Vom Umgang mit dem Krankheitsrisiko - Deutsches Ärzteblatt
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THEMEN DER ZEIT Foto: SPL Agentur Focus RISIKOPRÄDIKTION Vom Umgang mit dem Krankheitsrisiko Das Beispiel Brustkrebs zeigt, wie dringend notwendig die Entwicklung einer verantwortungsvollen Entscheidungsfindung im Kontext der biomarkerbasierten präventiven Medizin ist. Rita Schmutzler, Stefan Huster, Jürgen Wasem, Peter Dabrock rustkrebsvorsorge ist seit je- mensen Steigerung der Nachfrage familiären Belastung für das Mam- B her ein Thema, das die Auf- merksamkeit der wissenschaftlichen nach genetischer Beratung und inva- siven präventiven Maßnahmen bei makarzinom bietet sich eine system- medizinische Herangehensweise an. Fachwelt wie der allgemeinen Öf- erhöhten Erkrankungsrisiken beige- Die neuere Forschung zu den be- fentlichkeit auf sich zieht (1, 2). Ge- tragen (7). reits seit längerem bekannten Hoch- rade in jüngerer Zeit hat sich dieses risikogenen BRCA1 und BRCA2 hat Interesse noch einmal deutlich ver- Schlagwort „Systemmedizin“ bereits die immense Komplexität stärkt. Zum einen erlangte die Dis- Am Horizont erscheint nunmehr solcher genetisch stringent zuzu- kussion um die Wirksamkeit und noch ein dritter Faktor, der den Druck ordnender Verursachungszusammen- Effektivität des Mammographie- auf die medizinische Praxis der hänge durch die Identifikation mul- Screenings wieder neue Aufmerk- Brustkrebsvorsorge weiter erhöhen tipler modifizierender Faktoren Zentrum Familiärer Brust- und Eierstock- samkeit (3– 6) und hat damit erneut und einen nachhaltigen Wandel be- deutlich gemacht (12); die Sachlage krebs, Universitätskli- einen Schatten des Zweifels auf die fördern könnte (8). Unter dem noch einmal deutlich verkomplizie- nikum Köln: Prof. Dr. med. Schmutzler etablierte Früherkennung geworfen. Schlagwort „Systemmedizin“ wer- ren werden nun hochkomplexe Ver- Auch wenn die Datenlage im We- den unterschiedliche Forschungsan- flechtungen bei oligo- bis poly- Institut für Sozial- und sentlichen gleich geblieben ist, stellt sätze zusammengefasst. Ihnen ist ge- genen Erbgängen mit einer Fülle Gesundheitsrecht (ISGR), Ruhr-Universi- sich doch die Frage, ob mittlerweile meinsam, dass sie die Entwicklungen multiplikativ wirkender genetischer tät Bochum: Prof. Dr. nicht bessere beziehungsweise pass- der sogenannten „big data medicine“ Risikovarianten mit kumulierten jur. Huster genauere Früherkennungskonzepte (9) mit biomarkerbasierten Ansätzen mittleren Risiken (13–15). Zusätz- Institut für Betriebs- zur Verfügung stehen. Zum anderen (10) sowie Umwelt- und Lebensstil- lich stehen für erblich bedingte wirtschaft und Volks- hat Angelina Jolie ihre Erfahrungen informationen zusammenführen und Mammakarzinome bereits erhebli- wirtschaft, Universität Duisburg-Essen: Prof. mit Risikodiagnostik und prophy- durch die Verarbeitung großer Daten- che Datenmengen zum Beispiel aus Dr. rer. pol. Wasem laktischer Mastektomie in die Me- mengen versuchen, die Entstehung dem Deutschen Konsortium Fami- Fachbereich Theologie, dien getragen und damit zu einer er- komplexer Krankheiten aufzuklären liärer Brust- und Eierstockkrebs Friedrich-Alexander- heblich gewachsenen Aufmerksam- und daraus besonders präzise Präven- sowie einschlägige Erfahrungen Universität Erlangen- keit für das Thema des hereditären tions- und Therapieoptionen abzulei- in der Risikokommunikation und Nürnberg: Prof. Dr. theol. Dabrock Mammakarzinoms und zu einer im- ten (11). Insbesondere im Falle einer -beratung zur Verfügung (16–19). A 910 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 20 | 15. Mai 2015
THEMEN DER ZEIT Schließlich steht diese spezielle Brustkrebs verursachen (und somit Mit einer auf genetischen Daten Krebsform in einer Gemengelage derzeit [noch] keine klinische Be- basierenden Risikoprädiktion werden von kontroversen Debatten, Me- deutung haben), dass sie im Rahmen Ärzte und Betroffene vor die Ent- dienpräsenz und neuen wissenschaft- eines oligo- oder polygenen Erb- scheidung über präventive Maßnah- lichen Forschungsansätzen derzeit gangs miteinander interagieren und men gestellt. Dabei stellt die pro- besonders im öffentlichen Fokus, so ebenfalls eine klinisch relevante phylaktische Mastektomie (pMTX) nicht zuletzt auch durch die gestei- Risikoerhöhung verursachen. die radikalste präventivmedizinische gerte Nachfrage nach präventiven Diese Erkenntnisse sind mit neuen Antwort dar, mit der sich Mutations- Maßnahmen bis hin zu maximal in- Herausforderungen verbunden. Die trägerinnen aufgrund der medialen vasiven Strategien. starke genetische Heterogenität, ein- Präsenz unweigerlich auseinander- Vor diesem Hintergrund unter- hergehend mit einem breiten Phäno- setzen. Die komplette pMTX führt zu sucht die vorliegende Studie, welche typ- und Penetranzspektrum, erfordert einer Risikoreduktion auf circa zwei Herausforderungen sich durch die mehr denn je große Kohortenstudien Prozent. Über längerfristige Folgen skizzierten Tendenzen in der Brust- mit der Etablierung eines Krankheits- und Nebenwirkungen, insbesondere krebsvorsorge für die medizinische registers; dies erfasst genetische und die Abhängigkeit der Risikoredukti- Praxis und das Gesundheitswesen phänotypische Daten, um das für die on von einem mittlerweile breiten ergeben und wie die unterschiedli- klinische Entscheidungsfindung be- Spektrum an Operationsverfahren, ist chen Entwicklungen aus medizi- züglich geeigneter präventiver Maß- bisher jedoch wenig bekannt. nischer, psychosozialer, ethischer, nahmen (sowie spezifischer Therapie- rechtlicher und gesundheitsökono- optionen) relevante Erscheinungsbild Psychosoziale Aspekte mischer Perspektive integriert wer- der einzelnen, genetisch definierten Angesichts der dramatisch steigen- den können. Subtypen in den Blick zu bekommen den Zahl prophylaktischer Brustope- und sekundäre sowie tertiäre Präven- rationen in den letzten Jahren (21), Risikogene und -prädiktion tionsmaßnahmen möglichst in pro- einhergehend mit einer zunehmen- Zwei Jahrzehnte nach der Entde- spektiv randomisierten Studien zu den Anzahl an Risikoprädiktoren mit ckung der BRCA1/2-Gene, die nur überprüfen (20). Darüber hinaus wer- sehr unterschiedlichem Risikoprofil, für rund 30 Prozent der Fälle von den diese Daten zur Entwicklung ei- ist es neben der Generierung evi- erblichem Brustkrebs verantwortlich nes Algorithmus zur Kalkulation ei- denzbasierter Daten auch angezeigt, sind, ermöglichen jüngste technische nes multifaktoriellen Risikoscores die pMTX in Bezug auf psychoso- Fortschritte auf dem Gebiet der ge- benötigt; dieser ermöglicht letztend- ziale Faktoren im Entscheidungspro- nomweiten high-throughput-Analy- lich eine individualisierte oder zu- zess zu untersuchen. Von 39 Studien sen nun die Identifikation und Vali- mindest stratifizierte Risikoprädikti- zur prophylaktischen Mastektomie dierung neuer Risikogene und deren on auf einer kontinuierlichen Risiko- beschäftigten sich allerdings nur Implementierung über sogenannte skala und stellt somit die Basis für die zwölf mit psychosozialen Aspekten, Genpanelanalysen in die klinische Entwicklung gezielter diagnostischer, wobei ein direkter Vergleich zwi- Praxis. Hierbei war die Entdeckung präventiver und therapeutischer Stra- schen Frauen, die sich für die Früh- des moderaten Risikogens RAD51C tegien dar. Diese Untersuchungen erkennung oder die pMTX entschie- ein „proof of concept“ für die Exis- werden derzeit in internationaler Zu- den, oftmals ausblieb (22). tenz weiterer moderater Risikogene sammenarbeit und aktueller Förde- Frauen, die sich für eine pMTX (13), die jedoch deutlich seltener rung unter führender Mitarbeit des entscheiden, scheinen ängstlicher zu mutiert sind. Zudem vermutet man Deutschen Konsortiums für Familiä- sein und gehen eher davon aus, dass für die vielen bereits identifizierten ren Brust- und Eierstockkrebs im eine Brustkrebserkrankung unver- Niedrigrisiko-Varianten, die einzeln Rahmen des EU-Förderprogramms meidlich ist (23). Die Operation nur eine geringe Risikoerhöhung für Horizon 2020 vorangetrieben. scheint einerseits Ängste zu reduzie- ren (24, 25), andererseits treten im Mittel 4,5 Jahre nach der Operation FÜNF KERNAUSSAGEN behandlungsrelevante psychische Be- lastungssymptome auf (26). Eigene ● Die Vorsorge beim erblichen Brust- chen Krankenversicherung und löst bislang unveröffentlichte Daten erga- krebs entwickelt sich durch die im- rechtlichen Regulierungsbedarf aus. ben, dass rund ein Viertel der Mu- mer genauere Stratifizierung von Er- ● Die in der Brustkrebsvorsorge ent- tationsträgerinnen einen auffälligen krankungsrisiken zur Systemmedizin. stehenden ökonomischen Unsicher- und klinisch relevanten Angstwert ● Die klinische Praxis muss der ambi- heiten erfordern eine Modellierung (HADS-A > 10) aufweist. Dabei valenten Entscheidungssituation und der budgetären Auswirkungen. scheint ein signifikanter Zusammen- der Gefahr voreiliger drastischer ● Die Behandlung genetischer Krank- hang zwischen der Entscheidung für Maßnahmen Rechnung tragen. heitsrisiken macht eine grundle- eine prophylaktische Mastektomie ● Die Ausrichtung an Krankheitsrisi- gende Erweiterung der ebenfalls und einem erhöhten Angstwert zu be- ken kollidiert mit der Ausrichtung am Krankheitsfall orientierten Prio- stehen. Für eine langfristig tragfähige am Krankheitsfall in der gesetzli- risierungsdiskussion notwendig. Entscheidung, die nicht allein von Angst und übereiltem Aktionismus Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 20 | 15. Mai 2015 A 911
THEMEN DER ZEIT geleitet ist, sollten daher neben der le – wie zum Beispiel dasjenige der Risikosituation alle wichtigen Aspek- Bundesärztekammer (32) – an diag- te der persönlichen und familiären Si- nostizierten Krankheiten, die krite- tuation einbezogen werden (27). riengeleitet in verschiedene Schwere- Um dieser komplexen und indivi- grade unterteilt werden. Wie die neu- duellen Risikoperzeption nach gene- en Entwicklungen in Diagnostik und tischer Testung Rechnung zu tragen, Prävention in solche Konzepte inte- wurde in eigener Forschung ein griert werden können, ist eine der an- interdisziplinäres Beratungskonzept stehenden Herausforderungen. entwickelt. Neben der Risikokalku- Die Integration der Behandlung lation für Brust- und Eierstockkrebs genetischer Krankheitsrisiken in das in einem überschaubaren Zeitraum, gesundheitssystem ist auch aus recht- zum Beispiel in den nächsten fünf licher Perspektive von tief greifenden und zehn Lebensjahren, sowie deren Spannungen begleitet. Die Gesetzli- verständlicher Kommunikation in che Krankenversicherung ist in ih- Form von absoluten Risiken, erhal- rem Kern auf den Leistungsfall der ten betroffene Frauen auf Basis eines Krankheit ausgerichtet. Probleme nichtdirektiven Beratungsansatzes treten daher auf, wenn die Betroffe- umfassende Unterstützung mit dem nen nach dem üblichen Verständnis Fokus auf Ressourcenstärkung und noch nicht erkrankt sind, sondern nur Entwicklung der Entscheidungs- ein Krankheitsrisiko tragen. kompetenz. Oftmals sind nur wenige So herrscht gerade mit Blick Gespräche notwendig, die die kon- auf das hereditäre Mammakarzinom Foto: dpa kreten Anliegen und Ängste der Rat- große Rechtsunsicherheit, ob, inwie- suchenden aufgreifen. Weitere Un- weit und auf welcher Rechtsgrund- tersuchungen müssen klären, ob die- sen im Bereich moderater Erkran- Die Zunahme an lage die Krankenkassen berechtigt ses klinische Konzept auch bei ei- kungswahrscheinlichkeiten bewegen, Risikoprädiktionen oder verpflichtet sind, genetische ner systemmedizinischen Ausweitung desto weniger legen sie in Verbin- im weiten Spektrum Tests, intensivierte Früherkennungs- der Risikoprädiktion zu tragfähigen dung mit dem Ziel der Krankheitsbe- moderater bis ho- maßnahmen und präventive Maß- her Erkrankungs- Entscheidungen führen und wie die kämpfung bestimmte medizinische nahmen, wie beispielsweise eine wahrscheinlichkei- individuelle Risikoperzeption in ein Maßnahmen nahe. ten birgt auch die pMTX und einen nachfolgenden Gesamtkonzept zur risikoadaptierten Diese Uneindeutigkeit macht den Gefahr voreiliger Brustaufbau, vor Ausbruch der Er- Prävention eingebettet werden kann. Entscheidungsprozess anfällig für Entscheidungen für krankung zu finanzieren. Es ist un- Beeinflussungen und Verkürzungen, invasive Maßnah- klar, ob die genannten Maßnahmen Ethische Herausforderungen wie etwa die Einebnung der Dif- men wie die pMTX. eindeutig einer Rechtsgrundlage zu- Die klinische Praxis der Prävention ferenz von Krankheitsrisiko und geordnet werden können (33). bei erblichem Brustkrebs ist von ethi- Krankheit (30). Um dieser Gefahr zu schen Spannungen durchzogen: Die begegnen, gilt es, die oben in An- Risiko gleich Krankheit? Feststellung genetischer Krankheits- spruch genommene Unterscheidung § 27 SGB V, der den Anspruch auf risiken kann die Betroffene der Ge- zwischen voreiligen und tragfähigen Krankenbehandlung regelt, käme fahr der Stigmatisierung und Diskri- Entscheidungen in ethischer Per- dafür nur in Betracht, wenn man das minierung aussetzen (28) und in fa- spektive auszuarbeiten. Will man da- (hohe) Risiko, an einer Krankheit zu miliäre Verhältnisse hineinwirken, bei die Patientenautonomie nicht un- erkranken, auch unter den Krank- indem sie Fragen nach den Rechten terlaufen, sind weniger die Inhalte als heitsbegriff subsumieren könnte und Pflichten im kommunikativen vielmehr die Beschaffenheit und die (34). Lehnt man eine Subsumtion Umgang mit dem genetischen Wis- Voraussetzungen einer gelingenden unter den Krankheitsbegriff ab, stellt sen, das immer auch andere betrifft, Entscheidungsfindung zu erforschen, sich die Frage, ob die prophylakti- aufwirft (29). Schließlich bringt eine also beispielsweise die Vermittlung sche Mastektomie mit anschließen- genetische Risikoprädiktion auch im der Risikodiagnose und die Kompe- dem Brustaufbau als Vorsorgemaß- Rahmen der Entscheidung über die tenzen zu ihrer Verarbeitung (31). nahme nach § 23 I Nr. 3 SGB V qua- weiteren präventiven Maßnahmen Die Aufgabe, Risikowerte und lifiziert werden könnte. Erforderlich ethische Herausforderungen mit sich. präventive Maßnahmen in ein Ver- dafür wäre allerdings die Notwen- So verschwimmt in der präventi- hältnis zu setzen, stellt sich auch auf digkeit der medizinischen Interventi- ven Medizin die Krankheit als Ori- der gesellschaftlichen Ebene der soli- on (35). Diese Notwendigkeit könn- entierungspunkt bei der Entschei- darisch finanzierten Gesundheitsver- te zum Beispiel nach der prozentua- dung über die weitere Behandlung, sorgung. Denn die neuen Möglich- len Wahrscheinlichkeit des Risikos und dieser Mangel erfährt in der keiten der Prävention ziehen Res- bewertet werden. Aufgrund der sys- systemmedizinischen Wendung der sourcen aus den kurativen medizini- temmedizinischen Tendenz zur Aus- Brustkrebsvorsorge eine weitere Zu- schen Handlungsfeldern ab. Bislang differenzierung eines Risikokontinu- spitzung: Je mehr sich Risikodiagno- orientieren sich Priorisierungsmodel- ums wird es dabei zur Festsetzung A 912 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 20 | 15. Mai 2015
THEMEN DER ZEIT genauer Schwellenwerte kommen wesen führt die Unkenntnis der bud- warten. Die mit dieser Entwicklung müssen, die exakt angeben, wann ei- getären Auswirkungen einer neuen einhergehende Zunahme an Risiko- ne Wahrscheinlichkeit die Notwen- Technologie oder Versorgungsstrate- prädiktionen im breiten Spektrum digkeit einer medizinischen Maß- gie zu Unsicherheit und einem eher moderater bis hoher Erkrankungs- nahme rechtfertigt. Eine hierfür not- zurückhaltenden Verhalten der Kos- wahrscheinlichkeiten birgt einerseits wendige untergesetzliche Konkreti- tenträger gegenüber dem Einsatz die Gefahr voreiliger Entscheidungen sierung besteht jedoch bislang nicht. neuer Technologien und der Kosten- für invasive Maßnahmen wie die übernahme für diese (36). pMTX. Andererseits spitzt sie das Zunehmende Nachfrage Daher sollten mittels eines mathe- Problem weiter zu, dass sich aus ge- Zurzeit existieren lediglich integrier- matischen Modells in Anlehnung an netischen Risikoprädiktionen im Un- te Verträge, die einen Anspruch auf die Methodik der Budget-Impact- terschied zu Krankheitsdiagnosen we- spezifische Beratung, Gendiagnostik Analyse (37, 36) die budgetären niger eindeutig und weniger unmittel- und intensivierte Früherkennung re- Auswirkungen primärpräventiver bar Folgerungen für das Ziel der geln. Für die prophylaktische Mast- Maßnahmen im Vergleich zu einer Krankheitsbekämpfung ziehen las- ektomie mit anschließendem Brust- intensivierten Früherkennung und sen; umso dringlicher wird somit die aufbau erfolgen darüber hinaus bis- der bislang üblichen Früherken- Frage nach einer angemessenen Kon- lang nur Einzelfallentscheidungen. nungsstrategie (usual care) für die zeption von verantwortungsvoller Bei Patientinnen, deren Krankenkas- gesetzliche Krankenversicherung er- Entscheidungsfindung im Kontext sen den integrierten Verträgen nicht mittelt werden. Zunächst müssen der biomarkerbasierten präventiven beigetreten sind, gilt das für alle dazu die relevanten Verfahren und Medizin. Maßnahmen. Um diese Rechtslü- Maßnahmen auch mit Blick auf die Eine Integration dieser schon in cken und Rechtsunsicherheiten zu entstehenden maßgeschneiderten, sich zunehmend spannungsreichen beheben, ist es angezeigt, ein Regu- systemmedizinischen Präventions- medizinischen Praxis in das solida- lierungsmodell zu entwickeln. Darü- strategien identifiziert werden. risch finanzierte Gesundheitssystem zieht wegen ihres präventiven Cha- rakters rechtliche Unsicherheiten Die neuen Möglichkeiten der Prävention ziehen Ressourcen aus nach sich; denn in der gesetzlichen den kurativen medizinischen Handlungsfeldern ab. Krankenversicherung berechtigen Krankheiten und nicht Krankheitsri- ber hinaus stellt sich dieses Problem In Bezug auf die Inanspruchnah- siken zu Leistungsansprüchen. Zu- ebenso in parallelen (privates Versi- me der verschiedenen Strategien dem ergeben sich ökonomische Un- cherungsrecht, Recht der Beamten- sind dabei auch der zunehmend sicherheiten, da finanzielle Ressour- beihilfe) und benachbarten Rechts- aufkommende Einfluss und die cen beansprucht werden, zugleich gebieten (Recht der Gendiagnostik), Inanspruchnahme der genetischen aber auch die Einsparung späte- sodass diese ebenfalls betrachtet Risikodiagnostik auf die Verände- rer Behandlungskosten möglich er- werden müssen. rung des Budgets zu berücksichti- scheint. Die zunehmende Nachfrage in gen. Auf dieser Basis können zu- Die systemmedizinische Ent- der Bevölkerung nach Gendiagnostik dem die Kosten pro Patientin in wicklung verstärkt die Herausforde- führt zu komplexen Auswirkungen Abhängigkeit von den verschiede- rungen, die durch die Nutzung der auf das Budget der gesetzlichen nen Strategien ermittelt werden. genetischen Diagnostik in der Brust- Krankenversicherung (GKV). Bezo- Diese gesundheitsökonomischen Er- krebsprävention entstanden sind. gen auf das Beispiel der genetischen kenntnisse lassen sich schließlich Um diesen zu begegnen, muss einer- Testung auf das Risiko für ein heredi- für die Entwicklung eines Priori- seits der im Rahmen der solidari- täres Mammakarzinom entstehen da- sierungsmodells für komplexe Er- schen Gesundheitsversorgung zu er- mit einerseits Kosten für genetische krankungen im Bereich der Sys- öffnende Handlungsspielraum bei Beratung und Testung, aber auch temmedizin verwenden. erblichen Krankheitsrisiken genauer nicht absehbare Folgekosten für eine bestimmt und andererseits in der kli- intensivierte Früherkennung und pro- Künftige Herausforderungen nischen Umsetzung seine verant- phylaktische Operationen. Gleichzei- Durch technische Fortschritte bei der wortungsvolle Inanspruchnahme ge- tig ergeben sich mögliche budgetäre genetischen Hochdurchsatz-Sequen- sichert werden. ▄ Verschiebungen durch eine zeitlich zierung und neue Erkenntnisse zur █ vorverlagerte Brustkrebsdiagnose be- polygenen Transmission von Erkran- Zitierweise dieses Beitrags: Dtsch Arztbl 2015; 112 (20): A 910–3 ziehungsweise ein Absenken der kungsrisiken ist eine immer genauere Brustkrebsinzidenz durch prophylak- Risikostratifizierung und damit ein Anschrift für die Verfasser tische Operationen. In einer Situation Schritt hin zur Systemmedizin im Prof. Dr. med. Rita Schmutzler, Zentrum Familiärer Brust- und Eierstockkrebs, Universitätsklinikum knapper Ressourcen im Gesundheits- Feld der Brustkrebsvorsorge zu er- Köln, Kerpener Straße 34, 50931 Köln rita.schmutzler@uk-koeln.de Diese Arbeit wird unterstützt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Verbundprojektes SYSKON (FKZ01GP1407 A-D), durch das Bundesministerium für Gesundheit im Rahmen des Verbundprojektes MoreRisk des Förderpro- gramms „Forschung im Nationalen Krebsplan“ sowie durch die Deutsche Krebshilfe (Fördernummer 110837). Die Autoren danken allen in den Verbünden, die zu den Diskussionen im Vorfeld der Erstellung dieses Artikels beigetragen haben. @ Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit2015 oder über QR-Code. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 20 | 15. Mai 2015 A 913
THEMEN DER ZEIT LITERATURVERZEICHNIS HEFT 20/2015, ZU: 3*4*,013%*,5*0/ 7PN6NHBOHNJUEFN,SBOLIFJUTSJTJLP Das Beispiel Brustkrebs zeigt, wie dringend notwendig die Entwicklung einer verantwortungsvollen Entscheidungsfindung im Kontext der biomarkerbasierten präventiven Medizin ist. Rita Schmutzler, Stefan Huster, Jürgen Wasem, Peter Dabrock LITERATUR 12. Mavaddat N, Peock S, Frost D, et al.: Can- 21. Kurian AW, Lichtensztajn DY, Keegan THM, 1. Gibbon S, Joseph G, Mozersky J, zur Nie- cer risks for BRCA1 and BRCA2 mutation Nelson DO, Clarke CA, Gomez SL: Use of den A, Palfner S: Breast cancer gene re- carriers: results from prospective analysis an mortality after bilateral mastectomy search and medical practices. Transnatio- of EMBRACE. Journal of the National Can- compared with other surigcal treatments nal perspectives in the time of BRCA. Mil- cer Institute 2013; 105: 812–22. for breast cancer in California. Jama ton Park, New York: Routledge 2014. 13. 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