Warten auf Palästina? - Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses
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PERSPEKTIVE | FES PALÄSTINA Warten auf Palästina? Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses INGRID ROSS September 2012 In Abwesenheit einer glaubhaften Perspektive für eine Zwei-Staaten-Lösung zwanzig Jah- re nach dem Beginn des Oslo-Prozesses schwindet der Rückhalt für die etablierten Regierungsstrukturen der palästinensischen Autonomiebehörde. Die palästinensische Führung ist in die Defensive geraten und spielt nun selbst mit dem Gedanken der Aufkündigung der Oslo-Verträge. Die Parameter der Konfliktlösung verschieben sich: Die ungehinderte Fortsetzung von völkerrechtswidrigen Siedlungsaktivitäten ist nur ein Anzeichen für ständige Veränderung der Realität. Darüber hinaus verlieren die Regierenden in beiden palästinensischen Gebieten, Westbank und Gaza, an Legitimität und angesichts der Finanzkrise der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) wächst die Abhängigkeit von internationalen Gebern. Je mehr das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit der palästinensischen Institutionen sinkt, desto leichter fällt es der jungen Generation, diese in Frage zu stellen und sich einer neuen Strategie zuzuwenden, die ihnen durch die Einforderung indivi- dueller Rechte in einem gemeinsamen Staat ein gutes und sicheres Leben in Aussicht stellt.
INGRID ROSS | WARTEN AUF PALÄSTINA? Seit einigen Wochen gärt es in den Palästinensischen weitere Gespräche. Ein weiteres Hindernis künftiger Gebieten. Nach dem Ende des Ramadan Ende August Verhandlungen zeichnete sich bereits ab: Der israelische gingen tausende Palästinenser auf die Strasse, um Premierminister Benjamin Netanyahu erklärte im Hin- gegen die Erhöhung der Lebenshaltungskosten zu blick auf eine innerpalästinensische Versöhnung zwi- demonstrieren. Die Unzufriedenheit mit der sozialen schen den verfeindeten Parteien Hamas und Fatah, und wirtschaftlichen Lage richtete sich zunächst gegen Präsident Abbas müsse sich zwischen Frieden mit Israel die Wirtschaftspolitik von Premierminister Salam Fayyad und Frieden mit der Hamas entscheiden. Die Fortset- und gegen das im Rahmen der Oslo-Verträge verein- zung von Verhandlungen zwischen Israel und einer barte Paris Protokoll, das die palästinensische Wirtschaft palästinensischen Führung, die alle relevanten politi- an Israel bindet. Doch mittlerweile stellen immer schen Kräfte repräsentiert, scheint damit ausgeschlos- größere Teile der Bevölkerung und zunehmend auch sen. der politischen Bewegungen den durch die Oslo-Ver- träge geschaffenen politischen Status Quo in Frage. Die Währenddessen verschieben sich die Parameter der Einrichtung der Palästinensischen Autonomiebehörde Konfliktlösung. Der Begriff Status Quo ist insofern (PA) war zunächst als Übergangskonstrukt auf die irreführend, denn der Zustand ist höchst dynamisch: Die Dauer von fünf Jahren angelegt und sollte in die souve- ungehinderte Fortsetzung von völkerrechtswidrigen räne Staatlichkeit Palästinas münden. In Abwesenheit Siedlungsaktivitäten ist nur eines der - wenn auch das einer glaubhaften Perspektive für eine Zwei-Staaten- bei weitem sichtbarste - Anzeichen für ständige Verän- Lösung zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo- derung der Realität. Darüber hinaus verlieren die Regie- Prozesses schwindet nun der Rückhalt für die etablier- renden in beiden palästinensischen Gebieten, Westbank ten Regierungsstrukturen. Die palästinensische Führung und Gaza, an Legitimität und angesichts der Finanzkrise ist in die Defensive geraten und spielt nun selbst mit der PA wächst die Abhängigkeit von internationalen dem Gedanken der Aufkündigung der Oslo-Verträge. Gebern. Seit der Kampagne für eine Vollmitgliedschaft Palästi- nas in den Vereinten Nationen im September 2011 fehlte es an überzeugenden Initiativen der politischen Israelische Siedlungspolitik Führung in Ramallah. Während der Antrag beim UN Sicherheits-rat, der mit einer vielbeachteten Rede von Das Wachstum der israelischen Siedlungen in der West- Präsident Abbas im letzten Herbst vor der Vollver- bank und der sie verbindenden Infrastruktursysteme sammlung der Vereinten Nationen einherging, seither trägt dazu bei, dass das Gebiet, auf dem der künftige auf Eis liegt, blieb der palästinensischen Führung nur, in palästinensische Staat entstehen soll, in einzelne Inseln diesem Jahr die staatliche Anerkennung durch die UN mit hoher Bevölkerungsdichte zerteilt wird, die von den Vollversammlung als nicht-Mitgliedsstaat zu suchen. Die landwirtschaftlichen und industriellen Nutzflächen notwendige Unterstützung für den Antrag der abgeschnitten werden. Die Zahl der Siedler in der Vollmitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat hat Präsident Westbank (ohne Ost-Jerusalem) hat mit der Unterstüt- Abbas nicht sammeln können. Stillstand ist auch auf zung der israelischen Regierungen seit dem Beginn des der Ebene offizieller Verhandlungen zwischen den Oslo-Prozesses von 90.000 auf 311.000 im Jahr 2010 Israelis und Palästinensern zu verzeichnen. Nach der stetig zugenommen. Neben der physischen Expansion diplomatischen Offensive bei den UN im September der Siedlungen ist der Anteil der Ultra-Orthodoxen an 2011 hatte das Nahost-Quartett bestehend aus den der Gesamtzahl der Siedler überproportional gewach- USA, Russland, der EU und den UN versucht, beide sen. Während 1991 5% dieser Siedler zu den Ultra- Konfliktparteien zu direkten Verhandlungen zu Orthodoxen gehörten, ist ihr Anteil in der Westbank bewegen. Doch die fünf Gesprächsrunden, die als mittlerweile auf 32% angestiegen. Dies ist insofern von "exploratory talks" zwischen Unterhändlern in Bedeutung, als dass die Geburtenrate in dieser Bevölke- Jordanien im Januar 2012 geführt wurden, wurden rungsgruppe um ein Vielfaches höher liegt, als in ande- ohne Ergebnisse abgebrochen. Die palästinensische ren Teilen der israelischen Gesellschaft. Der weitere Seite beharrte darauf, die Grenzen von 1967 zur Anstieg der Anzahl der Siedler durch „natürliches Grundlage der Verhandlungen zu setzen und bekräf- Wachstum“ ist daher ein absehbarer Trend. tigte die Forderung des Siedlungsstopps, eine Verpflich- tung der Roadmap von 2003, als Voraussetzung für 1
INGRID ROSS | WARTEN AUF PALÄSTINA? Große Unterstützung erhalten die Siedlungen von der schen Behörden, die die Interessen der Siedlerbewe- israelischen Regierung. Im Jahr 2011 hat die Regie- gung verletzen, werden mit Taten wie Schändungen rungskoalition 217 Millionen Euro des Staatshaushalts von Moscheen oder Friedhöfen beantwortet, um deut- für sie aufgewandt. Als das israelische Oberste Gericht lich zu machen, dass diese Entscheidungen „ihren im Juni diesen Jahres die Evakuierung einiger auch nach Preis“ haben. Zuletzt wurde ein christliches Kloster in israelischem Recht illegal gebauten Häuser der Siedlung Latrun nach der Räumung des Außenpostens Migron Ulpana anordnete, kündigte Netanjahu an, für jedes Ziel eines Preisschild-Anschlags. Die USA hat in dem Haus, das abgerissen würde, zehn neue Häuser in einer regelmäßig erscheinenden „Country Report on Terro- anderen Siedlung zu errichten. Unverblümt gab er zu, rism 2011“ erstmals Gewalt radikaler jüdischer Siedler dass ihn hauptsächlich die zu erwartende internationale als „terroristische Vorfälle“ klassifiziert. Mittlerweile Kritik an der Legalisierung des Außenpostens hindere. werden sich auch israelische Entscheidungsträger der Daran wird deutlich, wo bislang noch die Roten Linien Tragweite des Problems bewusst. Verteidigungsminister der Regierung in der Siedlungspolitik verlaufen: Der Ehud Barak erklärte nach dem Anschlag in Latrun, man Ausbau bestehender völkerrechtswidriger Siedlungen müsse den „jüdischen Terror mit eiserner Faust wird gefördert, von der Schaffung von Präzedenzfällen, bekämpfen“. in denen nach israelischem Recht illegal etablierte Außenposten legalisiert werden, wird noch abgesehen. Zwar wird die Räumung von einigen Siedlungen unwei- gerlich Bestandteil einer künftigen israelisch-palästinen- Einstellung der palästinensischen Bevöl- sischen Einigung werden müssen, wenn ein zusam- kerung gegenüber dem Oslo-Prozess menhängendes und lebensfähiges palästinensisches Staatsgebiet geschaffen werden soll, doch wirkt derzeit Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses, die israelische Siedlungspolitik in die entgegengesetzte der die Verpflichtung der Konfliktparteien auf die Etab- Richtung. lierung von zwei Staaten beinhaltete, glaubt die Mehr- heit der Palästinenser nicht daran, dass eine Zwei-Staa- ten-Lösung angesichts des fortgesetzten Siedlungsbaus noch möglich ist, so die Ergebnisse einer Meinungsum- Zunahme von Siedlergewalt frage des Palestinian Center for Policy and Research im Juni 2012. Die Abkommen, die im Rahmen des Oslo- Auch das Verhalten von Teilen der Siedlerbewegung Prozesses geschlossen wurden, dienten dem Aufbau gegenüber den Palästinensern hat sich verändert: So von Selbstverwaltungsstrukturen für einen begrenzten verzeichnet das UN Office for Humanitarian Affairs in Übergangszeitraum auf dem Weg zur Entstehung eines den palästinensischen Gebieten von 2009 bis 2011 palästinensischen Staates. Je weiter eine Einigung auf einen Anstieg von Gewalttaten, die von Siedlern ausge- die Errichtung von zwei Staaten in die Ferne rückt, hen und sich gegen Palästinenser richten, um 144%. desto lauter stellen die Palästinenser diese Strukturen, Die Tatsache, dass 90% dieser Übergriffe von Seiten allen voran die Palästinensische Autonomiebehörde, in der israelischen Polizei nicht verfolgt werden, fördert Frage. Der israelischen Seite sei es gelungen, eine Situa- ein Klima der Straflosigkeit und Gewalt. So verübten tion zu schaffen, in der die Palästinenser in einem Ge- Jugendliche aus der Siedlung Bat Ayin, die südlich von fängnis sitzen, in dem sie selbst das Gefängnispersonal Jerusalem gelegen ist, beispielsweise am 16. August, stellen und ihre eigene Gefangenschaft – mit finanziel- dem Vorabend des muslimischen Id-Al-Fitr Festes, einen ler Unterstützung der internationalen Gemeinschaft – Brandanschlag auf sechs Personen in einem Taxi in der auch noch selber zahlen. Westbank. Dabei wurden zwei Personen schwer ver- letzt. Vor diesem Hintergrund wird allen israelisch-palästinen- sischen Verhandlungen, die lediglich "Talks on Talks" Neben der wenig zielgerichteten Gewalt sind auch darstellen, mit Misstrauen begegnet. Diese Gespräche gewaltsame Übergriffe auf Palästinenser und Sachbe- werden in der palästinensischen Öffentlichkeit als Ver- schädigungen an palästinensischem Eigentum zu ver- zögerungstaktik wahrgenommen, die Israel in die zeichnen, die von Vertretern der radikalen Siedler in der Hände spielt: Der Prozess ermögliche den Israelis, den Vergangenheit in den Medien als Teil einer „Preisschild- Schein zu wahren, ernsthaftes Interesse an einer Zwei- Strategie“ bezeichnet wurden: Beschlüsse der israeli- Staaten-Lösung zu haben. Während der kurzen Phase 2
INGRID ROSS | WARTEN AUF PALÄSTINA? im Juli 2012, in der die bisherige Oppositionspartei handlungen werfen zu können. Die internationale Kadima der israelischen Regierungskoalition beitrat, war politische Anerkennung, die die ägyptische Muslim- ein Treffen zwischen dem Vize-Premierminister Shaul bruderschaft seither genießt, bleibt dem Ableger der Mofaz und Präsident Abbas in Ramallah geplant. Dem Muslimbruderschaft im Gazastreifen bisher jedoch Aufruf einer überparteilichen Koalition junger Aktivisten verwehrt. Noch immer straft der Westen die Hamas zu Protesten gegen das Treffen folgten einige hundert offiziell mit Isolation und stuft die Bewegung als Terror- Palästinenser in Ramallah. Die Demonstration veran- organisation ein. Die Lebensbedingungen der Bevölke- schaulichte nicht nur das geringe Vertrauen der Öffent- rung im Gazastreifen, der unter der israelischen Blo- lichkeit, dass diese Gespräche ein greifbares Ergebnis ckade leidet, haben sich bislang noch nicht spürbar und liefern könnten. Die harsche Reaktion der Sicherheits- nachhaltig verbessert. Pläne für eine Legalisierung der kräfte, die gewaltsam gegen die Demonstranten vor- über die Tunnel zwischen dem Gazastreifen und Ägyp- gingen, unterstrich vielmehr die wachsende Kluft zwi- ten abgewickelten Schmuggelgeschäfte in Form einer schen dem Handeln der palästinensischen Entschei- Freihandelszone existieren zwar, eine Implementierung dungsträger und der Bevölkerung. Gespräche dieser ist aber noch nicht in Sicht. Form sind der palästinensischen Öffentlichkeit kaum mehr vermittelbar. Damit geht ein Legitimitätsverlust der politischen Füh- rung einher: Die Hamas war mit dem Wahlversprechen Das schwindende Vertrauen darin, dass durch Dialog angetreten, eine andere Politik zu gestalten als die ein Wandel herbeigeführt werden kann und die Er- Fatah. Die Parlamentswahlen 2006 hatte sie vor allem kenntnis, dass auch gewaltsamer Widerstand die Situa- gewonnen, weil der politische Rivale intern zerstritten, tion der Palästinenser nicht verbessern kann, führen von Korruptionsvorwürfen geplagt und ohne einen dazu, dass Handlungen des gewaltlosen Widerstands überzeugenden Politikentwurf angetreten war. Nun durch Palästinenser Zulauf erhalten. Die Ablehnung von muss auch die Hamas eingestehen, dass sie weder an zivilgesellschaftlichen Dialogmaßnahmen mit Israelis der israelischen Blockade und Besatzung noch in dem durch die Anti-Normalisierungsbewegung, die Kam- von Israel für ihre Politik gesteckten Handlungsrahmen pagne zum Boykott von israelischen Produkten und viel hat ändern können. Da sich die beiden herrschen- regelmäßig stattfindende Demonstrationen gegen die den Parteien bislang nicht auf Neuwahlen einigen israelischen Sperranlage (unter Aktivisten als "Israeli konnten - diese werden der nationalen Versöhnung Apartheid Wall" bezeichnet) sind Elemente dieser als vorbehalten - blieb den Machthabern als einzige Mög- einzige Alternative empfundenen Handlungsstrategie. lichkeit der Erneuerung ihres Herrschaftsapparats eine Besonders unter den jungen Palästinensern, die sich von Regierungsumbildung ohne einer Erneuerung ihres keiner der etablierten politischen Bewegungen reprä- Mandats durch Wahlen. In der Westbank ersetzte Prä- sentiert fühlen, genießen diese Aktionen große Popula- sident Mahmoud Abbas im Mai 2012 zum zweiten Mal rität. seit der Regierungsbildung 2007 große Teile seines Kabinetts. Im Gazastreifen unternahm Premierminister Isamail Haniyeh Anfang September 2012 denselben Schritt und stellte ein neues Kabinett vor. Mehrere Legitimitätsverlust der Regierenden Minister hatten zuvor mit der Begründung ihren Rück- in den palästinensischen Gebieten tritt erklärt, dass sie die an sie gestellten Erwartungen der Gesellschaft nicht erfüllen konnten. Die Spaltung der palästinensischen Gebiete auf territo- rialer und auf politischer Ebene vertieft sich unterdes- Währenddessen versucht Präsident Abbas mit der An- sen. Die Versöhnung zwischen der im Gazastreifen kündigung von Wahlen auf lokaler Ebene für den 20. herrschenden Hamas und der die Westbank regieren- Oktober 2012 auf den Legitimitätsverlust zu reagieren. den Fatah steht zwar nach wie vor auf der Agenda, Doch Hamas hat sich gegen die Durchführung der doch sind auch hier beide Konfliktparteien der Über- Lokalwahlen im Gazastreifen ausgesprochen und ange- zeugung, dass sie durch vorschnelle Handlungen viel zu kündigt, diese auch in der Westbank zu boykottieren. verlieren und wenig zu gewinnen hätten. Vor allem die Somit beschränkt sich der politische Wettbewerb, der Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursis zum für eine pluralistische Demokratie unabdingbar ist, auf Präsidenten in Ägypten hat bei der Hamas die Hoffnung die Fatah und andere kleinere Parteien. Eine 8% Hürde geweckt, mehr Gewicht in die Waagschale der Ver- bei den Lokalwahlen macht den Erfolg von alternativen 3
INGRID ROSS | WARTEN AUF PALÄSTINA? Zusammenschlüssen jedoch unwahrscheinlich. Ob unter Oslo-Prozesses geschlossen wurde, legt die Palästinensi- diesen Voraussetzungen mit einer breiten Wahlbeteili- schen Gebiete u.a. auf eine Zollunion mit Israel fest. gung zu rechnen ist, die eine demokratische Veranke- rung in der Bevölkerung ermöglicht, ist fraglich. Die Der wirtschaftspolitische Kurs der Fayyad Regierung ist Lokalwahlen werden somit zu wenig mehr als einem indes auf wachsenden Widerstand in der palästinensi- Test für Politikverdrossenheit werden. Der Erosion der schen Gesellschaft und bei mächtigen Interessengrup- demokratischen Legitimität werden sie kaum entgegen pen gestoßen. Mit dem Vorhaben, die Anzahl der An- wirken können. gestellten im Öffentlichen Dienst zu reduzieren, brachte Fayyad die Gewerkschaften gegen sich auf. Die Pläne, Eine inner-palästinensische Einigung setzt voraus, dass die Einkommens- und Umsatzsteuer zu erhöhen, beide Parteien demokratische Grundprinzipien respek- musste er im Juni diesen Jahres nach einer öffentlichen tieren: Auf der Grundlage gemeinsam vereinbarter Protestwelle, in der sich auch das Unternehmertum Spielregeln erhält die Mehrheit den Auftrag zu regieren gegen die Steuererhöhungen gewehrt hatte, zunächst und die Pflicht, die Rechte der Minderheit zu akzeptie- suspendieren. Der Ende August beschlossene Anstieg ren. Das gegenseitige Misstrauen beider Parteien und des Mehrwertsteuersatzes traf die Bevölkerung ange- die fehlende Bereitschaft auf Macht und die mit ihr sichts einer Arbeitslosenquote von 24% (1. Quartal verbundene Privilegien zu verzichten, ist wohl das 2012) besonders hart. Gleichzeitig sahen sich viele größte Hindernis für die Versöhnung. Die internationale Privathaushalte während des Ramadan und mit dem Gemeinschaft könnte Anreize für die Versöhnung Schulbeginn mit hohen Ausgaben konfrontiert. setzen, indem sie die Fortführung bisheriger Koope- ration auch mit einer Regierung der nationalen Einheit Ähnlich wie bei den sozialen Protesten in Tunesien, hat in Aussicht stellt. Dies würde jedoch einen Wandel der sich in den palästinensischen Gebieten ein Mensch Politik der Isolation und Ächtung gegenüber der politi- selbst angezündet, um auf die desolate sozio-ökonomi- schen Führung der Hamas voraussetzen. sche Lage aufmerksam zu machen. Bei spontanen Demonstrationen gegen die Steigerung der Treibstoff- und Lebenshaltungskosten in mehreren Städten in der Westbank richtete sich die Wut gegen Premierminister Aufbau von Staatlichkeit Fayyad und das Pariser Protokoll. Bei Protesten in He- bron und Nablus kam es zu gewaltsamen Auseinander- Unter dem Titel des 2009 vorgestellten Regierungspro- setzungen mit palästinensischen Sicherheitskräften, gramms „Palestine - Ending the Occupation, Estab- doch überwiegend blieben die Demonstrationen fried- lishing the State“ von Premierminister Salam Fayyad lich. Auch wenn einzelne Fatah-nahe Gewerkschaften investierte die palästinensische Autonomiebehörde mit zu Streiks aufgerufen hatten, kann von einer Steuerung Hilfe der internationalen Gemeinschaft in den Aufbau oder Instrumentalisierung der Proteste durch die politi- staatlicher Institutionen. Der Internationale Währungs- schen Bewegungen bislang nicht gesprochen werden. fonds und die Weltbank attestierten den Erfolg dieser Anstrengungen im Frühjahr 2011 – rechtzeitig vor dem Der Regierung unter Premierminister Fayyad ist zu ei- UN Mitgliedschaftsantrag – mit den Worten, die Paläs- nem Zeitpunkt, an dem eine sozialgerechte Reformpoli- tinenser seien „Ready for Statehood“. Als Indikatoren tik dringend geboten wäre, die Hände gebunden. Das zogen sie u.a. Daten der wirtschaftlichen Entwicklung, Haushaltsdefizit ist im ersten Quartal 2012 um 82% im Errungenschaften in den Bereichen Sicherheit und Vergleich zum vorherigen Quartal gewachsen. Die Justizwesen, des Dienstleistungssektors, des öffentli- Auszahlungen von Löhnen und Gehältern an die Ange- chen Haushalts und Fortschritte von Good Governance stellten im Öffentlichen Dienst wurden in den letzten heran. Trotz der positiven Bewertung war jedoch klar, Monaten wiederholt verzögert oder in geringerer Höhe dass die hohe Abhängigkeit von internationalen Gebern getätigt. Da die Einnahmeseite der PA volatil und von die Achillesferse des Erfolgs darstellt. Denn selbst über dem politischen Willen der Gebergemeinschaft und Einnahmen aus palästinensischen Quellen hat die Regie- Israels abhängig ist, hat die Regierung wenig Spielraum rung keine souveräne Verfügungsgewalt, ist doch ihre für haushaltspolitische Planung und Steuerung. Die Wirtschaft in allen Außenhandelsbelangen und der Hoffnung auf einen Wachstumsschub durch den Privat- Festsetzung des Mehrwertsteuersatzes von Israel ab- sektors wird sich kaum erfüllen, solange die Bewe- hängig. Das Pariser Protokoll, das 1994 im Rahmen des gungsfreiheit in den besetzten Gebieten beschränkt 4
INGRID ROSS | WARTEN AUF PALÄSTINA? und das Investitionsklima von Unsicherheit geprägt ist. nierung als gleichberechtigte Bürger in einem Staat Fayyad versuchte als Reaktion auf die Proteste in den offen gegenüber. letzten Wochen, die Lage durch die Rücknahme der Steuererhöhungen, die sofortige Auszahlung von Mehrere Einschränkungen lassen dieses Szenario als Gehältern und die Reduzierung der Spitzengehälter der Lösung für den Konflikt jedoch unrealistisch erscheinen: Angestellten im öffentlichen Dienst zu beruhigen. Ob Zum einen ist es unwahrscheinlich, dass der Kampf für dies ausreicht, um die erhitzten Gemüter und seine die Gleichberechtigung in einem Staat auch den Gaza- Kritiker zu besänftigen, bleibt abzuwarten. Die Abhän- streifen mit einbezieht, der sich angesichts der israeli- gigkeit der PA von internationalen Gebern ist eher schen Blockadepolitik und der inner-palästinensischen gestiegen als gesunken, wie auch der Bericht des UN Spaltung immer näher an Ägypten orientiert. Schon Sonderbeauftragten für den Nahost-Friedensprozess an heute erteilt Israel beim Grenzübertritt in den Gazastrei- das Ad Hoc Liaison Committee konstatiert. fen einen Ausreisestempel und macht auf diese Weise deutlich, dass dies kein israelisches Staatsgebiet sei. Gleichzeitig sinkt in der Westbank das Vertrauen der Dieser Ansatz würde also einer Aufgabe des Gazastrei- Bevölkerung in die Einhaltung demokratischer Prinzi- fens gleich kommen. Zum anderen wird die Idee einer pien durch die eigene Regierung. Die Einschränkung Ein-Staaten-Lösung auf israelischer Seite mehrheitlich von Meinungs- und Pressefreiheit, das gewaltsame abgelehnt, denn von dem Modell eines demokratischen Vorgehen gegen Demonstranten durch palästinensische und zugleich jüdischen Staates müsste dann Abstand Sicherheitskräfte und die Einschränkung von politischen genommen werden. Freiheiten prägen ein Klima der Entfremdung zwischen den Politikern und der Gesellschaft. Die sozio-ökonomi- schen Proteste haben die Ohnmacht der politischen Führung deutlicher werden lassen. Von der Zwei-Staaten- zur Ein-Staaten-Lösung? Der Weg zur Erreichung staatlicher Souveränität Paläs- tinas durch direkte Verhandlungen scheint zum jetzigen Zeitpunkt versperrt, so dass die Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne rückt. Unter diesen Rahmenbedin- gungen gewinnt stattdessen das Konzept einer Ein- Staaten-Lösung - zumindest als Übergangsszenario - an Popularität. Je mehr das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit der palästinensischen Institutio- nen sinkt, desto leichter fällt es der jungen Generation, diese in Frage zu stellen und sich einer neuen Strategie zuzuwenden, die ihnen durch die Einforderung indivi- dueller Rechte in einem gemeinsamen Staat ein gutes und sicheres Leben in Aussicht stellt. Ein prominenter Vertreter dieser Idee ist der Intellektuelle Sari Nusseibeh, Professor an der Al-Quds Universität und ehemaliger PLO-Politiker. Obwohl auch in seinen Augen die Zwei- Staaten-Lösung das optimalste Modell ist, spricht er sich dafür aus, zum jetzigen Zeitpunkt für die Erlangung von Bürgerrechten in einem gemeinsamen Staat mit Israel zu kämpfen. Auch der Vorsitzende der linken Oppositi- onspartei AlMubadara, Dr. Mustafa Barghouti, steht dem taktischen Schachzug des Kampfs gegen Diskrimi- 5
Über den Autor Impressum Ingrid Roß ist seit 2012 Leiterin des Büros der Friedrich- Friedrich-Ebert-Stiftung | Referat Naher/Mittlerer Osten und Ebert-Stiftung in Palästina und war zuvor als Referentin in der Nordafrika Abteilung Internationale Entwicklungszusammenarbeit, Hiroshimastraße 28 | 10785 Berlin | Deutschland Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika der FES in Berlin tätig. Verantwortlich: Armin Hasemann Referent für Israel und Palästinensische Gebiete Tel.: ++49-30-269-35-7423 | Fax: ++49-30-269-35-9233 http://www.fes.de/nahost Bestellungen/Kontakt hier: nahost@fes.de Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten ISBN Nummer sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung. 978-3-86498-297-2 Diese Publikation wird auf Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft gedruckt.
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