der Spruch: „Hol Dir Dein Land schistisch immer mehr aufladen lassen, völlig wehrlos werden. zurück!“ Doch hübsch der Reihe nach. Wer in den Anfängen der „Schlossdebatte“ aufmerksam die forcierenden Schriften von Joachim Fest, Wolf Jobst Siedler Der Kniefall als Symbol oder Arnulf Baring gelesen hat, konnte das Ziel bereits sehen, Der Zusammenstoß zwischen der steinernen Masse des soge- noch ehe das Denken in die Verwirklichungsphase überging. nannten Schlosses mit dem luftig-landschaftlichen Park unter Es ging, und das ist die besondere Crux im Falle der deutschen dem Fernsehturm ergibt eine stadtbildliche Konfrontation, die Antimoderne, das im Vergleich einmalig Hinterhältige, schon zum Himmel schreit. Dem freien, offenen Raum im Osten steht ganz früh um eine verführerische Gegenutopie. Die stolze Idee am anderen Ufer – im Westen – nun jener gebaute Kniefall ge- der Plebejer von einem jenseits der eigenen existenziellen Inte- genüber, wie ihn die Kuppel in goldenen Lettern manifestiert. ressen liegendem emanzipatorischen Ziel war Herausforderung Sie wurde in den Märzkämpfen 1848 errichtet und ist, wie jede genug, jene projektive Idee der besseren Welt, des Heimkeh- Kuppel, ein Symbol der Totalität und im politischen Kontext rens im Sinne von Bloch. Noch aber ist sie in Berlin als Städte- imperial. Mit dem Spruch wird dem ganzen lebenden Erdkreis, bau der Freizügigkeit konkret zu erleben. h MieterEcho 416 April 2021 7
TITEL Foto: Matthias Coers Kampf um den Freiraum am Fernsehturm Die Initiative Offene Mitte Berlin stemmt sich gegen die Privatisierung und Bebauung des Areals Von Matthias Grünzig der Initiative Offene Mitte Berlin (IOM), die sich seit über fünf Jahren für die Erhaltung und Weiterentwicklung des Freirau- Im Zentrum Berlins, rings um den Fernsehturm, besteht mes einsetzt. eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite befindet sich Bereits im Herbst 2013 beschloss das Abgeordnetenhaus ein hier ein Ensemble, das mit genau jenen sozialen und öko- ergebnisoffenes Bürgerbeteiligungsverfahren mit dem Titel logischen Qualitäten aufwarten kann, die heute aktueller „Alte Mitte – neue Liebe“, in dem über die Zukunft dieses denn je sind. Hier befinden sich über 2000 Wohnungen in bester Innenstadtlage, die sich allesamt im Eigentum der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Mitte befinden und auch für Normalverdiener bezahlbar sind. Hier gibt es einen großen öffentlichen Freiraum, in dem sich jeder aufhalten kann und der von einer vielfältigen Nutzerschaft bevölkert wird. Hier existieren große Grünflächen mit zahl- reichen Bäumen, die das Stadtklima positiv beeinflussen. Und hier stehen natürlich wichtige Architekturikonen, wie der Fernsehturm, die zu den Attraktionen Berlins gehören. Doch gleichzeitig ist dieses Ensemble seit Jahren massiven Foto: Privat Angriffen ausgesetzt. Immer wieder melden sich gut organi- sierte Interessengruppen zu Wort, die eine Privatisierung und Bebauung des Freiraumes propagieren. Vor allem die Pla- nungsgruppe Stadtkern im Bürgerforum Berlin betreibt eine Matthias Grünzig arbeitet als als freier Journalist und Bauhistoriker und systematische Kampagne für eine Bebauung dieses Raums. engagiert sich in der Initiative Offene Mitte Berlin. Diese Konflikte bilden den Hintergrund für das Engagement 8 MieterEcho 416 April 2021
TITEL Gebietes entschieden werden sollte. Auf der Auftaktveran- nien für die Berliner Mitte. Anschließend ging es darum, die staltung am 18. April 2015 unterschrieben die baupolitischen Bürgerleitlinien mit Leben zu füllen. Ein erster Erfolg war die Sprecher/innen aller Fraktionen des Abgeordnetenhauses ein Eröffnung der Stadtwerkstatt in der Karl-Liebknecht-Straße im „Dialogversprechen“ und versicherten, dass sie die Ergebnis- Sommer 2018. Dort entstand ein vielseitig nutzbarer Veranstal- se des Partizipationsverfahrens akzeptieren würden. Es folgte tungs- und Ausstellungsraum. In der Stadtwerkstatt finden Be- eine Vielzahl an Veranstaltungen, wie Fachcolloquien, Bürger- teiligungsveranstaltungen zu Projekten der Senatsverwaltun- werkstätten, Foren, Online-Dialoge, „Partizipatives Theater“ gen statt, daneben können aber auch Initiativen eigene Projekte und eine Jugendbeteiligung. Insgesamt beteiligten sich rund vorstellen. Auch die IOM nutzte die Stadtwerkstatt für eigene 100.000 Bürger/innen an dem Verfahren. Veranstaltungen. Eine wichtige Zwischenetappe bildete das Halbzeitforum am 5. September 2015, auf dem die Bürger per TED-Ab- Wettbewerb mit Bürgerbeteiligung stimmung über verschiedene Thesen zur Zukunft des Ge- Ein zweiter Schwerpunkt war eine attraktivere Gestaltung der bietes befinden konnten. Zur Auswahl standen sowohl die Grünflächen und eine Erhöhung der Aufenthaltsqualität. Am Erhaltung des Freiraums als öffentlicher Grünraum, als auch 14. Januar 2021 wurde ein diesbezüglicher Wettbewerb aus- die Privatisierung und Bebauung des Gebietes. Eine klare gelobt, dem ein umfangreicher Bürgerbeteiligungsprozess Mehrheit votierte für die Weiterentwicklung des Freiraums vorausging. Zwischen Ende 2018 und der coronabedingten als öffentlicher, nicht kommerzieller Raum und eine grü- Schließung im März 2020 fanden zahlreiche Partizipationsver- ne Oase. Außerdem wurden eine Verkehrsberuhigung und anstaltungen statt, auf denen die Bürger/innen ihre Vorstellun- eine bessere Gestaltung des Spreeufers gefordert. gen einbringen und auf Augenhöhe mit Mitarbeiter/innen der Verwaltung und Wissenschaftler/innen Zukunftsthemen der Starke Privatisierungslobby Stadt erörtern konnten. Fragen des Regenwassermanagements Dieses Bürgerbeteiligungsverfahren bildete auch die Keimzel- und der Biodiversität spielten ebenso eine Rolle, wie die Ver- le der IOM. Denn in den Veranstaltungen trafen sich Bürger/ kehrswende und die Anpassung an den Klimawandel. innen, die sich für diesen öffentlichen Freiraum begeisterten. Im Rahmen dieser Debatte kristallisierten sich auch neue Fra- Sie alle standen vor einem gemeinsamen Problem: Damals gab gen heraus. So zeigten viele Bürger/innen großes Interesse an es zwar starke Interessengruppen, die für eine Privatisierung der Geschichte des Ensembles. Die IOM reagierte darauf mit und Bebauung eintraten. Es existierte aber keine Initiative, die einem umfangreichen Ausstellungs- und Veranstaltungspro- sich explizit für den Erhalt des öffentlichen Freiraumes enga- gramm. Im Februar und März 2019 fand in der Stadtwerkstatt gierte. Gleichzeitig war allen bewusst, dass der Raum auch un- die Ausstellung „Der Komplex Karl-Liebknecht-Straße – zwi- ter Defiziten litt und deshalb weiterentwickelt werden musste. schen Utopie und Realität“ statt. Im Oktober 2019 folgte die Ein Problem waren die Autoschneisen der Spandauer Straße Ausstellung „50 Jahre Berliner Fernsehturm – zwischen All- und der Karl-Liebknecht-Straße, die den Raum zerschnitten. tagsleben und Weltpolitik“, die bis zum Januar 2020 auf dem Ein weiteres Defizit war die wenig einladende Gestaltung des Freiraum am Fernsehturm gezeigt wurde. Parallel dazu gab es Spreeufers. Problematisch war zudem die Nutzung der angren- Vortragsreihen, bei der renommierte Expert/innen und Zeit- zenden Gebäude. Dort gab es neben den Wohnungen auch at- zeug/innen zur Architektur, zur Landschaftsarchitektur und zur traktive Gewerbegeschosse, die allerdings wenig einfallsreich Kunst am Bau referierten. genutzt wurden. Filialisten und andere kommerzielle Angebote Ein weiterer Schwerpunkt war der Verkehr. Laut den Bür- sorgten für Eintönigkeit. Unser Ziel war eine vielfältige Nut- gerleitlinien sollten die Spandauer Straße und die Karl-Lieb- zungsmischung mit kulturellen und zivilgesellschaftlichen Ak- knecht-Straße, die den Freiraum zerschneiden, eine Verkehrs- teuren. beruhigung erfahren. Doch die zuständige Senatsverwaltung Die Konflikte ließen nicht lange auf sich warten. Denn nach für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz unternahm wenig Ak- den Ergebnissen des Halbzeitforums bestand die Gefahr, dass tivitäten, um diesen Beschluss des Abgeordnetenhauses umzu- das Dialogverfahren abgebrochen würde. Die Planungsgrup- setzen. pe Stadtkern bezeichnete das Verfahren als „verschwendetes Daher entwickelten wir im Frühjahr 2019 ein Konzept für eine Geld“ und forderte seinen Abbruch. Das Hauptanliegen der Verkehrsberuhigung. Unserer Forderung verliehen wir durch IOM bestand deshalb zunächst darin, das Verfahren überhaupt ein „autofreies Protestpicknick“ am 31. August 2019 öffent- zu Ergebnissen zu führen. Dieses Ziel wurde mit der Erarbei- lichkeitswirksamen Nachdruck. Gemeinsam mit anderen Kli- tung von zehn sogenannten „Bürgerleitlinien“ erreicht. Darin maschutz- und Verkehrsinitiativen haben wir die Spandauer wurden wichtige Eckpunkte wie die Erhaltung des Freiraumes Straße temporär gesperrt. als öffentlicher, nicht kommerzieller Raum und seine Entwick- Das Ergebnis all dieser Aktivitäten ist ein Auslobungstext zum lung zu einer grünen Oase festgeschrieben. Weitere Punkte wa- Wettbewerb Rathausforum/Marx-Engels-Forum, der auch ren eine vielfältigere Nutzung der angrenzenden Gebäude und viele unserer Vorstellungen beinhaltet. Nach den jetzigen Pla- die Reduzierung des Autoverkehrs. nungen soll der Wettbewerb im August 2021 abgeschlossen Der nächste Streit ging um die Frage, ob die Bürgerleitlini- werden. Doch auch nach dem Wettbewerb wird noch viel zu en durch das Abgeordnetenhaus beschlossen werden sollten. tun bleiben. Eine Herausforderung bleibt der Verkehr. Wir wol- Die Planungsgruppe Stadtkern fuhr starke Geschütze auf, um len den Bereich um den Fernsehturm zu einem Modellgebiet den gesamten Beteiligungsprozess zu diskreditieren. In dem für die Verkehrswende machen, mit einer autofreien Flanier- Verfahren wären „fachlich nicht ausgebildete Personen nach meile vom Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor. Und als ihren Vorstellungen und Vorlieben“ befragt worden, und die Fernziel streben wir eine Kommunalisierung der Fernsehturm- Ergebnisse seien deshalb irrelevant. Doch auch diese Interven- Umbauung an, damit auch hier attraktive Nutzungen entstehen tion blieb erfolglos. Am 9. Juni 2016 beschloss das Abgeord- können. Der Initiative Offene Mitte Berlin werden jedenfalls netenhaus mit den Stimmen aller Fraktionen die Bürgerleitli- auch künftig nicht die Themen ausgehen. h MieterEcho 416 April 2021 9
Foto: Istvan/Wikipedia TITEL Volkspalast ohne Geschäftsgrundlage 18 Jahre vergingen zwischen der Schließung des Palastes der Republik und der Vollendung des Abrisses – Chronologie eines ideologisches Durchmarsches Von Rainer Balcerowiak Gesellschaftsordnung, das verschwinden muss – um somit zu einem Symbol des Sieges im Kampf der Systeme zu werden. Manchmal sind es kleine bürokratische Akte, die in der Bald tauchte auch die Idee des Aufbaus einer Replik des al- Folge enorme politische Dimensionen entwickeln. Am 19. ten Hohernzollernschlosses auf, das sich auf dem Areal einst September 1990 verfügte die Bezirkshygieneinspektion befand und dessen im Krieg weitgehend zerstörte Ruine 1950 Berlin, den Palast der Republik „mit sofortiger Wirkung aus gesprengt worden war. Gründen der Gesundheitsgefährdung durch Asbest für die gesamte öffentliche Nutzung zu sperren“ . Noch am selben Nutzlose Wettbewerbe und Gremien Tag bestätigte der Ministerrat der DDR diese Verfügung Doch zunächst passierte wenig Konkretes. Im März 1993 be- durch einen entsprechenden Erlass. Knapp 14½ Jahre nach schlossen der Bund und das Land Berlin die Auslobung eines seiner feierlichen Eröffnung wurde damit das endgültige internationalen städtebaulichen Ideenwettbewerbes, der insge- Ende dieses politischen, kulturellen und architektonischen samt 1100 Teilnehmer fand. Den ersten Preis errang 1994 der Leuchtturms der DDR-Hauptstadt eingeläutet. Architekt Bernd Niebuhr mit seiner Vorstellung eines moder- nen Baukörpers in den Dimensionen des Schlosses, wobei er Allen Beteiligten war bereits damals klar, dass eine einfache sich dezidiert gegen eine Schloss-Attrappe positionierte. Deren Wiederöffnung nach erfolgter Asbestsanierung keine realisti- Befürworter, allem voran der von dem Landmaschinenunter- sche Option sein konnte. Denn der Palast mit seiner Doppel- nehmer Wilhelm von Boddien 1992 gegründete Förderverein funktion als politisches Zentrum und Volkshaus der sozialisti- für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses, rührten derweil schen Gesellschaft hatte mit der Überführung der DDR in die kräftig die Trommel und durften sich 1993 mit einer auf einem kapitalistische Bundesrepublik seine Geschäftsgrundlage ver- Gerüst vor dem gesperrten Palast platzierten Schlossfassade loren. Von nun an ging es um die künftige Gestaltung und Ver- präsentierten. wertung des Areals im Herzen der vereinten Hauptstadt. Lange Im Mai 1996 beschloss der gemeinsame Ausschuss von Bund Jahre ging es dabei vor allem darum, ob der Palast komplett und Land schließlich ein Konzept, das ein Konferenzzentrum abgerissen wird, oder nach Sanierung teilweise in ein neues mit Hotel, eine große Bibliothek, eine Ausstellungsfläche, so- Gebäudeensemble integriert werden sollte. Eine Auseinan- wie Läden und Geschäfte vorsah. Ein Jahr später begann ein dersetzung, die weniger städtebaulich als ideologisch geführt entsprechendes Interessenbekundungsverfahren, 1998 wurden wurde. Denn große Teile der herrschenden deutschen Eliten 14 Arbeiten ausgewählt. Das Verfahren wurde allerdings ohne begriffen den Palast als verhasstes Symbol einer verhassten Zuschlag beendet, da laut dem Ausschuss kein Vorschlag eine 10 MieterEcho 416 April 2021
TITEL überzeugende Lösung bot. Im Oktober 1997, sieben Jahre nach ine gegossen, fast 8.000 Quadratmeter Teppichboden verlegt der Schließung, begann schließlich die Asbestsanierung des und neues Licht installiert. Hier wurde vor allem der Sieg über allmählich verfallenden Gebäudes, wobei bereits einige Ge- den Sozialismus gefeiert, die 1.200 Gäste ließen sich von Ster- bäudeteile abgerissen wurden. Im November entrollten Gre- neköchen verköstigen und konnten unter anderem Reden von gor Gysi und der Berliner PDS-Abgeordnete Freke Over vom Gerhard Schröder, Angela Merkel, Guido Westerwelle und Dach des Palastes ein Transparent mit der Aufschrift „Stoppt dem polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski den Palast-Abriss“ – und trafen damit auch die Stimmung in lauschen. der Stadt, deren Bewohner/innen sich laut Erhebungen mehr- Diese Phase gab den Befürwortern einer irgendwie gearteten heitlich gegen einen Abriss aussprachen. Bewahrung des Palastes oder wenigstens seiner Funktion als Der Bund-Länder-Ausschuss beschloss schließlich die Ein- offener Kultur- und Begegnungsstätte kurzzeitig Aufwind. richtung einer Expertenkommission, die im Januar 2001 ihre Auch viele bekannte Künstler und Intellektuelle wie Günter Arbeit aufnahm. Ende Dezember 2001 entschied sich die Grass, Dario Fo, Christoph Schlingensief und Daniel Brühl Kommission mit einer Stimme Mehrheit für den Abriss des setzten sich für ein Moratorium ein. Doch Versuche der Linken Palastes und einen Nachbau des Stadtschlosses mit seinen und Grünen im Bundestag, den Abriss zu stoppen und neue barocken Fassaden. In dem Schlossbau sollte das „Humboldt- Konzeptverfahren zu starten, wurden im Januar 2006 mit der Forum“, eine Kombination aus Museum, Bibliothek und Ver- Mehrheit der anderen Parteien abgeschmettert. Der CDU-Ab- anstaltungsbereich entstehen. Im Juli entschied der Deutsche geordnete Wolfgang Börnsen machte in der Debatte deutlich, Bundestag auf dieser Grundlage, dass auf dem Areal ein Ge- worum es geht: Die DDR habe mit der Sprengung des Schlos- bäude in der Kubatur des Stadtschlosses errichtet werden soll. ses ein „geschlossenes Ensemble“ zerstört, um im Zentrum Ein erneuter Beschluss zum Abriss des Palastes folgte rund ein der Republik ein Symbol für sich zu sichern. Dafür könne es Jahr später. keinen Bestandsschutz geben. Wenige Wochen später begann der Abriss, am 1. Dezember 2008 vollendete ein Bagger das Skurrile Siegesfeier in Ruine Zerstörungswerk. Damit waren die Würfel eigentlich gefallen. Da sich die Asbest- Da auch die künftige bauliche Gestaltung und Nutzung der sanierung als schwierig erwies und entsprechend lange hinzog, Schlossattrappe bereits weitgehend geregelt war, ging es an- vor einem Abriss komplizierte geologische Untersuchungen des schließend vor allem um die Finanzierung des Vorhabens, des- sumpfigen Areals und seines Umfeldes notwendig waren und sen Gesamtkosten seinerzeit auf 480 Millionen Euro taxiert das Planungs- und Vergabeverfahren sich ebenfalls sehr zeit- wurden. Der Bund bestand auf einer Kostenbeteiligung des aufwendig gestaltete, war an einen schnellen Baubeginn nicht Landes Berlin als Bedingung für die Nutzung von großen Tei- zu denken. Es folgte die Phase der Zwischennutzungen mit len des Gebäudes durch das „Humboldt-Forum“, was in der Ausstellungen, Performances, Konzerten, Workshops, Sport- damals regierenden „rot-roten“ Koalition kurzzeitig für Krach wettkämpfen und politischen und anderen Veranstaltungen. sorgte. Am 12. April 2007 erklärte Berlins Kulturstaatsekretär Skurrilstes Event war sicherlich die Großveranstaltung des André Schmitz (SPD) im Tagesspiegel: „Die Gespräche mit Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) am 15. Juni dem Bund sind auf gutem Weg. Berlin wird zu seiner politi- 2004. Dafür wurde extra neuer Estrich in die skelettierte Ru- schen und finanziellen Verantwortung stehen“. Berlins heutiger Kultursenator Klaus Lederer (Linke), damals Landesvorsitzen- der der PDS, hielt dagegen: „Wir bringen die landeseigenen Grundstücke mit ein. Eine weitere Finanzierung lehnen wir ab“, sagte Lederer, auch unter Verweis auf den geltenden Ko- alitionsvertrag. Knapp zwei Wochen später gab es Entwarnung, die PDS knick- te ein. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit und Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee (beide SPD) ließen es sich nicht nehmen, das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Bund und Land im Skelett des ehemaligen Volkskammersaals im Palast der Republik bekannt zu geben. Die Tageszeitung junge Welt kommentierte Lederers Rolle rückwärts damals mit bissigen Worten: „Wenn eine Allianz aus DDR-Hassern, preußentümelnden Dumpfbacken, obskuren Geschäftemachern und stadtplanerischen Geisterfahrern einen der zentralen Plätze der Hauptstadt mit einer Stadtschloß-At- trappe verunstalten will, darf die Hauptstadt-Linkspartei.PDS natürlich nicht abseits stehen. Und nachdem Kulturstaatsmi- nister Bernd Neumann (CDU) vor einigen Tagen einen finan- ziellen Beitrag Berlins eingefordert hatte, drängelte sich PDS- Landeschef Klaus Lederer (...) pflichtschuldigst in die erste Reihe der Schloßfinanzierer.“ Anscheinend habe Lederer - wie viele seiner Parteifreunde – „noch eine große historische und persönliche Schuld abzutragen. Wer, wie Lederer, 1987 in der Ein Graffiti auf dem Fundament des 2008 abgerissenen Palastes der Republik jungen Welt als Jung-FDJler in der Rubrik ‚Ich bin vierzehn‘ beschreibt präzise eines der ideologischen Motive dieses kulturhistorischen verkündet hat: ‚Wenn ich groß bin, werde ich ein Kommunist‘, Kahlschlages. Foto: Schreibkraft/Wikipedia hat einiges gutzumachen“. h MieterEcho 416 April 2021 11
Foto: Matthias Coers TITEL „Nationalsymbol unter nationaler Kontrolle“ Interview mit Philipp Oswalt wahren. Wir sollten aber nicht nur über Fassaden reden, son- dern auch über die Frage der Art der Öffentlichkeit, die ent- Am 17. Dezember 2020 eröffnete das Humboldt Forum in steht. Wir haben es in dem Bereich der Stadt mit einer stark den wiederaufgebauten Fassaden des Berliner Schlosses. von Repräsentationsbedürfnissen geprägten Stadtgestaltung Kritiker sehen im Humboldt Forum ein Projekt zur natio- zu tun. Es gibt Botschaften, Ministerien, Autohäuser und so nalen Identitätsstiftung und den Versuch, die deutsche Ge- weiter. Das Herz der Stadt Berlin bräuchte aber eine andere schichte ab 1919 zu verdecken. Art von städtischer, ziviler Öffentlichkeit, so wie wir es bei temporären Nutzungen des Volkspalastes in begrenztem Maße MieterEcho: Wie fühlen Sie sich angesichts der Eröffnung des Humboldt Forums? Philipp Oswalt: Ich fand es bemerkenswert, wie kritisch die öffentliche Rezeption war. Das haben sich die Protagonisten sicher anders vorgestellt. Seit dem Start der Debatte gab es eine breite öffentliche Kritik an den Aufbauplänen und Um- fragen, in denen sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen den Schlossaufbau aussprach. Diese Kritik der Öffentlichkeit ist offenbar bestehen geblieben. Man muss aber auch sehen, dass die Befürworter den Schlossaufbau nicht als den Schlusspunkt einer Entwicklung, sondern als Startpunkt eines Kulturkamp- Foto: Nicolas Wefers fes sehen, um von dort ausgehend weitere Rekonstruktionen einzufordern. Welche Alternativen hätte es zum Wiederaufbau des Schlosses gegeben? Als Alternative empfahl die Expertenkommission bei einer Philipp Oswalt, Architekt und Publizist, unterrichtet seit 2006 an der Neubebauung zu prüfen, inwieweit man Teile des Palastes in Universität Kassel Architekturtheorie und Entwerfen. Von 2009 bis 2014 den Neubau integrieren kann. Dazu gab es Entwürfe. Das wäre war er Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau. adäquat gewesen, um die Geschichtlichkeit des Ortes zu be- 12 MieterEcho 416 April 2021
TITEL hingekriegt haben. Es gab mal den Vorschlag, dort die Berliner des Mangels an Wohnraum hat ein sehr großes Gewicht im öf- Stadtbibliothek zu errichten. Das wäre eine Art der Öffentlich- fentlichen Diskurs angenommen. Es gibt Diskurse um die Ver- keit gewesen, die diesem Ort gutgetan hätte, statt ihn gemein- kehrswende und Mobilität. Insofern sind die Identitätsfragen sam mit der Museumsinsel dem touristischen Geschäft zuzu- der 90er Jahre in den Hintergrund geraten und wir haben heute schlagen. Neben der Frage der Fassade wurde die Frage der funktionalere Anforderungen als in den 90er Jahren. Gleichzei- Programmierung falsch entschieden. tig gibt es keinen wirklichen Bruch mit diesen Städtebaudis- kursen, wie derzeit am Molkenmarkt zu beobachten ist. Das Sie sagten, der Schlossaufbau sei kein Schlusspunkt, son- Problem sind natürlich auch die sehr langen Planungs- und dern eher ein Anfang gewesen. Was kommt als Nächstes? Entscheidungsprozesse bei städtebaulichen Maßnahmen. Es steht nicht nur der Nachbau der Schinkelschen Bauaka- demie bevor. Ich war beim Richtfest zum Zwischenstand Wie müsste ein Paradigmenwechsel aussehen? des Bauprozesses und vor Ort waren Stände, etwa von der Die Fragen von Geschichts- und Symbolpolitik und Identität Gesellschaft Historisches Berlin und anderen Vereinigun- sind sicherlich nur eine Facette des Städtebaus und der Stadt- gen, die die Verlegung des Neptunbrunnens, die Überbauung entwicklung, insofern war ihre Überbetonung problematisch. des Marx-Engels Forums als neue Altstadt ebenso wie die In einer Hauptstadt mit einer sehr problematischen Geschichte Nachbildung historischer Innenräume im Schloss forder- hat sie jedoch eine gewisse Relevanz. Es ist wichtig, dass der ten. Ob das gesellschaftlich durchsetzbar ist, wird sich zei- Diskurs um das Bodeneigentum und den Bodenmarkt eine Pri- gen. Aber das ist die Auseinandersetzung, die zu führen ist. orisierung erfahren hat. Was die Fragen der Geschichtspolitik und der Stadtentwicklung angeht, würde es für mich darum Sie haben in einem Aufsatz über die Rekonstruktion des gehen, die Stadt, wie sie besteht zu akzeptieren und weiter- Stadtschlosses mal geschrieben: „Dieser Bau ist zuerst ein zuschreiben, statt revisionistisch unterwegs zu sein. Die Stadt gesellschaftliches Symbol, seine Gebrauchsfunktion ist se- sollte stärker aus dem Gebrauch ihrer Bürger heraus und nicht kundär.“ Was genau meinen Sie damit? nach ästhetischen Fragen gedacht werden. Es geht um Fragen Die Politik hat sich in den 90er Jahren zunächst für den Fassa- von Raum- und Aufenthaltsqualitäten. Dann stellt sich natür- denaufbau entschieden und erst danach eine Nutzung gesucht, lich die Frage: Was ist mit dem öffentlichen Raum? mit der man das legitimieren kann. Im Sinne einer Political Correctness wurde die Idee des Humboldt Forums geboren, Nochmal zurück zum Schloss. In der jüngeren Vergangen- das eine preußische Selbstbestimmung des heutigen Deutsch- heit gab es viele Diskussionen über das vergoldete Kreuz lands mit einer vermeintlichen Interkulturalität ausbalancieren auf der Kuppel. Sie selbst haben das Kreuz einmal eine ra- sollte. Genau genommen ist das eine ziemlich perverse Form dikale Orthodoxie genannt. Was meinen Sie damit? der Neokolonialisierung, weil es die anderen Kulturen nicht Die Rekonstruktionsprozesse seit den 80er Jahren sind eine nur in Haftung nimmt, sondern instrumentalisiert, um diese neue Form, nämlich eine Rekonstruktion aus der Fotografie. Formen deutscher Identitätsgebung zu legitimieren. Schließ- Es geht darum, verloren gegangene Bauten fotorealistisch lich ist das Ganze zu einem Rohrkrepierer geworden, weil zu reproduzieren. Eine solche Rekonstruktion gab es bis da- die koloniale Vorgeschichte der Sammlungen inzwischen den hin nicht. Rekonstruktion war bis dato immer eine kulturelle Diskurs sehr stark prägt. Der Fassadenaufbau ist ein Versuch Aneignung eines historischen Erbes durch die Gegenwart und einer nationalen Setzung ohne Autorenschaft. Aufgrund der eine Interpretation. Das war so gewollt und es war auch gar eigenen Geschichte traut sich Deutschland momentan keine nicht anders möglich, weil die Überlieferungen gar nicht so nationale Setzung zu machen, sondern vollzieht sie durch den genau waren. Wiederaufbau eines historischen Baus. Hier kann man sich in Von den heutigen Rekonstruktionsbefürwortern ist das nicht einer vermeintlichen Form von Sachlichkeit und Objektivität gewollt. Statt einer kulturellen Aneignung soll es eine tech- verstecken. Man sagt Schlüter sei der Autor. Aber natürlich ist nisch-wissenschaftliche Rekonstruktion des Vorgängerbaus die Entscheidung dieses preußische Herrscherschloss wieder sein. Man konstruiert eine Art Sachzwang, demnach eine Re- aufzurichten, ein Versuch der Bundesrepublik nach 1990 eine konstruktion nur echt ist, wenn sie fotoidentisch ist. Durch die Geschichte zu geben, die sich auf die Zeit vor 1919 bezieht. Frage der Aneignung kommen Sie aber zu der Frage der Be- Ich habe die westdeutsche Perspektive immer so verstanden, wertung. Wie positionieren Sie sich selber zu dem historischen als dass die Bundesrepublik ein neues Staatswesen sei, das eine Sachverhalt? Unter dem vermeintlichen Siegel der Objektivität Vorgeschichte hat und versucht, eine neue Verfasstheit der Ge- verweigert man es, diesen Wertediskurs zu führen. Stattdessen sellschaft auf den Weg zu bringen. Nun haben wir an vielen tut man so, als ginge es darum, verloren gegangene Bauten Stellen dieses Drängen danach, das gesellschaftliche Selbst- zu reproduzieren, und um Schönheit. Unter dem Signum der verständnis weit tiefer in die Geschichte, in vordemokratische historischen korrekten Rekonstruktion verbergen sich aber de Zeiten zurück zu verwurzeln. Das ist meines Erachtens die facto Wertediskurse, Identitätsdiskurse und politische Diskur- wesentliche Botschaft, die dieser Bau aussendet. Er wird als se über das Gesellschaftsverständnis. Das ist beim Kreuz na- Nationalsymbol benutzt und steht unter nationaler Kontrolle. türlich ganz extrem, weil die Kuppel und das Kreuz sowohl Das Schloss ist kein kulturelles, sondern ein politisches Projekt Ausdruck eines reaktionären Gesellschaftsverständnisses und der Identitätsstiftung. sehr problematischen Religionsverständnisses aus dieser post- revolutionären, restaurativen preußischen Zeit nach 1848 sind, Sehen Sie im Bereich des Städtebaudiskurses eine Verände- als auch Ausdruck von Herrschaft und von Unterwerfung. rung durch die rot-rot-grüne Regierung in Berlin? Ich sehe keinen Paradigmenwechsel, sondern eine Verschie- Vielen Dank für das Gespräch. bung von Themen, was den Anforderungen der Zeit geschuldet ist. Die Problematik der Immobilien- und Bodenpreise sowie Das Interview führte Philipp Möller. MieterEcho 416 April 2021 13
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