Die neue Liebe zur Autarkie - Einleitung - Stiftung Wissenschaft und Politik
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NR. 18 FEBRUAR 2021 Einleitung Die neue Liebe zur Autarkie Risiken für die deutsche und europäische Exportwirtschaft Heribert Dieter In wichtigen Volkswirtschaften zeigt sich eine überraschende und gefährliche Renaissance protektionistischen Denkens. China, Indien und die USA, die drei bevölkerungsreichsten Staaten der Welt, haben ihre handelspolitischen Prioritäten verändert. Präsident Donald Trump warb vehement für den Kauf amerikanischer Produkte, und sein Nachfolger Joe Biden wird den in der Demokratischen Partei ohnehin unpopulären Freihandel vermutlich nicht fördern. Der indische Premier- minister Narendra Modi propagiert nicht nur die Produktion von Waren im eigenen Land (»Make in India«), sondern setzt inzwischen auf eine weiterreichende Selbst- versorgung. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat schon 2018 gefordert, die Abhängigkeit der Volksrepublik von Im- und Exporten zu reduzieren. Und auch Europa ist keineswegs frei von protektionistischen Reflexen. Der französische Präsi- dent Emmanuel Macron hält es für notwendig, die Globalisierung anders zu gestalten, und will weg von ihrer bisherigen auf Liberalisierung drängenden Form. Der Ruf nach Selbstversorgung ist vielerorts plötzlich wieder populär. Die SARS-Covid-2-Krise ist keineswegs der Großer Verlierer dieser Wende werden Hauptgrund, sondern bestenfalls ein Kata- die exportorientierten Volkswirtschaften lysator für die neue Liebe zur Autarkie. Europas sein. Gerade deutschen Unter- Wichtigste Triebkraft dieser handelspoliti- nehmen könnten mittelfristig die Absatz- schen Wende ist der geopolitische Konflikt märkte für ihre Produkte ausgehen. Aller- zwischen China und einer Reihe anderer dings hat die Handelspolitik der Europäi- Länder. Die USA ebenso wie Indien wollen schen Union in den letzten Jahren zu künftig weniger Handel mit der Volks- einem gewissen Verdruss an der Globali- republik treiben. Aber auch Peking selbst sierung beigetragen. Der partiell protektio- wendet sich vom Weltmarkt ab und möchte nistische Kurs der EU hat nicht nur den früher oder später nicht mehr auf den Im- Zugang zum europäischen Markt erschwert, port wichtiger Vorprodukte angewiesen sondern ihr auch erhebliche Handels- sein, was insbesondere für Halbleiter gilt. bilanzüberschüsse eingebracht. Durch das Versorgungssicherheit hat heute gegenüber Ausscheiden Großbritanniens, dessen wirtschaftlicher Effizienz weltweit an Be- Bilanz im europäischen und außereuropäi- deutung gewonnen. schen Handel seit vielen Jahren Defizite
verzeichnet, wird der merkantilistische die indische Bevölkerung auf ökonomische Charakter der europäischen Politik noch Reformen ein und verordnete dem Land deutlicher werden. eine deutliche Liberalisierung des Außen- handels. Die Zölle auf Industrieprodukte (einfacher Durchschnitt) sanken von Indien: Zurück zu Gandhi 82,1 Prozent (1990) auf 7,9 Prozent (2018). Die Erfolge dieses Kurses waren beacht- Noch 2019 galt Indien als eine vielverspre- lich. Indiens Wirtschaftsleistung wuchs von chende Volkswirtschaft, die dem ökonomi- 270 Milliarden US-Dollar im Jahr 1991 (in schen Entwicklungspfad anderer asiatischer laufenden US-Dollar) auf 2.869 Milliarden Länder folgen könnte. Die Liberalisierung US-Dollar 2019. Trotz des starken Bevölke- des Warenhandels hätte in diesem Modell rungswachstums vervierfachte sich die Pro- eine zentrale Rolle gespielt. Doch dazu wird Kopf-Wirtschaftsleistung im selben Zeit- es nicht kommen. Die Regierung von Pre- raum von 576 US-Dollar (in US-Dollar des mierminister Narendra Modi hat 2020 Jahres 2010) auf 2.152 US-Dollar. Gewiss einen drastischen Kurswechsel vollzogen sind diese Fortschritte nicht ausschließlich und strebt seither eine partielle Abkopp- auf die Liberalisierungspolitik zurückzu- lung Indiens von den Weltmärkten an. führen, doch trug der Abbau von Handels- Dabei fällt auf, dass die Begründung für schranken dazu bei, Millionen von Indern diese handelspolitische Kehrtwende sowohl mehr Wohlstand zu verschaffen. ökonomische als auch geopolitische Argu- Allerdings waren die Abkehr von der mente enthält. Importsubstitution und die Hinwendung Protektionistische Handelspolitik hat in zum Weltmarkt nie unumstritten. Nach Indien eine lange Tradition. Schon Mahat- Indiens Unabhängigkeit 1947 galt Frei- ma Gandhi (1869–1948) schwärmte von handel immer wieder als eine Spielart des »Swadeshi«, einer wirtschaftlichen Autarkie Imperialismus und als Hemmnis für die des Subkontinents. Seine Vision waren Erlangung völliger Selbständigkeit. Das selbstverwaltete Dörfer, die weitgehend Land führte lebhafte Debatten über den ohne Außenhandel existieren. Den Ein- Außenhandel, und regelmäßig zeigten sich wand, eine solche auf Selbstversorgung dabei protektionistische Reflexe. In der setzende Politik sei ineffizient, wies Gandhi Welthandelsorganisation WTO gehörte mit dem Argument zurück, wirtschaftliche Indien schon zu den skeptischen Stimmen, Entwicklung sei mehr als materieller bevor man sich in jüngster Zeit davon ab- Wohlstand. Ebenso wichtig seien ethische wandte, die internationale Arbeitsteilung und spirituelle Dimensionen. weiter zu vertiefen. Indien war einer der Bis zur großen Wirtschaftskrise des Hauptgegner der Doha-Runde ab 2001 und Jahres 1991 setzten indische Regierungen widersetzte sich auch plurilateralen Ab- stets auf handelspolitische Konzepte, die kommen unter dem Dach der WTO. Lange den einheimischen Produzenten ein hohes hielten indische Beobachter das eigene Maß an Schutz boten. Indien war mit die- Land für zu wenig wettbewerbsfähig, um sem Kurs, der sich an »autozentrierter Ent- mit anderen Volkswirtschaften konkur- wicklung« orientierte, keine Ausnahme rieren zu können. unter den Entwicklungsländern. Vielmehr Hinzu kommt, dass Indien besonders im verfolgte das Land eine Handelspolitik, die reinen Güterhandel chronische Defizite lange Zeit auch andernorts populär war aufweist. Von 2010 bis 2019 betrug hier das und die im Europa des 19. Jahrhunderts kumulierte Minus rund 1.542 Milliarden etwa Friedrich List vertreten hatte. Zu Be- US-Dollar. Die Überschüsse im Dienstleis- ginn der 1990er Jahre erfolgte die Wende. tungshandel konnten die Defizite im Der damalige Finanzminister und spätere Warenhandel nur teilweise kompensieren. Premier Manmohan Singh pries die Erfolge Im genannten Zeitraum betrug das kumu- ostasiatischer Volkswirtschaften, schwor lierte Defizit im Waren- und Dienstleis- SWP-Aktuell 18 Februar 2021 2
tungshandel 850 Milliarden US-Dollar. Per gigkeit 1947 war dieser Anteil zwar auf Saldo war Indien bislang durchweg auf 7,5 Prozent gestiegen, aber die Zahl der Kapitalimporte angewiesen und damit von Beschäftigten in der Industrie betrug ledig- den Einschätzungen der Kapitalgeber ab- lich 2,5 Millionen – bei einer damaligen hängig. Einige indische Beobachter sehen in Gesamtbevölkerung von 350 Millionen dieser Abhängigkeit ein Problem. Menschen. Die Corona-Pandemie war Katalysator der erneuten Rückbesinnung auf eine Han- Historisch verwurzelte Skepsis delspolitik, die der inländischen Produktion Vorrang gibt. Premierminister Modi betonte Indiens Wirtschaftsgeschichte spielt eine im Mai 2020, Indien müsse auf Selbstversor- wichtige Rolle, wenn es darum geht, wie gung setzen. Er skizzierte ein Spannungs- die Effekte liberalisierten Handels bewertet verhältnis zwischen einer wirtschaftszent- werden. Viele Inder haben nicht vergessen, rierten Globalisierung und einer solchen, dass die Kolonialmacht Großbritannien den die auf menschliche Bedürfnisse zielt. Freihandel just in dem Moment durchsetz- Indien müsse den Menschen in den Vorder- te, als deren eigene Textilindustrie dank grund stellen, nicht ökonomischen Profit. Einführung mechanisierter Webstühle wett- Im Mai 2020 lancierte Modi eine Kampa- bewerbsfähig geworden war. Im frühen gne, mit der Indiens Selbstversorgung – 18. Jahrhundert hatten indische Textilien »Atmanirbhar Bharat« – gestärkt werden noch einen Anteil von 25 Prozent am Welt- soll. Der Premier pries die Vorzüge einer textilhandel. Im 19. Jahrhundert jedoch auf Autarkie setzenden Wirtschaftspolitik; wuchsen Indiens Importe von britischen als deren Ergebnis prognostizierte er einen Textilien rasch an – von 54 Millionen Meter Zuwachs an »Glück, Zufriedenheit und Stoff im Jahr 1830 auf 870 Millionen Selbstbestimmung«. Wie weit Indiens pro- Meter 1858. tektionistischere Politik reichen soll, ist Der Niedergang der indischen Textil- bislang aber unklar. Modi überlässt es industrie erwies sich als verhängnisvoll. seinen Ministern, die Konturen des neuen Erwerbslos gewordene Weber drängten in Kurses zu schärfen. die Landwirtschaft, wo sie für ein Über- Auf den ersten Blick scheint es, als hätte angebot an Arbeitskräften und für sinkende die Regierung Modi schlicht den Reform- Löhne sorgten. Die gesamte indische Wirt- eifer ihrer ersten Jahre abgelegt und durch schaft litt unter den Importen aus Großbri- eine romantisierende Wende ersetzt, die tannien. Im 19. Jahrhundert priesen die zurück zu den handels- und entwicklungs- britischen Kolonialherren den Freihandel, politischen Konzepten der 1950er Jahre was leicht war, weil die Fabriken im Ver- führen soll. Gewiss gibt es gute Gründe, einigten Königreich die wettbewerbsfähigs- etwa bei wichtigen Medizinprodukten nicht ten der Welt waren. Dagegen hatte Groß- von ausländischen Lieferungen abhängig britannien noch im 18. Jahrhundert mit sein zu wollen. In Indien stehen aber vor restriktiven Handelsgesetzen (insbesondere allem geopolitische Überlegungen hinter dem Calico Act von 1701) den Import von der restriktiven Handelspolitik. Das Land Textilien weitgehend verboten und damit erlebte 2020, wie sich der Konflikt mit auch die Entwicklungschancen der indi- China deutlich verschärfte. Bislang haben schen Mitbewerber verschlechtert. die Grenzstreitigkeiten im Himalaya nicht Der Verfall der indischen Textilbranche mehr als einige Dutzend Menschenleben wurde nicht kompensiert durch andere, gekostet. Aber die indische Regierung hat neue Industrien. Am Vorabend des Ersten angesichts der wachsenden Spannungen Weltkriegs, 1913, lag der Anteil der indus- beschlossen, die Volksrepublik nicht länger triellen Produktion an der Wirtschafts- als potentiellen Bündnispartner, sondern leistung des Landes gerade einmal bei als Konkurrenten einzustufen und auf 3,8 Prozent. Zum Zeitpunkt der Unabhän- unterschiedlichen Ebenen zu bekämpfen. SWP-Aktuell 18 Februar 2021 3
Das Konzept einer Entkopplung von China Wirtschaft zu reduzieren. Zugespitzt for- ist für die indische Regierung somit attrak- muliert: Es wird Indien schwerfallen, in tiver geworden. seinem Binnenmarkt, der weniger als Bislang waren vor allem chinesische 3 Billionen US-Dollar ausmacht, die glei- Software-Anbieter von Indiens neuer Politik chen Wachstumseffekte zu erzielen wie betroffen. Mit dem sogenannten digitalen auf dem etwa 30-mal so großen Weltmarkt. Angriff wurden in zwei Schüben über 260 Indiens Abwendung vom Weltmarkt ist chinesische Apps vom indischen Markt aber auch deshalb erstaunlich und wenig ausgeschlossen, darunter auch populäre überzeugend, weil die allgemein zuneh- Anwendungen der Firmen Tencent und mende Skepsis gegenüber China dem Land Alibaba. Auf Anordnung Neu-Delhis muss- die Chance böte, sich rascher zu entwi- ten Apple und Google die Apps von ihren ckeln. Viele Unternehmen warten gerade Servern löschen. Jenseits des Dienstleis- jetzt auf eine Öffnung Indiens und wären tungshandels ist allerdings auch der Waren- vermutlich auch bereit, dort massiv zu handel betroffen. Im März 2020 legte die investieren. Wenn Neu-Delhi chinesische indische Regierung ein industriepolitisches Anbieter ausschließen möchte, wären bila- Maßnahmenpaket vor, mit dem Anreize terale Handels- und Investitionsabkommen zur Produktion ausgewählter Güter geschaf- ein Ausweg. Sowohl ein Freihandelsabkom- fen wurden. Solche »Production-Linked men mit der EU – wie von Brüssel seit Incentives« (PLI) unterstützen die Schaffung Jahren angestrebt – als auch eine Freihan- nationaler Produktionsnetzwerke etwa für delszone mit den Vereinigten Staaten wür- Mobilfunktechnik, Arzneimittel, Autos, den es Indien ermöglichen, die wirtschaft- Textilien, Akkus, Solartechnik, Stahl und lichen Beziehungen mit der Volksrepublik nicht zuletzt Lebensmittel. zu reduzieren, ohne auf den Nutzen der Schon 2019 entschied Premier Modi, internationalen Arbeitsteilung verzichten dass Indien darauf verzichtet, sich der Frei- zu müssen. Ende 2020 verdichteten sich handelszone »Regional Comprehensive Hinweise aus der Regierungspartei BJP, dass Economic Partnership« (RCEP) anzuschlie- Neu-Delhi entsprechende Verhandlungen ßen, die von der ASEAN-Gruppe initiiert mit den USA und der EU aufnehmen wurde. Die Teilnahme Chinas dürfte der möchte. wichtigste Grund für Neu-Delhis Rückzug gewesen sein. Außenminister Subrahman- yam Jaishankar kritisierte im November China: Die Freihandelsaversion 2020, Indien habe sich in der Vergangen- der Kaiserreiche heit zu oft von Produkten überschwemmen lassen, die im Ausland produziert und dort Für den heutigen Besucher Chinas und ins- subventioniert würden. Diese Politik der besondere seiner Sonderverwaltungszone Offenheit werde nun durch eine Politik er- Hongkong scheint das Land ein Modell für setzt, die auf Selbstversorgung ziele. Dabei effiziente Produktion und liberalen Handel tut sich die indische Regierung auch bei zu sein. Innerhalb von vier Jahrzehnten hat geopolitisch unverfänglichen Akteuren wie sich die Volksrepublik zur größten Handels- Australien oder Sri Lanka schwer, Handels- macht entwickelt. 2018 lagen sechs der liberalisierungen zu vereinbaren. zehn wichtigsten Containerhäfen der Welt Unbeantwortet bleibt bislang die zentra- in China, rechnet man Hongkong dazu, le Frage, welche ökonomischen Folgen die waren es sieben. neue Autarkiepolitik hat. Arvind Panaga- Allerdings ist die Präferenz für Handel riya, früherer G20-Sherpa der Regierung und Warenaustausch ein sehr junges Modi, lässt Zweifel erkennen, wie die indi- Charakteristikum der chinesischen Gesell- sche Regierung ihre erklärten Wachstums- schaft. Mao Zedong setzte nach dem Bruch ziele von 8 bis 10 Prozent pro Jahr erreichen mit der Sowjetunion in den 1960er Jahren will, ohne das Schutzniveau der nationalen auf eine selbstbestimmte Entwicklung der SWP-Aktuell 18 Februar 2021 4
Volksrepublik (zili gensheng). Für das schieden sprachen sich die konfuzianischen kommunistische China war es wichtig, die Gelehrten gegen Handel mit dem Ausland wirtschaftliche und politische Abhängigkeit aus. Einheimische Erzeugnisse reichten vom Ausland und die Ausbeutung durch ihnen zufolge aus, um die Bedürfnisse des die UdSSR und kapitalistische Länder zu Heimatlandes zu befriedigen. Es sei nicht reduzieren. Dabei konnte Mao auf wirt- notwendig, die eigene Produktion durch schaftspolitischen Traditionen aufbauen, Waren aus barbarischen Gebieten und weit von denen die chinesischen Kaiserreiche entfernten Ländern zu ergänzen. An dieser über Jahrhunderte hinweg geprägt worden Stelle zeigen sich überraschende Parallelen waren. zu späteren Einschätzungen, wie sie etwa Der Konfuzianismus zählte handel- der britische Ökonom John Maynard Keynes treibende Menschen zum niedrigsten der vertrat. Er lehnte die in England bis 1914 vier Stände. Den höchsten Stand bildeten dominierende und danach weiterhin popu- die Gelehrten, gefolgt von den Bauern und läre Freihandelsdoktrin ab und plädierte den Handwerkern. Das geringste Ansehen für die einheimische Produktion von hatten jene, die Handel mit dem Ausland Gütern. 1933 forderte er, man möge »Güter betrieben, weil sie damit zeigten, dass im Inland herstellen, wo immer dies ver- China nicht autark sei. Das wirtschaftliche nünftigerweise und komfortabel möglich Denken des Landes unterschied sich bemer- ist«. kenswert lange von den Theorien west- Ähnlich wie in Indien assoziiert man licher Ökonomen. Der Nutzen einer inter- auch in China eine liberale Handelspolitik nationalen Arbeitsteilung wurde dabei mit Zwängen und traumatischen Erfahrun- nicht bedacht. Konfuzianische Gelehrte gen, für die ausländische Mächte verant- betonten die Rolle der Landwirtschaft, was wortlich waren. Die Niederlage Chinas in verständlich ist, bedenkt man deren Bedeu- den beiden Opium-Kriegen gegen Groß- tung für Chinas frühe Entwicklung. Schon britannien (1839–1842 und 1856–1860) vor über 2000 Jahren setzten sich diese sowie die Rebellion von Taiping (1851– Denker mit der Frage nach der Organisation 1864) veranlassten konservative Gelehrte, der Wirtschaft auseinander. Auf der »Salz- eine Rückbesinnung auf traditionelle wirt- und-Eisen-Konferenz« im Jahr 81 v. Chr. schaftspolitische Konzepte zu fordern. trugen sie eine Kontroverse aus, deren Londons Ziel in beiden Opium-Kriege war, Ergebnisse China bis ins 20. Jahrhundert die chinesische Regierung zu niedrigeren prägen sollten. Zöllen, weiteren Handelserleichterungen Gegenspieler der konfuzianischen Gelehr- und der Überlassung von Gebieten zu zwin- ten war Sang Hongyang (152–80 v. Chr.), gen. Am zweiten Opium-Krieg beteiligte der am kaiserlichen Hof der Han-Dynastie sich auch Frankreich. Beide Konflikte dien- über 40 Jahre lang ein einflussreicher Wirt- ten aus westlicher Sicht dazu, gegen den schaftsberater war. Er stammte aus einer erklärten Willen der kaiserlichen Regierung Familie von Händlern. Für konfuzianische der Qing-Dynastie eine liberale Handels- Gelehrte war schon diese Herkunft ein politik durchzusetzen. schwerer Makel. Sang war der erste Denker Im Einklang mit den traditionellen An- und Wirtschaftstheoretiker des antiken sichten, nach denen Kaufleute auf unterster China, der die Bedeutung von Handel und sozialer Stufe standen, warnten konserva- Arbeitsteilung thematisierte. Dies führte tive Gelehrte im 19. Jahrhundert davor, am kaiserlichen Hof zu Widerstand, der in den Handel zu steigern, neue Formen der besagter Konferenz kulminierte. industriellen Fertigung zu übernehmen Dort vertraten Sangs Widersacher die oder Eisenbahn und Bergbau einzuführen. These, dass allein die Landwirtschaft pro- Solche Schritte könnten die traditionelle duktiv sei. Die Annahme, auch Handwerk Ordnung der Gesellschaft untergraben, und und Handel könnten zum Wohlstand einer das Ausland habe China ohnehin kaum Gesellschaft beitragen, lehnten sie ab. Ent- Wertvolles zu bieten. Nach dem Weltbild SWP-Aktuell 18 Februar 2021 5
dieser Denker war internationaler Handel zepte wiederkehren zu lassen. Er beklagte, allenfalls dazu gut, Ausländern eine Gunst es sei immer schwerer, Hochtechnologie zu erweisen. China stand demnach im aus dem Ausland zu beziehen. Wachsender Zentrum einer universellen moralischen Unilateralismus und Protektionismus ande- Ordnung und hatte als überragendes Vor- rer Länder zwängen China, auf den Pfad der bild eine Führungsrolle. Selbstversorgung einzuschwenken. Xi trug Sehr deutlich sind die Unterschiede diese Überlegungen in der nordöstlichen gegenüber den wirtschaftspolitischen Para- Provinz Heilongjiang vor, die im Rostgürtel digmen in Europa, wo sich früh schon des Landes liegt und einst Ausgangspunkt Handelswege entwickelten und es seit dem der chinesischen Industrialisierung war. 18. Jahrhundert immer stärker zu grenz- Im Oktober 2020 konkretisierte Xi im überschreitender Arbeitsteilung kam. Zur Rahmen der fünften Plenarsitzung des Teilnahme an der Globalisierung – eng 19. Zentralkomitees der Kommunistischen ökonomisch definiert als Vertiefung des Partei seine außenwirtschaftspolitischen Waren- und Dienstleistungshandels sowie Reformen. Die »doppelte Zirkulation« ge- des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs nannte Strategie umfasst zwei zentrale – wurde China genötigt, und ihm fehlt Elemente. Erstens soll China vom Ausland eine lange Tradition liberaler Wirtschafts- unabhängiger werden, indem es seine in- politik. ländische Produktion und Nachfrage stärkt. Zweitens möchte man sicherstellen, dass China für internationale Produktionsnetz- Xi auf Maos Spuren werke unverzichtbar bleibt. Die Volks- republik will sich also von anderen Märk- Es waren die Reformen Deng Xiaopings ten lösen, während diese von chinesischen Ende der 1970er Jahre, mit denen der Auf- Lieferungen abhängig bleiben sollen. stieg der chinesischen Wirtschaft begann. Zugespitzt formuliert: Autarkie ist gut für Deng setzte einen doppelten Traditions- China, aber nicht für den Rest der Welt. bruch durch. Zum einen gab er die maois- Offen bleibt, ob es Peking gelingen wird, tische Wirtschaftspolitik auf, indem er westliche Hochtechnologie vollständig zu Raum für Privatinitiative und marktwirt- ersetzen. Weder in der Computertechnik schaftliche Elemente zuließ. Zum anderen noch im Flugzeugbau sind die technologi- überwand er die Aversion chinesischer schen Hürden trivial, die es dafür zu über- Wirtschaftspolitiker gegen Außenhandel winden gilt. Gleichwohl hat Xi seine Ab- und grenzüberschreitende Arbeitsteilung. sicht mehrmals bekräftigt, die Volksrepub- Diese zweite Dimension der Deng’schen lik von westlichen Importen unabhängig Reformen erscheint noch wichtiger als das zu machen. Anderslautende Bemerkungen, Zurückdrängen des Staates in der Produk- etwa beim diesjährigen virtuellen Weltwirt- tion, war die chinesische Wirtschaft zuvor schaftsforum, wirken vor dem Hintergrund doch jahrhundertelang isoliert und von von Pekings neuem Fünfjahresplan wenig einer Präferenz für inländische Erzeugung überzeugend und dienen vermutlich dazu, bestimmt. die chinesische Kurskorrektur zu kaschie- Seit Xi Jinping 2012 an die Spitze der ren. Kommunistischen Partei Chinas gerückt ist, sucht er die Abhängigkeit der Volksrepub- lik vom Außenhandel wieder zu reduzie- Hat die EU-Handelspolitik den ren. China ist zwar noch immer die »Werk- Trend zur Autarkie gefördert? bank der Welt«, doch der Anteil des Exports an seiner Wirtschaftsleistung sank von Nun drängt sich die Frage auf, ob es neben 31 Prozent im Jahr 2008 auf 17 Prozent geopolitischen Entwicklungen weitere 2019. Im November 2018 sah Generalsekre- Faktoren gibt, die insbesondere Ländern tär Xi die Zeit gekommen, Maos alte Kon- wie Indien das Interesse an internationaler SWP-Aktuell 18 Februar 2021 6
Arbeitsteilung vergällt haben. Reagiert man schüsse der EU-27-Länder. Ohne Groß- dort auf Entscheidungen an anderen Orten britannien werden die Überschüsse dieser der Welt? Tatsächlich könnte die Handels- Ökonomien entsprechend deutlicher zu politik der Europäischen Union dazu bei- Tage treten. getragen haben, Verdruss über die heutige Kritiker könnten an dieser Stelle einwen- Form der Globalisierung entstehen zu las- den, dass Handelsbilanzüberschüsse an sich sen. Die Länder der EU propagieren zwar unproblematisch seien. Doch während dies liberalen Handel, neigen selbst aber dazu, für den Handel zwischen OECD-Ländern ihre Märkte abzuschirmen. Doch haben die gelten mag, sind Entwicklungsländer in Europäer das Schutzniveau für die eigenen einer anderen Lage. Diese Volkswirtschaf- Ökonomien in den letzten Jahren etwa ten müssen sich, ebenso wie das Schwellen- erhöht? Die Messung protektionistischer land Indien, im Ausland verschulden, um Politik ist schwierig. Es genügt nicht, Zoll- eine defizitäre Handelsbilanz auszuglei- sätze zu betrachten. Eine Rolle spielen etwa chen. Dadurch entstehen nennenswerte auch staatliche Beschaffungsprogramme Kosten. Zudem dämpft ein Handelsbilanz- und die Präferenzen von Unternehmen wie defizit die inländische Beschäftigung. Verbrauchern. Wenn Letztere zum Beispiel Schon in den 1960er Jahren hat die engli- bevorzugt landwirtschaftliche Produkte aus sche Ökonomin Joan Robinson darauf hin- der näheren Umgebung kaufen und auf gewiesen, dass ein Handelsbilanzüber- außereuropäische Importware verzichten, schuss zu einem Export von Arbeitslosigkeit dann beeinflusst das die Handelsbilanz, führt. Die EU-27 hat es in den vergangenen ohne dass sich an den Zollsätzen und der Jahren versäumt, ihre Handelspolitik ge- Politik Brüssels etwas geändert hätte. Auch mäß dieser Erkenntnis zu gestalten. bloße Appelle, einheimische Produkte zu Während sich schon vor der Corona- erwerben, können sich auf die Handels- Pandemie kritisch nach den Folgen der EU- bilanz auswirken. Handelspolitik fragen ließ, zeigt sich heute, Deshalb ist es sinnvoll, in den Blick zu dass auch Europa gegen die Verlockungen nehmen, wie sich die Handelsbilanzen der der Autarkie keineswegs immun ist. Nicht EU entwickeln. Die gegenwärtig der Union vergessen darf man, dass es kein kontinen- angehörenden 27 Volkswirtschaften erzie- taleuropäisches Land gibt, in dem der libe- len seit Jahren erhebliche Handelsbilanz- rale Handel traditionell so breiten gesell- überschüsse. Für den Zeitraum von 2012 bis schaftlichen Rückhalt fand wie in Großbri- 2019 belaufen sich die kumulierten Über- tannien. Im 19. Jahrhundert galt dort ein schüsse der EU-27 im außereuropäischen unbeschränkter Handel als Bürgerrecht und Handel auf rund 1.442 Milliarden Euro oder nicht nur als Methode zur Steigerung des 1.730 Milliarden US-Dollar. Dies bedeutet, Wirtschaftswachstums; es dominierten dass die Handelspartner der EU-27 entspre- Freihandelstheorien. Dagegen waren vor chende Defizite hinnehmen und sich ver- allem in Frankreich merkantilistische schulden müssen. Die anhaltenden Über- Stimmen stets präsenter. In Deutschland schüsse der EU-27 können dazu führen, wiederum wurde und wird liberaler Handel dass sich der Nutzen der internationalen häufig vor allem als bloßes Mittel betrach- Arbeitsteilung ungleich verteilt. tet, um die hier erzeugten Güter besser Vor dem Austritt Großbritanniens aus exportieren zu können. Der Nutzen des der EU fielen diese Überschüsse weniger Freihandels für Konsumenten spielt im auf, weil die dortigen Handelsbilanzdefizite Vergleich zum Interesse der Produzenten einen Teil dessen kompensierten, was die vielfach nur eine untergeordnete Rolle. kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften Dem Lager der überzeugten Freihändler an Plus erreichten. Von 2012 bis 2019 innerhalb der EU fehlt nach dem Brexit da- betrug das kumulierte britische Handels- her eine gewichtige Stimme. bilanzdefizit immerhin 485 Milliarden Euro – gut ein Drittel (34 Prozent) der Über- SWP-Aktuell 18 Februar 2021 7
EU-Protektionismus – Neuordnung der europäischen Handels- der falsche Weg politik ohnehin opportun. Angesichts der volkswirtschaftlichen Schäden, die die Wie gesehen, hat es unterschiedliche Grün- Corona-Pandemie vor allem in Entwick- de, wenn in den USA, vor allem aber in den lungs- und Schwellenländern verursacht, beiden bevölkerungsreichsten Staaten der sollte die EU gerade jetzt ihre Handels- Welt wieder das Interesse erwacht, handels- politik liberalisieren. Sowohl bei Industrie- politisch auf Selbstversorgung zu setzen. gütern als auch im Agrarsektor gibt es eine Für Indien wie China spielen dabei geo- Fülle von Optionen zum Abbau von Han- politische Spannungen eine zentrale Rolle. delshemmnissen. Die Europäische Union © Stiftung Wissenschaft Zugleich greifen beide Staaten auf handels- könnte zugleich das handelspolitische Ziel und Politik, 2021 politische Konzepte zurück, die bereits frü- aufstellen, eine ausgeglichene Handels- Alle Rechte vorbehalten here Entwicklungsphasen ihrer Ökonomien bilanz zu erreichen, und sich selbst Sank- bestimmten. tionen verordnen, sollten entsprechende Das Aktuell gibt die Auf- Für Deutschland ist diese Entwicklung Schwellenwerte überschritten werden. fassung des Autors wieder. problematisch, vor allem was China betrifft. Ein falscher Weg wäre es dagegen, die In der Online-Version dieser Sollte Peking mit der Strategie heimischer protektionistischen Entwicklungen in Publikation sind Verweise Produktion erfolgreich sein, dürfte die deut- anderen Volkswirtschaften mit eigenem auf SWP-Schriften und sche Industrie die besten Jahre ihres China- Protektionismus zu kontern. Europa liefe wichtige Quellen anklickbar. Geschäfts hinter sich haben. Das bisherige Gefahr, mit einer solchen Politik die von SWP-Aktuells werden intern Modell, das Deutschland hohe Beschäfti- China, Indien und nicht zuletzt den USA einem Begutachtungsverfah- gung und starke Handelsbilanzüberschüsse angestoßene Welle weiter zu verstärken ren, einem Faktencheck und bescherte, wäre in Frage gestellt. Die deut- und die dortigen Rufe nach partieller Autar- einem Lektorat unterzogen. sche Wirtschaft müsste sich neu orientieren kie zu legitimieren. Weitere Informationen und verstärkt auf die europäische Binnen- zur Qualitätssicherung der und die Nachfrage aus anderen OECD- SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. Ländern setzen. swp-berlin.org/ueber-uns/ Heute fordern einige Stimmen, Europa qualitaetssicherung/ müsse seine »strategische Autonomie« stär- ken. Ebenso gibt es Appelle, eine Kampagne SWP zum Kauf europäischer Produkte zu starten. Stiftung Wissenschaft und Politik Beobachtet wird schon ein »pandemiegebo- Deutsches Institut für rener EU-Protektionismus«. Auch erwartet Internationale Politik und man von Brüssels künftiger Handelspolitik, Sicherheit die soziale Lage in den Herkunftsländern von Importen zu berücksichtigen, ebenso Ludwigkirchplatz 3–4 die Effekte der ausländischen Produktion 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 auf den Klimawandel. Die Gefahr ist be- Fax +49 30 880 07-100 trächtlich, dass mit solchen Maßnahmen www.swp-berlin.org eine partielle Abkopplung der EU-27 vom swp@swp-berlin.org Weltmarkt verbunden sein könnte. Ver- mutlich wäre es vor allem für die Entwick- ISSN (Print) 1611-6364 ISSN (Online) 2747-5018 lungsländer Afrikas tragisch, sollte die EU doi: 10.18449/2021A18 künftig dezidiert auf Selbstversorgung setzen. Gerade weil arme Entwicklungsländer künftig noch stärker auf die EU als Absatz- markt angewiesen sein werden, wäre eine Prof. Dr. Heribert Dieter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen und apl. Professor an der Universität Potsdam. SWP-Aktuell 18 Februar 2021 8
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