Vielfalt- Das Bildungsmagazin - Neue Website

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Vielfalt- Das Bildungsmagazin - Neue Website
3/2021

                                                                     Vielfalt–
                                                                     Das Bildungsmagazin

Editorial
Liebe Leser*innen,
die Schule hat nach den Sommerferien mit ei-    Schüler*innen der 11. Jahrgangsstufe teilnah-
nigen coronabedingten Verunsicherungen be-      men, stießen die jungen Frauen auf Mord- und
gonnen. Die meisten hoffen, dass die Schulen    Folteraufrufe gegen Juden und auf drastische
in diesem neuen Schuljahr geöffnet bleiben      Vernichtungsfantasien gegen Israel. Einige
und Präsenzunterricht wieder Standard sein      Teilnehmende des Chats drohten konkreten
wird. Die Sehnsucht nach Normalität ist spür-   Schüler*innen mit Vergewaltigung oder ande-
bar. Doch zur „Normalität“ gehört manchmal      ren sexualisierten Gewaltexzessen und poste-
auch, dass Kinder, Jugendliche und junge Er-    ten sexistische, rassistische Aussagen und Bil-
wachsene im Klassenraum, auf dem Schulhof,      der. Die Schülerinnen, die die Posts entdeckt
auf dem Schulweg oder im Web Diskrimi-          hatten, ließen sich nicht einschüchtern und
nierungen erleben. Sie werden wegen ihrer       informierten die Schulleitung. Diese leitete ei-
Hautfarbe, Herkunft, Religionszugehörigkeit,    nen Beratungs- und Konsultationsprozess ein,
Behinderung oder wegen Armut ausgegrenzt        an dem sowohl Schüler*innen als auch Lehr-
und gedemütigt. Oft sind die Diskriminierun-    kräfte teilnahmen. Über diesen Prozess, den
gen strukturell bedingt; manchmal sind Lehr-    die Chancenwerkstatt für Vielfalt und Teilhabe
kräfte oder anderes schulisches Personal be-    begleiten durfte, berichtet Ariane Dettloff.
teiligt; dann wieder gehen Diskriminierungen
von anderen Schüler*innen aus. Die vermeint-    Wie es ist, bereits als Kind von Rassismus be-
liche Anonymität des Web führt dazu, dass       troffen zu sein, erzählt der Schüler Firas im
Diskriminierungen im Internet oft besonders     Interview. Die Schule habe ein Problem damit
brutal und schockierend sind.                   Rassismus überhaupt zu erkennen.
Wie das konkret aussehen kann und welche
Möglichkeiten es gibt, Diskriminierungen und    Diskriminierung im schulischen Kontext ist
Anfeindungen zu bekämpfen, darüber berich-      keine Bagatelle. Sie verhindert Inklusion und
ten wir in diesem Heft anhand eines konkreten   Chancengerechtigkeit. Einzelne Kinder und
Beispiels aus einem Aachener Gymnasium. Im      Jugendlichen erleiden durch Diskriminie-
Herbst 2020 entdeckte eine Gruppe Schülerin-    rungen seelische und körperliche Schäden,
nen auf einem „Discord Server“ schockieren-     die ihre Bildungsverläufe beeinträchtigen
de Inhalte. In einem Chat, an dem knapp 50      können. In ihrem Dossier Diskriminierungs-
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    erfahrungen und Diskriminierungsschutz an         men, die zu diesen Themen in Zukunft auch
    Schulen beschreibt Charlotte Kastner von der      strukturell arbeiten werden.
    Antidiskriminierungsstelle des Bundes, wie
    Schüler*innen institutionell in der Schule vor    Zwei Bücher möchten wir Ihnen gerne ans
    Diskriminierung geschützt werden können.          Herz legen. Das sehr bewegende Jugendbuch
                                                      Kampala Hamburg von Lutz van Dijk, der von
    Das Ausmaß von Antisemitismus und Rassis-         schwuler Liebe in Nord und Süd, von Flucht
    mus gegenüber Sinti*zze oder Rom*nja auf          und Solidarität unter Jugendlichen schreibt
    Schulhöfen und in Klassenräumen vergegen-         und sogar hervorragende Schulmaterialien
    wärtigen uns Marina Chernivsky im Interview       dazu entwickelt hat. Im Buch „Die Elenden“
    und Hamze Bytyçi und David Siebert in ihrem       schildert die „ZEIT“-Journalistin Anna Mayr
    Artikel „Das lass ich mir von einem Zigeuner-     ihre Erfahrungen als Tochter langzeitarbeits-
    bengel nicht gefallen!“                           loser Eltern und analysiert deren strukturelle
                                                      Ursachen.
    In eigener Sache möchten wir Ihnen die ers-
    te Antidiskriminierungsberatungsstelle für        Die Redaktion wünscht Ihnen eine gute Lek-
    Schüler*innen in NRW vorstellen: BANDAS –         türe und bittet Sie um die Weiterverbreitung
    Beratung und Antidiskriminierungsarbeit für       von Vielfalt – Das Bildungsmagazin an alle, die
    Schüler*innen ist eine Servicestelle der Integ-   mit Schule zu tun haben. Wir freuen uns über
    rationsagentur der AWO Mittelrhein, die auch      Rückmeldungen.
    dieses Bildungsmagazin herausgibt. Endlich
    können wir bei struktureller, individueller und   Mercedes Pascual Iglesias
    institutioneller schulischer Diskriminierung
    nicht nur protestieren, Workshops anbieten
    und darüber schreiben, sondern auch den Be-
    troffenen im Regierungsbezirk Köln zur Seite
    stehen.

    Mit dem Kompetenzverbund Schule und Bil-
    dung schließen sich verbandsübergreifend
    Servicestellen in Nordrhein-Westfalen zusam-
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Inhalt
04 Neue Beratungsstelle: Beratung und                                           32 Antisemitismus in der Schule:
Antidiskriminierungsarbeit für Schüler*innen                                    Das Expertininterview
(BANDAS)
                                                                                36 Neuer Kompetenzverbund in NRW für
06 Rassismus in der Schule: Aachener                                            Antidiskriminierungsarbeit an Schulen
Gymnasium geht beim Kampf gegen
Rassismus im Netz voran                                                         37 Neue deutsch-arabische Handreichung
                                                                                zur Elternmitwirkung in der Schule
13 Rassismus erkennen:
Das Schülerinterview                                                            38 Neue Bücher:
                                                                                Anna Mayr: Die Elenden. Warum unsere
16 Diskriminierung an der Schule:                                               Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie
Erfahrungen und Schutz. Erkenntnisse der                                        dennoch braucht.
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
                                                                                40 Lutz van Dijk: Kampala – Hamburg;
26 Rassismus gegen Sinti*zze oder Rom*nja                                       Roman einer Flucht
in der Schule - Eine Bestandsaufnahme

   Impressum
   Herausgeber:                                                                 Redaktion:
   Arbeiterwohlfahrt                                                            Telefon: 0221 – 84 64 27 03
   Bezirksverband Mittelrhein e.V.                                              E-Mail: vielfalt@awo-mittelrhein.de
   Rhonestraße 2 a, 60765 Köln
                                                                                Ariane Dettloff
   Integrationsagentur
                                                                                Mercedes Pascual Iglesias
   Dienststelle Amsterdamer Str. 232
   50735 Köln                                                                   Gestaltung: Emin Bolbolian, EbianDesign
   Verantwortlich:
   Michael Mommer, Vorstand (Vorsitzender)

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    Gegen jede Form von
    Diskriminierung an Schulen
    Beratung und Antidiskriminierungsarbeit
    für Schüler*innen (BANDAS)

    Weil Diskriminierung schadet, verletzt und        jüngerer Schüler*innen bei diskriminieren-
    jungen Menschen einen guten Bildungsweg           den Abläufen und Verfahren im Schulsystem.
    verbauen kann, hat die Chancenwerkstatt           Erstmals erhalten damit Schüler*innen in
    für Vielfalt und Teilhabe eine Anlaufstelle für   Nordrhein-Westfalen eine eigene Antidis-
    Schüler*innen aus dem Regierungsbezirk Köln       kriminierungs-Beratungsstelle. Hier finden
    geschaffen.                                       sie Rat, wenn sie Rassismus, Sexismus oder
                                                      andere Formen der Diskriminierung in der
    Seit April 2021 können sich Kinder und Ju-        Schule erleben. Die unabhängige Beratung
    gendliche ab der fünften Klasse, die in ihrer     ist parteilich und stellt die Wahrnehmungen,
    Schule diskriminiert werden, an BANDAS wen-       das Erleben und die Wünsche der Ratsuchen-
    den. Beraten werden auch Bezugspersonen           den in den Mittelpunkt. Im geschützten Raum
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                                                                                                                      Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

werden Schüler*innen darin unterstützt, über    kurzer Film, den Sie über folgenden Link fin-
ihre Erlebnisse zu reden und ihre Handlungs-    den: bandas-awo-mittelrhein.de/video
fähigkeit wiederzuentdecken. Die Beratung
findet telefonisch, persönlich und in Zukunft   Die neue Servicestelle für Antidiskriminie-
auch online statt.                              rungsarbeit wird vom Ministerium für Kinder,
                                                Familie, Flüchtlinge und Integration des Lan-
Auf der Homepage von BANDAS finden Schü-        des Nordrhein-Westfalen gefördert.
ler*innen in klarer Sprache Informationen
über Diskriminierung und wie die Beratungs-
stelle sie unterstützen kann. Was genau eine
Antidiskriminierungsberatung ist, zeigt ein

                                                                                     Vielfalt – das Bildungsmagazin
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6   Tatort Schule

    Aachener Gymnasium
    geht beim Kampf
    gegen Rassismus
    im Netz voran
    Nachhaltige Antidiskriminierung ist
    Schulentwicklungsaufgabe!

    Dass Schüler*innen in netzbasierten Chats teilweise sehr problematische Inhalte
    teilen, ist leider Fakt. Neben groben Geschmacklosigkeiten sind im Web auch immer
    wieder rassistische, antisemitische oder sexistische Äußerungen zu lesen. Eher selten
    wird diesen gründlich und kompetent nachgegangen. In einem Aachener Gymnasium
    haben die Beteiligten es nun anders gemacht. Schüler*innen und Lehrkräfte haben
    mit Unterstützung von externen Expert*innen kritisch und umfassend reagiert.

    Oktober 2020: Schülerinnen des Gymnasiums       Menschenfeindliche Chats zugänglich
    Couven in Aachen entdecken auf dem soge-        machen?
    nannten „Discord“-Server einen rassistischen,
    antisemitischen, homophoben Chat, in den        Die engagierten Schüler*innen wollen die
    eine hohe Zahl Schüler*innen der 11. Jahr-      diskriminierenden Äußerungen nicht still-
    gangsstufe des Gymnasiums involviert waren.     schweigend hinnehmen. Sie wenden sich an
    Mindestens 48 von insgesamt 58 User*innen       die Schulleitung, bitten um pädagogische Auf-
    des Chats besuchten die Stufe Q1 der Schu-      arbeitung und um Schutz vor Diskriminierung.
    le. Die große Mehrheit verhielt sich im Chat    Daraufhin wird eine Arbeitsgruppe einberu-
    passiv, insgesamt sieben chatteten aktiv. Bei   fen, um die Aufarbeitung voranzutreiben. Im
    den Chatbeiträgen handelte es sich um zum       November 2020 findet eine Vollversammlung
    Teil brutale Zeichnungen und verbale Angriffe   der Schule statt. In Schulkonferenzen erhalten
    gegen Juden, Homosexuelle und Frauen all-       Schüler*innen und Eltern Gelegenheit, sich zu
    gemein sowie gegen namentlich genannte          äußern. Doch nur wenigen liegt der Chatver-
    Schüler*innen und Lehrer*innen.                 lauf, den die Schüler*innen anonymisiert an
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die Schulleitung weitergegeben hatten, im          nierungsberatungsstelle für Schüler*innen der
Wortlaut vor, da er auch intern nicht veröf-       AWO Integrationsagentur, mit dem Auftrag,
fentlicht wird. Die Schulleitung steht vor einer   ein Veranstaltungskonzept zu entwickeln, um
schwierigen Entscheidung – dem Wunsch,             mit den Schüler*innen der Stufe ins Gespräch
nicht zu einer weiteren Verbreitung der men-       über die Inhalte der Chatverläufe zu kommen.
schenverachtenden Äußerungen beizutragen,
und dem Bedürfnis nach einer schulinternen         Besonders die Schüler*innen, die den ersten
pädagogischen Aufarbeitung, dem nur durch          Chatverlauf aufgedeckt haben, drängen auf
Veröffentlichung nachgekommen werden               einen inhaltlichen Austausch noch vor den
kann.                                              Osterferien. Am 26. März 2021 findet an der
                                                   Schule ein Hybrid-Workshop für die Schü-
Im März 2021 wird ein Online-Seminar mit           ler*innen der 11. Klasse statt.
dem ehemaligen Rapper Ben Salomo or-
ganisiert. Ben Salomo, selbst Jude, in Israel      Den Workshop in Präsenz mit jeweils 15 Schü-
geboren und in Berlin aufgewachsen, hatte          ler*innen führen zehn Lehrer*innen durch.
sich 2018 nach einer jahrelangen Erfolgsge-        Von BANDAS erhalten die Lehrkräfte Ge-
schichte als Rapper zurückgezogen, weil er         sprächsvereinbarungen und Leitfragen, aber
den Antisemitismus in der Deutsch-Rap-Szene        vor allem ein Video, in dem Fachleute zu den
unerträglich fand und ist seitdem als Referent     Chatverläufen vom Hörfunkjournalisten Ulrich
tätig. „Ich will diese antisemitischen Narrati-    Biermann interviewt werden. Gemeinsam mit
ve zurückdrängen, damit unsere Gesellschaft        dem Moderator werden Bilder und Aussagen
wieder eine wird, in der Juden nicht das Gefühl    der beiden Chats gezeigt und kommentiert. Im
haben, dass sie auf gepackten Koffern sitzen       Film treten auf: Patrick Fels von der Informa-
müssen,“ sagt Ben Salomo.                          tions- und Bildungsstelle gegen Rechtsextre-
                                                   mismus in Köln, Jan Hildebrand von der Opfer-
Zum Entsetzen der Schulgemeinschaft werden         beratungsstelle Rheinland und Deborah Timm
während des schulinternen Online-Seminars          vom Gleichbehandlungsbüro Aachen. Sie prä-
mit Ben Salomo, bei dem 250 Personen zuge-         sentieren Kurzvorträge, die anschließend in
schaltet sind, im Chat rechtsextreme Beiträge      den Schüler*innengruppen diskutiert werden.
anonym gepostet, beispielsweise Versatzstü-        Neben den Expert*innen steuern die Schülerin
cke aus SS-Liedern und antisemitische Hate-        Judith Fitter und Schulleiter Michael Göbbels
Speech. Die Schulleitung erstattet Anzeige bei     je einen Input mit ihrer Sicht der Vorfälle bei.
der Polizei.                                       Alle an den Arbeitsgruppen Beteiligte erarbei-
                                                   ten gemeinsam Vorschläge zum Umgang mit
Hybrid-Workshop mit Fachkräften                    Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassis-
                                                   mus und Sexismus an der Schule.
Nach diesen erschütternden Erfahrungen ent-
schließen sich Schüler*innen der Q1, Eltern        Schule unter Druck
und Lehrpersonal, externe fachliche Unter-
stützung hinzuzuziehen. Beide Chatverläufe         Schulleiter Michael Göbbels zeigt sich im Rah-
werden BANDAS anvertraut, der Antidiskrimi-        men des Workshops sehr bestürzt über die

                                                                                           Vielfalt – das Bildungsmagazin
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8   Tatort Schule

    Chats und das Gefühl der Verunsicherung: „Als       Gespräche suchen – Zugehörigkeiten
    wir das gelesen haben, fühlten wir uns ein          nicht als Schimpfwort verwenden
    Stück weit überfordert“. Couven-Schülerin Ju-
    dith Fitter, die den diskriminierenden Chat im      Der Politikwissenschaftler Patrick Fels kritisiert
    Oktober 2020 mit aufgedeckt hatte, berichtet        scharf die Verwendung des Wortes „Jude“ als
    über den Druck, dem sie ausgesetzt gewesen          Schimpfwort. „Auch wenn jemand glaubt, das
    sei. Ihre Mitschüler*innen hätten den Chat          sei nur so daher gesagt – es muss doch ernst
    zwar verurteilt, doch sie hätten auch kritisiert,   genommen werden, weil Menschen jüdischen
    dass die Chats der Schulleitung gemeldet wor-       Glaubens hier auf das Übelste herabgesetzt
    den seien. „Tatsache ist: wir haben keine Na-       werden“, stellt er klar. „Wenn die Zugehörig-
    men genannt, niemand wurde denunziert“,             keit zu einer bestimmten Religion oder Ethnie
    sagt Fitter. Aber Fakt ist auch: zwei der Ver-      die Quelle von Beleidigungen ist, hat die freie
    fasser aus dem Chat meldeten sich nach der          Meinungsäußerung ihre Grenzen.“ Menschen
    ersten Vollversammlung von sich aus bei der         sollten respektvoll miteinander umgehen.
    Schulleitung und übernahmen die Verantwor-          Eine Äußerung wie das Kürzel „JLNM“ – „Je-
    tung für ihre Beiträge. Einer von ihnen enga-       wish Lives never mattered“ (Jüdisches Leben
    giert sich mittlerweile in der Schulinitiative      hat noch nie eine Rolle gespielt) sei in keinem
    „Couven mit Courage“ (s.u.).                        denkbaren Kontext hinnehmbar. Fels emp-
                                                        fiehlt, solche gewollten Tabubrüche ernst zu
    Rassistische Angriffe sind keine freien             nehmen und das Gespräch mit den Verursa-
    Meinungsäußerungen                                  chern und Betroffenen zu suchen.

    Für Judith Fitter ist die „Sache“ damit nicht ab-   Stark auf die Täter fokussiert
    geschlossen. Sie sei „wütend und verzweifelt“,
    dass es an einem respektvollen Umgang mitei-        Jan Hildebrand, Mitarbeiter der Opferbera-
    nander fehle und auch, dass seitens der Auto-       tungsstelle Rheinland, bedauert: „Wir leben
    ritätspersonen zu wenig konkret eingegriffen        in einer Gesellschaft, die sich stark auf die
    werde, wenn Schüler*innen rassistisch, anti-        Täter fokussiert; die Stimmen der Opfer hin-
    semitisch oder sexistisch beleidigt würden.         gegen werden oft geringer gewichtet, als es
    „Ich wünsche mir, dass sie klarstellen, dass        uns sinnvoll erscheint“. Von Diskriminierung
    solche Angriffe nichts mit Meinungsäußerung         Betroffene berichteten immer wieder, dass sie
    zu tun haben, dass derartige Äußerungen             sich allein gelassen fühlten. Auch wenn es sich
    schlicht diskriminieren und verletzen.“ Auch        in Chats und anderen netbasierten Angriffen
    die Behauptung, solche Statements seien iro-        um keine körperlichen, sondern virtuelle Taten
    nisch gemeint, lässt Judith Fitter nicht gelten:    handele, können sich viele Mitlesende davon
    „Egal, wie man Hakenkreuz-Zeichnungen und           betroffen fühlen. Wenn die eigene Identität,
    andere Symbole wahrnimmt – sie sind und             die teilweise schon durch diskriminierende
    bleiben doch strafrechtlich relevant“.              Erlebnisse vorbelastet sei, brutal verächtlich
                                                        gemacht werde, dann erzeuge das oft drama-
                                                        tische, manchmal sogar traumatische Wirkun-
                                                        gen. Das könnten sich außer den Täter*innen
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auch Nicht-Betroffene oft kaum vorstellen.         Täter*innen direkt zu konfrontieren.“ Lehr-
„Wichtig finde ich, dass persönliche Grenzen       kräfte, so Hildebrand, seien klar gefordert,
abgesteckt und eingehalten werden. Bei den         nicht unbeteiligt zu bleiben, sondern Grenzen
Chats, die wir hier gesehen haben, sind deut-      zu markieren.
lich Grenzen überschritten. Das kann ich gar
nicht ,cool‘ finden. Wenn so ein krasser Prozess   Strafparagrafen im Blick
im Gange ist, wo es anscheinend in Ordnung
ist, den Holocaust zu relativieren oder gar        Die Juristin Deborah Timm vom Gleichbehand-
Menschen diesen zu wünschen, fällt es auch         lungsbüro Aachen nennt gleich mehrere Straf-
Nicht-Betroffenen schwer, zu intervenieren“,       tatbestände, gegen die im Chat verstoßen
sagte Jan Hildebrand. In der Opferberatung         wurde. Laut Paragraf 130 des deutschen Straf-
Rheinland erlebten er und seine Kolleg*innen       gesetzbuchs wird die Holocaust-Leugnung
immer wieder, dass sich die angegriffenen          mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet. Unter
Menschen allein zur Wehr setzen müssten.           diesen Volksverhetzungs-Straftatbestand fällt
Selten mischten sich vermeintlich unbeteilig-      auch die Abkürzung JLNM. Die im Chat abge-
te Personen ein. „Dass hier eine Gruppe von        bildeten Hakenkreuz-Zeichnungen verstoßen
Schüler*innen solidarisch zur Stelle war, finde    gegen den Paragrafen 86a. Dieser stellt die
ich großartig. Das ist alles andere als selbst-    Verwendung verfassungsfeindlicher Zeichen
verständlich,“ stellt Hildebrandt fest.            unter Strafe, die bis zu drei Jahren Haft be-
                                                   tragen kann. Ist der Beleidigungsparagraf re-
Jan Hildebrandt appelliert deshalb an alle, für    levant kann, wenn die Beleidigung öffentlich
diskriminierende Anfeindungen sensibel zu          stattfindet, bis zu zwei Jahren Haftstrafe ver-
sein und diese nicht hinzunehmen. Auch wenn        hängt werden.
man sich nicht in einem Chat als als „Gegner“
outen wolle, könne man der betroffenen Per-        Allein die Kenntnis solcher Strafmaßnahmen
son zur Seite stehen und mit ihr gemeinsam         könne, auch ohne dass der juristische Weg
                     beratschlagen. „Das ist       beschritten werde, die Tatopfer empowern,
                          oft leichter, als die    ihnen den Rücken stärken.
                                                                                                        Illustration: i-frame media GmbH

                                                                                          Vielfalt – das Bildungsmagazin
Vielfalt- Das Bildungsmagazin - Neue Website
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Foto: Simon Schulz   Tatort Schule

                                                                                     Anti-Rassismus Veranstaltung im Couven Gymnasium

                     Machtgefälle reflektieren                         sie besonders schwierig ist, solche Übergriffe
                                                                       anzusprechen. Daher empfiehlt sie, unabhän-
                     Strafbewehrt sind außer rassistischen und         gige Beratungsstrukturen vorzuhalten, wo Be-
                     antisemitischen Herabsetzungen auch sexisti-      troffene sich Hilfe holen können. Wichtig sei
                     sche Beleidigungen und sexualisierte Gewalt.      es aber auch, so Bothe, eigene verinnerlichte
                     Hierbei spielt regelmäßig das gesellschaftliche   Sexismen der Erwachsenen zu erkennen und
                     Machtgefälle eine Rolle, weiß Madalena Bot-       zu reflektieren. Schließlich seien wir alle in
                     he, Beraterin und Referentin bei BANDAS. Die      einer Gesellschaft sozialisiert worden, in der
                     Antidiskriminierungs-Expertin erläutert, wie      diese allgegenwärtig sind.
                     verletzend Bemerkungen auch von Lehrkräf-
                     ten zum Aussehen, zur Körperlichkeit, zu At-      Viel zu tun
                     traktivität und Bekleidung auf Schüler*innen
                     wirken können. „Das sollte doch ein Kompli-       Keine Frage: In Sachen Diskriminierungsschutz
                     ment sein“, lautet die oft gehörte Rechtferti-    an Schulen bleibt noch viel zu tun – nicht nur
                     gung, wenn die Betreffenden mit Beschwer-         in Aachen. Am Gymnasium Couven haben ei-
                     den hierüber konfrontiert werden. Doch was        nige Lehrkräfte die Arbeitsgruppe „Couven mit
                     als kränkend empfunden wird, das können           Courage“ ins Leben gerufen. Ziel ist, gemein-
                     nicht die „Täter*innen“ entscheiden, sondern      sam mit Schüler*innen und Eltern Konzepte
                     einzig die Bewerteten. Bothe weist darauf hin,    für den künftigen Umgang mit Diskriminie-
                     dass es aufgrund des Abhängigkeitsverhält-        rung an der Schule zu entwickeln.
                     nisses der Schüler*innen vom Lehrpersonal für     Die Lehrerin Andrea Genten, die sich in der
11

Schulinitiative engagiert, bilanziert: „Wichtig   Schulbeispiels bleibt festzuhalten: Diskrimi-
ist, dass Schulen mit diesen Herausforderun-      nierung im Chat ist keinesfalls als bloße Mei-
gen nicht allein gelassen werden. Mit BAN-        nungsäußerung abzutun. Vielmehr gilt es,
DAS, der ersten Antidiskriminierungsstelle        Vorfällen wie diesen vorzubeugen und, wo
für Schüler*innen in NRW, ist ein wichtiger       dies fehlschlägt, sie zu ahnden. Zum Ende des
Anfang gemacht. Für Schüler*innen ist es gut,     Schuljahres veranstaltete das Gymnasium ei-
einen außerschulischen Ort haben, an den sie      nen Aktionstag unter anderem mit dem Autor
sich wenden können. Schulen insgesamt pro-        des Buches „Bloggen gegen Rassismus - Holen
fitieren von der professionellen Begleitung in    wir uns das Netz zurück“, Said Rezek.
ihrem Bestreben, Schulentwicklung im Sinne
einer nachhaltigen Antidiskriminierungs-          Das Land Berlin geht bei der juristischen Be-
strategie voranzutreiben. Die Kooperation         kämpfung von Diskriminierung an Schulen
zwischen BANDAS und dem Couven stellt für         voran: Es hat 2020 das Landesantidiskrimi-
unsere Schule wichtige Weichen in diese Rich-     nierungsgesetz verabschiedet, dem zufolge
tung.“                                            Personen nicht durch öffentlich-rechtliches
                                                  Handeln diskriminiert werden dürfen. Ereig-
Schulleiter Göbbels hat den Fall der Poli-        net sich eine ungerechtfertigte Ungleichbe-
zei übergeben. Der Staatsschutz ermittelt.        handlung, haben die Bürger*innen – auch
Schließlich sei es auch möglich, dass der         Jugendliche – ein Recht auf Schadensersatz
Zoom-Link für die Veranstaltung im März           und Entschädigung. Für die gerichtliche Gel-
2021 an Schulfremde weitergegeben worden          tendmachung gilt eine Frist von einem Jahr.
sei oder dass sich Externe in das Online-Schul-
seminar gehackt hätten. Das Ziel, Vielfalt und    Ariane Dettloff
Buntheit aller Schulmitglieder zu pflegen und
wertzuschätzen, bleibe dem Kollegium vor-
rangig wichtig. Als Resümee dieses Aachener                                                           Illustration: i-frame media GmbH

                                                                                        Vielfalt – das Bildungsmagazin
Zum Nachlesen
Ben Salomo: „Ben Salomo bedeutet Sohn            antisemitischen Angriffe aus der Szene, die
des Friedens.“, Europa Verlag 2019.              ich seit Jahren zu hören bekomme, nicht mehr
                                                 ertragen. Antisemitismus ist im Deutschrap
Ben Salomo ist ein aus Israel stammender         inzwischen alltäglich geworden. Jeder nimmt
Berliner Rapper, Singer/Songwriter. In seinem    das irgendwie hin, keiner tut etwas dagegen.
Buch spricht Ben Salomo über sein Leben in       Dass ich bekennender Jude bin und das auch
Deutschland. Aufgewachsen in den Hinter-         in meinen Texten verarbeite, hat manche Anti-
höfen von Berlin-Schöneberg, wurde er be-        semiten so in Rage gebracht, dass ich sogar
reits früh als Jude diskriminiert. Auch in der   bedroht wurde.“ (Quelle: www.europa-ver-
Deutschrap-Szene schlug ihm immer wieder         lag.com/Buecher/6515/BenSalomobedeutet-
Feindseligkeit entgegen, bis hin zu persönli-    SohndesFriedens.html)
chen Bedrohungen. Um sich von den gewalt-
verherrlichenden und antisemitischen Aussa-      „Wir sind heute in Deutschland schon wieder
gen seiner Musikerkollegen zu distanzieren,      so weit, dass man als Jude Angst haben muss“.
gab er im Mai 2018 seine Konzertreihe »Rap
am Mittwoch« auf. Den Deutschrap hält er
mittlerweile für eine gefährliche Musikrich-
tung, deren Einfluss vollkommen unterschätzt
werde. In einem Gespräch sagt er dazu: „Ich
bin Jude, und als solcher konnte ich all die
Das Interview                                                                                                        13

„Der erste Schritt gegen
Rassismus ist, diesen zu
erkennen“
Mit dem siebzehnjährigen Aachener Gymnasiasten Firas sprach
Mercedes Pascual Iglesias über Diskriminierungserfahrungen in
seiner Kindheit und in der Schule.

Das Thema Rassismus unter Jugendlichen               als Muslimin ein Kopftuch. Und wenn ich mit
lässt Firas nach den ersten Aussprachen im           ihr im Bus gefahren bin, gab es manchmal
Aachener Couven-Gymnasium über den anti-             schiefe Blicke und merkwürdiges Getuschel.
semitischen und rassistischen Chatverlauf im         Konkret kann ich mich erinnern, wie eine
Discord-Server nicht mehr los. Er verfasst sei-      Nachbarin mich und meine Freunde mas-
ne Facharbeit darüber und interviewt mich            siv diskriminiert hat, als wir an Karneval mit
als Expertin zu den Themen Rassismus, der            Spielzeugwaffen durch das Viertel zogen. Sie
Ermordung des schwarzen US-Amerikaners               hat uns Kinder als „Terroristen“ beschimpft.
George Floyd und wie man bei Diskriminie-            Ich war sehr wütend darüber und habe das
rung eingreifen kann. Aus dem Interview wird         sofort meinen Eltern erzählt.
ein interessanter Austausch.
                                                     Und wie haben deine Eltern reagiert?
Monate später bitte ich ihn um ein Interview
für Vielfalt – Das Bildungsmagazin. Seine per-       Sie sind zu dieser Nachbarin gegangen und
sönlichen Erfahrungen reflektiert er vor dem         haben sie mit dieser diskriminierenden Äuße-
Hintergrund seiner theoretischen Beschäfti-          rung konfrontiert. Sie hat sich daraufhin ent-
gung mit dem Thema Rassismus. Denn wie er            schuldigt.
in seiner Facharbeit bilanziert: Der erste Schritt
gegen Rassismus ist, diesen zu erkennen.             Deine Eltern haben dir damit das Gefühl
                                                     gegeben: du bist okay, du hast nichts
Wann hast Du zum ersten Mal Rassismus                falsch gemacht, sondern die andere Per-
erlebt, Firas?                                       son hat sich falsch verhalten. Das haben
                                                     sie klargestellt – eine große Unterstüt-
Da war ich noch ein Kind. Meine Mutter trägt         zung. Wenn diskriminierende Beleidi-

                                                                                           Vielfalt – das Bildungsmagazin
14                          Das Interview

                                  gungen in der Schule passieren – be-                  Ja. Ein Beispiel: Ein Freund von mir ist mal zu
                                  kommt ihr Schüler*innen dann auch so                  spät in den Unterricht gekommen und musste
                                  eine Art von Unterstützung?                           sich anhören, dass „Ausländer“ ja ein Problem
                                                                                        mit Pünktlichkeit hätten: „In deinem Her-
                                  Wir haben Beratungslehrer, an die wir uns             kunftsland kennt man solche Verhaltensregeln
                                  wenden können. Aber ich weiß nicht, ob die            wohl nicht!“
                                  Schüler das tun würden. Es braucht jemanden
                                  Externes. Weil ich mir gut vorstellen kann,           Hat da jemand eingegriffen und den Leh-
                                  dass man Angst vor Nachteilen hat, bei den            rer kritisiert?
                                  Schulnoten vielleicht…
                                                                                        Nein, wir haben zwar in unserem Freundes-
                                  Hast Du Probleme mit Noten erlebt?                    kreis später darüber geredet, aber im Unter-
                                                                                        richt nicht. Schüler*innen haben ja Angst,
                                  Mein Bruder hat wie auch ich nur eine einge-          wenn sie Lehrer auf solche Diskriminierungen
                                  schränkte Empfehlung fürs Gymnasium be-               ansprechen, dass man daraufhin schlechter
                                  kommen, obwohl er lauter gute Noten hatte –           behandelt wird. Lehrer an weiterführenden
                                  lauter Einser und Zweier. Das fanden wir sehr         Schulen können Schüler*innen eventuell das
                                  ungerecht. Ich selbst hatte einen Notenschnitt        ganze spätere Leben zerstören. Sie wissen,
                                  von 2 Komma 3.                                        dass sie am längeren Hebel sitzen.

                                  Hast du beobachtet, dass an deiner Schu-              Wie wird denn das Thema Rassismus im
                                  le Mitschüler*innen diskriminiert wor-                Unterricht behandelt?
                                  den sind?
Foto: Mercedes Pascual-Iglesias

                                      Couven Schüler.innen engagieren sich beim Aachener Friedenslauf für ein respektvolles Miteinander
15

Es gab ja hier den Vorfall, dass in halbprivaten   Lehrer*innen sollten eigentlich in der Pflicht
Chats krasse rassistische und sexistische Belei-   sein, das zu verhindern und gar nicht erst
digungen durch Schüler über Mitschüler*in-         möglich zu machen.
nen und Lehrkräfte geäußert worden sind.
Nachdem diese bekannt geworden sind, war           Wenn es zu rassistischen Beleidigungen
es ein großes Thema. Es gab Workshops und          auf dem Schulhof kommt, mischen sich
wir haben viel diskutiert. Ich meine allerdings,   dann Lehrer*innen ein?
man müsste schon in der Grundschule anfan-
gen, über Rassismus aufzuklären – da sehe ich      Ich weiß von Lehrern, die in solchen Momen-
eine Lücke im Bildungssystem.                      ten eingreifen – es gibt aber auch andere, die
                                                   das nicht tun.
Kennst du die Mitschüler, die sich in den
Chats so rassistisch geäußert haben?               Du hast dich ja mit dem Thema Rassis-
                                                   mus in der Schule beschäftigt – hattest
Ja, es sind Freunde von mir, alle haben selbst     Du dabei Ideen, was notwendig wäre?
einen Migrationshintergrund.
                                                   Ich denke, dass Schüler*innen jederzeit die
Ja, eigene Migrationserfahrungen schüt-            Möglichkeit haben sollten, mit Fachleuten zu
zen nicht davor, selbst an anderen Stel-           sprechen, und zwar in einer unabhängigen
len zu diskriminieren. Hast du denn den            Anlaufstelle. Wir haben zwar an der Schule
Eindruck, dass die nachträgliche Bear-             eine Sozialarbeiterin – aber ich weiß nicht, ob
beitung des Themas rassistische und se-            ein*e Schüler*in dort hingehen würde, wenn
xistische Diskriminierung an der Schule            er oder sie Rassismus erlebt. Natürlich gibt es
etwas gebracht hat?                                die Schweigepflicht – aber gerade, wenn man
                                                   von seiner Schule enttäuscht wurde, weil man
Doch, durchaus. Gerade die Gespräche nach          Rassismus erlebt hat, weiß ich nicht, ob man
den Videos mit Experten fand ich gut. Da           Vertrauen in die Sozialarbeiter*in derselben
hatten alle die wollten, die Gelegenheit, ihre     Schule setzen kann. Aber auf jeden Fall muss
Sichtweise zu schildern. Dass dieser Chat-Vor-     man darüber reden können und auch die Mög-
fall passiert ist, hatte in der Hinsicht etwas     lichkeit haben sich zu wehren.
Gutes: dass man endlich anfängt, darüber zu
reden. Ja, es hat wirklich was gebracht.

Von wem geht deiner Meinung nach Ras-
sismus stärker aus – von Schüler- oder
Lehrerseite?

Da muss ich sagen, dass ich ziemlich sicher
bin, dass er hauptsächlich von Lehrer*innen
ausgeht, aber ich würde nicht sagen, dass der
Anteil der Schüler*innen gering ist. Aber die

                                                                                          Vielfalt – das Bildungsmagazin
16   Das Dossier

     Diskriminierungs-
     erfahrungen und
     Diskriminierungsschutz
     an Schulen
     Charlotte Kastner von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
     analysiert die Diskriminierungsrisiken für Schüler*innen und ihre
     Folgen.

     Schulen sind Orte, an denen Kinder lernen         Repräsentativbefragung der Antidiskriminie-
     können, wie wichtig ein gleichberechtigter        rungsstelle des Bundes zu Diskriminierungs-
     und fairer Umgang miteinander ist und wie er      erfahrungen in Deutschland, dass 23,7 Pro-
     praktisch funktioniert. Schule kann aber zu-      zent aller Befragten in den letzten zwei Jahren
     gleich auch der Ort sein, an dem Kinder zum       Diskriminierungen im Bildungsbereich erlebt
     ersten Mal Diskriminierungen erfahren – sei       haben (ADS 2016). In einer internationalen
     es durch Lehrkräfte, durch Gleichaltrige oder     Studie der OECD-Länder gaben 12 bis 15 Pro-
     auch durch diskriminierende Strukturen wie        zent der Schüler*innen an, dass Lehrer*in-
     fehlende Barrierefreiheit oder Klischees in       nen eine negative Einstellung gegenüber
     Schulbüchern.                                     bestimmten Personengruppen haben (OECD
                                                       2020). Und auch an die Beratung der Antidis-
     Diskriminierungen an Schulen lassen sich dabei    kriminierungsstelle des Bundes wenden sich
     von der Einschulung bis zum Ende der Schul-       immer wieder Personen, die Diskriminierung
     laufbahn beobachten. Kinder und Jugendliche       im Bildungsbereich erleben – insbesondere
     erleben Benachteiligungen beispielsweise          Eltern, die von Benachteiligungen ihrer Kinder
     aufgrund der ethnischen Herkunft oder ras-        berichten.
     sistischer Zuschreibung, des Geschlechts oder
     der Geschlechtsidentität, der Religion oder       Diskriminierungsrisiken in der Schule
     Weltanschauung, einer Behinderung, des Al-
     ters oder der sexuellen Identität, der sozialen   Es gibt im schulischen Bereich spezifische
     Herkunft oder des Aussehens: So zeigte eine       Diskriminierungsrisiken. Der Zugang zur
17

Schule, aber auch der Übergang von der           der Grundschulzeit wirkt sich die sozioökono-
Grundschule zur weiterführenden Schule ist       mische Lage des Elternhauses oft negativ auf
hier an erster Stelle zu nennen. Dabei spielt    die Einschätzung durch Lehrkräfte aus. Zudem
insbesondere die Bewertung von schulischen       wandten sich auch Eltern an die Antidiskrimi-
Leistungen eine wichtige Rolle. Darüber hin-     nierungsstelle, deren Kindern aus ihrer Sicht
aus können Lern- und Lehrmaterialien Diskri-     wegen rassistischer Vorurteile oder Einstellun-
minierungen aufweisen und auch die Ausge-        gen von Lehrkräften eine Empfehlung für ein
staltung der Barrierefreiheit und der Umgang     Gymnasium verwehrt wurde.
zwischen Lehrenden und Schüler*innen kön-
nen diskriminierend sein.                        Aber auch beim Zugang zur Schule lassen
                                                 sich Diskriminierungen beobachten. In den
Die spezifischen Diskriminierungsrisiken         Beratungsanfragen berichten Eltern, dass ihre
spiegeln sich auch in den Beratungsanfragen      Kinder mit Förderbedarf an öffentlichen, aber
an die Antidiskriminierungsstelle des Bun-       auch an privaten Schulen aufgrund ihrer Be-
des wider: In einigen Fällen wurde berichtet,    hinderung nicht aufgenommen beziehungs-
dass Kinder mit Migrationsgeschichte, aber       weise gegen ihren Willen an eine Förder-
auch Schüler*innen muslimischen Glaubens         schule verwiesen werden. Außerdem gibt es
schlechter benotet wurden, obwohl sie            auch immer wieder Fälle, in denen Kinder mit
gleich gute Leistungen wie ihre Mitschü-         Sprachdefiziten oder Migrationshintergrund
ler*innen erbrachten. Dies deckt sich mit den    ohne sprachunabhängige Prüfung des Förder-
Ergebnissen neuerer Studien, die unter an-       bedarfs auf Förderschulen verwiesen werden.
derem Hinweise auf Diskriminierung bei der
Leistungsbewertung von Schüler*innen mit         Diskriminierung in der Schule äußert sich aber
Migrationsgeschichte durch Lehrkräfte geben      auch in Beleidigungen, Mobbing und Aus-
(Bonefeld et al. 2017; Bonefeld/Dickhäuser       grenzung anhand verschiedener Merkmale.
2018).                                           So berichtete ein Ratsuchender der Antidis-
                                                 kriminierungsstelle des Bundes, dass seine
Der Übergang von der Grundschule auf             Söhne aufgrund der ethnischen Herkunft (Sin-
die weiterführende Schule stellt eine ent-       ti) an einer Schule fast täglich diskriminiert
scheidende Weichenstellung in der Bildungs-      werden. Es käme zu Schmierereien, körper-
laufbahn dar, auf der alle weiteren Bildungs-    lichen Übergriffen von Mitschüler*innen und
chancen aufbauen. Es besteht die Gefahr, dass    Beleidigungen durch Lehrkräfte. In anderen
bei diesem Auswahlprozess Diskriminierung        Fällen äußerten sich Lehrkräfte nach Aussagen
eine Rolle spielt. Übergangsempfehlungen         der Ratsuchenden abwertend über Menschen
der Schule basieren vor allem auf den in Noten   afrikanischer oder arabischer Herkunft bezie-
gemessenen Leistungen sowie den Einschät-        hungsweise stellten Muslim*innen generell
zungen der Lehrer*innen. Neben dem Dis-          als potenzielle Terrorist*innen oder dümmer
kriminierungsrisiko, das von der Bewertung       als nichtreligiöse Menschen dar. Beratungs-
ausgeht, birgt auch die subjektive Perspektive   anfragen betreffen auch häufig Fälle, in denen
der Lehrkräfte ein erhöhtes Risiko. Insbeson-    Kinder mit Behinderungen sowohl von Lehr-
dere bei den Übergangsempfehlungen nach          kräften als auch von anderen Schüler*innen

                                                                                        Vielfalt – das Bildungsmagazin
18   Das Dossier

     unfair behandelt, beleidigt, gemobbt oder                                  sowie anderen Rechtsvorschriften entspre-
     ausgeschlossen werden, sich über sie lustig                                chen. Schulbücher und andere Unterrichtsma-
     gemacht sowie keine Rücksicht auf sie ge-                                  terialien sind jedoch oftmals nicht diskriminie-
     nommen wird.                                                               rungsfrei. Analysen zeigen, dass stereotype
                                                                                Darstellungen in Bezug auf Menschen mit
     Auch fehlende Barrierefreiheit und feh-                                    Migrationshintergrund, Religion (insbeson-
     lende angemessene Vorkehrungen füh-                                        dere den Islam), Geschlecht sowie gleichge-
     ren in Schulen zu Diskriminierungen: Bei der                               schlechtliche Lebensformen häufig auftreten.1
     Antidiskriminierungsstelle des Bundes be-
     schweren sich immer wieder Eltern von Kin-                                 Auswirkungen von Diskriminierung in
     dern mit Behinderungen, dass ihren Kindern                                 der Schule
     oft erst verspätet oder kein Nachteilsausgleich
     genehmigt wird. Geschildert wird auch, dass                                Diskriminierungen gehen nicht spurlos an Be-
     Kinder mit Behinderungen oder mit chroni-                                  troffenen vorüber, sondern haben gravierende
     schen Krankheiten nicht an Klassenfahrten                                  Auswirkungen: Empirische Untersuchungen
     und Ausflügen teilnehmen können, da ent-                                   konnten belegen, dass Diskriminierungen den
     sprechende angemessene Vorkehrungen feh-                                   Lernerfolg negativ beeinflussen (Universität
     len. So wurde beispielsweise ein Schüler, der                              Ulm 2014). Schüler*innen, die gehäuft mit
     an Epilepsie leidet, trotz ärztlicher Unbedenk-                            Vorurteilen konfrontiert werden, fühlen sich
     lichkeitsbestätigung von einer Klassenfahrt                                eingeschüchtert und befürchten, durch das
     ausgeschlossen.                                                            eigene Verhalten diese Vorurteile erneut her-
                                                                                vorzurufen. Dies kann zu Leistungsminde-
     Eltern von Trans*Kindern und Trans*Ju-                                     rungen oder zum Rückzug aus den Bereichen
     gendlichen meldeten, dass die Namens-                                      führen, in denen sie das Bedrohungsgefühl
     änderung ihrer Kinder an der Schule nicht                                  erlebt haben.
     anerkannt, der neu gewählte Name vor einer
     offiziellen Änderung des Personenstands nicht                              Denn Diskriminierung bedeutet für viele Schü-
     auf dem Zeugnis geführt wird oder ihre Kinder                              ler*innen auch, dass sie – neben den direkten
     von Lehrkräften nicht mit dem neu gewählten                                Auswirkungen auf ihren Lernerfolg – einem
     Namen angesprochen werden. Als diskrimi-                                   permanenten Stress ausgesetzt sind. Diese
     nierend wurden zudem fehlende geschlechts-                                 psychische Belastung kann unmittelbare Aus-
     neutrale Schultoiletten und Umkleidekabinen                                wirkungen auf die psychische und physische
     benannt.                                                                   Gesundheit haben. Eine häufige Konsequenz
                                                                                als Reaktion auf Diskriminierungserfahrun-
     Grundsätzlich gilt, dass Unterrichtsmaterialien                            gen, die von Beratungsstellen berichtet wird,
     nur dann zugelassen oder eingeführt werden                                 ist der Wechsel der Schule. Schulwechsel
     dürfen, wenn sie den in den Schulgesetzen                                  stellen für viele Betroffene aufgrund mangeln-
     festgelegten Bildungs- und Erziehungszielen                                der Beschwerdemechanismen und fehlender

     1 siehe z. B. die Studien „Migration und Integration“ der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration von 2015 und
     „Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von LSBTI in Schulbüchern“ der GEW von 2011.
19

Interventionsmöglichkeiten oft die einzige                                 Darüber hinaus enthält das Allgemeine
Möglichkeit dar, sich dauerhaft der Diskrimi-                              Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zwar im
nierung zu entziehen. Solche Schulwechsel                                  Anwendungsbereich die Nennung der Bildung
sind mit weiteren negativen Auswirkungen                                   (§ 2 Abs. 1 Nr. 7 AGG). Es ist aber rechtlich um-
verbunden, so zum Beispiel dem Verlust des                                 stritten, ob dies dahingehend auszulegen ist,
sozialen Umfeldes.                                                         dass auch der Bereich der öffentlichen Bildung
                                                                           mitumfasst ist. Für Schüler*innen und deren
Die individuelle Bildung hat einen großen Ein-                             Eltern an staatlichen Schulen bleibt das AGG
fluss auf die spätere Karriere, auf Einkommen,                             jedenfalls ohne Rechtsfolgen. Lediglich an
Arbeitsplatzsicherheit, Rentenhöhe, aber auch                              Schulen, in denen ein privatrechtlicher Unter-
auf Gesundheit und Lebensdauer. Diskriminie-                               richtsvertrag geschlossen wird (zum Beispiel
rungserfahrungen im Bildungsbereich können                                 Privatschulen, Nachhilfeeinrichtungen) sind
sich negativ auf diese auswirken. Somit be-                                Schüler*innen durch das AGG vor Diskrimi-
deutet Diskriminierung im Bildungsbereich,                                 nierung durch die Bildungseinrichtung selbst
dass bestehende Ungleichheiten ver-                                        geschützt.
stärkt und Bildungsgerechtigkeit verhin-
dert wird. Hinzu kommt, dass es oft schwer                                 Unabhängig davon fehlen weitgehend landes-
ist, gegen Diskriminierungsfälle in Schulen                                rechtliche Umsetzungen, die ausdrücklich vor
anzugehen: Die Bildungsinstitutionen basie-                                Diskriminierungen in der Schule schützen und
ren auf hierarchischen Strukturen und Betrof-                              Konsequenzen beziehungsweise Verfahren für
fene wissen meist nicht, an wen sie sich im                                den Fall einer unzulässigen Benachteiligung
Falle einer Diskriminierung wenden bzw. wie                                festlegen (Dern et al. 2013).
sie dagegen vorgehen können.
                                                                           Im Bundesland Berlin bietet das 2020 in Kraft
Diskriminierungsschutz in der Schule                                       getretene Berliner Landesantidiskrimi-
                                                                           nierungsgesetz (LADG) Schüler*innen und
Für öffentliche Schulen ergibt sich aus den                                Eltern auch einen konkreten Diskriminierungs-
Gleichheitsgarantien in Artikel 3 Grund-                                   schutz im Bereich der öffentlichen Schulen.
gesetz sowohl ein Teilhaberecht am beste-                                  Betroffene können unter anderem Beschwer-
henden Bildungssystem als auch ein Diskri-                                 de bei einer neu geschaffenen Ombudsstelle
minierungsschutz während des Schulbesuchs.                                 einlegen.2 Um Schüler*innen wirkungsvoll
Schüler*innen sind dadurch an öffentlichen                                 gegen Diskriminierung zu schützen und Be-
Schulen nicht nur vor unmittelbarer und mit-                               schwerdemöglichkeiten bei Diskriminierungs-
telbarer Diskriminierung durch die Organisati-                             fällen zu ermöglichen, könnten auch andere
on und deren Repräsentant*innen geschützt.                                 Bundesländer landesrechtliche Regelungen
Der Staat hat auch die Pflicht, Schüler*innen                              nach dem Berliner Vorbild schaffen.
vor Diskriminierungen durch Mitschüler*in-
nen zu schützen.

2 für ausführliche Informationen zum Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz siehe hier:
www.berlin.de/sen/lads/recht/ladg/fragen-und-antworten/

                                                                                                                    Vielfalt – das Bildungsmagazin
20   Das Dossier

     Handlungsmöglichkeiten für schulische                                 phobie und stärkt Zivilcourage. Ziel ist es,
     Akteur*innen                                                          aus der Schule einen offenen, toleranten und
                                                                           angstfreien Ort zu machen. Im Jahr 2002/3
     Gerade weil das AGG Schüler*innen an öf-                              ist eine Arbeitsgruppe im Bereich der klas-
     fentlichen Schulen keinen Diskriminierungs-                           sischen Streitschlichtung entstanden. Dort
     schutz im Bildungsbereich bietet, sind schuli-                        wurden Schüler*innen zu Streitschlichter*in-
     sche Akteur*innen aufgerufen, sich aktiv für                          nen und Konfliktberater*innen ausgebildet,
     den Schutz vor Diskriminierung einzusetzen.                           um mit Hilfe der Methoden Peer Mediation
     Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes                             und Mobbing-Intervention eine gewaltfreie
     unterstützt dabei beispielsweise durch den                            Kommunikation in der Schulgemeinschaft zu
     Praxisleitfaden „Diskriminierung an Schulen                           fördern. Darauf aufbauend entstanden weite-
     erkennen und vermeiden“3 und den Schul-                               re Arbeitsgemeinschaften zum Thema Homo-
     wettbewerb „fair@school“.4 Der Leitfaden                              und Transphobie, Rassismus, Diskriminierung
     richtet sich an Lehrer*innen, Schulleitungen                          und Zivilcourage sowie Internetsicherheit und
     und das pädagogische Personal an Schulen,                             Cybermobbing.
     an Mitarbeitende von Schulverwaltungen,
     aber auch an außerschulische Akteure wie                              Die Wirkung des Projekts zeigt sich in dessen
     Elternvereine und zivilgesellschaftliche Orga-                        Langlebigkeit sowie in der hohen Akzeptanz
     nisationen aus dem Bereich der Antidiskrimi-                          innerhalb der Schulgemeinschaft und der
     nierungsarbeit, die sich für den Schutz vor Dis-                      Lehrer*innenschaft. Die Arbeits- und Aktions-
     kriminierung an ihrer Schule einsetzen wollen.                        gruppen finden jedes Jahr regen Zulauf. Die
     Der Wettbewerb zeichnet seit 2017 Schulen                             Schulleitung und der Förderverein der Schule
     aus, die sich mit Projekten nachhaltig gegen                          unterstützen die Arbeit in vielfältiger Art und
     Diskriminierung einsetzen und Inspiration für                         Weise.
     andere Schulen sein können. Eine Sammlung
     mit erfolgreichen Praxisbeispielen des Schul-                         Der Auftrag zum Schutz vor Diskriminie-
     wettbewerbs steht zum Download zur Verfü-                             rung wird an Schulen und schulische Ak-
     gung.                                                                 teur*innen auch durch die Kultusministerkon-
                                                                           ferenz herangetragen: „Sie [die Schule] tritt
     Praxisbeispiel: „Vier gewinnt“ des Erasmus-                           aktiv der Diskriminierung einzelner Personen
     von-Rotterdam-Gymnasiums in Viersen                                   oder Personengruppen entgegen. Sie prüft,
     (1. Platz des Wettbewerbs „fair@school“ 2020)                         inwieweit Strukturen, Routinen, Regeln und
                                                                           Verfahrensweisen auch unbeabsichtigt be-
     Das Projekt „Vier gewinnt“ bündelt verschie-                          nachteiligend und ausgrenzend wirken, und
     dene Arbeitsgruppen der Schule zu Peer                                entwickelt Handlungsansätze zu deren Über-
     Mediation, Mobbing-Intervention, Konflikt-                            windung.“ (KMK 2013: S. 3).
     beratung und Internetsicherheit gegen Ras-
     sismus, Diskriminierung, Homo- und Trans-

     3 siehe www.fair-at-school.de 4 Download unter www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Leitfaeden/praxis-
     beispiele_fuer_schulische_antidiskriminierungsprojekte.html?nn=14284020
21

Um angemessen auf Diskriminierungen zu            werden. Aufbauend auf der Analyse und Auf-
reagieren, sollten schulische Diversity- und      deckung von Diskriminierungsrisiken können
Antidiskriminierungskonzepte erarbeitet           präventive Maßnahmen ergriffen werden:
werden. Zentrale Bausteine dafür werden im        Mögliche Maßnahmen sind die Stärkung von
genannten Praxisleitfaden dargestellt. Zur        Betroffenen, Schulungen des Lehrpersonals,
Umsetzung der einzelnen Bausteine sollten         Trainings für Schüler*innen, die Bereitstellung
Schulen externe Fachleute hinzuziehen und         von Informationen und Schaffung von Bera-
mit außerschulischen Akteur*innen, insbe-         tungsangeboten, die Förderung von Vielfalt
sondere aus dem Bereich der Betroffenen-          und Partizipation sowie die Überarbeitung der
vertretungen (beispielsweise LSBTIQ*-Netz-        Schulordnung.
werke, die Aufklärungsprojekte in Schulen
anbieten) sowie Antidiskriminierungsbera-         Hat eine Diskriminierung stattgefunden, ist
tungen vor Ort zusammenarbeiten. Hinweise         es wichtig, dass es an Schulen geeignete
zu geeigneten Ansprechpersonen finden sich        Interventionsmaßnahmen gibt, um die
im Serviceteil des Leitfadens.                    Konflikte zu lösen und Betroffenen Hilfestel-
                                                  lung zu bieten. Damit alle Akteur*innen im
Um die Schulgemeinschaft für Diskriminie-         schulischen Kontext wissen, wie sie mit Dis-
rungen zu sensibilisieren, ist es wichtig,        kriminierungen umgehen können und welche
zu prüfen, an welchen Stellen Diskriminierung     Handlungsoptionen es gibt, ist es wichtig,
in der Einrichtung auftritt und wie sie sich      dass Schulen Leitlinien zum Umgang mit
äußert. Dadurch werden Benachteiligungen          und zur Intervention bei Diskriminierun-
sichtbar gemacht und ein Raum zur Thema-          gen entwickeln. Diese Leitlinien sollten in der
tisierung wird geboten. Außerdem kann eine        Schulordnung verankert werden. Um einen
Bestandsaufnahme zeigen, ob bestehende            Rahmen für solche Leitlinien vorzugeben und
Schutzregelungen eingehalten werden und           Schulen bei der Entwicklung zu unterstützen,
wo nachgebessert werden muss. Verschiedene        sollten die einzelnen Schulverwaltungen auf
Methoden und Verfahren können helfen, Dis-        Landesebene Musterleitlinien bereitstellen.
kriminierungen an Schulen zu identifizieren.
Das Sichtbarmachen ist einerseits der erste       Insgesamt sollte die Schule klare und trans-
zentrale Schritt, den Schulen auf dem Weg zu      parente Verfahrensweisen für Interventionen
mehr Diskriminierungsschutz gehen sollten.        bei Diskriminierung entwickeln. So sollten
Andererseits kann dieser Schritt auch in re-      interne Regeln für den Umgang mit Betrof-
gelmäßigen Abständen wiederholt werden.           fenen erarbeitet und Streitschlichter*innen/
Denn Schule verändert sich fortlaufend und so     Konfliktlots*innen sowie Ansprechpersonen
ist es sinnvoll, immer wieder die eigene Praxis   benannt werden. Weitergehende Handlungs-
zu reflektieren. Um bestehende Benachteili-       möglichkeiten sollten aufgezeigt werden und
gungen im Schulalltag sichtbar zu machen,         ein schulinternes Beschwerdeverfahren
können Befragungen, Untersuchungen be-            sollte entwickelt werden. Dieses Beschwerde-
stehender Regeln und Routinen, Erhebungen         verfahren sollte auch berücksichtigen, dass
statistischer Ungleichheiten und Analysen von     es in bestimmten Fällen sinnvoll sein kann,
Unterrichtsmaterialien und -inhalten genutzt      externe Unterstützung einzuholen. Für Fälle,

                                                                                         Vielfalt – das Bildungsmagazin
22   Das Dossier

     die nicht innerhalb der Schulgemeinschaft         nen auf Ebene der Schule organisatorisch fest-
     gelöst werden können, sollten Möglichkeiten       geschrieben werden.
     der externen Mediation/Schlichtung genutzt
     werden. Darüber hinaus sollten Verfahren zur      Externe unabhängige Beschwerdestel-
     Dokumentation von Beschwerden erarbeitet          len
     werden.
                                                       Um effektive Schutzmaßnamen für Betroffene
     Präventions- und Interventionsmaßnahmen           durchzusetzen, bedarf es neben innerschu-
     können nur dann nachhaltig funktionieren,         lischem Engagement auch der Errichtung
     wenn sie institutionalisiert werden. Dies wie-    von staatlichen externen unabhängigen
     derum wird nur gelingen, wenn die Schul-          Beschwerdestellen für den Bereich Schule.
     leitung die Thematik ernst nimmt und dafür        Eine solche Beschwerdestelle ist insbesondere
     sorgt, ein gesamtschulisches Antidiskrimi-        für Diskriminierungsfälle hilfreich, in denen
     nierungskonzept fest in der Schulentwick-         Schulen nicht in der Lage sind, die bestehen-
     lung zu verankern. Dieser schulinterne Prozess    den Konflikte intern zu lösen, oder in denen
     zur Verbesserung der Qualität der Schule fin-     ein solcher Lösungsversuch nicht sinnvoll
     det auf der Ebene des Unterrichts, der Schul-     ist. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn
     kultur und der Personalentwicklung statt.         Schüler*innen oder Eltern kein Vertrauen in
                                                       die schulischen Akteur*innen haben. Die Er-
     Das Antidiskriminierungskonzept sollte idea-      richtung solcher externen unabhängigen
     lerweise folgende Punkte zusammenführen:          Beschwerdestellen für den Bildungsbereich
     Diskriminierungsverbote und Konsequenzen,
     Gleichstellungsgebote und Kompensations-
     pflichten, schulorganisatorische Verpflichtun-
     gen, Informations- und Beratungsrechte von
     Schüler*innen und Eltern, Leitlinien für dis-
     kriminierungsfreie Bewertungsmethoden und
     Unterrichtsmaterialien, Verankerung von Anti-
     diskriminierung und Vielfalt als Querschnitts-
     thema, Antidiskriminierungsbeauftragte.

     Um Schüler*innen wirksam vor Diskriminie-
     rungen zu schützen, ergeben sich auch Organi-
     sationspflichten für die Schule: Präventive und
     reaktive Maßnahmen gegen Diskriminierung
     sollten explizit benannt und allen Beteiligten
     bekannt gemacht werden. So können zum
     Beispiel verpflichtende Antidiskriminierungs-
     schulungen für alle Lehrkräfte und Schüler*in-

                                                                        Illustration: i-frame media GmbH
23

empfiehlt die Antidiskriminierungsstelle des       vor Diskriminierung schützen (KiDs), den Anti-
Bundes auch im Zweiten Bericht an den Bun-         diskriminierungsbeauftragten der Berliner Se-
destag (ADS 2013).                                 natsverwaltung für Bildung sowie das Berliner
                                                   Netzwerk gegen Diskriminierung in Schulen
Das Berliner Netzwerk gegen Diskriminierung        und Kitas (BeNeDiSK). Wie dargestellt, fallen
in Schulen und Kitas (BeNeDiSK) hat ein Stra-      Fälle von Benachteiligung von Schüler*innen
tegiepapier (Policy Paper) zu Diskriminierun-      nicht unter das AGG. Die Antidiskriminierungs-
gen im Schul- und Vorschulbereich veröffent-       stelle des Bundes verweist Ratsuchende daher
licht (BeNeDiSK 2016). Es enthält detaillierte     (wo vorhanden) an auf den Bildungsbereich
Informationen zu der Konzeption von exter-         spezialisierte Beratungs- und Anlaufstellen
nen Beschwerdestellen, die für das Land Berlin     oder an lokale Antidiskriminierungsbera-
konkretisiert werden, aber auch eine Orientie-     tungsstellen, die auch zum Schulbereich be-
rung für andere Bundesländer darstellen kön-       raten. Wo dies nicht möglich ist, wird auf die
nen. Den rechtlichen Rahmen für eine unab-         Schulaufsicht, Jugendämter oder Anwält*in-
hängige Beschwerdestelle zum Schutz gegen          nen verwiesen, die Ratsuchende zum Beispiel
Diskriminierung in Berliner Schulen stellt die     bei einer Dienstaufsichtsbeschwerde oder
GEW Berlin in einem Rechtsgutachten dar            einem Verfahren um den Schulzugang be-
(GEW 2016). Externe unabhängige Beschwer-          ziehungsweise eine Benotung unterstützen
destellen müssen umfassende Kompetenzen            können. Die Antidiskriminierungsstelle des
und Befugnisse haben, um wirksam gegen             Bundes begrüßt die Gründung von BANDAS
Diskriminierung im Bereich Schule vorgehen         ausdrücklich und wünscht einen erfolgreichen
zu können. Die LADG-Ombudsstelle des Lan-          Start. Damit ist nun auch in NRW eine spezi-
des Berlin unterstützt beispielsweise Personen     fische Beratungsstelle für den Schulbereich als
bei der Durchsetzung ihrer Rechte nach dem         Ansprechpartnerin vorhanden und ein wichti-
Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz.        ger Schritt zu einem besseren Schutz vor Dis-
Öffentliche Stellen in Berlin sind verpflichtet,   kriminierung erfolgt.
die Ombudsstelle dabei, zum Beispiel durch
Zugang zu Informationen und durch Stellung-
nahmen, zu unterstützen.                           Charlotte Kastner, Referentin Antidiskriminie-
                                                   rungsstelle des Bundes, Referat Forschung und
Außerdem fehlt es auch an spezifischen zi-         Grundsatzangelegenheiten
vilgesellschaftlichen Beratungsstellen
für den schulischen Bereich, die es bislang
nur vereinzelt gibt. Neben der neu errichteten
Stelle BANDAS (Beratung und Antidiskriminie-
rungsarbeit für Schüler*innen) für Schüler*in-
nen aus dem Regierungsbezirk Köln gibt es in
Berlin verschieden auf den Bildungsbereich
spezialisierte Beratungs- und Anlaufstellen:
Die Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz in
der Schule (ADAS), die Beratungsstelle Kinder

                                                                                          Vielfalt – das Bildungsmagazin
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