Thermographie: Temperaturregulation bei Patienten mit infantiler Zerebralparese
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Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems Thermographie: Homepage: Temperaturregulation bei Patienten www.kup.at/ mit infantiler Zerebralparese JNeurolNeurochirPsychiatr Lampe R, Kawelke S, Mitternacht J Online-Datenbank mit Autoren- Gradinger R und Stichwortsuche Journal für Neurologie Neurochirurgie und Psychiatrie 2011; 12 (2), 191-198 Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
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Klinische Studien / Klinische Praxis Thermographie: Temperaturregulation bei Patienten mit infantiler Zerebralparese R. Lampe, S. Kawelke, J. Mitternacht, R. Gradinger Aus der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Technische Universität München, Deutschland Einleitung zunahme der Haut nur partiell aufgeklärt sind. In den periphe- ren Extremitäten wird die Gefäßerweiterung vorwiegend über Die infantile Zerebralparese ist eine Mehrfachbehinderung, eine Abnahme der Freisetzung von Noradrenalin durch die die mehrere Funktionssysteme betrifft. Störungen der hypothalamisch-hypophysäre Achse reguliert. Sprache, Wahrnehmung, Motorik und Intelligenz sowie Anfallsbereitschaft (Epilepsie) und Verhaltensauffällig- Bei infantiler Zerebralparese sind zerebrale Defekte oder eine keiten charakterisieren die infantile Zerebralparese in ihrem Schädigung bekannt, die nicht fortschreiten und vor Ab- Symptomkomplex einer Mehrfachbehinderung [1]. Allge- schluss der wichtigsten morphofunktionellen Reifungspro- mein bekannt, aber in der Literatur wenig berücksichtigt zesse des Gehirns aufgetreten sind. Um ein genaues Ausmaß werden vor allem vegetative Dysregulationen. Feldkamp und die Lokalisierung des für die Behinderung ursächlichen zählt in diesem Zusammenhang eine große Anzahl von zerebralen Defekts zu bestimmen, kann ein MRT des Kopfes Symptomen auf: Rhythmusstörungen des Schlafes und der angefertigt werden. Atmung, vermehrtes Schwitzen und Speichelfluss, vermin- derte Hautdurchblutung und Schwierigkeiten des Stuhl- Warum eine Schädigung im motorischen Kortex eine so aus- gangs [2]. Diese vegetativen Störungen werden bei der geprägte Temperaturregulationsstörung zur Folge haben Anamnese des Patienten mit Zerebralparese oft erst auf den kann, wenn doch die Temperaturregulation vornehmlich über zweiten Blick beachtet. Sie sind aber wesentlich für Lebens- den Hypothalamus bzw. die hypothalamisch-hypophysäre qualität und Wohlbefinden. Nicht nur für den Betreffenden Achse erfolgt, bleibt noch zu erforschen. Inwieweit die selbst, auch für die pflegenden Personen sind sie von großer zerebrale Schädigung über die Schädigung des motorischen Bedeutung. Areals hinaus, aber in der Bildgebung nicht direkt nachweis- bar den Hypothalamus und die vegetative Regulation mit ein- In der vorliegenden Studie galt es herauszufinden, ob vegeta- bezieht, ist bisher nicht publiziert. tive Dysregulationen, insbesondere die Hautdurchblutung, bei der Zerebralparese abhängig von motorischen Fähigkeiten Material und Methode sind. Um das Krankheitsbild der Zerebralparese und Zusam- menhänge zur Temperaturregulation zu verstehen, erscheint An den Messungen nahmen 22 Probanden der Testgruppe mit ein kurzer Überblick über die Temperaturregulation bei ge- infantiler Zerebralparese und 6 gesunde Probanden der Kon- sunden Menschen sowie über zerebrale Defekte sinnvoll: trollgruppe teil. Die Patienten besuchen das „Münchner Förderzentrum“ (MFZ). Hier arbeiten sie in einer Werkstatt Der Mensch benötigt für ein reibungsloses Funktionieren der oder Förderstätte für behinderte Menschen, da sie aufgrund Organe eine konstante Temperatur von 37 °C. Diese Tempe- der Schwere ihrer Behinderung bzw. Mehrfachbehinderung ratur sollte bei wechselnder Umgebungstemperatur als nicht für den ersten Arbeitsmarkt ausbildungsfähig waren Körperkerntemperatur erhalten bleiben. Um diese ständig bzw. sind. aufrecht zu halten, muss der Körper in der Lage sein, Wärme zu produzieren und abzugeben. Je nach Umgebungstempe- Die Verteilung von weiblichen und männlichen Teilnehmern ratur schwankt die Körpertemperatur in der Körperschale. Als war in beiden Gruppen jeweils 50 %. Das Durchschnittsalter Indifferenzbereich der Umgebungstemperatur gelten 25 °C der Testgruppe lag im Mittel bei 33,9 ± 13,7 Lebensjahren und im Wasser 30 °C, d. h. alles was niedriger ist, fördert die (Median 28 Jahre; 20–61 Jahre) und in der Kontrollgruppe bei Wärmeproduktion [3]. Die mittlere Hauttemperatur schwankt 29,8 ± 9,6 Lebensjahren (Median 29,5 Jahre; 16–46 Jahre). 15 am Arm zwischen 30 und 32 °C und am Bein zwischen 27 und Teilnehmer der Testgruppe waren aufgrund einer bilateralen 29 °C [4]. In der Peripherie wird durch Thermorezeptoren der Zerebralparese auf einen Rollstuhl angewiesen, wobei eine Ist-Zustand gemessen und an den Hypothalamus weitergelei- selbständige Fortbewegung im Aktivrollstuhl oder im E-Roll- tet. Der Hypothalamus steuert die Thermoregulation und ist stuhl möglich war („Gross Motor Function Classification für die Messung der Kerntemperatur zuständig [3]. Die in der System“-Stufe IV [7]). 5 Teilnehmer benötigen bei unilatera- Peripherie vorhandenen Temperaturrezeptoren teilen sich ler Zerebralparese keinen Rollstuhl im Alltag (3 mit GMFCS- in Kalt- und Warmrezeptoren, die Aufgabengrenze liegt bei Stufe I, 2 mit Stufe II) und 2 Teilnehmer benötigen bei bein- 36 °C [4]. Die Steuersignale, die das Kältezittern aktivieren, betonter bilateraler Zerebralparese teilweise einen Rollstuhl werden vom Hypothalamus erzeugt und an das motorische (Gehstrecke > 100 Meter, GMFCS-Stufe III). Der GMFCS System weitergetragen, die Steuersignale zur Weitstellung der Bewegungseinschränkung ist eigentlich für Kinder und der Gefäße werden auch vom Hypothalamus erzeugt und an Jugendliche bis 18 Jahre vorgesehen, wurde aber in dieser das sympathische System weitergeleitet [5]. Deussen [6] be- Studie zur Klassifikation aller Probanden angewendet. Eine schreibt aber, dass die Mechanismen der Durchblutungs- Validierung liegt aber auch für Erwachsene vor [8]. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2) 191 For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Klinische Studien / Klinische Praxis Eine Standard-Klassifizierung der manuellen Fähigkeiten wurde nicht durchgeführt, stattdessen eine eigene Kraftmes- sung und funktionelle Zuordnung der Hände. Der „Bimanual Fine Motor Function Score“ (BFMF), der häufig bei Kindern zur Klassifizierung der handmotorischen Fähigkeiten heran- gezogen wird, korreliert nach [9] hochsignifikant mit dem GMFCS. Alle Patienten hatten eine spastische Zerebralparese. Patien- ten mit einer ataktischen Zerebralparese, die das MFZ besu- chen, zeigten nicht genügend Ausdauer für die Teilnahme an der Studie. Ausschlusskriterien waren Begleiterkrankungen wie Hautdefekte, akute Infekte, kardiologische Erkrankungen oder Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes. Weiterhin Abbildung 1: EMG der Fingerflexoren der Probandin aus Abbildung 2 mussten die Probanden die Fähigkeit besitzen, über den Zeit- raum der Untersuchung eine gewisse Bewegungsruhe auf- lauf. Das durch die Hand bzw. den Unterarm verdrängte Was- bringen zu können, deshalb wurden Patienten mit vorwiegend ser wird in einem Messbecher aufgefangen und auf einer dyskinetischen Bewegungsunruhen ausgeschlossen. Die in- geeichten Waage gewogen. Über das bekannte spezifische fantile Zerebralparese an sich bringt eine heterogene Erschei- Gewicht des Wassers wird das Volumen des Körperteils be- nung der Behinderung mit sich, die sich sowohl im Muskel- stimmt. tonus als auch in den kognitiven Fähigkeiten wie Konzentra- tionsfähigkeit und Ausdauer äußert. Die Patientengruppe Elektromyographie wurde deshalb unvermeidlich, aber auch bewusst heterogen Eine Untersuchung der oberen Extremitäten mithilfe des gewählt. Oberflächen-Elektromyogramms wurde in diese Studie mit einbezogen, um über die Selektivität der Ansteuerung Infor- Für die Diagnosen wurden die aktuellen Bezeichnungen des mationen zu erhalten und die Präferenzhand im Seitenver- „Executive Committee for the Definition of Cerebral Palsy“ gleich zu ermitteln. gewählt, wie unilaterale, bilaterale oder bilateral-beinbetonte Zerebralparese, die die klassischen, in Forschung und klini- Die Elektromyographie misst die spontane und die bei Will- scher Praxis überwiegend verwendeten Begriffe Hemiparese, kürinnervation auftretende elektrische Aktivität der Muskeln. Diparese und Tetraparese bzw. Hemiplegie, Diplegie und Die spontane unwillkürliche Aktivität spiegelt also den Tonus Tetraplegie ersetzen sollen, um eine gemeinsame internatio- der Spastik wider. Die willkürliche Innervation spiegelt die nale Sprache zu definieren [10]. aktive, selbstbestimmte Bewegungsausführung, ohne dabei eine Aussage über die Qualität der Bewegung zu treffen. Kraftmessung Die Kraftmessung diente bei der Testgruppe unter anderem In der hier vorliegenden Untersuchung wurde die Aktivität dazu, die Funktionshand eindeutiger zuordnen zu können. Als der Handbeuger gemessen, wobei dafür die Elektroden in der Funktionshand wird die weniger paretische Hand bezeichnet, Mitte des Unterarms medial auf den Handbeugemuskeln auf- die eine bessere motorische Funktion aufweist, geringere geklebt wurden (Abb. 1). Zunächst wurde die Ruheaktivität Gelenkfehlstellungen, mehr Muskelkraft und bessere fein- aufgenommen. Der Bewegungsauftrag war die wiederholte motorische Funktionen. Oppositionsbewegung aller Finger zum Daumen. Als Arbeitshand wird die Hand definiert, die tatsächlich zur Thermographie Arbeit, insbesondere zum Schreiben, benutzt wird. Die Pro- Zur Thermographie wurde eine Kamera der Firma Flir Sys- banden gaben selbst an, welche ihre Arbeitshand ist. tems vom Typ BCAM SD benutzt, deren Sensor das Strah- lungsspektrum unterschiedlich warmer Teile einer Oberflä- Volumenmessung che voneinander unterscheiden kann. Den gemessenen Ober- Das Volumen des Unterarms und der Hand wurde gemessen, flächentemperaturen werden in der Darstellung des Wärme- damit die Abkühlung in ihrer Tiefe objektiver beurteilt wer- bildes dann unterschiedliche Farben zugeordnet (Abb. 4). Zur den kann. Es ist zu vermuten, dass eine Masse mit weniger Erhöhung der Anschaulichkeit werden die kühleren Tempera- Volumen stärker durchkühlt wird. Weniger Masse erwärmt turen beispielsweise in Blautönen, das heißt, in „kalten“ Far- sich schneller und die Temperatursteigerung wird schneller an ben dargestellt, die höheren Temperaturen in „warmen“ Farb- der Oberfläche messbar. tönen. In Abbildung 4 wird die Umgebungstemperatur von 26 °C im Blauton kodiert, die höchste im Bild vorkommende Ein Volumeter wird als Standardmethode zur Messung des Temperatur von 33 °C in weiß. Das übrige Farbspektrum wird Volumens von Körperteilen des Menschen in der Biomecha- über diesen Temperaturbereich verteilt. Abbildung 5 zeigt die nik genutzt. Hierbei wird die Wasserverdrängung als Mess- unteren Extremitäten eines Jugendlichen mit linksbetonter prinzip genommen. Tetraparese und trophischen Störungen. Als Messgerät diente ein eigens angefertigtes Volumeter. Die Auswerte-Software ThermaCAM QuickReport 1.1 er- Dieses besteht aus einem zylindrischen Behälter mit Über- möglicht eine Auswertung der Infrarotbilder mit selbst fest- 192 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)
Klinische Studien / Klinische Praxis Volumenmessungen mit dem MRT (cm³) Links Rechts Veränderung (%) Volumen von Hand und Unterarm 1588 1227 –23 Muskelvolumen 726 439 –40 Volumen des Radius 50 32 –36 Volumen der Ulna 42 32 –24 Fettanteil 770 724 –6 (Gesamtvolumen minus Muskel- und Knochenvolumen) Abbildung 2: MRT-Schnittbild durch die Mitte des Unterarms Abbildung 3: Funktions-MRT des Kopfes der Probandin aus Abbildung 2. Links Akti- vitätszentren bei Greifbewegungen der paretischen rechten Hand, rechts der gesun- den linken Hand gelegten Messpunkten und in selbst definierten Bereichen. Die Auflösung der Kamera beträgt 120 × 120 Pixel. Die Tem- Abbildung 4: Thermographische Aufnahme, an ausgewählten Punkten Temperatur- peraturauflösung ist 0,1 °C. Die Bildschärfe der Kamera wird angaben manuell eingestellt, der Bildausschnitt durch einen geeigne- ten Kameraabstand zum Objekt gewählt. Kälteexpositionstest Die Genauigkeit der Infrarot-Thermographie ist von der Als standardisierter Test wird meist der „Cold Stress Test for genauen Kenntnis des Emissionskoeffizienten des zu messen- Hands“ von Ring [7, 9] verwendet. In diesem erfolgt zunächst den Körpers abhängig. Der Emissionskoeffizient gibt an, wie- eine Akklimatisierung der bloßen Arme. Dann werden die viel Strahlung ein Körper im Vergleich zu einem idealen Arme für 60 Sek. in 20 °C kaltes Wasser gehalten [9]. Vor- Messkörper abgibt (schwarzer Körper mit Emissionskoef- wiegend wurde dieser Test zur Erforschung des Raynaud- fizient 1,00). Der menschliche Körper hat einen Emissions- Syndroms eingeführt. In zahlreichen anderen Studien wird koeffizienten von ungefähr 0,96. dieser Test auch für andere Krankheitsbilder eingesetzt, da man erst durch diese Provokation eine Veränderung der Bei der Infrarotmessung ist zu berücksichtigen, dass nur die Durchblutung der jeweiligen Strukturen objektiver sichtbar oberste Schicht dargestellt wird und keine Temperaturaus- machen kann. sagen über tiefere Strukturen gemacht werden können. Die Wärmestrahlung tieferer Schichten wird im Körper selbst In der vorliegenden Arbeit wurde die Provokation wie folgt wieder absorbiert, bevor sie die Oberfläche erreicht. durchgeführt: Zuerst erfolgte die Akklimatisation von 10 Min. ohne Bekleidung des betreffenden Körperteils. An- Bei der Messung der Temperatur der Körperoberfläche kann schließend folgte ein 12 °C kaltes Wasserbad der Arme bis die Feuchtigkeit der Haut zu ungenauen Messergebnissen kurz über das Ellbogengelenk (vgl. Abb. 6). Das Kältebad führen. Bei starkem Schwitzen werden die thermographi- dauerte 10 Min., also länger und bei niedrigeren Temperatu- schen Bilder verfälscht. Es bildet sich durch die Verdunstung ren als in anderen Studien, z. B. [10]. In der Hydrothermo- des Wassers an der Oberfläche Kälte. skala der Hydrotherapie wird eine Temperatur von 12 °C in die III. Stufe eingeordnet. Das Temperaturempfinden wird als In der Medizin wird die Thermographie gelegentlich bei der sehr kalt zur Grenze hin zu unangenehm kalt beschrieben Untersuchung entzündlicher Prozesse, von Durchblutungs- [11]. Dieses Verfahren wurde gewählt, weil in der vorliegen- störungen und vergleichbaren Erkrankungen standardisiert den Arbeit nicht nur eine Abkühlung der oberflächigen Struk- eingesetzt [7], vor allem aber zur Beschreibung des Raynaud- turen erreicht werden sollte, sondern eine erweiterte Durch- Phänomens [8]. kühlung des gesamten Unterarms und der Hand. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2) 193
Klinische Studien / Klinische Praxis rücken gewählt. Die Probanden durften eine angenehme Gelenkstellung wählen, die sie für eine Stunde ohne größere motorische Aktivität aushalten konnten. Wenn möglich, soll- ten die Finger leicht gespreizt gehalten werden, um gegensei- tige Erwärmung durch unmittelbaren Kontakt zu vermeiden. Abbildung 5: Patient mit linksbetonter Tetra- Vor dem Kältetest wurde der thermische Ausgangszustand parese und trophischen Störungen des Probanden mit der Thermokamera aufgenommen. Darauf folgte für 10 Min. der thermische Reiz im Wasserbad. An- schließend wurden die Arme ohne Reibung abgetrocknet, um eine mechanische Anregung der Durchblutung und des Stoff- wechsels zu vermeiden. Jede Restfeuchte der Arme wurde vermieden, um eine weitere Abkühlung durch Verdunstung zu vermeiden. Danach erfolgten die wiederholten thermographischen Auf- nahmen des Wiedererwärmens. Dazu wurden im 30-sekündli- chen Takt für bis zu 1 Stunde Aufnahmen gemacht. Abbildung 7 zeigt für ein Wärmebild den Temperaturverlauf entlang des Unterarms und der Finger aus einer solchen Auf- nahmeserie. Typisch für den Großteil der Probanden ist die Wiederaufwärmung im Unterarm allmählich von proximal nach distal, in den Fingern von den Fingerspitzen her Rich- tung proximal. Häufig geschieht diese Wiederaufwärmung in Form einer überschießenden Reaktion auf den Kältereiz (Ab- bildung 7 an der rechten Hand D1 und D2). Arterielles Blut mit Kerntemperatur strömt in der Tiefe nach distal und von dort oberflächennah venös zurück nach proximal. Die er- Abbildung 6: Probandin während der Kälteexposition in 12 °C kaltem Wasser wärmten Venen können sich dabei wie in Abbildung 8 deut- lich von der kühleren Umgebung absetzen. Die Thermomes- sung gibt nur ein Abbild der Oberflächenerwärmung wieder. Die Probanden durften vor der Messung keine koffeinhaltigen Getränke konsumieren und nicht rauchen, wobei in der Pro- Zur Auswertung der Serien der thermographischen Aufnah- banden- und Kontrollgruppe jeweils nur ein Teilnehmer Rau- men wurden die Bilder zunächst auf typische Charakteristika cher war. Eine körperliche Belastung vor der Messung wurde des Abkühl- und Wiederaufwärmvorgangs hin untersucht. vermieden, um eine dadurch entstandene Hyperthermie aus- Dazu wurde eine Klassifizierung des Vorgangs vorgenom- zuschließen. men, z. B. danach, ob der Wiederaufwärmvorgang von distal nach proximal oder umgekehrt verläuft, wie schnell die Wie- Aufgrund der vorhandenen pathologischen Tonuserhöhung in deraufwärmung erfolgte und nach weiteren Kriterien. den oberen Extremitäten bei allen Probanden der Testgruppe wurde die Ausgangsstellung mit Kamerablick auf den Hand- Alle Ergebnisse werden im Folgenden beschrieben. Abbildung 7: Temperaturverlauf entlang Unterarm und Hand während des Wiederaufwärmens. Messkurven des rechten Arms. 194 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)
Klinische Studien / Klinische Praxis Abbildung 8: Tonuserhöhung und zunehmende Beugestellung der paretischen Hand bei zunehmender Temperatur. Bei diesem hemiparetischen Probanden erwärmt sich die paretische Hand sehr viel schneller als die gesunde. Tabelle 1: Greifkräfte in kg Männlich Weiblich Testgruppe (links/rechts) links rechts links rechts Mittel 26,5 25,0 11,2 16,2 STD 13,8 12,3 4,8 6,8 Median 21,3 23,1 9,8 15,1 Testgruppe (Nicht-Arbeitshand/ Arbeitshand) nAH AH nAH AH Mittel 22,7 28,0 13,2 14,4 STD 12,5 13,1 7,3 5,7 Median 21,2 27,5 9,8 11,9 Abbildung 9: Volumen-Handkraft-Verhältnis bei Kontroll- und Testgruppe Kontrollgruppe links rechts links rechts Ergebnisse Mittel 53,3 57,5 30,6 35,2 STD 13,4 14,1 2,5 2,8 Zusammenhang zwischen Armvolumen und Median 54,5 59,6 30,1 35,6 Greifkraft Zunächst wird in Abbildung 9 der Zusammenhang zwischen Unterarmvolumen und gemessener Greifkraft für die Test- die Hände 50 ml mehr. Das heißt: Obwohl die Probanden der und die Kontrollgruppe verdeutlicht. Im Diagramm werden Testgruppe sogar mehr Armvolumen haben als die gesunde außerdem die Messwerte für Männer und Frauen und für rech- Kontrollgruppe, ist ihre Greifkraft sehr viel geringer. Die te und linke Seite unterschieden. Kraft pro Volumeneinheit (in kg/cm³) ist in der Testgruppe mit 0,014 kg/cm³ bzw. 0,020 kg/cm³ nur etwa 1/3 so groß wie Die durchschnittliche Kraft der Testgruppe liegt bei 13,7 kg in der Kontrollgruppe mit 0,056 kg/cm³ bzw. 0,045 kg/cm³ bei den Frauen bzw. 25,8 kg bei den Männern. In der Kon- (vgl. die Steigungen der Trendlinien in Abbildung 9). Die trollgruppe sind die Greifkräfte sehr viel höher mit 32,9 kg bei Streuung der Werte in der Testgruppe ist sehr viel höher und den Frauen und bei den Männern 55,4 kg. Tabelle 1 listet die spiegelt im Wesentlichen die unterschiedliche Schwere der gemessenen Kraftwerte für die beiden Probandengruppen, Paresen wider. wobei noch zwischen linker und rechter Hand differenziert wird. Bei der Testgruppe wird außerdem auch noch zwischen Bei 2 Probanden war eine besonders stark ausgeprägte Seiten- Arbeitshand und Nicht-Arbeitshand unterschieden. In der Unsymmetrie im Volumen der Unterarme zu finden, in einem Kontrollgruppe sind zufällig nur Rechtshänder vertreten, bei Fall betrug das Volumen auf der paretischen Seite nur noch denen Arbeits- und Funktionshand identisch mit der rechten 74 % der weniger betroffenen Seite (790 cm³ zu 1065 cm³), Hand sind. In der Testgruppe lässt sich als Folge der Behinde- im anderen Fall 70 % (830 cm³ zu 1177 cm³). Bei einem die- rung eine natürliche Handpräferenz nicht mehr feststellen. ser beiden Probanden wurde im MRT gezeigt, dass das Volu- Die Handdominanz kann bei der Zerebralparese durch die mendefizit ausschließlich zulasten der Muskulatur geht (vgl. Schädigung überlagert sein. In der Testgruppe ist die Arbeits- Abb. 2). hand bei 15 von 22 Probanden rechts, bei den übrigen links. Bei 3 Probanden sind außerdem Arbeits- und Funktionshand Wiederaufwärmung nach dem Kältebad (d. h., die funktionell bessere Hand) verschieden. Eine Angabe Die Abkühltemperatur, d. h. die Differenz der Temperatur der Greifkräfte bezüglich der Funktionshand wird in Tabel- zwischen der Messung vor dem Wasserbad und der ersten le 1 aber nicht explizit wiedergegeben, da sich die Zahlenwer- Messung danach, lag bei den Probanden der Testgruppe te kaum von der der Arbeitshand-Einteilung unterscheiden. durchweg höher als bei den Probanden der Kontrollgruppe. Die Unterarme der Probanden der Testgruppe zeigten durch- Die Wiedererwärmung erfolgte bei allen Probanden diffus schnittlich 150 ml mehr Volumen als in der Kontrollgruppe, von proximal im Ellenbogen beginnend und in unterschiedli- J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2) 195
Klinische Studien / Klinische Praxis Abbildung 10: Wiedererwärmen nach Kältebad, 22 Probanden mit infantiler Zerebralparese. A: Ausgangstemperatur, grau im Hintergrund: Kontrollgruppe cher Geschwindigkeit in den Unterarm einwandernd. In un- bei 11 von 22 wurden die Arbeitshände wärmer als die Gegen- terschiedlichen Zeitfenstern begann zusätzlich die Erwär- seite. mung von distal her, direkt an den Fingerkuppen. Die Erwär- mung der Fingerkuppen begann in der Kontrollgruppe deut- In der Kontrollgruppe zeigte sich, dass sich eher die Nicht- lich schneller und war bei allen Teilnehmern dieser Gruppe Arbeitshand schneller erwärmte (in 5 von 6 Fällen). Nur in spätestens in der 5. Minute sichtbar. 2 von 6 Messungen zeigte sich eine Mehrerwärmung der Arbeitshand. Die Präferenzhand scheint also keine Relevanz Bei der Mehrzahl der Probanden mit Zerebralparese gab es für bei der Temperaturregulation der Arme zu haben. die Erwärmung der Fingerkuppen ebenfalls deutlich erkenn- bare individuelle Muster, in welcher Reihenfolge sich die Fin- Zu den Schnellerwärmern gehörten alle Probanden der ger erwärmen. Ein übergeordnetes, für alle gemeinsames Kontrollgruppe, sowie 15 von 42 Händen der Probanden mit Muster konnte aber nicht gefunden werden. Zerebralparese (36 %). In der Gruppe der Langsamerwärmer waren 19 von 42 Händen der Probanden mit Zerebralparese Im Gegensatz zur Kontrollgruppe war in der Testgruppe die (45 %). Die Gruppe der Wechsler war die kleinste mit 8 von Zeitspanne des Erwärmungsprozesses deutlich höher. Die 42 Händen (19 %). Im Temperaturanstieg der Unterarme Ausgangstemperatur der Hände konnte bei 100 % der Teil- konnte eine entsprechende Gruppierbarkeit nicht gefunden nehmer der Kontrollgruppe erreicht werden (mit einer Mess- werden. Die Kontrollgruppe sowie die Probanden mit Zere- toleranz von ±1 °C). Von der Testgruppe konnten im selben bralparese lagen mit größerer Streuung im ein und demselben Zeitraum nur 14 % (6 von 42) der Hände wieder ihre Aus- Bereich. gangstemperatur erreichen. Eine normale, vasoaktiv überschießende Erwärmung (vgl. Im Diagramm der Temperaturmittelwerte an den Händen Abb. 8) in den Händen ist nur bei 9 von 22 (41 %) Teilneh- (Abb. 10) zeigt sich, dass sich 3 Gruppen innerhalb der Test- mern der Testgruppe sichtbar, bei der Kontrollgruppe in 5 von gruppe mit unterschiedlichem Temperaturverlauf beim Wie- 6 (83 %) Fällen. Das Ausmaß der Überschussreaktion ist un- deraufwärmen bilden. Eine Gruppe, bei der sich die Hände terschiedlich. Bei einzelnen Probanden der Testgruppe wie- schnell wiedererwärmen (rote Kurven in Abbildung 10), ver- derholte sich diese Überschussreaktion in gleichmäßigem gleichbar den Temperaturkurven der Kontrollgruppe (grau im Zeitabstand, aber bei abnehmender Amplitude. Bei der Über- Hintergrund), eine mit langsamer Erwärmung (blaue Kurven) schussreaktion fiel immer ein symmetrisches Verhalten der und eine Gruppe, deren Temperaturverlauf dazwischen liegt, rechten und linken Seite auf, auch wenn diese unterschiedli- bzw. deren Temperaturverlauf wechselt (grüne Kurven). Bei che Temperaturniveaus hatten. der dritten Gruppe ist meistens, aber nicht immer, bereits die Ausgangstemperatur erniedrigt. Beide Hände der Probanden Die Probanden mit Zerebralparese gaben an, dass sich die der Testgruppe zeigten sich jeweils bezüglich der Gruppenzu- Spastik während des Kaltwasserbades verringerte. Je wärmer ordnung identisch, außer bei 3 Probanden. Ein signifikanter der Arm im Verlauf des Wiederaufwärmens wurde, umso Zusammenhang mit weiteren Parametern konnte nicht gefun- mehr erhöhte sich auch der pathologische Tonus wieder. Dies den werden. Dazu wurden das Alter, die Erkrankung, Ge- wurde meist aus den Aussagen der Probanden deutlich und schlecht, motorische Fähigkeiten der oberen Extremität, teilweise auch in den Aufnahmen sichtbar. In Abbildung 8 ist Arbeitshände, Gewicht, Armvolumen, Kraft, Rauchverhalten dies an einem Beispiel zu sehen: Die Tonuserhöhung wird und Gehfähigkeit betrachtet. Die Arbeitshände erwärmten durch die Muskelkontraktion und die daraus folgende spasti- sich bei 13 von 22 Probanden der Testgruppe schneller und sche Gelenkstellung der Hand sichtbar. Das spastische Muster 196 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)
Klinische Studien / Klinische Praxis geht meist, wie auch im Beispiel der Abbildung 8, in Rich- den gefunden, bei 3 Probanden in geringer Ausprägung, bei tung Flexion des Ellenbogens, des Handgelenks und der Fin- der gesunden Kontrollgruppe in keinem Fall. ger, sowie einer radialen Abduktion und Pronation des Hand- gelenks. Dem Betroffenen fällt es mit zunehmender Erwär- Diskussion mung schwerer, gegen die unwillkürliche Kontraktion der Muskulatur standzuhalten. Auffällig ist in diesem Beispiel der Bei Menschen mit Zerebralparese fallen in Verbindung mit eher untypisch schnelle Temperaturanstieg in der betroffenen motorischen Einschränkungen sehr häufig trophische Stö- Hand. rungen der Extremitäten auf. Zur Erforschung dieser Fragen wurde eine Studie mit Kälteexpositionstests an Unterarmen Um einen Zusammenhang zwischen Armvolumen und Greif- und Händen durchgeführt. Nach 10 Min. Abkühlung wurde kraft und der Geschwindigkeit der Erwärmung zu finden, das Wiederaufwärmverhalten der oberen Extremitäten in wurde die Wiedererwärmung den Werten von Volumen und thermographischen Aufnahmen festgehalten. Um Zusam- Kraft gegenübergestellt. Es konnte in der Kontroll- und Test- menhänge mit den motorischen Einschränkungen finden zu gruppe weder ein Zusammenhang zwischen Volumen und können, wurden Kraft- und Volumenmessungen durch- Erwärmungsgeschwindigkeit noch zwischen Kraft und Er- geführt, außerdem Messungen der elektrischen Muskel- wärmungsgeschwindigkeit gefunden werden. Die Abkühlung aktivität. der oberen Extremitäten scheint bei Probanden unabhängig vom Armvolumen zu sein. Das Volumen scheint also auch Nur 1/3 der 22 Probanden mit infantiler Zerebralparese zeigte keine Rolle bei der Wiedererwärmung zu spielen. ein normales Wiederaufwärmverhalten wie die Kontrollgrup- pe mit gesunden Probanden. Die Hälfte der Probanden zeigte Abbildung 2 zeigt ein MRT-Querschnittsbild durch die Mitte eine extrem verzögerte Wiederaufwärmung und erreichte die der Unterarme bei einer Probandin der Testgruppe mit aus- Ausgangstemperatur auch nach einer Stunde bei Weitem nicht. geprägter spastischer Hemiparese. Es zeigt sich, dass das Diese Defizite bei der Temperaturregulation traten unab- Muskelvolumen auf der paretischeren Seite noch erheblich hängig von den weiteren gemessenen Parametern auf (Greif- stärker reduziert ist als das bereits reduzierte Gesamtvolumen kraft der Hand, Lateralität bei Hemiparese, Alter der Proban- des paretischen Arms. Der Fettanteil bleibt dagegen weit- den, Geschlecht und motorische Fähigkeiten der oberen Ex- gehend unverändert. Dies verstärkt die bereits genannte Fest- tremität). Auch das Volumen der Hand und des Unterarms stellung, dass das Muskelvolumen bei passiver Aufwärmung spielte dabei keine Rolle, obwohl eigentlich anzunehmen ist, keinen Einfluss auf den Verlauf der Wiedererwärmung hat. dass eine Masse mit weniger Volumen in derselben Zeit mehr Allgemein zeigte sich, dass Probanden mit mehr Kraft in den durchgekühlt wird. Andererseits erwärmt sich eine geringere oberen Extremitäten keinen schnelleren Temperaturanstieg Masse schneller wieder und die Temperatursteigerung könnte zeigten. Bei einzelnen Probanden der Testgruppe wurde die schneller bis zur Oberfläche durchdringen. Die Thermogra- Messreihe mit gymnastischen Bewegungen während des Wie- phie kann keine Erkenntnisse darüber liefern, wie tief die deraufwärmens wiederholt. In diesen Fällen erfolgte die Strukturen der Hand und des Arms durchgekühlt waren. Wiedererwärmung dann deutlich schneller, aber immer noch erheblich reduziert im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die Abkühltemperatur, d. h. die Differenz zwischen der Mes- sung vor dem Wasserbad und der ersten Messung danach, lag Bei der Probandin aus Abbildung 2 wurde außerdem ein bei den Probanden der Testgruppe höher als bei den Proban- Funktions-MRT des Kopfes bei abwechselnden Greifbewe- den der Kontrollgruppe. Bei den gesunden Probanden beginnt gungen der Hände angefertigt. Der zerebrale Schaden ist aus- vermutlich schon während des Wasserbades eine vasoaktive schließlich auf den linken Kortex beschränkt. Gegenreaktion gegen die Unterkühlung. Die farbige Markierung in den fMRT-Bildern zeigt die bei der Besonders auffällig war die gegenüber der Kontrollgruppe jeweiligen Greifbewegung aktivierte Region im Gehirn auf. auf 1/3 reduzierte spezifische Greifkraft der Probanden, das Bei motorischer Aktivität der paretischen rechten Hand ver- ist die Kraft pro Volumeneinheit des Unterarms, obwohl bei teilt sich die zerebrale Aktivierung auf beide Hemisphären, ihr das mittlere Armvolumen sogar etwas größer war als in beim Bewegen der nicht betroffenen linken Seite zeigt sich der Kontrollgruppe. Dieser deutliche Unterschied kann auf ein normales physiologisches Aktivitätsmuster der herd- verschiedene Ursachen zurückgeführt werden. Ein Grund gekreuzten Seite. wäre, dass die Probanden der Testgruppe mit infantiler Zerebralparese in ihrem gesamten Alltag beidseitig weniger Bei EMG-Messungen der elektrischen Muskelaktivität der aktiv sind. Die Muskulatur bei den Probanden mit Zerebral- Handbeugemuskulatur zeigte sich bei dieser Probandin eine parese kann nicht in vollem Umfang willkürlich aktiviert starke Koaktivierung der Muskulatur der jeweils nicht aktiven werden. Die unwillkürliche reflektorische Muskelaktivität Hand, auffällig in beide Richtungen. Diese Probandin hat eine ist bei Menschen mit Spastik dagegen oft sehr hoch. ausgesprochen langsame Wiederaufwärmung trotz berufli- Möglicherweise ist auch ein Teil der Muskelmasse nicht cher Tätigkeit in Bewegung und sportlicher Betätigung. mehr so differenziert. Im MRT zeigt sich bei der Spastik ein gravierender Verlust an Muskelvolumen [16]. Ein Vergleich Diese EMG-Aktivitätsmessungen wurden bei weiteren 11 Pa- zwischen der Greifkraft der Probanden und der Wiederauf- tienten der Testgruppe und bei den 6 gesunden Probanden wärmdauer zeigt aber keinen Zusammenhang. Die nicht ak- wiederholt. Die starke Koaktivierung der Muskulatur auf der tivierte ruhende Muskulatur trägt offenbar nicht zur schnel- kontralateralen Seite wurde nur bei einem weiteren Proban- leren Wiedererwärmung bei. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2) 197
Klinische Studien / Klinische Praxis Unilaterale zerebrale Schädigungen im MRT haben erwar- tungsgemäß unilaterale motorische Einschränkungen zur Fol- Relevanz für die Praxis ge, die vegetativen Symptome sind jedoch nicht streng einsei- Die Ergebnisse verdeutlichen, dass sich die Extremitäten tig lokalisiert oder können sogar kontralateral auftreten. von Menschen mit Zerebralparese unter Kälteeinwirkung Möglicherweise liegen auch bei fokalem Schaden nicht offen- deutlich langsamer erwärmen. Im Alltag sind Menschen sichtliche, globale morphologische Beeinträchtigungen vor. mit Zerebralparese den Temperaturen der Umwelt aber im Bei einseitigem Schaden sind durchaus hemisphärenüber- selben Ausmaß ausgesetzt wie Menschen ohne Zerebral- greifende Aktivitäten im Funktionskernspin und im EMG zu parese. Die schlechtere Wärmeregulation führt zu einer erkennen, die die sonst strikte Hemisphärentrennung auf- stärkeren Auskühlung, eine Minderdurchblutung des weichen. Die überspringenden Reaktionen im EMG im Sinne Gewebes verringert dessen Belastungstoleranz und kann eines „cross talks“ könnten aber auch auf persistierende früh- damit das Risiko eines Dekubitus erhöhen. Es ist deshalb kindliche Reflexe zurückgeführt werden. darauf zu achten, dass die Betroffenen mehr vor Kälte- einfluss geschützt werden und mehr Zeit für eine Wieder- Husman [17] verwendet den Begriff „funktionelle Durchblu- erwärmung brauchen. Viele der Probanden hatten während tungsstörungen“ für Krankheitsbilder, bei denen es zu einer der Kühlung in den oberen Extremitäten einen auffallend Engstellung oder Erweiterung der Gefäße kommt, ohne dass geringeren Muskeltonus, das heißt, die Gelenke konnten organische Gefäßveränderungen vorliegen. Die häufigste besser passiv und oft auch aktiv bewegt werden. Die Thera- funktionelle Durchblutungsstörung stellt das primäre piemethode des Kältereizes ist unter anderem aus dem Raynaud-Phänomen dar, aber auch der Akrozyanose liegen Konzept der propriozeptiven neuromuskulären Fazilitation funktionelle Störungen zugrunde. Bei der Akrozyanose han- (PNF) bekannt und wäre nachvollziehbar. delt es sich um eine länger dauernde Episode, bei der die initiale arterielle Vasokonstriktion sekundär zur Dilatation der Kapillaren und Venulen mit zyanotischer Verfärbung der betroffenen Areale führt. Die Symptome verstärken sich in der kalten Jahreszeit. Trophische Hautläsionen treten in der Literatur: 8. Sandstrom K, Alinder K, Oberg B. Descrip- tions of functioning and health and relations Regel nicht auf, jedoch kann bei diesen Patienten häufig eine 1. Stotz S. Therapie der infantilen Cerebral- to a gross motor classification in adults with Hyperhidrose beobachtet werden. Diese beschriebene Symp- parese. Pflaum-Verlag, München, 2000. cerebral palsy. Disabil Rehabil 2004; 26: 2. Feldkamp M, von Aufschnaiter D, Baumann 1023–31. tomatik ist aus der klinischen Untersuchung bei Zerebral- J, et al. Krankengymnastische Behandlung 9. Beckung E, Hagberg G. Neuroimpairments, parese bestens bekannt. Dennoch ist diese Zuordnung als der infantilen Zerebralparese. Pflaum-Verlag, activity limitations, and participation restric- München, 1989. tions in children with cerebral palsy. Dev Med reine funktionelle Durchblutungsstörung bei der infantilen 3. Rosner B, Rumberger E, Tillmann B. Kranken- Child Neurol 2002; 44: 309–16. Zerebralparese nicht als gesichert zu sehen. gymnastik. Bd. 4.: Funktionelle Anatomie des 10. Bax M, Goldstein P, Rosenbaum P, et al. Bewegungsapparates, Physiologie, Allgemei- Proposed definition and classification of cere- ne Krankheitslehre. 3. Aufl. Thieme-Verlag, bral palsy, April 2005. Dev Med Child Neurol Zwar sprechen das im Mittel, aber nicht in allen Einzelfällen Stuttgart, 1990. 2005; 47: 571–6. gemeinsame Auftreten von muskulärer Schwäche im Ver- 4. Trebsdorf M. Biologie. Anatomie. Physiolo- 11. Ring EFJ, Ammer K. The technique of infra gie: Lehrbuch und Atlas. Ein Standardwerk der red imaging in medicine. Thermology Int 2000; gleich zur Kontrollgruppe und der Störungen der Thermo- Anatomie. Lau-Verlag, Reinbek, 2009. 10: 7–14. regulation für eine funktionelle Durchblutungsstörung. Das 5. Klinke R, Silbernagel S. Lehrbuch der Physio- 12. Lampe R, Graßl S, Mitternacht J, et al. logie. 4. Aufl. Thieme-Verlag, Stuttgart, 2005. MRT-measurements of muscle volumes of the extreme Ausmaß der Temperaturregulationsstörungen lässt 6. Deussen A. Hyperthermie und Hypothermie lower extremities of youths with spastic hemi- sich aber nicht allein durch muskulären Mindergebrauch – Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-Sys- plegia caused by cerebral palsy. Brain Dev tem. Anaesthesist 2007; 56: 907–11. 2006; 28: 500–6. erklären. Es kann deshalb durchaus sein, dass eine generali- 7. Wood E, Rosenbaum P. The Gross Motor 13. Husmann M, Amann-Vesti B. Physiologie sierte morphologische Schädigung in der hypothalamisch- Function Classification System for Cerebral und Pathophysiologie der arteriellen und ve- epiphysären Achse vorliegt, die zu einer Dysregulation der Palsy: a study of reliability and stability over nösen Mikrozirkulation. Schweiz Med Forum time. Dev Med Child Neurol 2000; 42: 292–6. 2010; 10: 643–6. Gefäße führt. Bei der Interpretation berücksichtigt werden sollte aber, dass an dieser Studie überwiegend schwerwiegend bewegungsbehinderte Personen teilgenommen haben. Unabhängig von der organischen Ursache sollte in Anbetracht der z. T. extrem verzögerten Wiedererwärmung und der schwach ausgeprägten vasoaktiven Gegenreaktion gegen Kältereize als Folge der infantilen Zerebralparese ein regel- mäßiges Gefäßtraining empfohlen werden. Mangelnde Bewe- Korrespondenzadresse: gung bei Rollstuhlfahrern beinhaltet zudem ein erhöhtes Aus- Prof. Dr. med. Renée Lampe kühlungsrisiko. Natürlich ist eine kälteschützende Kleidung Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Schwerpunkt unerlässlich. Kinderneuroorthopädie und Zerebralparesen, Gang- und Bewegungsanalyselabor Interessenkonflikt Technische Universität München Klinikum rechts der Isar Die Studie wurde ausschließlich aus eigenen Mitteln finan- D-81675 München, Ismaninger Straße 22 ziert. Es bestehen deshalb keinerlei Interessenkonflikte. E-Mail: renee.lampe@lrz.tu-muenchen.de 198 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)
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