Warten auf Palästina? - Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses

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Warten auf Palästina? - Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses
PERSPEKTIVE | FES PALÄSTINA

                                Warten auf Palästina?
 Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses

                                                                             INGRID ROSS
                                                                           September 2012

 In Abwesenheit einer glaubhaften Perspektive für eine Zwei-Staaten-Lösung zwanzig Jah-
  re nach dem Beginn des Oslo-Prozesses schwindet der Rückhalt für die etablierten
  Regierungsstrukturen der palästinensischen Autonomiebehörde. Die palästinensische
  Führung ist in die Defensive geraten und spielt nun selbst mit dem Gedanken der
  Aufkündigung der Oslo-Verträge.

 Die Parameter der Konfliktlösung verschieben sich: Die ungehinderte Fortsetzung von
  völkerrechtswidrigen Siedlungsaktivitäten ist nur ein Anzeichen für ständige Veränderung
  der Realität. Darüber hinaus verlieren die Regierenden in beiden palästinensischen
  Gebieten, Westbank und Gaza, an Legitimität und angesichts der Finanzkrise der
  Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) wächst die Abhängigkeit von internationalen
  Gebern.

 Je mehr das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit der palästinensischen
  Institutionen sinkt, desto leichter fällt es der jungen Generation, diese in Frage zu stellen
  und sich einer neuen Strategie zuzuwenden, die ihnen durch die Einforderung indivi-
  dueller Rechte in einem gemeinsamen Staat ein gutes und sicheres Leben in Aussicht
  stellt.
INGRID ROSS | WARTEN AUF PALÄSTINA?

Seit einigen Wochen gärt es in den Palästinensischen             weitere Gespräche. Ein weiteres Hindernis künftiger
Gebieten. Nach dem Ende des Ramadan Ende August                  Verhandlungen zeichnete sich bereits ab: Der israelische
gingen tausende Palästinenser auf die Strasse, um                Premierminister Benjamin Netanyahu erklärte im Hin-
gegen die Erhöhung der Lebenshaltungskosten zu                   blick auf eine innerpalästinensische Versöhnung zwi-
demonstrieren. Die Unzufriedenheit mit der sozialen              schen den verfeindeten Parteien Hamas und Fatah,
und wirtschaftlichen Lage richtete sich zunächst gegen           Präsident Abbas müsse sich zwischen Frieden mit Israel
die Wirtschaftspolitik von Premierminister Salam Fayyad          und Frieden mit der Hamas entscheiden. Die Fortset-
und gegen das im Rahmen der Oslo-Verträge verein-                zung von Verhandlungen zwischen Israel und einer
barte Paris Protokoll, das die palästinensische Wirtschaft       palästinensischen Führung, die alle relevanten politi-
an Israel bindet. Doch mittlerweile stellen immer                schen Kräfte repräsentiert, scheint damit ausgeschlos-
größere Teile der Bevölkerung und zunehmend auch                 sen.
der politischen Bewegungen den durch die Oslo-Ver-
träge geschaffenen politischen Status Quo in Frage. Die          Währenddessen verschieben sich die Parameter der
Einrichtung der Palästinensischen Autonomiebehörde               Konfliktlösung. Der Begriff Status Quo ist insofern
(PA) war zunächst als Übergangskonstrukt auf die                 irreführend, denn der Zustand ist höchst dynamisch: Die
Dauer von fünf Jahren angelegt und sollte in die souve-          ungehinderte Fortsetzung von völkerrechtswidrigen
räne Staatlichkeit Palästinas münden. In Abwesenheit             Siedlungsaktivitäten ist nur eines der - wenn auch das
einer glaubhaften Perspektive für eine Zwei-Staaten-             bei weitem sichtbarste - Anzeichen für ständige Verän-
Lösung zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-                   derung der Realität. Darüber hinaus verlieren die Regie-
Prozesses schwindet nun der Rückhalt für die etablier-           renden in beiden palästinensischen Gebieten, Westbank
ten Regierungsstrukturen. Die palästinensische Führung           und Gaza, an Legitimität und angesichts der Finanzkrise
ist in die Defensive geraten und spielt nun selbst mit           der PA wächst die Abhängigkeit von internationalen
dem Gedanken der Aufkündigung der Oslo-Verträge.                 Gebern.

Seit der Kampagne für eine Vollmitgliedschaft Palästi-
nas in den Vereinten Nationen im September 2011
fehlte es an überzeugenden Initiativen der politischen                             Israelische Siedlungspolitik
Führung in Ramallah. Während der Antrag beim UN
Sicherheits-rat, der mit einer vielbeachteten Rede von           Das Wachstum der israelischen Siedlungen in der West-
Präsident Abbas im letzten Herbst vor der Vollver-               bank und der sie verbindenden Infrastruktursysteme
sammlung der Vereinten Nationen einherging, seither              trägt dazu bei, dass das Gebiet, auf dem der künftige
auf Eis liegt, blieb der palästinensischen Führung nur, in       palästinensische Staat entstehen soll, in einzelne Inseln
diesem Jahr die staatliche Anerkennung durch die UN              mit hoher Bevölkerungsdichte zerteilt wird, die von den
Vollversammlung als nicht-Mitgliedsstaat zu suchen. Die          landwirtschaftlichen und industriellen Nutzflächen
notwendige Unterstützung für den Antrag der                      abgeschnitten werden. Die Zahl der Siedler in der
Vollmitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat hat Präsident            Westbank (ohne Ost-Jerusalem) hat mit der Unterstüt-
Abbas nicht sammeln können. Stillstand ist auch auf              zung der israelischen Regierungen seit dem Beginn des
der Ebene offizieller Verhandlungen zwischen den                 Oslo-Prozesses von 90.000 auf 311.000 im Jahr 2010
Israelis und Palästinensern zu verzeichnen. Nach der             stetig zugenommen. Neben der physischen Expansion
diplomatischen Offensive bei den UN im September                 der Siedlungen ist der Anteil der Ultra-Orthodoxen an
2011 hatte das Nahost-Quartett bestehend aus den                 der Gesamtzahl der Siedler überproportional gewach-
USA, Russland, der EU und den UN versucht, beide                 sen. Während 1991 5% dieser Siedler zu den Ultra-
Konfliktparteien zu direkten Verhandlungen zu                    Orthodoxen gehörten, ist ihr Anteil in der Westbank
bewegen. Doch die fünf Gesprächsrunden, die als                  mittlerweile auf 32% angestiegen. Dies ist insofern von
"exploratory talks" zwischen Unterhändlern in                    Bedeutung, als dass die Geburtenrate in dieser Bevölke-
Jordanien im Januar 2012 geführt wurden, wurden                  rungsgruppe um ein Vielfaches höher liegt, als in ande-
ohne Ergebnisse abgebrochen. Die palästinensische                ren Teilen der israelischen Gesellschaft. Der weitere
Seite beharrte darauf, die Grenzen von 1967 zur                  Anstieg der Anzahl der Siedler durch „natürliches
Grundlage der Verhandlungen zu setzen und bekräf-                Wachstum“ ist daher ein absehbarer Trend.
tigte die Forderung des Siedlungsstopps, eine Verpflich-
tung der Roadmap von 2003, als Voraussetzung für

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INGRID ROSS | WARTEN AUF PALÄSTINA?

Große Unterstützung erhalten die Siedlungen von der              schen Behörden, die die Interessen der Siedlerbewe-
israelischen Regierung. Im Jahr 2011 hat die Regie-              gung verletzen, werden mit Taten wie Schändungen
rungskoalition 217 Millionen Euro des Staatshaushalts            von Moscheen oder Friedhöfen beantwortet, um deut-
für sie aufgewandt. Als das israelische Oberste Gericht          lich zu machen, dass diese Entscheidungen „ihren
im Juni diesen Jahres die Evakuierung einiger auch nach          Preis“ haben. Zuletzt wurde ein christliches Kloster in
israelischem Recht illegal gebauten Häuser der Siedlung          Latrun nach der Räumung des Außenpostens Migron
Ulpana anordnete, kündigte Netanjahu an, für jedes               Ziel eines Preisschild-Anschlags. Die USA hat in dem
Haus, das abgerissen würde, zehn neue Häuser in einer            regelmäßig erscheinenden „Country Report on Terro-
anderen Siedlung zu errichten. Unverblümt gab er zu,             rism 2011“ erstmals Gewalt radikaler jüdischer Siedler
dass ihn hauptsächlich die zu erwartende internationale          als „terroristische Vorfälle“ klassifiziert. Mittlerweile
Kritik an der Legalisierung des Außenpostens hindere.            werden sich auch israelische Entscheidungsträger der
Daran wird deutlich, wo bislang noch die Roten Linien            Tragweite des Problems bewusst. Verteidigungsminister
der Regierung in der Siedlungspolitik verlaufen: Der             Ehud Barak erklärte nach dem Anschlag in Latrun, man
Ausbau bestehender völkerrechtswidriger Siedlungen               müsse den „jüdischen Terror mit eiserner Faust
wird gefördert, von der Schaffung von Präzedenzfällen,           bekämpfen“.
in denen nach israelischem Recht illegal etablierte
Außenposten legalisiert werden, wird noch abgesehen.
Zwar wird die Räumung von einigen Siedlungen unwei-
gerlich Bestandteil einer künftigen israelisch-palästinen-       Einstellung der palästinensischen Bevöl-
sischen Einigung werden müssen, wenn ein zusam-                     kerung gegenüber dem Oslo-Prozess
menhängendes und lebensfähiges palästinensisches
Staatsgebiet geschaffen werden soll, doch wirkt derzeit          Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses,
die israelische Siedlungspolitik in die entgegengesetzte         der die Verpflichtung der Konfliktparteien auf die Etab-
Richtung.                                                        lierung von zwei Staaten beinhaltete, glaubt die Mehr-
                                                                 heit der Palästinenser nicht daran, dass eine Zwei-Staa-
                                                                 ten-Lösung angesichts des fortgesetzten Siedlungsbaus
                                                                 noch möglich ist, so die Ergebnisse einer Meinungsum-
                Zunahme von Siedlergewalt                        frage des Palestinian Center for Policy and Research im
                                                                 Juni 2012. Die Abkommen, die im Rahmen des Oslo-
Auch das Verhalten von Teilen der Siedlerbewegung                Prozesses geschlossen wurden, dienten dem Aufbau
gegenüber den Palästinensern hat sich verändert: So              von Selbstverwaltungsstrukturen für einen begrenzten
verzeichnet das UN Office for Humanitarian Affairs in            Übergangszeitraum auf dem Weg zur Entstehung eines
den palästinensischen Gebieten von 2009 bis 2011                 palästinensischen Staates. Je weiter eine Einigung auf
einen Anstieg von Gewalttaten, die von Siedlern ausge-           die Errichtung von zwei Staaten in die Ferne rückt,
hen und sich gegen Palästinenser richten, um 144%.               desto lauter stellen die Palästinenser diese Strukturen,
Die Tatsache, dass 90% dieser Übergriffe von Seiten              allen voran die Palästinensische Autonomiebehörde, in
der israelischen Polizei nicht verfolgt werden, fördert          Frage. Der israelischen Seite sei es gelungen, eine Situa-
ein Klima der Straflosigkeit und Gewalt. So verübten             tion zu schaffen, in der die Palästinenser in einem Ge-
Jugendliche aus der Siedlung Bat Ayin, die südlich von           fängnis sitzen, in dem sie selbst das Gefängnispersonal
Jerusalem gelegen ist, beispielsweise am 16. August,             stellen und ihre eigene Gefangenschaft – mit finanziel-
dem Vorabend des muslimischen Id-Al-Fitr Festes, einen           ler Unterstützung der internationalen Gemeinschaft –
Brandanschlag auf sechs Personen in einem Taxi in der            auch noch selber zahlen.
Westbank. Dabei wurden zwei Personen schwer ver-
letzt.                                                           Vor diesem Hintergrund wird allen israelisch-palästinen-
                                                                 sischen Verhandlungen, die lediglich "Talks on Talks"
Neben der wenig zielgerichteten Gewalt sind auch                 darstellen, mit Misstrauen begegnet. Diese Gespräche
gewaltsame Übergriffe auf Palästinenser und Sachbe-              werden in der palästinensischen Öffentlichkeit als Ver-
schädigungen an palästinensischem Eigentum zu ver-               zögerungstaktik wahrgenommen, die Israel in die
zeichnen, die von Vertretern der radikalen Siedler in der        Hände spielt: Der Prozess ermögliche den Israelis, den
Vergangenheit in den Medien als Teil einer „Preisschild-         Schein zu wahren, ernsthaftes Interesse an einer Zwei-
Strategie“ bezeichnet wurden: Beschlüsse der israeli-            Staaten-Lösung zu haben. Während der kurzen Phase

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INGRID ROSS | WARTEN AUF PALÄSTINA?

im Juli 2012, in der die bisherige Oppositionspartei            handlungen werfen zu können. Die internationale
Kadima der israelischen Regierungskoalition beitrat, war        politische Anerkennung, die die ägyptische Muslim-
ein Treffen zwischen dem Vize-Premierminister Shaul             bruderschaft seither genießt, bleibt dem Ableger der
Mofaz und Präsident Abbas in Ramallah geplant. Dem              Muslimbruderschaft im Gazastreifen bisher jedoch
Aufruf einer überparteilichen Koalition junger Aktivisten       verwehrt. Noch immer straft der Westen die Hamas
zu Protesten gegen das Treffen folgten einige hundert           offiziell mit Isolation und stuft die Bewegung als Terror-
Palästinenser in Ramallah. Die Demonstration veran-             organisation ein. Die Lebensbedingungen der Bevölke-
schaulichte nicht nur das geringe Vertrauen der Öffent-         rung im Gazastreifen, der unter der israelischen Blo-
lichkeit, dass diese Gespräche ein greifbares Ergebnis          ckade leidet, haben sich bislang noch nicht spürbar und
liefern könnten. Die harsche Reaktion der Sicherheits-          nachhaltig verbessert. Pläne für eine Legalisierung der
kräfte, die gewaltsam gegen die Demonstranten vor-              über die Tunnel zwischen dem Gazastreifen und Ägyp-
gingen, unterstrich vielmehr die wachsende Kluft zwi-           ten abgewickelten Schmuggelgeschäfte in Form einer
schen dem Handeln der palästinensischen Entschei-               Freihandelszone existieren zwar, eine Implementierung
dungsträger und der Bevölkerung. Gespräche dieser               ist aber noch nicht in Sicht.
Form sind der palästinensischen Öffentlichkeit kaum
mehr vermittelbar.                                              Damit geht ein Legitimitätsverlust der politischen Füh-
                                                                rung einher: Die Hamas war mit dem Wahlversprechen
Das schwindende Vertrauen darin, dass durch Dialog              angetreten, eine andere Politik zu gestalten als die
ein Wandel herbeigeführt werden kann und die Er-                Fatah. Die Parlamentswahlen 2006 hatte sie vor allem
kenntnis, dass auch gewaltsamer Widerstand die Situa-           gewonnen, weil der politische Rivale intern zerstritten,
tion der Palästinenser nicht verbessern kann, führen            von Korruptionsvorwürfen geplagt und ohne einen
dazu, dass Handlungen des gewaltlosen Widerstands               überzeugenden Politikentwurf angetreten war. Nun
durch Palästinenser Zulauf erhalten. Die Ablehnung von          muss auch die Hamas eingestehen, dass sie weder an
zivilgesellschaftlichen Dialogmaßnahmen mit Israelis            der israelischen Blockade und Besatzung noch in dem
durch die Anti-Normalisierungsbewegung, die Kam-                von Israel für ihre Politik gesteckten Handlungsrahmen
pagne zum Boykott von israelischen Produkten und                viel hat ändern können. Da sich die beiden herrschen-
regelmäßig stattfindende Demonstrationen gegen die              den Parteien bislang nicht auf Neuwahlen einigen
israelischen Sperranlage (unter Aktivisten als "Israeli         konnten - diese werden der nationalen Versöhnung
Apartheid Wall" bezeichnet) sind Elemente dieser als            vorbehalten - blieb den Machthabern als einzige Mög-
einzige Alternative empfundenen Handlungsstrategie.             lichkeit der Erneuerung ihres Herrschaftsapparats eine
Besonders unter den jungen Palästinensern, die sich von         Regierungsumbildung ohne einer Erneuerung ihres
keiner der etablierten politischen Bewegungen reprä-            Mandats durch Wahlen. In der Westbank ersetzte Prä-
sentiert fühlen, genießen diese Aktionen große Popula-          sident Mahmoud Abbas im Mai 2012 zum zweiten Mal
rität.                                                          seit der Regierungsbildung 2007 große Teile seines
                                                                Kabinetts. Im Gazastreifen unternahm Premierminister
                                                                Isamail Haniyeh Anfang September 2012 denselben
                                                                Schritt und stellte ein neues Kabinett vor. Mehrere
     Legitimitätsverlust der Regierenden                        Minister hatten zuvor mit der Begründung ihren Rück-
      in den palästinensischen Gebieten                         tritt erklärt, dass sie die an sie gestellten Erwartungen
                                                                der Gesellschaft nicht erfüllen konnten.
Die Spaltung der palästinensischen Gebiete auf territo-
rialer und auf politischer Ebene vertieft sich unterdes-        Währenddessen versucht Präsident Abbas mit der An-
sen. Die Versöhnung zwischen der im Gazastreifen                kündigung von Wahlen auf lokaler Ebene für den 20.
herrschenden Hamas und der die Westbank regieren-               Oktober 2012 auf den Legitimitätsverlust zu reagieren.
den Fatah steht zwar nach wie vor auf der Agenda,               Doch Hamas hat sich gegen die Durchführung der
doch sind auch hier beide Konfliktparteien der Über-            Lokalwahlen im Gazastreifen ausgesprochen und ange-
zeugung, dass sie durch vorschnelle Handlungen viel zu          kündigt, diese auch in der Westbank zu boykottieren.
verlieren und wenig zu gewinnen hätten. Vor allem die           Somit beschränkt sich der politische Wettbewerb, der
Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursis zum                      für eine pluralistische Demokratie unabdingbar ist, auf
Präsidenten in Ägypten hat bei der Hamas die Hoffnung           die Fatah und andere kleinere Parteien. Eine 8% Hürde
geweckt, mehr Gewicht in die Waagschale der Ver-                bei den Lokalwahlen macht den Erfolg von alternativen

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INGRID ROSS | WARTEN AUF PALÄSTINA?

Zusammenschlüssen jedoch unwahrscheinlich. Ob unter             Oslo-Prozesses geschlossen wurde, legt die Palästinensi-
diesen Voraussetzungen mit einer breiten Wahlbeteili-           schen Gebiete u.a. auf eine Zollunion mit Israel fest.
gung zu rechnen ist, die eine demokratische Veranke-
rung in der Bevölkerung ermöglicht, ist fraglich. Die           Der wirtschaftspolitische Kurs der Fayyad Regierung ist
Lokalwahlen werden somit zu wenig mehr als einem                indes auf wachsenden Widerstand in der palästinensi-
Test für Politikverdrossenheit werden. Der Erosion der          schen Gesellschaft und bei mächtigen Interessengrup-
demokratischen Legitimität werden sie kaum entgegen             pen gestoßen. Mit dem Vorhaben, die Anzahl der An-
wirken können.                                                  gestellten im Öffentlichen Dienst zu reduzieren, brachte
                                                                Fayyad die Gewerkschaften gegen sich auf. Die Pläne,
Eine inner-palästinensische Einigung setzt voraus, dass         die Einkommens- und Umsatzsteuer zu erhöhen,
beide Parteien demokratische Grundprinzipien respek-            musste er im Juni diesen Jahres nach einer öffentlichen
tieren: Auf der Grundlage gemeinsam vereinbarter                Protestwelle, in der sich auch das Unternehmertum
Spielregeln erhält die Mehrheit den Auftrag zu regieren         gegen die Steuererhöhungen gewehrt hatte, zunächst
und die Pflicht, die Rechte der Minderheit zu akzeptie-         suspendieren. Der Ende August beschlossene Anstieg
ren. Das gegenseitige Misstrauen beider Parteien und            des Mehrwertsteuersatzes traf die Bevölkerung ange-
die fehlende Bereitschaft auf Macht und die mit ihr             sichts einer Arbeitslosenquote von 24% (1. Quartal
verbundene Privilegien zu verzichten, ist wohl das              2012) besonders hart. Gleichzeitig sahen sich viele
größte Hindernis für die Versöhnung. Die internationale         Privathaushalte während des Ramadan und mit dem
Gemeinschaft könnte Anreize für die Versöhnung                  Schulbeginn mit hohen Ausgaben konfrontiert.
setzen, indem sie die Fortführung bisheriger Koope-
ration auch mit einer Regierung der nationalen Einheit          Ähnlich wie bei den sozialen Protesten in Tunesien, hat
in Aussicht stellt. Dies würde jedoch einen Wandel der          sich in den palästinensischen Gebieten ein Mensch
Politik der Isolation und Ächtung gegenüber der politi-         selbst angezündet, um auf die desolate sozio-ökonomi-
schen Führung der Hamas voraussetzen.                           sche Lage aufmerksam zu machen. Bei spontanen
                                                                Demonstrationen gegen die Steigerung der Treibstoff-
                                                                und Lebenshaltungskosten in mehreren Städten in der
                                                                Westbank richtete sich die Wut gegen Premierminister
                     Aufbau von Staatlichkeit                   Fayyad und das Pariser Protokoll. Bei Protesten in He-
                                                                bron und Nablus kam es zu gewaltsamen Auseinander-
Unter dem Titel des 2009 vorgestellten Regierungspro-           setzungen mit palästinensischen Sicherheitskräften,
gramms „Palestine - Ending the Occupation, Estab-               doch überwiegend blieben die Demonstrationen fried-
lishing the State“ von Premierminister Salam Fayyad             lich. Auch wenn einzelne Fatah-nahe Gewerkschaften
investierte die palästinensische Autonomiebehörde mit           zu Streiks aufgerufen hatten, kann von einer Steuerung
Hilfe der internationalen Gemeinschaft in den Aufbau            oder Instrumentalisierung der Proteste durch die politi-
staatlicher Institutionen. Der Internationale Währungs-         schen Bewegungen bislang nicht gesprochen werden.
fonds und die Weltbank attestierten den Erfolg dieser
Anstrengungen im Frühjahr 2011 – rechtzeitig vor dem            Der Regierung unter Premierminister Fayyad ist zu ei-
UN Mitgliedschaftsantrag – mit den Worten, die Paläs-           nem Zeitpunkt, an dem eine sozialgerechte Reformpoli-
tinenser seien „Ready for Statehood“. Als Indikatoren           tik dringend geboten wäre, die Hände gebunden. Das
zogen sie u.a. Daten der wirtschaftlichen Entwicklung,          Haushaltsdefizit ist im ersten Quartal 2012 um 82% im
Errungenschaften in den Bereichen Sicherheit und                Vergleich zum vorherigen Quartal gewachsen. Die
Justizwesen, des Dienstleistungssektors, des öffentli-          Auszahlungen von Löhnen und Gehältern an die Ange-
chen Haushalts und Fortschritte von Good Governance             stellten im Öffentlichen Dienst wurden in den letzten
heran. Trotz der positiven Bewertung war jedoch klar,           Monaten wiederholt verzögert oder in geringerer Höhe
dass die hohe Abhängigkeit von internationalen Gebern           getätigt. Da die Einnahmeseite der PA volatil und von
die Achillesferse des Erfolgs darstellt. Denn selbst über       dem politischen Willen der Gebergemeinschaft und
Einnahmen aus palästinensischen Quellen hat die Regie-          Israels abhängig ist, hat die Regierung wenig Spielraum
rung keine souveräne Verfügungsgewalt, ist doch ihre            für haushaltspolitische Planung und Steuerung. Die
Wirtschaft in allen Außenhandelsbelangen und der                Hoffnung auf einen Wachstumsschub durch den Privat-
Festsetzung des Mehrwertsteuersatzes von Israel ab-             sektors wird sich kaum erfüllen, solange die Bewe-
hängig. Das Pariser Protokoll, das 1994 im Rahmen des           gungsfreiheit in den besetzten Gebieten beschränkt

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INGRID ROSS | WARTEN AUF PALÄSTINA?

und das Investitionsklima von Unsicherheit geprägt ist.            nierung als gleichberechtigte Bürger in einem Staat
Fayyad versuchte als Reaktion auf die Proteste in den              offen gegenüber.
letzten Wochen, die Lage durch die Rücknahme der
Steuererhöhungen, die sofortige Auszahlung von                     Mehrere Einschränkungen lassen dieses Szenario als
Gehältern und die Reduzierung der Spitzengehälter der              Lösung für den Konflikt jedoch unrealistisch erscheinen:
Angestellten im öffentlichen Dienst zu beruhigen. Ob               Zum einen ist es unwahrscheinlich, dass der Kampf für
dies ausreicht, um die erhitzten Gemüter und seine                 die Gleichberechtigung in einem Staat auch den Gaza-
Kritiker zu besänftigen, bleibt abzuwarten. Die Abhän-             streifen mit einbezieht, der sich angesichts der israeli-
gigkeit der PA von internationalen Gebern ist eher                 schen Blockadepolitik und der inner-palästinensischen
gestiegen als gesunken, wie auch der Bericht des UN                Spaltung immer näher an Ägypten orientiert. Schon
Sonderbeauftragten für den Nahost-Friedensprozess an               heute erteilt Israel beim Grenzübertritt in den Gazastrei-
das Ad Hoc Liaison Committee konstatiert.                          fen einen Ausreisestempel und macht auf diese Weise
                                                                   deutlich, dass dies kein israelisches Staatsgebiet sei.
Gleichzeitig sinkt in der Westbank das Vertrauen der               Dieser Ansatz würde also einer Aufgabe des Gazastrei-
Bevölkerung in die Einhaltung demokratischer Prinzi-               fens gleich kommen. Zum anderen wird die Idee einer
pien durch die eigene Regierung. Die Einschränkung                 Ein-Staaten-Lösung auf israelischer Seite mehrheitlich
von Meinungs- und Pressefreiheit, das gewaltsame                   abgelehnt, denn von dem Modell eines demokratischen
Vorgehen gegen Demonstranten durch palästinensische                und zugleich jüdischen Staates müsste dann Abstand
Sicherheitskräfte und die Einschränkung von politischen            genommen werden.
Freiheiten prägen ein Klima der Entfremdung zwischen
den Politikern und der Gesellschaft. Die sozio-ökonomi-
schen Proteste haben die Ohnmacht der politischen
Führung deutlicher werden lassen.

                   Von der Zwei-Staaten- zur
                        Ein-Staaten-Lösung?
Der Weg zur Erreichung staatlicher Souveränität Paläs-
tinas durch direkte Verhandlungen scheint zum jetzigen
Zeitpunkt versperrt, so dass die Zwei-Staaten-Lösung in
immer weitere Ferne rückt. Unter diesen Rahmenbedin-
gungen gewinnt stattdessen das Konzept einer Ein-
Staaten-Lösung - zumindest als Übergangsszenario - an
Popularität. Je mehr das Vertrauen der Bevölkerung in
die Handlungsfähigkeit der palästinensischen Institutio-
nen sinkt, desto leichter fällt es der jungen Generation,
diese in Frage zu stellen und sich einer neuen Strategie
zuzuwenden, die ihnen durch die Einforderung indivi-
dueller Rechte in einem gemeinsamen Staat ein gutes
und sicheres Leben in Aussicht stellt. Ein prominenter
Vertreter dieser Idee ist der Intellektuelle Sari Nusseibeh,
Professor an der Al-Quds Universität und ehemaliger
PLO-Politiker. Obwohl auch in seinen Augen die Zwei-
Staaten-Lösung das optimalste Modell ist, spricht er sich
dafür aus, zum jetzigen Zeitpunkt für die Erlangung von
Bürgerrechten in einem gemeinsamen Staat mit Israel
zu kämpfen. Auch der Vorsitzende der linken Oppositi-
onspartei AlMubadara, Dr. Mustafa Barghouti, steht
dem taktischen Schachzug des Kampfs gegen Diskrimi-

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Über den Autor                                                    Impressum

Ingrid Roß ist seit 2012 Leiterin des Büros der Friedrich-        Friedrich-Ebert-Stiftung | Referat Naher/Mittlerer Osten und
Ebert-Stiftung in Palästina und war zuvor als Referentin in der   Nordafrika
Abteilung     Internationale    Entwicklungszusammenarbeit,       Hiroshimastraße 28 | 10785 Berlin | Deutschland
Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika der FES in Berlin
tätig.                                                            Verantwortlich:
                                                                  Armin Hasemann
                                                                  Referent für Israel und Palästinensische Gebiete

                                                                  Tel.: ++49-30-269-35-7423 | Fax: ++49-30-269-35-9233
                                                                  http://www.fes.de/nahost

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Diese Publikation wird auf Papier aus nachhaltiger
Forstwirtschaft gedruckt.
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