Venezuela, die Region und die Welt - Einleitung
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NR. 14 MÄRZ 2019 Einleitung Venezuela, die Region und die Welt Stationen für einen möglichen Ausweg aus der Krise Claudia Zilla Seitdem Nicolás Maduro im Jahr 2013 die Präsidentschaft Venezuelas übernahm, sind das Bruttoinlandsprodukt und die Erdölproduktion um mehr als 50 Prozent zurück- gegangen. Verdoppelt haben sich dagegen die Institutionen: Es gibt zwei Legislativ- organe, zwei Oberste Gerichtshöfe und seit Anfang 2019 mit der Selbsternennung von Juan Guaidó zwei konkurrierende Präsidenten. Die internationale Gemeinschaft ist gespalten, denn viele Staaten stellen sich hinter das Regime, etliche andere wiederum hinter die Opposition. In verschiedenen Initiativen behandeln Staatengruppen die Venezuela-Frage ohne Beteiligung der Konfliktparteien. Die EU und ihre Mitgliedstaa- ten sollten von allen Handlungen absehen, die die Gefahr einer Militärintervention und eines Blutvergießens verschärfen könnten. Stattdessen sollten sie diplomatischen Druck ausüben, um die Bevölkerung vor Repression, Hunger und Krankheiten zu schützen und die Opposition zu stärken. Darüber hinaus sollten sie einen Konflikt- lösungsprozess unterstützen, der von nationalen Akteuren getragen wird, lateinameri- kanisch eingebettet ist und Demokratie zum längerfristigen Ziel hat. Mit Beginn des Jahres 2019 setzte im vene- sich auf einer Großkundgebung in Caracas zolanischen Konflikt um einen Machtwech- zum Interimspräsidenten des Landes. Oppo- sel eine neue Dynamik ein. Nachdem sich sitionsparteien und Bevölkerung versam- Präsident Nicolás Maduro im Mai 2018 in meln sich hinter dem bisher weitgehend einem vorgezogenen, weder freien noch unbekannten, charismatischen jungen fairen Votum hatte wiederwählen lassen, Politiker der Partei Voluntad Popular (Volks- trat er am 10. Januar 2019 eine weitere Prä- wille), die zur Sozialistischen Internationale sidentschaft an, diesmal für den Zeitraum gehört. Hinter ihn stellen sich auch zahl- bis 2025. Allerdings wurde sie ihm von der reiche Staaten, die ihn in seiner Übergangs- oppositionellen Nationalversammlung (NV) aufgabe offiziell anerkennen, humanitäre aberkannt. Daraufhin weigerten sich auch Hilfe anbieten und Präsidentschaftswahlen zahlreiche Akteure der internationalen verlangen. Von diesen Entwicklungen Gemeinschaft, Maduro als Staatspräsiden- herausgefordert, hat die Regierung Maduro ten anzuerkennen. Zudem wählte die NV die Repression und den Ton des Diskurses den Abgeordneten Juan Guaidó zu ihrem verschärft. Vorsitzenden. Am 23. Januar ernannte er
Verstärkte Repression Verrats beschuldigt werden, wie die Inter- nationale Kommission der Juristen 2018 in Seitdem Juan Guaidó sich zum Interims- einem Bericht aufdeckte. präsidenten erklärte und die Bevölkerung Mittlerweile hat der regimetreue Oberste immer wieder massiv demonstriert, geht Gerichtshof in Venezuela der Aufforderung die Maduro-Regierung besonders repressiv der Generalstaatsanwaltschaft Folge gelei- gegen Bürgerinnen und Bürger vor. Laut stet und Guaidós Konten eingefroren sowie einem Bericht der venezolanischen Men- ihm verboten, das Land zu verlassen. Nun schenrechtsorganisation Foro Penal wurden droht ihm die Festnahme, nachdem er zwischen dem 21. und dem 31. Januar 2019 am 23. Februar die venezolanisch-kolumbi- in Venezuela 988 Personen willkürlich anische Grenze überquerte, Südamerika festgenommen. Im selben Zeitraum wurden bereiste und am 4. März nach Venezuela zudem 35 Personen durch Schusswaffen zurückkehrte. getötet; es wird von mindestens acht außer- gerichtlichen Exekutionen ausgegangen. Dabei fällt auf, dass diesmal die Betroffenen Parallele Institutionen überwiegend aus ärmeren Gesellschafts- schichten stammen und manche von ihnen Dem Machtkampf an der Staatsspitze zwi- minderjährig sind. Viele beteiligten sich schen Maduro und Guaidó, ausgelöst durch zum ersten Mal an Protestaktionen, nicht dessen selbsterklärte Interimspräsident- wenige hielten sich nur in deren Nähe auf. schaft, war bereits die Verdopplung der Die meisten Verhaftungen (77%) fanden Legislative (2016) und Judikative (2017) am 23. Januar selbst statt, aber nicht wäh- vorausgegangen. rend der Demonstrationen, sondern im Zu Grabe getragen wurde die venezolani- Anschluss daran, als die Bürgerinnen und sche Demokratie spätestens kurz nach den Bürger sich auf dem Heimweg oder wieder in der Wahlfreiheit bereits eingeschränkten zu Hause befanden. Bis zum 20. Januar Parlamentswahlen vom Dezember 2015, bei 2019 gab es in Venezuela 273 politische denen die Opposition einen Erdrutschsieg Gefangene; bis zum 31. Januar stieg diese erzielt hatte. In der Folge haben die regime- Zahl dramatisch auf 942 an. Unter ihnen treue Exekutive und Judikative die Kom- sind 58 Militärs und 11 Minderjährige. petenzen und Ressourcen der Legislative Die Opfer des Staatsapparates werden systematisch und massiv beschnitten. Im bereits bei der Festnahme misshandelt und Jahr 2016 ließ Maduro unter unfreien und im Gefängnis (auch sexuell) gefoltert. Ihnen unfairen Bedingungen eine verfassungs- wird rechtlicher Beistand, medizinische gebende Versammlung wählen, die aber Versorgung und nicht selten der Zugang zu keinen Verfassungstext erarbeitet, sondern Nahrung und Wasser verweigert. Ähnliche gesetzgeberisch tätig ist. Seitdem gibt es Praktiken wurden bereits 2018 im Bericht zwei Parlamente, die sich gegenseitig nicht der Hohen Kommissarin der Vereinten anerkennen. Im selben Jahr weigerte sich Nationen für Menschenrechte belegt. die Regierung, das Referendum über eine Neben Milizen sind Einheiten der Streit- Abberufung Maduros abzuhalten, für das kräfte und der Polizei für die Menschen- die Opposition die nötigen Unterschriften rechtsverletzungen verantwortlich. Der gesammelt hatte. Viele Staatsbedienstete, venezolanische Sicherheitsapparat kann bei die unterzeichnet hatten, wurden entlassen. Aufklärung und Spionageabwehr auf Unter- Das Kräftemessen, das Regierung und stützung aus Kuba zählen, die sogenannte Nationalversammlung 2016 im Hinblick G2 (Grupo Dos). Darüber hinaus spielen Mili- auf die Ernennung von Richterinnen und tärgerichte besonders seit 2014 eine wichti- Richtern vollführten, endete mit der Ko- ge Rolle – nicht nur in Prozessen gegen optation der Judikative durch die Regierung. Mitglieder der Streitkräfte, sondern auch Unabhängige und oppositionelle Juristen gegen Zivilisten, die der Rebellion oder des wurden verhaftet oder verließen das Land. SWP-Aktuell 14 März 2019 2
Dies hinderte die von der Opposition domi- Auch Guaidó unternimmt legalistische nierte NV nicht daran, im Juli 2017 33 Rich- Bemühungen, um seine Selbsternennung terinnen und Richter zu ernennen, die im als Interimspräsident zu legitimieren. Nach- Exil ihr Amt auszuüben versuchen, haupt- dem die NV weder die Präsidentschafts- sächlich in Chile, Kolumbien, Panama und wahlen vom Mai 2018 als demokratisch den USA. Der sogenannte Oberste Gerichts- noch Maduros Amtsantritt vom Januar 2019 hof im Exil bzw. im Ausland arbeitet virtu- als legitim anerkannt hatte, erklärte sie am ell: Die Mitglieder der verschiedenen Fach- 15. Januar durch einen legislativen Akt die kammern kommunizieren wöchentlich per Präsidentschaft des Landes als vakant und Konferenzschaltung über das Internet und Maduro zum Usurpator. Diese Situation gab bearbeiten Klagen, die via E-Mail und eige- ihr den Anlass, drei Verfassungsartikel an- ne Webseite eingehen. Der Öffentlichkeits- zuwenden: Artikel 333 berechtigt Bürgerin- arbeit dienen zudem ein Twitter- und ein nen und Bürger (mit oder ohne Amt bzw. Instagram-Account. Die Entscheidungen des Mandat), der Verfassung wieder Geltung zu Obersten Gerichtshofes im Ausland werden verschaffen, wenn sie verletzt oder miss- von der Regierung Maduro weder aner- achtet wurde. Artikel 350 gewährt dem kannt noch befolgt. Dies betraf etwa ein Volk das Recht, sich gegen Regime, Gesetze Urteil vom 29. Oktober 2018, in dem das und Autoritäten aufzulehnen, die die demo- Exil-Gericht Maduro zu einer Haftstrafe kratischen Werte und Prinzipien unter- verurteilte und ihn für abgesetzt erklärte. graben sowie die Menschenrechte verletzen. Um die Parallelwelten zusammenzu- Während diese beiden Artikel sich auf führen und die wiederkehrenden Krisen zu den Bruch der Verfassung und das daraus überwinden, wurden in den Jahren 2016 folgende Widerstandsrecht beziehen, regelt und 2017/18 zwei Verhandlungsversuche Artikel 233 den Ausfall der Präsidentin oder zwischen Regierung und Opposition gestar- des Präsidenten. Dort werden mehrere Fälle tet, begleitet von international geachteten beschrieben, nämlich Tod, Rücktritt, Abset- Persönlichkeiten anderer Staaten. Die Ver- zung durch den Obersten Gerichthof, phy- handlungen wurden aber nach wenigen sische oder geistige Unfähigkeit, Abberu- Monaten ergebnislos abgebrochen. fung per Referendum sowie Amtsvernach- lässigung. Der aktuelle Verfassungskonflikt wird darunter erwartungsgemäß nicht er- Verfassungsakrobatik fasst. Da eine konstitutionelle Norm fehle, die die gegenwärtige Situation regle, spricht Repression, Gleichschaltung der Gewalten die NV von einem analogen Fall, auf den und Verdopplung der Institutionen belegen, sich Artikel 233 beziehen ließe. Bei einem dass die Verfassung von 1999, ausgearbeitet Ausfall des Staatsoberhaupts vor dem Amts- unter der Regierung von Hugo Chávez, antritt, so Artikel 233 weiter, sollen binnen heute nicht mehr Grundlage des Regierungs- 30 Tagen Präsidentschaftswahlen stattfin- handelns ist. Im Unterschied zu den latein- den. Während dieser Zeit übernimmt der amerikanischen Militärdiktaturen der Präsident oder die Präsidentin der NV die 1960er bis 1980er Jahre versucht Maduro, Regierungsgeschäfte. In diese Rolle versetz- seine Politik, seine repressiven Maßnahmen te sich Guaidó mit dem Rückhalt der NV und seine Manöver mit staatlichen Institu- durch die öffentlichkeitswirksame Vereidi- tionen dadurch zu untermauern, dass er gung im Januar 2019. Laut Beschluss der sich auf den Verfassungstext und Wahlen NV kommt ihm nun die dreifache Aufgabe beruft. Diese demokratische Fassade dürfte zu, die Usurpation der Präsidentschaft ein idealtypisches Merkmal moderner auto- durch Maduro zu beenden, eine Übergangs- ritärer Regime bilden, das sie nicht unbe- regierung zu bilden sowie freie und trans- dingt harmloser macht, jedoch länger tole- parente Wahlen zu organisieren. rierbar: sowohl für die Einheimischen als Am 5. Februar verabschiedete die NV das auch für die internationale Gemeinschaft. Statut, das den demokratischen Übergang SWP-Aktuell 14 März 2019 3
und die Wiederherstellung der Verfassung ist und Artikel 233 der Verfassung die regelt. Darin wird unter anderem die 30- wackligste Stütze von Guaidós Ermächti- tägige Frist des Artikels 233 der Verfassung gung darstellt, folgten viele Regierungen flexibilisiert und nun auf jene Periode be- weltweit mit Nachdruck der daraus abge- zogen, die mit dem (nicht näher spezifizier- leiteten legalistischen Argumentation: Sie ten) Ende der Usurpation beginnt und mit waren entweder sofort oder nach einem der Bildung einer Übergangsregierung Ultimatum von acht Tagen, in denen freie endet. Demnach sollen Wahlen so bald wie Wahlen angekündigt werden sollten, bereit, möglich und spätestens innerhalb eines Guaidós Interimspräsidentschaft offiziell Jahres abgehalten werden. anzuerkennen und die Abhaltung von Kurz vor der Verabschiedung des Über- Präsidentschaftswahlen zu fordern. Darüber gangsstatuts hatte die NV am 15. Januar das hinaus empfingen die USA und andere sogenannte Amnestiegesetz erlassen. Damit lateinamerikanische Staaten die von Guaidó vollzog die Opposition einen Strategie- entsandten Botschafterinnen und Botschaf- wechsel in der Frage der Strafverfolgung des ter. Guaidó besuchte zudem Ende Februar Chavismus und Madurismus. Straffreiheit und Anfang März 2019 Kolumbien, Brasi- stellt sie jenen regimetreuen Zivilisten und lien, Paraguay, Argentinien und Ecuador. Militärs in Aussicht, die bereit sind, die Sei- Indem diese Staaten das politische Be- ten zu wechseln und zum demokratischen kenntnis zur Legitimität der Interimsregie- Übergang beizutragen. Nachdem Guaidó rung Guaidós zu einer offiziellen Anerken- vereidigt worden war, wurde der Gesetzes- nung ausdehnten, gaben sie faktisch dem text vor laufenden Kameras internationaler venezolanischen Verfassungsrecht den Vor- Medien in Polizei- und Militärdienststellen rang gegenüber dem Völkerrecht. Zum verteilt. Guaidó hat sogar Maduro nicht aus einen gehört es zur völkerrechtlichen Tradi- der Gruppe der möglichen Begünstigten tion und Anerkennungspraxis der meisten ausgeschlossen. Die USA unterstützen das Staaten, nicht Personen oder Regierungen, so großzügige wie vage gehaltene Angebot sondern Staaten anzuerkennen. Zum ande- der Opposition, während Menschenrechts- ren richtet sich gemäß dem Völkerrecht die organisationen wie Human Rights Watch Anerkennung nach der tatsächlichen Aus- kritisieren, dass es weder die zu berücksich- übung der Macht in einem Staat, das heißt tigenden Straftaten noch den Umsetzungs- der effektiven Kontrolle über Streitkräfte, prozess spezifiziert. In dieser Mehrdeutig- Verwaltung und Territorium. Die völker- keit stehe das Amnestiegesetz im Wider- rechtliche Anerkennung einer Regierung spruch zur Verfassung und zu den inter- geht mit einer Reihe von Privilegien und nationalen Verpflichtungen des venezola- Verpflichtungen einher, deren Nutzung nischen Staates. Die Anzahl der in Frage und Erfüllung Regierungseffektivität vor- kommenden Deserteure und Deserteurin- aussetzt. Die verfrühte Anerkennung einer nen bleibt bisher auf etwa 700 begrenzt – revolutionären Regierung kann als Verlet- in einem Staat mit allein rund 2000 Gene- zung des Interventionsverbots gelten und rälen und zahlreichen Militärs an der Spitze sich konfliktverschärfend auswirken. Das der Ministerien, staatlichen Unternehmen trifft besonders auf das heutige Venezuela und Regionalexekutiven. Hinzu kommt zu, da Guaidó als von Staaten anerkannter eine Reihe von Diplomaten und Diploma- Präsident nun das Ausland um militäri- tinnen aus den venezolanischen Botschaf- schen Beistand bitten könnte. Zwar erhöht ten, die sich für Guaidó aussprachen. die internationale Rückendeckung Guaidós politisches Gewicht, aber der diplomatische Schritt einer offiziellen Anerkennung seiner Internationaler Übereifer Interimspräsidentschaft facht den Konflikt weiter an. Dabei schränken die anerken- Obwohl in Venezuela Rechtmäßigkeit nenden Staaten durch ihre ausdrückliche längst zur politischen Kosmetik verkommen SWP-Aktuell 14 März 2019 4
Parteilichkeit ihren Handlungsspielraum, gaben von Foro Penal wurden rund 60 Per- etwa für Vermittlung, unnötig ein. sonen verletzt und mindestens zwei getötet. Daraufhin stoppte Guaidó die »humanitäre Lawine«. Über Twitter teilte er der inter- Politisierung humanitärer Hilfe nationalen Gemeinschaft offiziell mit, man solle, nachdem Maduro die Einfuhr der Die völkerrechtlichen Prinzipien staatliche Hilfsgüter verhindert habe, nun alle Optio- Souveränität und Nichteinmischung stehen nen offenhalten, um Venezuela zu befreien. in einem Spannungsverhältnis mit dem Anders als die USA schließen die Staaten humanitären Prinzip Schutz des Menschen, Lateinamerikas und Europas, die auf Guai- das durch das Konzept der Schutzverant- dós Seite stehen, eine Militäroption unmiss- wortung (Responsibility to Protect) seit 2005 verständlich aus. Allerdings fordern sie die aufgewertet wurde. Dieses legitimiert unter Regierung Maduro auf, sowohl humanitäre strengen Bedingungen militärische Maß- Hilfe zuzulassen als auch Neuwahlen zu nahmen zum Zwecke der humanitären organisieren oder zurückzutreten. Bei die- Intervention. sem Zweiklang interpretiert Maduro die In diesem Spannungsverhältnis bewegt ausländische humanitäre Hilfe als Trojani- sich zurzeit das politische Ringen um die sches Pferd, mit dem die Machtverhältnisse humanitäre Hilfe in Venezuela und ihre verändert werden sollen, das heißt als Instru- Verknüpfung mit einem Regimewechsel: ment zum Regimewechsel. In diesem Kon- Während der Präsident die Menschenrechte text lehnten es die Vereinten Nationen so- systematisch verletzt, ist der Interimspräsi- wie das Internationale Komitee vom Roten dent nicht in der Lage, Bürgerinnen und Kreuz und die mit ihm assoziierten natio- Bürger vor diesen Praktiken zu schützen. nalen Rotkreuz-Gesellschaften ab, sich an Während Maduro die humanitäre Krise Hilfsaktionen zu beteiligen, die von Guaidó leugnet, Unterstützung aus dem Ausland organisiert werden. Die Begründung lautet, ablehnt und die Grenzen schließt, führt dass hier die Prinzipien des humanitären Guaidó die »Koalition Hilfe und Freiheit für Völkerrechts – Unparteilichkeit, Neutrali- Venezuela« an. Diese rekrutiert Hilfsperso- tät und Unabhängigkeit (etwa von politi- nal aus Bevölkerung und Nichtregierungs- schen Zielen) – nicht beachtet würden. organisationen Venezuelas und sammelt Immer mehr Nichtregierungsorganisatio- Hilfsgüter aus dem Ausland, vor allem den nen erheben ihre Stimme gegen die Politi- USA, in benachbarten Regionen jenseits der sierung der humanitären Hilfe für Vene- venezolanischen Grenze. zuela, für die sie Regierung wie Opposition Die Kraftprobe zwischen Regierung und gleichermaßen verantwortlich machen. Opposition auf dem Feld der humanitären Hilfe erreichte am 23. Februar einen öffent- lichkeitswirksamen Höhepunkt, als Guaidó Internationale Sanktionspolitik sich an die Spitze einer LKW-Karawane mit Hilfsgütern setzte, die im kolumbianischen Andererseits erhöhen viele lateinamerika- Cúcuta startete. Weitere Hilfstransporte nische Staaten, die USA und die EU seit 2017 wurden aus dem brasilianischen Roraima stetig den Druck auf das Maduro-Regime. organisiert. Was mit einem internationalen Im August desselben Jahres schlossen Ar- Hilfskonzert und den Reden Guaidós sowie gentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay der Präsidenten Chiles, Kolumbiens, Para- unter Anwendung der Demokratieklausel guays sowie des Generalsekretärs der Orga- Venezuela vom Mercosur, dem gemeinsa- nisation Amerikanischer Staaten (OAS) in men Markt des Südens, aus. Im Juni 2018 Cúcuta begonnen hatte, endete wenige Kilo- verabschiedete die OAS eine Resolution, in meter hinter dem Grenzübergang in einem der sie das Ergebnis der Präsidentschafts- Zusammenstoß der Karawane mit dem Mili- wahlen nicht anerkannte und einen Bruch tär und der Polizei Venezuelas. Nach An- der Verfassungsordnung in Venezuela fest- SWP-Aktuell 14 März 2019 5
stellte. Der Prozess des Austritts aus der Akteure des repressiven Regimes gelten. OAS, den Venezuela mit seinem Antrag im Auch wurde diesen Personen verboten, in Jahr 2017 eingeleitet hatte, wurde nun Länder der EU einzureisen. Diese Maßnah- unterbrochen, nachdem viele OAS-Mitglied- men wurden im März 2018 erweitert und staaten Guaidó als legitimen Präsidenten verlängert. Staaten Europas wie die Schweiz anerkannt hatten und dieser einen Sonder- und Norwegen schlossen sich den EU-Sank- vertreter an die OAS entsandt hatte. Aus tionen mit ähnlichen Maßnahmen an. dem Treffen von 14 lateinamerikanischen Staaten, das im August 2017 in der perua- nischen Hauptstadt stattfand, ging die Lima- Domino-Theorie Gruppe hervor, die sich um einen friedli- chen Weg aus der Venezuela-Krise bemüht. Über Jahre betrachtete Lateinamerika den Im Laufe ihrer Gipfeltreffen hat die Gruppe Abbau von Demokratie und Rechtsstaat ihre Forderungen an die Maduro-Regierung sowie die Verschärfung der humanitären verschärft. In ihrer Erklärung vom Februar Lage in Venezuela als rein nationale An- 2019 in Bogotá bewertete sie Maduros Ver- gelegenheit. Aber erst in der Folge mehrerer bleib an der Macht als Bedrohung für Frie- Machtwechsel in der Region, des Versiegens den und Sicherheit in der Region und rief venezolanischer Geldflüsse in befreundete Akteure in Venezuela wie im Ausland dazu Staaten und des Exodus von rund vier auf, die Regierung Guaidó offiziell anzuer- Millionen Venezolanerinnen und Venezo- kennen. Im September 2018 hatten Argenti- lanern sind Druck und Bereitschaft in nien, Chile, Kanada, Kolumbien, Paraguay Lateinamerika hoch genug geworden, um und Peru gefordert, der Internationale Straf- das »Problem Venezuela« als ein regionales gerichtshof möge die Verbrechen gegen die anzusehen. Menschlichkeit untersuchen, die in Vene- Inzwischen ist die Venezuela-Krise zuela seit Februar 2014 verübt würden. jedoch nicht nur innenpolitisch, sondern Die USA, Hauptabnehmer venezolani- auch außenpolitisch komplexer geworden: schen Erdöls, verhängen seit 2015 immer Einige Akteure inner- und außerhalb härtere Sanktionen gegen Venezuela. Dazu Lateinamerikas argwöhnen, dass sich hinter gehören Visabeschränkungen, das Einfrie- dem Engagement der USA in Venezuela ren von Eigentum und Vermögenswerten eine umfassendere Regimewechsel-Strategie sowie das Verbot für US-Staatsangehörige verbirgt, die längerfristig auch Kuba und und -Institutionen, Transaktionen mit Per- Nicaragua erfassen wird. sonen durchzuführen, die auf der Specially Diese sogenannte Domino-Theorie wird Designated Nationals And Blocked Persons List nicht nur durch Äußerungen des US-Präsi- verzeichnet sind. Kanada folgte den US- denten und seines Vizepräsidenten Mike Maßnahmen gegen Venezuela im Septem- Pence sowie seines nationalen Sicherheits- ber 2017 sowie deren Verschärfungen im beraters John Bolton genährt: Im Januar Mai 2018. Ferner stornierten das Außen- 2019 wurde der Republikaner Elliott und das Finanzministerium der USA am Abrams, der bereits unter Ronald Reagan 28. Januar 2019 die Öllieferungen der größ- und George W. Bush außenpolitische Posi- ten venezolanischen Erdölgesellschaft tionen bekleidet hatte, zum US-Beauftrag- PDVSA. Zudem gaben sie die Kontrolle über ten für Venezuela ernannt. Abrams ist eine deren in Texas ansässige Tochtergesellschaft äußerst umstrittene Figur in den inter- CITGO und über die venezolanischen Staats- amerikanischen Beziehungen. An seinem konten im Hoheitsgebiet der USA an Guai- Namen haften gravierende Vorwürfe wie dós Interimsregierung ab. die Verschleierung von Menschenrechts- Von EU-Seite besteht seit November verletzungen und der Aufrüstung bewaff- 2017 ein Waffenembargo gegen Venezuela. neter Gruppen in den Konflikten Zentral- Außerdem wurden die Vermögenswerte amerikas der 1980er Jahre. Zudem fungiert von Personen eingefroren, die als tragende Senator Marco Rubio, Sohn kubanischer SWP-Aktuell 14 März 2019 6
Auswanderer und Befürworter einer harten eines Dialogprozesses sorgen. Europa käme Politik gegenüber Havanna, als informeller die Aufgabe zu, den regionalen Rahmen zu außenpolitischer Berater (und bisweilen unterstützen. als Regierungssprecher) in Lateinamerika- Humanitärer Schutz. Die internationale Fragen. Rubio vertritt den Bundesstaat Gemeinschaft sollte darauf hinwirken, dass Florida, wo eine große lateinamerikanische das Maduro-Regime von repressiven Maß- Wählerschaft registriert ist. nahmen absieht, politische Gefangene frei- Aber auch Mitglieder der venezolani- lässt und humanitäre Hilfe durch neutrale schen Opposition befeuern die Domino- Akteure zulässt. Von deren Politisierung Idee: Julio Borges, Abgeordneter der NV, sollte Guaidó seinerseits Abstand nehmen. bekräftigte während einer Pressekonferenz Zugleich sind seine körperliche Unversehrt- in den USA, es gehe im aktuellen Kampf heit und seine Freiheit streng zu schützen. nicht nur um Venezuela, sondern auch um Der Weg zur Abhaltung demokratischer Kuba und Nicaragua, um die Freiheit in Neuwahlen (unerlässlich ist die Präsident- der ganzen Region. Er bediente sich zudem schaftswahl, aber zugleich könnten auch der Metapher einer Berliner Mauer, die in Parlament oder Regionalexekutive gewählt Lateinamerika noch nicht gefallen sei, wo- werden) wäre dann in Gesprächen zwischen mit er wiederum implizit auf einen neuen Regierung und Opposition zu ebnen. Dies Kalten Krieg verwies. würde bedeuten, zugunsten des unmittel- Domino-Thesen und Kalter-Krieg-Ana- baren humanitären Schutzes der Bevölke- logien haben jedoch eine verheerende rung von politischen Maximalzielen abzu- Wirkung auf die Konfliktregelung, denn sie rücken. erweitern den Kreis der Konfliktparteien Deeskalation. Internationaler Druck auf und fördern die Verhärtung der Positionen autoritäre Regime kann zwar zu deren und somit die Konfrontation. Zwar sind Erosion beitragen und der Opposition neben den USA auch andere ausländische gewissen Schutz geben. Die Politik eines Akteure in den Venezuela-Konflikt invol- Regimewechsels von außen führt jedoch viert, allen voran Kuba, China und Russ- lediglich in Ausnahmefällen zu nachhalti- land. Ihre Rolle dürfte jedoch infolge eng gen Demokratien, selbst wenn der Hilferuf definierter Prioritäten begrenzt bleiben. aus dem Inland kommt. Daher sollte drin- Es ist zu erwarten, dass Havanna seine gend vermieden werden, dass das Engage- Sicherheitsexperten aus den venezolani- ment der USA in der Venezuela-Frage die schen Institutionen abzieht, sobald der Rolle der venezolanischen Gesellschaft »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« nicht sowie Lateinamerikas verdrängt und dem mehr Venezuelas Staatsideologie ist. Für gesamten Prozess den Charakter eines von China, Hauptgläubiger Venezuelas, ist außen aufgezwungenen Regimewechsels Vertragssicherheit, also die Rückzahlung verleiht. Gleichermaßen zu verhindern ist, seiner Kredite, wichtigstes Anliegen. dass die US-Unterstützung für Guaidó im Moskau wiederum ist stark daran inter- Falle einer Konflikteskalation in eine Mili- essiert, die Einmischung der USA in Vene- tärintervention mündet. Dabei wäre die zuela gering zu halten. Gefahr außerordentlich groß, dass ein Ge- waltchaos mit einem undurchsichtigen Geflecht zahlreicher staatlicher, parastaat- Gespräche statt Gewalt licher, gesellschaftlicher und krimineller Akteure entsteht. Das internationale Engagement im venezo- Nationale Fokussierung. Zu Beginn des Jah- lanischen Konflikt sollte in erster Linie dem res 2019 hat sich der Venezuela-Konflikt humanitären Schutz Vorrang einräumen, stark internationalisiert. Ein konstruktiver zur Deeskalation beitragen, den Blick auf Ansatz zur Bewältigung der Krise erfordert, die venezolanischen Akteure richten und dass nationale Akteure im Mittelpunkt für die lateinamerikanische Einbettung stehen. Die frische und dynamische Aus- SWP-Aktuell 14 März 2019 7
strahlung Guaidós war entscheidend dafür, die Regierungen von Bolivien, Costa Rica, die NV aufzuwerten und überzeugend in Deutschland, Frankreich, Ecuador, Italien, der Öffentlichkeit zu vertreten sowie die den Niederlanden, Portugal, Großbritanni- Bevölkerung neu zu mobilisieren. Es emp- en, Spanien und Schweden. fiehlt sich, den Kreis der Teilnehmenden Aus der Divergenz in den Positionen für die Anfangsphase eines Dialogs mit könnte eine Ressource für die Bildung einer dem Regime klein zu halten. Im Verlauf des politisch ausgewogenen kleinen Gruppe Übergangsprozesses sollten jedoch weitere lateinamerikanischer Staaten erwachsen, nationale Akteure (wie Gewerkschaften, deren Engagement für beide Seiten an- Verbände, Kirchen, Studentenbewegung, nehmbar ist und die einen ersten Kommu- © Stiftung Wissenschaft Vertreter und Vertreterinnen eines kriti- nikationskanal zwischen Regierung und und Politik, 2019 schen Chavismus) einbezogen werden, Opposition herstellen. Auf diesem Wege Alle Rechte vorbehalten damit rechtzeitig der Grundstein für die sollten Erwartungen und Bedingungen gesellschaftliche Verankerung von Demo- nicht für einen Regimewechsel, sondern Das Aktuell gibt die Auf- kratie und Wiederaufbau gelegt wird. für die Aufnahme eines Dialogprozesses fassung der Autorin wieder. Lateinamerikanische Einbettung. Latein- zwischen den Konfliktparteien geklärt In der Online-Version dieser amerika ist heute geteilt zwischen den werden. Eine solche Initiative wäre zwar Publikation sind Verweise Regierungen, die sich hinter das Maduro- nicht die erste, doch der Kontext hat auf SWP-Schriften und Regime stellen, und jenen, die auf einen sich mittlerweile verändert. Die Gespräche wichtige Quellen anklickbar. Wandel drängen. In letzterer Gruppe könnten diesmal vertraulicher geführt SWP-Aktuells werden intern herrscht wiederum keine Einigkeit über die werden und Kuba als Garanten einbeziehen. einem Begutachtungsverfah- Frage, ob man Guaidó anerkennen solle. Diese Gruppe sollte sich gegenüber der ren, einem Faktencheck und Dabei verfolgen Mexiko und Uruguay einen Maduro-Regierung und den sie tragenden einem Lektorat unterzogen. Mittelweg aus der Krise, und zwar mit dem Streitkräften als »friedliche Alternative« zur Weitere Informationen vorgeschlagenen »Mechanismus von Monte- bedrohlichen Option einer US-Intervention zur Qualitätssicherung der video«, den auch karibische Staaten und präsentieren. Im Zuge von Verhandlungen SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. Bolivien unterstützen. So nennt sich das wären unter anderem die Zugeständnisse swp-berlin.org/ueber-uns/ Konzept für einen Prozess zur Überwin- an das Regime zu konkretisieren, die sicher- qualitaetssicherung/ dung der Krise in vier Phasen, der Dialog, lich mehr als das vage Versprechen einer Verhandlung, Verpflichtungen und Imple- Amnestie enthalten würden. Zu klären wäre, SWP mentierung umfasst und in dem Neuwah- welche Länder die amnestierten Akteure Stiftung Wissenschaft und Politik len keine Voraussetzung für Gespräche aufnehmen werden. Die EU sollte einen sol- Deutsches Institut für sind, sondern ein mögliches Ergebnis. Die chen Dialogprozess intensiv begleiten und Internationale Politik und Betonung auf Vertrauensbildung und Er- der lateinamerikanischen Gruppe beratend Sicherheit gebnisoffenheit gehört zu den Stärken des und mit technischen Mitteln unter die Konzepts, das aber keine Dynamik ent- Arme greifen. Ludwigkirchplatz 3–4 wickelte. Weder die zwei tragenden Länder Schließlich sollten die Akteure der vene- 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 noch die drei Persönlichkeiten, die eine zolanischen Opposition wie des Auslands, Fax +49 30 880 07-100 Annäherung zwischen den Konfliktparteien die sowohl eine Militärintervention als www.swp-berlin.org fördern sollten, konnten die nötige diplo- auch Verhandlungen ablehnen, an einen swp@swp-berlin.org matische Zugkraft entfalten. simplen Grundsatz erinnert werden: Wer EU-Unterstützung für eine lateinamerikanische für Wandel ist und nicht schießen will, ISSN 1611-6364 doi: 10.18449/2019A14 Staatengruppe. Zwar ist die EU in der Frage muss reden. Das ist die einzig reale Alter- der Anerkennung von Guaidós Interims- native zum Bürgerkrieg. präsidentschaft gespalten. Dennoch konnte sie eine internationale Kontaktgruppe bilden, die am 7. Februar an einem Treffen mit anderen lateinamerikanischen Staaten in Uruguay teilnahm. Vertreten waren Dr. Claudia Zilla ist Leiterin der Forschungsgruppe Amerika. SWP-Aktuell 14 März 2019 8
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