Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern - Nils Jochum
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Nils Jochum Eckert.Beiträge 1 2022 Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern
Eckert. Beiträge 1 (2022) Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern Diese Publikation wurde veröffentlicht unter der creative-commons-Lizenz: Attribution 3.0 Germany (CC BY 3.0) https://creativecommons.org/licenses/ by/3.0/.
Eckert. Beiträge Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut ISSN 2191-0790 Volume 1 (2022) Redaktion Wibke Westermeyer Zitierhinweis: Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern. Eckert. Beiträge 1 (2022). urn:nbn:de:0220-2022-0013
Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................................................................................................... 1 Geschichtsschulbücher in Italien ........................................................................................................... 4 Die Erzählmuster zur Campagna di Russia sowie zur Campagna e Occupazione di Jugoslavia............ 9 Omertà............................................................................................................................................. 10 Die verschwiegene „Tragödie am Don“ ....................................................................................... 10 Die Occupazione di Jugoslavia als blinder Fleck .......................................................................... 12 Ignoranza ......................................................................................................................................... 14 Die „Ideologisierung“ der deutschen Kriegsführung ................................................................... 15 Die Campagna di Russia als Teil des deutschen Vernichtungskriegs? ......................................... 20 (K)ein faschistischer „Lebensraum“ auf dem Balkan ................................................................... 22 Vittimismo ....................................................................................................................................... 23 Die späte „Entdeckung“ der „Tragödie am Don“......................................................................... 25 Vom Verlust Triests zu den Foibe – die Priorisierung des italienischen Leids auf dem Balkan .... 29 Brutta storia..................................................................................................................................... 37 Fazit ..................................................................................................................................................... 39 Untersuchte Geschichtsschulbücher ................................................................................................... 42 Literaturverzeichnis ............................................................................................................................. 44
1 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern Einleitung Die Deutschen verursachten den Ersten Weltkrieg. Die Deutschen verursachten den Zweiten Welt- krieg. Die Deutschen ermordeten sechs Millionen Juden in den Gaskammern. Und noch immer haben die Deutschen heute diese erbarmungslose Arroganz. […] Gott sei Dank bin ich Italiener! Ja, wir mö- gen Faulenzer sein, auch Mafiosi – wie die Deutschen sagen – aber wir sind empathisch, menschlich. Also danke, danke, dass ich Italiener und nicht Deutscher bin. 1 Tullio Solenghi spuckt diese Sätze am 28. März 2020 auf Twitter förmlich aus. Das dreiminütige Video wird von den italienischen Medien geteilt und sogar in der „Tages- schau“ aufgegriffen. 2 Es ist die Antwort des italienischen Komikers und Theaterschau- spielers auf die ablehnende Haltung der Bundesregierung zu den vor allem von Italien geforderten „Corona-Bonds“. Auf den ersten Blick ist es nichts Besonderes, dass „die Deutschen“ bei grenzüberschreitenden Meinungsverschiedenheiten mit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert werden. Auf den zweiten Blick sind diese Äußerungen das pro- minenteste Beispiel für das stereotype „Doppelportrait“ des bösen Deutschen (cattivo tedesco) und guten Italieners (bravo italiano bzw. im Plural brava gente, d. h. gute Leu- te) in der jüngsten Zeit. Dieses Doppelportrait dient zur Abgrenzung nach „außen“ gegenüber den Deutschen und zur nationalen Selbstvergewisserung nach „innen“. Der Historiker Filippo Focardi hat sein Entstehen im Kontext des Seitenwechsels des faschistischen Achsenpartners Italien zu den Angloamerikanern mit dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 her- ausgearbeitet. 3 Bis zu diesem Zeitpunkt lagen die Orte der militärischen Kooperation der deutsch-italienischen „Achse“ in Europa allen voran auf dem Balkan und in der Sowjetunion. Italien war nach seiner Teilnahme an der Campagna dei Balcani (dt. Bal- kanfeldzug) im April 1941 fast zweieinhalb Jahre mit 600.000 Soldaten als Besat- zungsmacht auf dem Balkan präsent. 4 Kurz darauf begann Italien im Juni 1941 die an- 1 „I tedeschi hanno provocato la prima guerra mondiale. I tedeschi hanno provocato la seconda guerra mondiale. I tedeschi hanno sterminato sei milioni di ebrei nelle camere a gas. E i tedeschi ancora oggi hanno questa loro arroganza, spietata. […] Mille grazie a dio che sono italiano. Si, saremmo cialtroni, anche mafiosi – come dicono i tedeschi – ma siamo empatici, umani. Quindi grazie, grazie di essere ita- liani e non tedeschi.”, Corriere della Sera. „Eurobond, lo sfogo di Solenghi ‚Orgogliosi di essere italani e non tedeschi‘“, https://www.youtube.com/watch?v=cY5xrRigzoI, zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020. Alle Übersetzung aus dem Italienischen im Text stammen vom Verfasser. 2 Jörg Seisselberg, „‚Immernoch gnadenlos arrogant!‘. Anti-Deutschen-Stimmung in Italien“, in: Tages- schau.de vom 02.04.2020, https://www.tagesschau.de/ausland/anti-deutschen-simmung-italien-101.html, zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020. 3 Filippo Focardi, Falsche Freunde? Italiens Geschichtspolitik und die Frage der Mitschuld am Zweiten Weltkrieg, Paderborn: Schöningh, 2015. 4 Ebd., 189. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
2 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern derthalbjährige Campagna di Russia, bei der zunächst ein italienisches Expeditions- korps, das Corpo di spedizione italiano in Russia (CSIR) mit 62.000 Männern unter Waffen, ab Mitte 1942 dann die 8. Armee, die sogenannte Armata italiana in Russia (ARMIR), mit 230.000 Soldaten an der Ostfront auf Seiten der Deutschen kämpften. 5 Diese gemeinsamen Angriffskriege wurden nach dem Seitenwechsel 1943 und unter dem „antifaschistische[n] Paradigma“ 6 der Ersten Republik von 1946 bis 1994 durch den Filter der cattivi tedeschi und bravi italiani zu einem exkulpierenden und viktimi- sierenden Erinnerungsnarrativ verzerrt, das die Thematisierung der eigenen Verantwor- tung, Freiwilligkeit und Verbrechen an der Seite der Deutschen bis in die jüngste Ver- gangenheit Italiens verhinderte. 7 Auch im revisionistischen Geschichtsdiskurs der Ber- lusconi-Jahre wurde auf das Narrativ der brava gente immer wieder zurückgegriffen. 8 Parallel dazu hatte die internationale und italienische Forschung jedoch begonnen, zu- nächst die Occupazione di Jugoslavia und schließlich auch „[d]ie Italiener an der Ost- front“ 9 kritisch in den Blick zu nehmen. Ihr Fokus lag bislang auf den tatsächlichen Abläufen an der Ostfront 10 und auf dem Balkan 11, der Instrumentalisierung der Ereig- nisse durch Memorialliteratur 12 und Erinnerungspolitik 13 sowie der Dekonstruktion des Doppelporträts der cattivi tedeschi und bravi italiani. 14 Vor dem Hintergrund dieser 5 Thomas Schlemmer, „Das königlich-italienische Heer im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Kriegsführung und Besatzungspraxis einer vergessenen Armee 1941-1943“, in: Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Sven Reichardt und Armin Nolzen (Hg.), Göttingen: Wallstein, 2005, 148–175; Thomas Schlemmer (Hg.), Die Italiener an der Ostfront 1942/43. Dokumente zu Mussolinis Krieg gegen die Sowjetunion, München: De Gruyter Oldenbourg, 2005. 6 Luigi Cajani, „Italien und der Zweite Weltkrieg in den Schulgeschichtsbüchern“, in: Erinnerungskultu- ren. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer und Wolfgang Schwentker (Hg.), 2. Auflage, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004, 269–284, 279. 7 Focardi, Falsche Freunde?, 234. 8 Aram Mattioli, „Viva Mussolini!”. Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconi, Paderborn: Schöningh, 2010, 148. 9 Schlemmer (Hg.), Die Italiener an der Ostfront. 10 ebd.; Bastian Matteo Scianna, The Italian War on the Eastern Front, 1941-1943. Operations, Myths and Memories, Cham, CH: Palgrave Macmillan, 2019, 19–31. 11 Davide Rodogno, Fascism`s European Empire. Italian Occupation during the Second World War, Cambridge: Cambridge University Press, 2006; Karlo Ruzicic-Kessler, Italiener auf dem Balkan. Be- satzungspolitik in Jugoslawien 1941-1943, Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2017. 12 Giulio Vezzosi, La memorialistica sulla campagna di Russia dal dopoguerra ad oggi, Pisa: Masterar- beit, 2014. 13 Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer und Wolfgang Schwentker (Hg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, 2. Auflage, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004; Kerstin von Lingen, „‚Resistenza-Mythos‘ und die Legende vom ‚Sauberen Krieg an der Südfront‘. Konstruktion von Kriegserinnerung in Italien und Deutsch-land 1945-2005“, in: „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Bernd Faulenbach und Franz-Josef Jelich (Hg.), Essen: Klar- text, 2006, 329–363. 14 Focardi, Falsche Freunde?. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
3 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern Publikationsexplosion kann leicht der Eindruck entstehen, dass die wirkmächtige Erzäh- lung der brava gente in den letzten zwei Jahrzehnten „zerforscht“ und durch die brutta storia, die hässliche Geschichte der criminal gente 15 ersetzt worden wäre. Für Tullio Solenghi ist die Erzählung der brava gente jedoch noch immer gültig, ihre rhetorische Kraft zumindest ungebrochen. Dieser Gegensatz wirft die Frage nach der Weitergabe der Erzählung seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart auf. Als das Vermittlungsmedium gesell- schaftlich bedeutsamer Narrative hat das Schulbuch in der Brava-gente-Forschung bis- lang aber erstaunlich wenig Beachtung gefunden. 16 Das Schulbuch steht in einem Span- nungsfeld. Es soll fachwissenschaftlich korrekt sein und ist zugleich marktwirtschaftli- chen Zwängen und politischen Logiken unterworfen. 17 Es soll Schülerinnen und Schü- ler das politisch-moralische Koordinatensystem des Staates lehren, dessen Bürgerinnen und Bürger von Morgen sie ist. Das Schulbuch ist daher immer Kind seiner Zeit und ihrer Diskurse. Aus diskursanalytischer Perspektive werden Schulbücher als kanonisier- tes (Eliten-)Wissen betrachtet, das „Sagbarkeitsregime“ produziert. 18 Dies soll hier je- doch nicht davon abhalten, auch die individuelle agency der unterschiedlichen Akteure des Schulbuchwesens, allen voran der Autorinnen und Autoren und Verlage, in den Blick zu nehmen. Auf eine A-priori-Zuordnung der Schulbücher in Claudio Fogus un- terschiedliche Phasen der italienischen Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg wird verzichtet. 19 Fogus Einteilung basiert auf den wechselnden Regierungskoalitionen der ersten Republik sowie der unterschiedlichen Auseinandersetzung mit dem Faschismus in literarischen und filmischen Produktionen. Hier wird davon ausgegangen, dass die 15 Scianna, The Italian War on the Eastern Front, 30. 16 Vgl. Luigi Cajani, „Die Ostgrenze Italiens im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte zwischen Politik und Schule“, in: Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungs- kultur in Europa, Patrick Ostermann, Claudia Müller und Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Bielefeld: transcript, 2012, 153–170, für die ergänzte italienische Fassung siehe ders., „La storia del confine italo- jugoslavo a scuola“, in: Italia Contemporanea 273 (2013), 576–607; Isabelle Bosch, „Bravo italiano e cattivo tedesco?: Darstellung der nationalsozialistischen und faschistischen Diktaturen in italienischen Schulgeschichtsbüchern“, in: Eckert. Beiträge 2 (2016). 17 Charlotte Bühl-Gramer, „Rahmenbedingungen der Schulbuchproduktion in Italien“, in: Geschichtsdi- daktische Schulbuchforschung, Saskia Handro und Bernd Schönemann (Hg.), Berlin: LIT, 2006, 283– 295, 287–288. 18 Für eine Zusammenfassung der diskursanalytischen Perspektive auf Schulbücher siehe Eva Müller, Ikonisches Wissen. Deutsche Geschichte in italienischen Schulbüchern und das staatliche Bildungswesen im 20. Jahrhundert, Baden-Baden: Nomos, 2020, 42–46. 19 Claudio Fogu, „Italiani brava gente. The Legacy of Fascist Historical Culture on Italian Politics of Me- mory“, in: The Politics of Memory in Postwar Europe, Richard Ned Lebow, Wulf Kansteiner und Claudio Fogu (Hg.), Durham und London: Duke University Press, 2006, 147–176, 150f. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
4 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern Schulbücher von diesen Kontexten durchaus beeinflusst sind – weshalb auch immer exemplarisch auf sie Bezug genommen wird – jedoch eine eigene „Erinnerungskonjunk- tur“ entwickelt haben. Die Campagna di Russia und die Occupazione di Jugoslavia boten in Italien durch ihre unmittelbare Verknüpfung mit dem Nationalsozialismus immer Sprengkraft und bieten sie bis heute. Die italienische Memorialliteratur schreibt laut Schlemmer über die Campagna di Russia daher mithilfe von vier Interpretationsmustern: vittimismo (Vikti- misierung), ignoranza (Unwissenheit), eroismo (Heldentum) und Italiani – brava gen- te. 20 Diese Interpretationsmuster werden auch in italienischen Filmen über den Zweiten Weltkrieg immer wieder reproduziert. 21 Vorliegend werden diese Interpretationsmuster durch das komplette Verschweigen (omertà) und das kritische Verantworten der brutta storia ergänzt. 22 Die Darstellungen der Campagna di Russia und der Occupazione di Jugoslavia in den Schulbüchern werden auf diese Erzählmuster hin untersucht. Damit soll eine neue Perspektive auf die italienische Erinnerungsdynamik seit Ende des Zwei- ten Weltkrieges eröffnet werden – ein Erkenntnisinteresse, das in die Frage gefasst wer- den kann: Von brava gente zu brutta storia? Geschichtsschulbücher in Italien Geschichtsschulbücher erzählen Geschichte(n). Sie wählen Themen und Quellen aus, reduzieren ihre Komplexität und präsentieren sie in zusammenhängender Weise als Version der Geschichte. 23 Hierbei handelte es sich stets lediglich um eine Version, näm- lich die des betreffenden Autors und Verlages. Der vorliegenden Arbeit liegt ein Korpus von 25 Geschichtsschulbüchern aus dem letzten Jahr der italienischen Oberstufe zu- grunde. Ihr Erscheinungszeitraum reicht von 1954 bis 2017, wobei 13 in der Ersten Re- 20 Thomas Schlemmer, „La ‚memoria mutilata‘. Krieg und Faschismus im Gedächtnis Italiens nach 1945“, in: Besatzung, Widerstand und Erinnerung in Italien, 1943-1945, Bernd Heidenreich, Marzia Gigli und Sönke Neitzel (Hg.), Wiesbaden: Hessische Landeszentrale für politische Bildung, 2010, 127– 143, 135. 21 Mattioli, „Viva Mussolini!“, 60–64. 22 Omertà ist frei übersetzbar als „Gesetz des Schweigens“, brutta storia wörtlich als „hässliche“, d. h. unrühmliche Geschichte. 23 Bosch, „Bravo italiano e cattivo tedesco?", 4. Zum „Kompromisscharakter“ des Geschichtsschulbuchs aus diskursanalytischer Perspektive siehe: Eleftherios Klerides, „Imagining the Textbook. Textbooks as Discourse and Genre“, in: Journal of Educational Media, Memory and Society 2 (2010), 31–54. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
5 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern publik (1946–1994) erschienen sind, 12 in der darauffolgenden Zweiten. 24 Sie stammen aus der Feder von 18 Autoren und Autorengruppen und wurden von 14 Verlagen her- ausgegeben. Von den Büchern der Autoren Guido Quazza und Francesco Traniello wurden jeweils zwei, von Rosario Villari drei und vom Autorentrio aus Marco Fossati, Giorgio Luppi und Emilio Zanette vier Auflagen berücksichtigt. Hervorzuheben ist der hohe Anteil an Universitätslehrenden unter den Schulbuchau- toren. 25 Nur Mario Ferrari und die beiden jüngeren Trios aus Marco Fossati, Giorgio Luppi und Emilio Zanette – letzterer hat die hier relevanten Stellen verfasst – sowie Luigi Ronga, Giorgio Gentile und Anna Rossi treten exklusiv als Schulbuchautoren in Erscheinung. 26 Zwei der drei jüngsten Bücher stammen dagegen von Professoren und Dozenten, nämlich von Sergio Luzzatto und Guillaume Alonge bzw. Giovanni Borgog- none und Dino Carpanetto. 27 Auch Ermanno Taviani, der Autor der relevanten Stellen im dritten, ebenfalls erst 2017 erschienenen Buch, ist Universitätslehrender. 28 Die engs- te Verbindung zur vorliegenden Thematik hat wohl Luca Baldissara, der im Jahr 2014 als Professor die Masterarbeit von Giulio Vezzosi über die Memorialliteratur zur Cam- pagna di Russia betreute. 29 Sein Schulbuch mit Stefano Battilossi erschien allerdings bereits in 2005. 30 Eine politische Ausrichtung kann nicht bei allen Autorinnen und Autoren und Ver- 24 In Italien unterscheidet man die erste, „antifaschistische“ Konsensrepublik, die sich zeitlich etwa mit dem Kalten Krieg deckt und mit dem Parteienkorruptionsskandal „Tangentopoli“ 1992 und der Wahl- rechtsreform 1994 zu Ende gegangen ist, von der zweiten, „bipolaren“ Republik der Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Lager. Siehe hierzu: Agostino Giovagnoli, La Repubblica degli italiani. 1946–2016, Rom: Laterza, 2016. 25 Dies bemerkt auch Eva Müller in Ihrer Dissertation, siehe dies., Ikonisches Wissen, 25. 26 Vgl. Mario Enrico Ferrari, L'età contemporanea, Mailand: Librex, 1992; Carlo Cartiglia, Storia e ricer- ca. 3 Il Novecento, Turin: Loescher, 2002; Marco Fossati, Giorgio Luppi und Emilio Zanette, Passato Presente. 3 Il Novecento e il mondo contemporaneo, Turin, Mailand: Paravia Bruno Mondadori, 2006; Marco Fossati, Giorgio Luppi und Emilio Zanette, Parlare di Storia. 3 il novecento e il mondo contempo- raneo, Mailand: Pearson Paravia Bruno Mondadori, 2009; Marco Fossati, Giorgio Luppi und Emilio Zanette, La città della storia. 3 Il Novecento e il mondo contemporanea, Mailand, Turin: Pearson Italia, 2012; Marco Fossati, Giorgio Luppi und Emilio Zanette, Storia concetti e connessioni. 3 Il Novecento e il mondo contemporaneo, Turin, Mailand: Pearson Italia, 2015; Luigi Ronga, Gianni Gentile und Anna Rossi, Tempi & Temi della storia. Il Novecento e l'inizio del XXI secolo, Brescia: Editrice La Scuola, 2013. 27 Vgl. Sergio Sergio und Guillaume Alonge, Dalle storie alla storia. 3 Dal Novecento a oggi, Bologna: Zanichelli, 2016; Giovanni Borgognone und Dino Carpanetto, L'idea della Storia. 3 il Novecento e il Duemila, Mailand, Turin: Pearson Italia, 2017. 28 Giancarlo Monina, Franco Motta, Sabina Pavone und Ermanno Taviani, Processo storico. 3. Dal No- vecento a oggi, Turin: Loescher, 2017. 29 Vezzosi, La memorialistica sulla campagna di Russia. 30 Luca Baldissara und Stefano Battilossi, La Costruzione del Presente. 3 Il Novecento, Mailand: Sansoni per la Scuola/RCS Libri, 2005. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
6 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern lagen verlässlich bestimmt werden. Nur bei den älteren Jahrgängen, die den Zweiten Weltkrieg entweder als junge Erwachsene (Giorgio Spini, Armando Saitta, Guido Quazza und Rosario Villari) oder als Kinder (Francesco Traniello, Carlo Cartiglia, Ad- riano Prosperi, Giorgio Negrelli und Franco Cardini) erlebt haben, geben Parteizugehö- rigkeiten oder Cajanis Analyse zum Zweiten Weltkrieg in italienischen Schulbüchern Aufschluss: Demnach sind Giorgio Spini (Partito d’Azione) 31, Guido Quazza (Partito socialista italiano, Partito socialdemocratico italiano) 32 und Rosario Villari (Partito co- munista italiano) 33 dem linken Spektrum zuzuordnen, Franco Cardini (Movimento soci- ale italiano) hingegen dem rechten. 34 Armando Saitta wird von Cajani als Exponent der Linken dargestellt, Pietro Silva hingegen als Monarchist, der bereits – auch aufgrund seines Alters – im Faschismus Karriere gemacht hatte. 35 Mit Cajani kann man schließ- lich noch Francesco Traniello sowie das jüngere Trio aus Luigi Ronga, Gianni Gentile und Anna Rossi dem christdemokratischen Milieu zuordnen, da sie ihre Bücher in den katholischen Verlagen Società editrice internazionale des Ordens der Salesaner Don Boscos bzw. La Scuola publizierten. 36 Gleiches gilt wohl auch für Ottavio Barié, Pro- fessor und Institutsdirektor der Politikwissenschaften an der privaten Università Cattoli- ca del Sacro Cuore in Mailand. 37 Dem linken Spektrum ist noch Adriano Prosperi zuzu- ordnen. 38 Für zehn der 18 Autoren bzw. Autorengruppen kann also eine politische Aus- richtung als links, rechts oder christdemokratisch begründet werden (siehe Tabelle). 31 Silvia Moretti, „Spini, Giorgio“, in: Enciclopedia Italiana V (1995), https://www.treccani.it/enciclopedia/giorgio-spini_%28Enciclopedia-Italiana%29/, zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020. 32 Gilda Zazzara, „Quazza, Guido“, in: Dizionario biografico degli Italiani 85 (2016), https://www.treccani.it/enciclopedia/guido-quazza_(Dizionario-Biografico), zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020. 33 Silvia Moretti, „Villari, Rosario“, in: Enciclopedia Italiana V (1995), https://www.treccani.it/enciclopedia/rosario-villari_%28Enciclopedia-Italiana%29/, zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020. 34 Gabriele Rèpaci, „Né destra, né sinistra. Intervista a Franco Cardini“, Arianna Editrice vom 23.09.2008, https://www.ariannaeditrice.it/articolo.php?id_articolo=21299, zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020. 35 Cajani, „Italien und der Zweite Weltkrieg in den Schulgeschichtsbüchern“, 273. 36 Ebd., 275. 37 Università Cattolica del Sacro Cuore, https://dipartimenti.unicatt.it/scienze-politiche- home?rdeLocaleAttr=it, zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020. 38 Maxi Leinkauf, „Protest kommt nur noch von rechts“, Der Freitag 8 (2018), https://www.freitag.de/autoren/maxi-leinkauf/protest-kommt-nur-noch-von-rechts, zuletzt geprüft am 14.10.2020. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
7 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern Schulbuchautoren- und Erscheinungsjahr der Politische Einordnung der autorengruppen Schulbücher Autorinnen und Autoren Ottavio Barié 1963 christdemokratisch Franco Cardini 1977 rechts Adriano Prosperi 2000 links Quido Quazza 1970, 1979 links Luigi Ronga, Gianni Gen- 2013 christdemokratisch tile, Anna Rossi Armando Saitta 1956 links Pietro Silva 1954 rechts Giorgio Spini 1963 links Francesco Traniello 1981, 1984 christdemokratisch Rosario Villari 1970, 1975, 1984 links Tabelle mit den zehn der 18 untersuchten Schulbuchautoren bzw. Autorengruppen, für die sich ausgehend von Cajani „Italien und der Zweite Weltkrieg in den Schulgeschichtsbüchern“ eine grobe politische Ein- ordnung in das (1.) linke bis linksliberale, (2.) christdemokratische oder (3.) rechte, d.h. monarchistische bis neofaschistische Milieu der italienischen Nachkriegszeit begründen lässt. Eine Bestimmung der politischen Ausrichtung der anderen Autoren und Verlage ist mangels verlässlicher Informationen nicht möglich. Das Spektrum der Verlage umfasst mit Pearson Italia einen selbsternannten „Schulbuch-Weltmarktführer“ 39 und traditio- nelle Allround-Verlagshäuser wie Einaudi und Zanichelli. Im Verlagswesen herrscht durch gegenseitiges Aufkaufen (Loescher durch Zanichelli, 40 Einaudi durch den Gruppo Mondadori Berlusconis, zu dem – Stand heute – auch La Nuova Italia und Sansoni per la Scuola gehören 41) eine stete Dynamik. Vor diesem Hintergrund marktwirtschaftlicher Spielregeln erscheint der Versuch einer eindeutigen politischen Einteilung der einzelnen Verlage ohnehin wenig sinnvoll. Auch Cajani thematisiert die Verlage daher nicht als Akteure einer politischen Beeinflussung der Schulbücher. Das heißt aber nicht, dass eine Beeinflussung nicht von anderen versucht wurde. In Italien unterliegen Schulbü- cher keinem staatlichen Zulassungs- oder Genehmigungsverfahren, sondern werden in jeder Schule vor dem neuen Schuljahr durch das Lehrerkollegium ausgewählt und dann 39 „leader moniale nell’Education“, Pearson Italia, https://it.pearson.com/chi-siamo/pearson-italia.html, zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020. 40 Loescher, https://www.loescher.it/storia#2, zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020. 41 Gruppo Mondadori, https://www.mondadori.com/our-brands/books, zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
8 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern von den Eltern gekauft. 42 Die Fachdidaktikerin Bühl-Gramer kritisiert, dass die Aus- wahlentscheidung daher von dem Renommee des Verlages und der Autoren, der Anzahl der kostenlos erhaltenen Prüfexemplare und Werbegeschenken abhänge. 43 Da die italie- nischen Lehrpläne 44 nur Anfang und Ende des im Schuljahr zu behandelnden geschicht- lichen Zeitraumes festlegen und keine staatliche Kontrolle existiert, haben die Autorin- nen und Autoren aber eine besondere Unabhängigkeit, die Cajani als Chance sieht: „Die Freiheit der italienischen Autoren ist […] eine Möglichkeit, die genutzt werden sollte, um der politischen Einmischung in die Geschichtslehre entgegenzutreten.“ 45 Eine politi- sche Einmischung in die Schulbücher ist Anfang der 2000er Jahre von Politikern der Nachfolgepartei des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI), der Alleanza Nazionale (AN), im Regionalparlament Latiums und im Abgeordnetenhaus betrieben worden, mit dem Ziel, vorgeblich „linke“ Schulbücher auf ihren Inhalt überprüfen zu lassen. 46 Diese gescheiterte legislative Beeinflussung hat sich danach in ein exekutives Reform-„Ping-Pong“ der Geschichtslehrpläne durch die wechselnden Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Regierungen zwischen 2001 und 2011 verlagert. 47 Substantiell hat sich dadurch nichts geändert, sodass die Reform von 1996, die den zu unterrichtenden Zeit- raum im letzten Schuljahr von der Zeit der Französischen Revolution bis zur Gegenwart auf das 20. Jahrhundert reduziert hat, die wesentlichste Änderung für die Schulbuchau- toren bedeutet. 48 Daneben ist das „Decreto n. 547“ des Bildungsministers vom 7. Dezember 1999 maßgeblich, welches den bislang als reine Nachschlagewerke konzipierten Lehrbüchern erstmals didaktische Vorgaben wie eine altersgerechte Sprache, ein Fachbegriffsglossar und Lernziele sowie Kriterien zur Überprüfung derselben machte. 49 Durch diese beiden Entwicklung aus den Jahren 1996 und 1999 haben sich die untersuchten Schulbücher also inhaltlich und konzeptionell geändert. 42 Müller, Ikonisches Wissen, 197–204. 43 Bühl-Gramer, „Rahmenbedingungen der Schulbuchproduktion in Italien“, 287-288. 44 Siehe dazu Luigi Cajani, „I recenti programmi di storia per la scuola italiana“, in: Laboratorio dell'I- SPF 11 (2014), 1−25. 45 Luigi Cajani, „Die Ostgrenze Italiens im 20. Jahrhundert“, 170. 46 Bühl-Gramer, „Rahmenbedingungen der Schulbuchproduktion in Italien“, 290-294. 47 Cajani, „I recenti programmi di storia per la scuola italiana“, 25. 48 Ebd. 49 Ministro della Pubblica Istruzione Luigi Berlinguer. „Decreto ministeriale n. 547 vom 07.12.1999“, https://archivio.pubblica.istruzione.it/scuola_e_famiglia/lib_dm547.shtml, zuletzt geprüft am 14. Oktober 2020.; Bühl-Gramer, „Rahmenbedingungen der Schulbuchproduktion in Italien“, 289. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
9 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern Die Erzählmuster zur Campagna di Russia sowie zur Campa- gna e Occupazione di Jugoslavia Jede Schulbucherzählung des Zweiten Weltkrieges ist das Ergebnis zweier Ziele, die die Autorinnen und Autoren weltweit zu verwirklichen haben: Den Blick fürs Ganzheitliche mit dem spezifisch Nationalen zu verschmelzen. Zum einen also, die sechs Kriegsjahre auf wenigen Schulbuchseiten darzulegen und kein „großes“ Ereignis des Weltkrieges zu vergessen. Zum anderen aber auch, den nationalen Schauplatz nicht zu vernachlässigen und somit zwangsläufig Schwerpunkte zu setzen, die sich von Land zu Land unter- scheiden. Im italienischen Vogelflug über den Zweiten Weltkrieg passiert man nacheinander vier Etappen: 50 Auf die erste Etappe der deutschen Blitzkriege folgen in der zweiten der Kriegseintritt Italiens im Juni 1940 und die gescheiterten „parallelen Kriege“ Mussoli- nis in Griechenland und Afrika. Dann kommt die dritte Etappe des eigentlichen Welt- krieges durch den Kriegseintritt der USA und die nationalsozialistische Vorherrschaft in Europa, die Unterordnung Mussolinis unter selbige sowie das Unternehmen Barbarossa. Erst mit den Niederlagen von Stalingrad und El Alamein ist diese Etappe zu Ende und es beginnt mit dem Sturz Mussolinis und dem Waffenstillstand die letzte Etappe mit der Resistenza und Italien an der Seite der Alliierten. Damit ist nicht gesagt, dass jede die- ser vier Etappen in ein separates und abgeschlossenes Kapitel in den Schulbüchern ge- gossen ist, der Zweite Weltkrieg also stets in vier Kapitel eingeteilt wäre. Auch nimmt beispielsweise der Holocaust in den jüngeren Büchern einen größeren Raum ein, bis hin zu einem eigenen Kapitel mit 25 Seiten.51 Dennoch ist die beschriebene Rahmenerzäh- lung mit den genannten Schwerpunktsetzungen zum einen homogen im Hinblick auf die verschiedenen Autoren und Autorinnen und zum anderen stabil über die Jahrzehnte. 52 Das ist nicht überraschend, da sie durch ihre vier Etappen das eingangs genannte Dop- 50 Vgl. dazu die Darstellung bei Bosch, „Bravo italiano e cattivo tedesco?", 20–24, die die Abfolge der unterschiedlichen Schauplätze und Zäsuren des Zweiten Weltkrieges in den von ihr untersuchten Schul- büchern beschreibt. 51 Monina et al., Processo storico, 380–405. 52 Vgl. dazu die Binnengliederung des Zweiten Weltkrieges bei Pietro Silva, Corso di storia. Volume Terzo, 12. Auflage, Mailand, Messina: G. Principato, 1954, 584; Giorgio Spini, Disegno storico della civiltà. Volume III, 7. Auflage, Rom: Cremonese, 1963. 500; Rosario Villari, Storia Contemporanea, Bari: Laterza, 1970. 811; Francesco Traniello, Storia contemporanea, 2. Auflage, Turin: SEI, 1984 (ND 1988). 430; Baldissara und Battilossi, La Costruzione del Presente, VI; Ronga et al., Tempi & Temi della storia, 6-7. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
10 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern pelziel – eine ganzheitliche Geschichte aus nationaler Perspektive – umsetzt. Diese Rahmenerzählung produziert jedoch ihre eigenen Zwänge: So sind die Campagna e Occupazione di Jugoslavia und die Campagna di Russia Teil der dritten „internationa- len“ Etappe, in der der Blick besonders stark über Italien hinausgeht. Umso genauer ist daher zu untersuchen, wie diese beiden Schauplätze, auf denen das faschistische Italien an der Seite des nationalsozialistischen Deutschlands stand, in den Schulbüchern darge- stellt werden. Dies geschieht anhand der Erzählmuster omertà, ignoranza, vittimismo und brutta storia. Omertà Gliedert man die Campagna di Russia in den Angriff auf die Sowjetunion und den Rückzug der Achsenmächte nach der sowjetischen Gegenoffensive bei Stalingrad sowie den jugoslawischen Schauplatz in den deutsch-italienischen Überfall und die anschlie- ßenden Jahre der Besatzung, verschweigen 14 der 18 Schulbuchautoren bei mindestens einem dieser vier Abläufe die italienische Beteiligung. Die verschwiegene „Tragödie am Don“ Die Mehrheit der älteren Bücher von 1954 bis Mitte der 1980er nennt zwar die Teil- nahme Italiens am Überfall auf die Sowjetunion, erläutert aber die „Kriegswende im Osten“ nur am Beispiel der deutsch-sowjetischen Schlacht um Stalingrad, ohne die Zer- schlagung der italienischen 8. Armee an ihren Stellungen am Don und den anschließen- den Rückzug der Überlebenden zu erwähnen. 53 Auffällig ist, dass alle Autoren bis auf Silva den Fluss Don erwähnen. Ein Name, der laut Schlemmer in Italien seit 1943 eine ähnlich aufgeladene Bedeutung hat wie Stalingrad in Deutschland. 54 Man muss daher annehmen, dass den Autorinnen und Autoren die italienische Überlieferung des Zu- 53 Vgl. Silva, Corso di storia, 562; Ottavio Barié, Storia Contemporanea. Volume terzo, Mailand et al.: Dante Alighieri, 1963. 431-432.; Spini, Disegno storico della civiltà, 435-436; Villari, Storia Contemporanea, 698; Rosario Villari, Storia Contemporanea, 7. Auflage, Bari, Rom: Laterza, 1975. 523; Rosario Villari, Storia contemporanea, 2. Auflage Bari, Rom: Laterza, 1984 (ND 1989), 558; Francesco Traniello, L'età contemporanea, Turin: SEI, 1981, 468; Traniello, Storia contemporanea, 438. 54 Schlemmer, „La ‚memoria mutilata‘“, 134. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
11 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern sammenbruchs der Ostfront mit ihrer Fokussierung auf das „Cannae am Don“ 55 der 8. Armee bekannt war. Wieso aber haben sie dieses Ereignis dann bewusst verschwiegen? Im selben Zeitraum erlebte die Memorialliteratur jedenfalls einen Boom, der durch die Verkaufszahlen der bekanntesten Werke deutlich wird: Von 1953 bis 1979 wurde Mario Rigoni Sterns Il sergente nella neve 500.000 mal verkauft, Giulio Bedeschis Centomila gavette di ghiaccio zwischen 1963 und 1979 sogar über eine Million mal.56 Von einem gesamtgesellschaftlichen Desinteresse an den italienischen Geschehnissen am Don lässt sich also nicht sprechen. Konservative Politikerinnen und Politiker und militärische Kreise hielten das Gedenken an die Armee und die Campagna di Russia als Ganzes seit Beginn der Ersten Republik aufrecht und wurden dafür von der Linken in den Medien, vor Gericht und im Parlament angegriffen. 57 Die Erzählungen der Ostfront-Rückkehrer und insbesondere die der beiden Alpini Rigoni Stern und Bedeschi unterschieden jedoch den heldenhaft leidenden bravo italiano vom cattivo tedesco, der die Italiener am Don im Stich gelassen hätte und machten den Rückzug am Don so zum „Prolog“ 58 der Resis- tenza. Auf diese Weise ließen sich die Erzählungen der Memorialliteratur in das antifa- schistische Paradigma integrieren. In den Schulbüchern wird der Untergang der Italiener am Don dagegen zunächst nur von Saitta und Quazza in einem Nebensatz erwähnt. 59 Erst seit dem Ende der Ersten Republik wird er in allen untersuchten Büchern behandelt. 60 Angesicht der Memorialli- teratur der Ersten Republik erscheint dieser Befund paradox. Wie passt die reiche Me- morialliteratur zur Ostfront mit dem zeitgleichen Schweigen in den Schulbüchern über die Tragödie am Don zusammen? Eine Erklärung könnte zum einen in der genrespezifi- schen Darstellungsweise des Schulbuches liegen. Bis zu den Reformen 1996 und 1999 waren die Schulbücher als kompakte und ereignisgeschichtliche Handbücher geschrie- ben, für persönliche Erlebnisberichte der Russlandrückkehrer war sowohl wortwörtlich 55 Grosztony, Peter. Hitlers Fremde Heere. Das Schicksal der nichtdeutschen Armeen im Ostfeldzug, Düsseldorf: Econ, 1976, 299. 56 Focardi, Falsche Freunde?, 296 (Anm. 197 und 198). In beiden autobiografischen Werken berichten die Autoren von ihren Erfahrungen als Teil der Elitetruppe der Alpini (Gebirgsjäger) während der Cam- pagna di Russia. 57 Scianna, The Italian War on the Eastern Front, 327. 58 Ebd., S. 287. 59 Armando Saitta, Il cammino umano. Vol. III, Florenz: La Nuova Italia, 1956. 929; Guido Quazza, Corso di storia. Volume III, 4. Auflage, Turin: G. B. Petrini, 1970, 330; Guido Quazza, Corso di storia. Volume III, 12. Auflage, Turin: G. B. Petrini, 1979, 344. 60 Siehe Kapitel zum Erzählmuster des Vittimismo. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
12 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern als auch im übertragenen Sinn kein Platz. Auf der abstrakten Darstellungsebene der Schulbücher blieb also nur die Teilnahme des faschistischen Italiens an einem national- sozialistischen Angriffskrieg übrig. Diese Teilnahme konnte zwar nicht bestritten wer- den und wurde daher erwähnt. Insgesamt entsteht aber der Eindruck, dass die Schul- buchautorinnen und -autoren der Ersten Republik die „Präsenz“ der Italiener an der Ost- front so gering wie möglich halten wollten. Daher wurde wohl auch auf eine explizite Erläuterung der „Tragödie am Don“ verzichtet. Statt die neuen Generation mit einer schwierigen Vergangenheit zu belasten, sollte sie durch Betonung des Befreiungskamp- fes der Resistenza moralisch gestärkt werden. 61 Diese Regel kann durch eine Ausnahme bestätigt werden: Franco Cardini, der Autor des Schulbuches, welches den verlustrei- chen Untergang der Italiener am Don als einziges bis in die 1990er ausführlicher thema- tisierte, 62 war langjähriges Mitglied des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano gewesen. 63 Insgesamt ist also festzuhalten, dass sich die Hypothese einer Übernahme der brava gente aus der Memorialliteratur in die Schulbücher während der Ersten Re- publik nicht bestätigt. Wenngleich den Schulbuchautorinnen und -autoren der Diskurs um das „Cannae am Don“ bekannt war und viele Erwachsene die persönlichen Erzäh- lungen von den tapferen Ostfront-Rückkehrern mit Interesse lasen, ließ man die Jugend- lichen über die Hintergründe und den Ablauf der Campagna di Russia lieber im Dun- keln. Die Occupazione di Jugoslavia als blinder Fleck Die italienische Beteiligung am Überfall auf Jugoslawien bleibt zunächst nur im Buch von Bariè aus dem Jahr 1963 sowie bei Cardini und Cherubini im Jahr 1977 gänzlich unerwähnt. 64 Anders als die italienische Beteiligung am Unternehmen Barbarossa wird die Campagna di Jugoslavia in der Mehrzahl der älteren Schulbücher thematisiert. Ähn- lich verhält es sich mit der territorialen Aufteilung Jugoslawiens. Diese verschweigt zunächst nur Silva im Jahr 1954 vollständig. 65 Dass die Zerstückelung Jugoslawiens aber nicht nur neue Grenzen zur Folge hatte, sondern sich für die Menschen in den nun 61 Vgl. die Befunde bei Bosch, „Bravo Italiano e cattivo tedesco?”, 16–17 und 21. 62 Franco Cardini und Giovanni Cherubini, Storia. 3/Contemporanea, Florenz: Sansoni, 1977, 370. 63 Rèpaci, Né destra, né sinistra. Intervista a Franco Cardini. 64 Barié, Storia Contemporanea; Cardini und Cherubini, Storia 3. 65 Silva, Corso di storia. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
13 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern italienisch kontrollierten Gebieten in einer zweijährigen Besatzungsherrschaft manifes- tierte, wurde bis zum Jahr 2006 in keinem der untersuchten Bücher erwähnt. Während die Campagna di Jugoslavia und die territoriale Neuordnung 1941 Eingang in die meis- ten Schulbücher gefunden hatte, blieb der Charakter der anschließenden Occupazione ein „blinder Fleck“. Grund hierfür könnten die unter der Besatzungsherrschaft begange- nen Kriegsverbrechen sein, die bis heute ein heikles Thema darstellen. Italien betrieb auf diplomatischer Ebene von 1945 bis 1948 eine erfolgreiche Strategie der Nichtauslie- ferung von Italienern, allen voran gegenüber Jugoslawien, das mit Auslieferungsgesu- chen für 729 Personen die mit Abstand meisten mutmaßlichen Kriegsverbrecher anfor- derte. 66 Die Sowjetunion hatte bereits im Jahr 1944 die Auslieferung von 12 Militäran- gehörigen wegen Kriegsverbrechen verlangt und klagte zudem 23 italienische Kriegsge- fangene an, von denen elf für Kriegsverbrechen verurteilt wurden. 67 Erstere wurden nie ausgeliefert, die Prozesse und Urteile als politisch motiviert abgestempelt. 68 Als die Schulbücher geschrieben wurden, war die Auslieferung der Kriegsverbrecher in Italien nicht mehr aktuell, sondern so lange diplomatisch herausgezögert worden, bis das The- ma von den neuen Fronten des Kalten Krieges überdeckt worden war. Vor diesem Hin- tergrund kann es also weder geboten noch gesellschaftlich erwünscht gewesen sein, dieses Thema „aufzuwärmen“. Bewusst oder unbewusst trug das Verschweigen der Be- satzungsherrschaft also dazu bei, etwaige Nachfragen nach deren Ausgestaltung, die zu Kriegsverbrechen hätten führen können, erst gar nicht aufkommen zu lassen. Ab dem Jahr 2000 nehmen die Unterschiede in den Schulbüchern zu. In den Bü- chern von Prosperi und Viola, Cartiglia, Baldissara und Battilossi sowie von Ronga et al. werden die Italiener nun weder im Kreis der Angreifenden noch bei der anschließen- den Aufteilung Jugoslawiens erwähnt. 69 Neben der Occupazione di Jugoslavia wird also auch die bislang erwähnte Campagna di Jugoslavia in diesen vier Büchern zu ei- nem komplett weißen Fleck. Da diese Bücher jedoch nach der Reform von 1996 er- schienen sind und nur noch das 20. Jahrhundert behandeln müssen, ist das Argument 66 Siehe dazu die Dokumente der Commissione d’inchiesta sui crimini di guerra italiani bei Filippo Fo- cardi und Lutz Klinkhammer, „La questione dei ‚criminali di guerra‘ italiani e una Commissione di in- chiesta dimenticata“, in: Contemporanea 4, 2 (2001), 497–528, 526. 67 Schlemmer (Hg.), Die Italiener an der Ostfront, 38. 68 ebd. 69 Adriano Prosperi und Paolo Viola, Corso di storia. Il secolo XX, Mailand: Einaudi, 2000; Cartiglia, Storia e ricerca; Baldissara/Battilossi, La Costruzione del Presente; Ronga et al., Tempi & Temi della storia. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
14 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern mangelnden Platzes nicht überzeugend. Dennoch wird der Balkanfeldzug zur deutschen „Lösung“ des gescheiterten italienischen Alleingangs in Griechenland zugespitzt und Italiens Beitrag und „Beute“ vollkommen unter den Tisch fallen gelassen. 70 Das sympa- thische Scheitern der Italiener als Kriegs- und Besatzungsmacht in Griechenland hatte bereits der Film Mediterraneo von Gabriele Salvatores 1991 publikumswirksam zele- briert. 71 Eine ausgewogene Darstellung des Balkanfeldzuges fällt in den Schulbüchern also seiner strukturierenden Funktion als „Scharnier“ zum Opfer, welches die geschei- terte nationale Etappe des „parallelen Krieges“ in Griechenland mit der völligen Unter- ordnung des faschistischen Italiens unter das nationalsozialistische Deutschland verbin- det. Im Jahr 2006 thematisiert Zanette dann erstmals die italienische Besatzung Jugosla- wiens. 72 Auch Luzzatto und Alonge widmen sich der Besatzungsherrschaft ausführ- lich, 73 während Taviani sowie Borgogone und Carpanetto sie nur kurz erwähnen. 74 Ins- gesamt ist daher festzuhalten, dass die „kanonische“ Schulbuchdarstellung der Ersten Republik, die die Besatzungszeit zu bloßen Territorialänderungen reduziert hatte, seit dem Jahr 2000 einer sehr unterschiedlichen Darstellung gewichen ist. Während einige Bücher sogar die italienische Teilnahme an der Campagna di Jugoslavia verschweigen, widmen sich andere nun erstmals der jahrzehntelang unerwähnten Besatzungszeit. Ignoranza Ein Offenlegen der italienischen Beteiligung an der Campagna e Occupazione di Jugo- slavia und der Campagna di Russia in den Schulbüchern bedeutet nicht zwangsläufig, dass diese in ihren Beweggründen auch erklärt wird. Schlemmer benutzt für das Inter- pretationsmuster der Memorialliteratur, welches die Italiener als „arme und unwissende 70 Prosperi und Viola, Corso di storia, 194-195; Cartiglia, Storia e ricerca, 214; Baldissara und Battilossi, La Costruzione del Presente, 213; Ronga et al., Tempi & Temi della storia, 228. 71 Thomas Cragin und Laura A. Salsini, „Introduction. Phases in Italy`s Representations of World War II“, in: Resistance, Heroism, Loss. World War II in Italian Literature and Film, Thomas Cragin und Laura A. Salsini (Hg.), Madison: Fairleigh Dickinson University Press, 2018, xxvii. 72 Vgl. Fossati et al., Passato Presente, 232. Für die nachfolgenden Auflagen siehe: Fossati et al., Parlare di Storia, 259; Fossati et al., La città della storia, 273; Fossati et al., Storia concetti e connessioni, 312. 73 Vgl. Luzzatto und Alonge, Dalle storie alla storia, 250. 74 Vgl. Monina et al., Processo storico, 348-349; Borgognone und Carpanetto, L'idea della Storia, 521. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
15 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern Kämpfer“ an der Ostfront charakterisiert, den Ausdruck ignoranza, Unwissenheit.75 Diese Unwissenheit ist von besonderer Qualität, denn sie impliziert „Ideologielosig- keit“: Es sei dem italienischen Soldaten „unmöglich gewesen […] zu begreifen, weshalb sein Land in einen Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg eingegriffen habe“. 76 Die „Ideologisierung“ der deutschen Kriegsführung Es stellt sich die Frage, ob sich das von Schlemmer für die Memorialliteratur festge- stellte Narrativ der „unwissenden Italiener“ auch in den Schulbüchern findet. Um die Frage nach dem (Un-)Wissen und der Ideologie(-losigkeit) der italienischen Soldaten an der Ostfront beantworten zu können, muss zunächst überprüft werden, ob und inwiefern die Schulbuchautoren überhaupt ideologische Motive – bei den Deutschen – für das Unternehmen Barbarossa als Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg thematisierten. Welche Argumente führen die Autoren also für die Planung des Unternehmens Barba- rossa und den deutschen Angriff an? Silva und Barié beschränken sich auf das diploma- tische Scheitern des Molotov-Ribbentrop-Pakts am gegenseitigen Misstrauen angesichts der jeweiligen Militäroperationen in Europa und läuten dann mit dem Überraschungs- angriff Hitlers die Campagna di Russia77 bzw. die guerra in Russia 78 ein. Statt dieser „neutralen“ Formulierung sprechen die linken Autoren Saitta und Spini in ihrer Über- schrift vom „Angriff“ 79 Deutschlands bzw. Hitlers; ein Begriff, der sich durchsetzt, und neben den mit Villaris Schulbuch von 1970 noch der Deckname der Wehrmacht für ihren Überfall auf die Sowjetunion tritt – das „Unternehmen Barbarossa“. 80 Während Spini den deutschen Angriff auf den Balkanfeldzug zurückführt, der die „freundschaft- lichen Beziehungen“ 81 zwischen Deutschland und der Sowjetunion zerstört habe, spricht Saitta 1956 in seinem Buch von einer „ideologische Konfrontation“ 82 der beiden Staaten. Worin diese bestanden habe, führt er allerdings nicht aus. 75 Vgl. Schlemmer, „La ‚memoria mutilata‘“, 135-136. 76 Ebd., 136. 77 Barié, Storia Contemporanea, 431. 78 Silva, Corso di storia, 561. 79 „attacco“, Saitta, Il cammino umano, 926; Spini, Disegno storico della civiltà, 430. 80 Nur Prosperi und Viola, Corso di storia, und Cartiglia, Storia e ricerca, nennen ihn nicht. 81 „rapporti amichevoli“, Spini, Disegno storico della civiltà, 430. 82 „contrapposizione ideologica“, Saitta, Il cammino umano, 926 urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
16 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern Antikommunismus und Antislawismus Ab dem Auflagenjahr 1970 wird die ideologische Dimension des Unternehmens Barba- rossa immer expliziter genannt. Diese „ideologische Sensibilisierung“ fällt mit dem neuen politischen Klima zur Zeit der Mitte-Links-Koalitionen zwischen 1963 und 1976 und damit der Hochphase des antifaschistischen Paradigmas zusammen. 83 Quazza spricht als Erster von einem „ideologischen Kreuzzug der ‚Neuen Ordnung‘ Europas gegen den Bolschewismus“. 84 Der Begriff des „Kreuzzuges“ wird auch von Cardini und Cherubini sowie Zanette verwendet. 85 Der „antibolschewistische Kreuzzug“ war eine Propagandafigur der Nationalsozialisten zur Rekrutierung von Verbündeten im Krieg gegen die Sowjetunion und wird von den Schulbuchautoren und -autorinnen genutzt, um die propagandistische Aufladung des Kriegs zu veranschaulichen. 86 Im Folgenden nennen alle Bücher den Kampf gegen den Kommunismus als Kriegsmotiv – mit Aus- nahme von Traniello und Ferrari. Traniello begnügt sich mit dem Hinweis auf den sow- jetischen Rohstoffreichtum und den zuvor gescheiterten Luftkrieg gegen Großbritanni- en. 87 Letzteren führt auch Ferrari an, der zudem auf den deutsch-sowjetischen Interes- sensgegensatz in Rumänien und das Offenbarwerden der schlechten Vorbereitung des russischen Militärs im Winterkrieg gegen Finnland abstellt. 88 Neben dem Antikommunismus benennen erstmals Cardini und Cherubini 1977 auch den Antislawismus – genauer, „die nationalsozialistische Verachtung für die Slawen“89 – als Kriegsmotiv und deren Vernichtung als Ziel Hitlers. Das Motiv des Antislawismus wird auch von Villari in der neuen Auflage von 1984 gegenüber den früheren ergänzt.90 Während Traniello und Ferrari den Begriff nicht erwähnen, greift ihn Negrelli zumin- dest implizit auf, wenn er von „Versklavung, Vernichtung und Umsiedelung der lokalen 83 Vgl. Fogu, „Italiani brava gente”, 153–156, der auch zeigt, dass diese Phase keineswegs homogen oder konfliktfrei war. 84 „crociata ideologica del ‚Nuovo Ordine‘ [Neue Ordnung] europeo contro il bolscevismo“, Quazza, Corso di storia, 328. 85 Cardini und Cherubini, Storia 3, 369; Fossati et al., Passato Presente, 224. 86 Dieter Pohl, „Unter deutscher Hegemonie. Revisionismus, Rassismus und Gewalt bei den osteuropäi- schen Bündnispartnern des Dritten Reichs 1941/42“, in: Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegsführung 1939-1945, Lutz Klinkhammer, Amadeo Osti Guerrazzi und Thomas Schlemmer (Hg.), Paderborn: Schöningh, 2010, 244–254, 250. 87 Traniello, L'età contemporanea, 468. 88 Ferrari, L'età contemporanea, 638-639. 89 „disprezzo del nazismo per gli slavi“, Cardini und Cherubini, Storia 3, 369. 90 Villari, Storia contemporanea, 553. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
17 Nils Jochum Von brava gente zu brutta storia? Die Ostfront und Jugoslawien in italienischen Geschichtsschulbüchern Bevölkerung“ 91 spricht. Er benutzt im Jahr 1997 als erster der Autoren den Begriff des „Vernichtungskriegs“, 92 der bereits 1963 von Ernst Nolte für die letzte „Ebene“ 93 des nationalsozialistischen Krieges eingeführt und zwei Jahre zuvor in der ersten Wehr- machtsausstellung von 1995 einem breiten Publikum bekannt gemacht worden war. Ab der Jahrtausendwende wird dann sowohl der Antislawismus als auch der Begriff des Vernichtungskriegs mit jeweils zwei Ausnahmen 94 von allen Autoren erwähnt. 95 Antisemitismus und Holocaust Saitta erwähnt die Judenvernichtung bereits 1956, allerdings nicht beim Unternehmen Barbarossa, sondern als Ausdruck der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft in Europa eine Seite weiter: „Die Juden, aber nicht nur sie, werden in Massen deportiert, gefoltert und misshandelt und schließlich mittels eines raffinierten Sadismus in den To- deslagern von Buchenwald, Dachau und Mauthausen ermordet.“ 96 Auffällig ist, dass Saitta nicht die Vernichtungslager im ehemaligen Ostpolen nennt. Dennoch ist er seiner Zeit bzw. der ersten italienischen „Erinnerungswelle“ an die Shoah von 1958 bis 1963 voraus, welche die gesellschaftliche Öffnung nach links (erste Mitte-Links- Regierungen, Zweites Vatikanisches Konzil) begleitete. 97 Als Katalysatoren für Publi- kationen zu diesem Thema wirkten vor allem der auch in Italien verfolgte Eichmann- prozess sowie die nun erwachten kommerziellen Interessen der Verlage. 98 Nach Speccher bildete auch die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil begonnene Öffnung der katholischen Kirche für Fragen weltlich-historischer Bedeutung die Grundlage für 91 „l’asservimento, lo sterminio, il trasferimento delle popolazioni locali“, Giorgio Negrelli, L'esperienza storica. Volume 3 Il Novecento, Palermo, Florenz: G.B. Palumbo & C. Editore, 1997, 342. 92 „guerra di annientamento“, ebd. Alternativ ist der Begriff „guerra di sterminio“. 93 Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Action franҫaise. Italienischer Faschismus. Nationalso- zialismus, München: Piper, 1963, 437. 94 Prosperi und Viola, Corso di storia und Ronga et al., Tempi & Temi della storia gebrauchen nicht den Begriff des Vernichtungskriegs. Cartiglia, Storia e ricerca und Monina et al., Processo storico erwähnen den Antislawismus nicht. 95 Vgl. Baldissara und Battilossi, La Costruzione del Presente, 209; Fossati et al., Passato Presente, 224; Fossati et al., Parlare di Storia, 255; Fossati et al., La città della storia, 264; Fossati et al., Storia concetti e connessioni, 295; Luzzatto und Alonge, Dalle storie alla storia, 252; Borgognone und Carpanetto, L'idea della Storia, 499. 96 „Gli ebrei, ma non soltanto essi, sono deportati in massa, torturati, seviziati, infine uccisi con raffinato sadismo nei campi della morte di Buchenwald, di Dachau, di Mauthausen“, Saitta, Il cammino umano, 927. 97 Robert Gordon, The Holocaust in Italian Culture, 1944-2010, Stanford: Stanford University Press, 2012, 56–63. 98 Vgl. ebd., 60–63. urn:nbn:de:0220-2022-0013 Eckert:Beiträge 2022/1
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