Vom Umgang mit dem Krankheitsrisiko - Deutsches Ärzteblatt

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Vom Umgang mit dem Krankheitsrisiko - Deutsches Ärzteblatt
THEMEN DER ZEIT

                                                                                                                                                               Foto: SPL Agentur Focus
RISIKOPRÄDIKTION

Vom Umgang mit dem Krankheitsrisiko
Das Beispiel Brustkrebs zeigt, wie dringend notwendig die Entwicklung einer verantwortungsvollen
Entscheidungsfindung im Kontext der biomarkerbasierten präventiven Medizin ist.

Rita Schmutzler, Stefan Huster, Jürgen Wasem, Peter Dabrock

                                     rustkrebsvorsorge ist seit je-    mensen Steigerung der Nachfrage           familiären Belastung für das Mam-
                             B       her ein Thema, das die Auf-
                             merksamkeit der wissenschaftlichen
                                                                       nach genetischer Beratung und inva-
                                                                       siven präventiven Maßnahmen bei
                                                                                                                 makarzinom bietet sich eine system-
                                                                                                                 medizinische Herangehensweise an.
                             Fachwelt wie der allgemeinen Öf-          erhöhten Erkrankungsrisiken beige-           Die neuere Forschung zu den be-
                             fentlichkeit auf sich zieht (1, 2). Ge-   tragen (7).                               reits seit längerem bekannten Hoch-
                             rade in jüngerer Zeit hat sich dieses                                               risikogenen BRCA1 und BRCA2 hat
                             Interesse noch einmal deutlich ver-       Schlagwort „Systemmedizin“                bereits die immense Komplexität
                             stärkt. Zum einen erlangte die Dis-       Am Horizont erscheint nunmehr             solcher genetisch stringent zuzu-
                             kussion um die Wirksamkeit und            noch ein dritter Faktor, der den Druck    ordnender Verursachungszusammen-
                             Effektivität des Mammographie-            auf die medizinische Praxis der           hänge durch die Identifikation mul-
                             Screenings wieder neue Aufmerk-           Brustkrebsvorsorge weiter erhöhen         tipler modifizierender Faktoren
    Zentrum Familiärer
 Brust- und Eierstock-       samkeit (3– 6) und hat damit erneut       und einen nachhaltigen Wandel be-         deutlich gemacht (12); die Sachlage
 krebs, Universitätskli-     einen Schatten des Zweifels auf die       fördern könnte (8). Unter dem             noch einmal deutlich verkomplizie-
  nikum Köln: Prof. Dr.
      med. Schmutzler
                             etablierte Früherkennung geworfen.        Schlagwort „Systemmedizin“ wer-           ren werden nun hochkomplexe Ver-
                             Auch wenn die Datenlage im We-            den unterschiedliche Forschungsan-        flechtungen bei oligo- bis poly-
 Institut für Sozial- und    sentlichen gleich geblieben ist, stellt   sätze zusammengefasst. Ihnen ist ge-      genen Erbgängen mit einer Fülle
        Gesundheitsrecht
  (ISGR), Ruhr-Universi-     sich doch die Frage, ob mittlerweile      meinsam, dass sie die Entwicklungen       multiplikativ wirkender genetischer
    tät Bochum: Prof. Dr.    nicht bessere beziehungsweise pass-       der sogenannten „big data medicine“       Risikovarianten mit kumulierten
               jur. Huster
                             genauere Früherkennungskonzepte           (9) mit biomarkerbasierten Ansätzen       mittleren Risiken (13–15). Zusätz-
  Institut für Betriebs-     zur Verfügung stehen. Zum anderen         (10) sowie Umwelt- und Lebensstil-        lich stehen für erblich bedingte
 wirtschaft und Volks-       hat Angelina Jolie ihre Erfahrungen       informationen zusammenführen und          Mammakarzinome bereits erhebli-
 wirtschaft, Universität
 Duisburg-Essen: Prof.       mit Risikodiagnostik und prophy-          durch die Verarbeitung großer Daten-      che Datenmengen zum Beispiel aus
    Dr. rer. pol. Wasem      laktischer Mastektomie in die Me-         mengen versuchen, die Entstehung          dem Deutschen Konsortium Fami-
Fachbereich Theologie,       dien getragen und damit zu einer er-      komplexer Krankheiten aufzuklären         liärer Brust- und Eierstockkrebs
  Friedrich-Alexander-       heblich gewachsenen Aufmerksam-           und daraus besonders präzise Präven-      sowie einschlägige Erfahrungen
  Universität Erlangen-      keit für das Thema des hereditären        tions- und Therapieoptionen abzulei-      in der Risikokommunikation und
    Nürnberg: Prof. Dr.
        theol. Dabrock       Mammakarzinoms und zu einer im-           ten (11). Insbesondere im Falle einer     -beratung zur Verfügung (16–19).

A 910                                                                                                      Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 20 | 15. Mai 2015
Vom Umgang mit dem Krankheitsrisiko - Deutsches Ärzteblatt
THEMEN DER ZEIT

Schließlich steht diese spezielle                    Brustkrebs verursachen (und somit              Mit einer auf genetischen Daten
Krebsform in einer Gemengelage                       derzeit [noch] keine klinische Be-          basierenden Risikoprädiktion werden
von kontroversen Debatten, Me-                       deutung haben), dass sie im Rahmen          Ärzte und Betroffene vor die Ent-
dienpräsenz und neuen wissenschaft-                  eines oligo- oder polygenen Erb-            scheidung über präventive Maßnah-
lichen Forschungsansätzen derzeit                    gangs miteinander interagieren und          men gestellt. Dabei stellt die pro-
besonders im öffentlichen Fokus,                     so ebenfalls eine klinisch relevante        phylaktische Mastektomie (pMTX)
nicht zuletzt auch durch die gestei-                 Risikoerhöhung verursachen.                 die radikalste präventivmedizinische
gerte Nachfrage nach präventiven                        Diese Erkenntnisse sind mit neuen        Antwort dar, mit der sich Mutations-
Maßnahmen bis hin zu maximal in-                     Herausforderungen verbunden. Die            trägerinnen aufgrund der medialen
vasiven Strategien.                                  starke genetische Heterogenität, ein-       Präsenz unweigerlich auseinander-
   Vor diesem Hintergrund unter-                     hergehend mit einem breiten Phäno-          setzen. Die komplette pMTX führt zu
sucht die vorliegende Studie, welche                 typ- und Penetranzspektrum, erfordert       einer Risikoreduktion auf circa zwei
Herausforderungen sich durch die                     mehr denn je große Kohortenstudien          Prozent. Über längerfristige Folgen
skizzierten Tendenzen in der Brust-                  mit der Etablierung eines Krankheits-       und Nebenwirkungen, insbesondere
krebsvorsorge für die medizinische                   registers; dies erfasst genetische und      die Abhängigkeit der Risikoredukti-
Praxis und das Gesundheitswesen                      phänotypische Daten, um das für die         on von einem mittlerweile breiten
ergeben und wie die unterschiedli-                   klinische Entscheidungsfindung be-          Spektrum an Operationsverfahren, ist
chen Entwicklungen aus medizi-                       züglich geeigneter präventiver Maß-         bisher jedoch wenig bekannt.
nischer, psychosozialer, ethischer,                  nahmen (sowie spezifischer Therapie-
rechtlicher und gesundheitsökono-                    optionen) relevante Erscheinungsbild        Psychosoziale Aspekte
mischer Perspektive integriert wer-                  der einzelnen, genetisch definierten        Angesichts der dramatisch steigen-
den können.                                          Subtypen in den Blick zu bekommen           den Zahl prophylaktischer Brustope-
                                                     und sekundäre sowie tertiäre Präven-        rationen in den letzten Jahren (21),
Risikogene und -prädiktion                           tionsmaßnahmen möglichst in pro-            einhergehend mit einer zunehmen-
Zwei Jahrzehnte nach der Entde-                      spektiv randomisierten Studien zu           den Anzahl an Risikoprädiktoren mit
ckung der BRCA1/2-Gene, die nur                      überprüfen (20). Darüber hinaus wer-        sehr unterschiedlichem Risikoprofil,
für rund 30 Prozent der Fälle von                    den diese Daten zur Entwicklung ei-         ist es neben der Generierung evi-
erblichem Brustkrebs verantwortlich                  nes Algorithmus zur Kalkulation ei-         denzbasierter Daten auch angezeigt,
sind, ermöglichen jüngste technische                 nes multifaktoriellen Risikoscores          die pMTX in Bezug auf psychoso-
Fortschritte auf dem Gebiet der ge-                  benötigt; dieser ermöglicht letztend-       ziale Faktoren im Entscheidungspro-
nomweiten high-throughput-Analy-                     lich eine individualisierte oder zu-        zess zu untersuchen. Von 39 Studien
sen nun die Identifikation und Vali-                 mindest stratifizierte Risikoprädikti-      zur prophylaktischen Mastektomie
dierung neuer Risikogene und deren                   on auf einer kontinuierlichen Risiko-       beschäftigten sich allerdings nur
Implementierung über sogenannte                      skala und stellt somit die Basis für die    zwölf mit psychosozialen Aspekten,
Genpanelanalysen in die klinische                    Entwicklung gezielter diagnostischer,       wobei ein direkter Vergleich zwi-
Praxis. Hierbei war die Entdeckung                   präventiver und therapeutischer Stra-       schen Frauen, die sich für die Früh-
des moderaten Risikogens RAD51C                      tegien dar. Diese Untersuchungen            erkennung oder die pMTX entschie-
ein „proof of concept“ für die Exis-                 werden derzeit in internationaler Zu-       den, oftmals ausblieb (22).
tenz weiterer moderater Risikogene                   sammenarbeit und aktueller Förde-               Frauen, die sich für eine pMTX
(13), die jedoch deutlich seltener                   rung unter führender Mitarbeit des          entscheiden, scheinen ängstlicher zu
mutiert sind. Zudem vermutet man                     Deutschen Konsortiums für Familiä-          sein und gehen eher davon aus, dass
für die vielen bereits identifizierten               ren Brust- und Eierstockkrebs im            eine Brustkrebserkrankung unver-
Niedrigrisiko-Varianten, die einzeln                 Rahmen des EU-Förderprogramms               meidlich ist (23). Die Operation
nur eine geringe Risikoerhöhung für                  Horizon 2020 vorangetrieben.                scheint einerseits Ängste zu reduzie-
                                                                                                 ren (24, 25), andererseits treten im
                                                                                                 Mittel 4,5 Jahre nach der Operation
   FÜNF KERNAUSSAGEN                                                                             behandlungsrelevante psychische Be-
                                                                                                 lastungssymptome auf (26). Eigene
  ● Die Vorsorge beim erblichen Brust-                    chen Krankenversicherung und löst      bislang unveröffentlichte Daten erga-
      krebs entwickelt sich durch die im-                 rechtlichen Regulierungsbedarf aus.    ben, dass rund ein Viertel der Mu-
      mer genauere Stratifizierung von Er-           ●    Die in der Brustkrebsvorsorge ent-     tationsträgerinnen einen auffälligen
      krankungsrisiken zur Systemmedizin.                 stehenden ökonomischen Unsicher-       und klinisch relevanten Angstwert
  ●   Die klinische Praxis muss der ambi-                 heiten erfordern eine Modellierung     (HADS-A > 10) aufweist. Dabei
      valenten Entscheidungssituation und                 der budgetären Auswirkungen.           scheint ein signifikanter Zusammen-
      der Gefahr voreiliger drastischer              ●    Die Behandlung genetischer Krank-      hang zwischen der Entscheidung für
      Maßnahmen Rechnung tragen.                          heitsrisiken macht eine grundle-       eine prophylaktische Mastektomie
  ●   Die Ausrichtung an Krankheitsrisi-                  gende Erweiterung der ebenfalls        und einem erhöhten Angstwert zu be-
      ken kollidiert mit der Ausrichtung                  am Krankheitsfall orientierten Prio-   stehen. Für eine langfristig tragfähige
      am Krankheitsfall in der gesetzli-                  risierungsdiskussion notwendig.        Entscheidung, die nicht allein von
                                                                                                 Angst und übereiltem Aktionismus

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 20 | 15. Mai 2015                                                                                    A 911
THEMEN DER ZEIT

geleitet ist, sollten daher neben der                                                                               le – wie zum Beispiel dasjenige der
Risikosituation alle wichtigen Aspek-                                                                               Bundesärztekammer (32) – an diag-
te der persönlichen und familiären Si-                                                                              nostizierten Krankheiten, die krite-
tuation einbezogen werden (27).                                                                                     riengeleitet in verschiedene Schwere-
   Um dieser komplexen und indivi-                                                                                  grade unterteilt werden. Wie die neu-
duellen Risikoperzeption nach gene-                                                                                 en Entwicklungen in Diagnostik und
tischer Testung Rechnung zu tragen,                                                                                 Prävention in solche Konzepte inte-
wurde in eigener Forschung ein                                                                                      griert werden können, ist eine der an-
interdisziplinäres Beratungskonzept                                                                                 stehenden Herausforderungen.
entwickelt. Neben der Risikokalku-                                                                                     Die Integration der Behandlung
lation für Brust- und Eierstockkrebs                                                                                genetischer Krankheitsrisiken in das
in einem überschaubaren Zeitraum,                                                                                   gesundheitssystem ist auch aus recht-
zum Beispiel in den nächsten fünf                                                                                   licher Perspektive von tief greifenden
und zehn Lebensjahren, sowie deren                                                                                  Spannungen begleitet. Die Gesetzli-
verständlicher Kommunikation in                                                                                     che Krankenversicherung ist in ih-
Form von absoluten Risiken, erhal-                                                                                  rem Kern auf den Leistungsfall der
ten betroffene Frauen auf Basis eines                                                                               Krankheit ausgerichtet. Probleme
nichtdirektiven Beratungsansatzes                                                                                   treten daher auf, wenn die Betroffe-
umfassende Unterstützung mit dem                                                                                    nen nach dem üblichen Verständnis
Fokus auf Ressourcenstärkung und                                                                                    noch nicht erkrankt sind, sondern nur
Entwicklung der Entscheidungs-                                                                                      ein Krankheitsrisiko tragen.
kompetenz. Oftmals sind nur wenige                                                                                     So herrscht gerade mit Blick
Gespräche notwendig, die die kon-                                                                                   auf das hereditäre Mammakarzinom

                                                                                                        Foto: dpa
kreten Anliegen und Ängste der Rat-                                                                                 große Rechtsunsicherheit, ob, inwie-
suchenden aufgreifen. Weitere Un-                                                                                   weit und auf welcher Rechtsgrund-
tersuchungen müssen klären, ob die-      sen im Bereich moderater Erkran-          Die Zunahme an                   lage die Krankenkassen berechtigt
ses klinische Konzept auch bei ei-       kungswahrscheinlichkeiten bewegen,        Risikoprädiktionen               oder verpflichtet sind, genetische
ner systemmedizinischen Ausweitung       desto weniger legen sie in Verbin-        im weiten Spektrum               Tests, intensivierte Früherkennungs-
der Risikoprädiktion zu tragfähigen      dung mit dem Ziel der Krankheitsbe-       moderater bis ho-                maßnahmen und präventive Maß-
                                                                                   her Erkrankungs-
Entscheidungen führen und wie die        kämpfung bestimmte medizinische                                            nahmen, wie beispielsweise eine
                                                                                   wahrscheinlichkei-
individuelle Risikoperzeption in ein     Maßnahmen nahe.                           ten birgt auch die
                                                                                                                    pMTX und einen nachfolgenden
Gesamtkonzept zur risikoadaptierten         Diese Uneindeutigkeit macht den        Gefahr voreiliger                Brustaufbau, vor Ausbruch der Er-
Prävention eingebettet werden kann.      Entscheidungsprozess anfällig für         Entscheidungen für               krankung zu finanzieren. Es ist un-
                                         Beeinflussungen und Verkürzungen,         invasive Maßnah-                 klar, ob die genannten Maßnahmen
Ethische Herausforderungen               wie etwa die Einebnung der Dif-           men wie die pMTX.                eindeutig einer Rechtsgrundlage zu-
Die klinische Praxis der Prävention      ferenz von Krankheitsrisiko und                                            geordnet werden können (33).
bei erblichem Brustkrebs ist von ethi-   Krankheit (30). Um dieser Gefahr zu
schen Spannungen durchzogen: Die         begegnen, gilt es, die oben in An-                                         Risiko gleich Krankheit?
Feststellung genetischer Krankheits-     spruch genommene Unterscheidung                                            § 27 SGB V, der den Anspruch auf
risiken kann die Betroffene der Ge-      zwischen voreiligen und tragfähigen                                        Krankenbehandlung regelt, käme
fahr der Stigmatisierung und Diskri-     Entscheidungen in ethischer Per-                                           dafür nur in Betracht, wenn man das
minierung aussetzen (28) und in fa-      spektive auszuarbeiten. Will man da-                                       (hohe) Risiko, an einer Krankheit zu
miliäre Verhältnisse hineinwirken,       bei die Patientenautonomie nicht un-                                       erkranken, auch unter den Krank-
indem sie Fragen nach den Rechten        terlaufen, sind weniger die Inhalte als                                    heitsbegriff subsumieren könnte
und Pflichten im kommunikativen          vielmehr die Beschaffenheit und die                                        (34). Lehnt man eine Subsumtion
Umgang mit dem genetischen Wis-          Voraussetzungen einer gelingenden                                          unter den Krankheitsbegriff ab, stellt
sen, das immer auch andere betrifft,     Entscheidungsfindung zu erforschen,                                        sich die Frage, ob die prophylakti-
aufwirft (29). Schließlich bringt eine   also beispielsweise die Vermittlung                                        sche Mastektomie mit anschließen-
genetische Risikoprädiktion auch im      der Risikodiagnose und die Kompe-                                          dem Brustaufbau als Vorsorgemaß-
Rahmen der Entscheidung über die         tenzen zu ihrer Verarbeitung (31).                                         nahme nach § 23 I Nr. 3 SGB V qua-
weiteren präventiven Maßnahmen              Die Aufgabe, Risikowerte und                                            lifiziert werden könnte. Erforderlich
ethische Herausforderungen mit sich.     präventive Maßnahmen in ein Ver-                                           dafür wäre allerdings die Notwen-
    So verschwimmt in der präventi-      hältnis zu setzen, stellt sich auch auf                                    digkeit der medizinischen Interventi-
ven Medizin die Krankheit als Ori-       der gesellschaftlichen Ebene der soli-                                     on (35). Diese Notwendigkeit könn-
entierungspunkt bei der Entschei-        darisch finanzierten Gesundheitsver-                                       te zum Beispiel nach der prozentua-
dung über die weitere Behandlung,        sorgung. Denn die neuen Möglich-                                           len Wahrscheinlichkeit des Risikos
und dieser Mangel erfährt in der         keiten der Prävention ziehen Res-                                          bewertet werden. Aufgrund der sys-
systemmedizinischen Wendung der          sourcen aus den kurativen medizini-                                        temmedizinischen Tendenz zur Aus-
Brustkrebsvorsorge eine weitere Zu-      schen Handlungsfeldern ab. Bislang                                         differenzierung eines Risikokontinu-
spitzung: Je mehr sich Risikodiagno-     orientieren sich Priorisierungsmodel-                                      ums wird es dabei zur Festsetzung

A 912                                                                                              Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 20 | 15. Mai 2015
THEMEN DER ZEIT

genauer Schwellenwerte kommen                           wesen führt die Unkenntnis der bud-                                       warten. Die mit dieser Entwicklung
müssen, die exakt angeben, wann ei-                     getären Auswirkungen einer neuen                                          einhergehende Zunahme an Risiko-
ne Wahrscheinlichkeit die Notwen-                       Technologie oder Versorgungsstrate-                                       prädiktionen im breiten Spektrum
digkeit einer medizinischen Maß-                        gie zu Unsicherheit und einem eher                                        moderater bis hoher Erkrankungs-
nahme rechtfertigt. Eine hierfür not-                   zurückhaltenden Verhalten der Kos-                                        wahrscheinlichkeiten birgt einerseits
wendige untergesetzliche Konkreti-                      tenträger gegenüber dem Einsatz                                           die Gefahr voreiliger Entscheidungen
sierung besteht jedoch bislang nicht.                   neuer Technologien und der Kosten-                                        für invasive Maßnahmen wie die
                                                        übernahme für diese (36).                                                 pMTX. Andererseits spitzt sie das
Zunehmende Nachfrage                                       Daher sollten mittels eines mathe-                                     Problem weiter zu, dass sich aus ge-
Zurzeit existieren lediglich integrier-                 matischen Modells in Anlehnung an                                         netischen Risikoprädiktionen im Un-
te Verträge, die einen Anspruch auf                     die Methodik der Budget-Impact-                                           terschied zu Krankheitsdiagnosen we-
spezifische Beratung, Gendiagnostik                     Analyse (37, 36) die budgetären                                           niger eindeutig und weniger unmittel-
und intensivierte Früherkennung re-                     Auswirkungen primärpräventiver                                            bar Folgerungen für das Ziel der
geln. Für die prophylaktische Mast-                     Maßnahmen im Vergleich zu einer                                           Krankheitsbekämpfung ziehen las-
ektomie mit anschließendem Brust-                       intensivierten Früherkennung und                                          sen; umso dringlicher wird somit die
aufbau erfolgen darüber hinaus bis-                     der bislang üblichen Früherken-                                           Frage nach einer angemessenen Kon-
lang nur Einzelfallentscheidungen.                      nungsstrategie (usual care) für die                                       zeption von verantwortungsvoller
Bei Patientinnen, deren Krankenkas-                     gesetzliche Krankenversicherung er-                                       Entscheidungsfindung im Kontext
sen den integrierten Verträgen nicht                    mittelt werden. Zunächst müssen                                           der biomarkerbasierten präventiven
beigetreten sind, gilt das für alle                     dazu die relevanten Verfahren und                                         Medizin.
Maßnahmen. Um diese Rechtslü-                           Maßnahmen auch mit Blick auf die                                             Eine Integration dieser schon in
cken und Rechtsunsicherheiten zu                        entstehenden maßgeschneiderten,                                           sich zunehmend spannungsreichen
beheben, ist es angezeigt, ein Regu-                    systemmedizinischen Präventions-                                          medizinischen Praxis in das solida-
lierungsmodell zu entwickeln. Darü-                     strategien identifiziert werden.                                          risch finanzierte Gesundheitssystem
                                                                                                                                  zieht wegen ihres präventiven Cha-
                                                                                                                                  rakters rechtliche Unsicherheiten
Die neuen Möglichkeiten der Prävention ziehen Ressourcen aus                                                                      nach sich; denn in der gesetzlichen
den kurativen medizinischen Handlungsfeldern ab.                                                                                  Krankenversicherung berechtigen
                                                                                                                                  Krankheiten und nicht Krankheitsri-
ber hinaus stellt sich dieses Problem                      In Bezug auf die Inanspruchnah-                                        siken zu Leistungsansprüchen. Zu-
ebenso in parallelen (privates Versi-                   me der verschiedenen Strategien                                           dem ergeben sich ökonomische Un-
cherungsrecht, Recht der Beamten-                       sind dabei auch der zunehmend                                             sicherheiten, da finanzielle Ressour-
beihilfe) und benachbarten Rechts-                      aufkommende Einfluss und die                                              cen beansprucht werden, zugleich
gebieten (Recht der Gendiagnostik),                     Inanspruchnahme der genetischen                                           aber auch die Einsparung späte-
sodass diese ebenfalls betrachtet                       Risikodiagnostik auf die Verände-                                         rer Behandlungskosten möglich er-
werden müssen.                                          rung des Budgets zu berücksichti-                                         scheint.
   Die zunehmende Nachfrage in                          gen. Auf dieser Basis können zu-                                             Die systemmedizinische Ent-
der Bevölkerung nach Gendiagnostik                      dem die Kosten pro Patientin in                                           wicklung verstärkt die Herausforde-
führt zu komplexen Auswirkungen                         Abhängigkeit von den verschiede-                                          rungen, die durch die Nutzung der
auf das Budget der gesetzlichen                         nen Strategien ermittelt werden.                                          genetischen Diagnostik in der Brust-
Krankenversicherung (GKV). Bezo-                        Diese gesundheitsökonomischen Er-                                         krebsprävention entstanden sind.
gen auf das Beispiel der genetischen                    kenntnisse lassen sich schließlich                                        Um diesen zu begegnen, muss einer-
Testung auf das Risiko für ein heredi-                  für die Entwicklung eines Priori-                                         seits der im Rahmen der solidari-
täres Mammakarzinom entstehen da-                       sierungsmodells für komplexe Er-                                          schen Gesundheitsversorgung zu er-
mit einerseits Kosten für genetische                    krankungen im Bereich der Sys-                                            öffnende Handlungsspielraum bei
Beratung und Testung, aber auch                         temmedizin verwenden.                                                     erblichen Krankheitsrisiken genauer
nicht absehbare Folgekosten für eine                                                                                              bestimmt und andererseits in der kli-
intensivierte Früherkennung und pro-                    Künftige Herausforderungen                                                nischen Umsetzung seine verant-
phylaktische Operationen. Gleichzei-                    Durch technische Fortschritte bei der                                     wortungsvolle Inanspruchnahme ge-
tig ergeben sich mögliche budgetäre                     genetischen Hochdurchsatz-Sequen-                                         sichert werden.                    ▄
Verschiebungen durch eine zeitlich                      zierung und neue Erkenntnisse zur
                                                                                                                                  █
vorverlagerte Brustkrebsdiagnose be-                    polygenen Transmission von Erkran-                                            Zitierweise dieses Beitrags:
                                                                                                                                      Dtsch Arztbl 2015; 112 (20): A 910–3
ziehungsweise ein Absenken der                          kungsrisiken ist eine immer genauere
Brustkrebsinzidenz durch prophylak-                     Risikostratifizierung und damit ein                                       Anschrift für die Verfasser
tische Operationen. In einer Situation                  Schritt hin zur Systemmedizin im                                          Prof. Dr. med. Rita Schmutzler, Zentrum Familiärer
                                                                                                                                  Brust- und Eierstockkrebs, Universitätsklinikum
knapper Ressourcen im Gesundheits-                      Feld der Brustkrebsvorsorge zu er-                                        Köln, Kerpener Straße 34, 50931 Köln
                                                                                                                                  rita.schmutzler@uk-koeln.de
Diese Arbeit wird unterstützt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Verbundprojektes SYSKON
(FKZ01GP1407 A-D), durch das Bundesministerium für Gesundheit im Rahmen des Verbundprojektes MoreRisk des Förderpro-
gramms „Forschung im Nationalen Krebsplan“ sowie durch die Deutsche Krebshilfe (Fördernummer 110837).
Die Autoren danken allen in den Verbünden, die zu den Diskussionen im Vorfeld der Erstellung dieses Artikels beigetragen haben.
                                                                                                                                  @        Literatur im Internet:
                                                                                                                                           www.aerzteblatt.de/lit2015
                                                                                                                                           oder über QR-Code.

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 20 | 15. Mai 2015                                                                                                                       A 913
THEMEN DER ZEIT

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 20/2015, ZU:

3*4*,013­%*,5*0/

7PN6NHBOHNJUEFN,SBOLIFJUTSJTJLP
Das Beispiel Brustkrebs zeigt, wie dringend notwendig die Entwicklung einer verantwortungsvollen
Entscheidungsfindung im Kontext der biomarkerbasierten präventiven Medizin ist.

Rita Schmutzler, Stefan Huster, Jürgen Wasem, Peter Dabrock

LITERATUR                                         12. Mavaddat N, Peock S, Frost D, et al.: Can-     21. Kurian AW, Lichtensztajn DY, Keegan THM,
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 6. Biller-Andorno N, Jüni P: Abolishing mam-                                                            BRCA2: emotional impact of the test out-
    mography screening programs? A view               Schmutzler RK: Familiäres Mamma- und
                                                      Ovarialkarzinom: Neue Gene, neue Thera-            come and decisions on risk management.
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    The Angelina Jolie effect: how high cele-     18. Jbiloua J, Halilem N, Blouin-Bougie J,
                                                      Amara N, Landry R, Simard J: Medical ge-           Psychosocial functioning in women who
    brity profile can have a major impact on                                                             have undergone bilateral prophylactic
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THEMEN DER ZEIT

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36. Schöffski O, Schulenburg J M Graf v. d.
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Deutsches Ärzteblatt | Jg. 112 | Heft 20 | 15. Mai 2015                A6
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