Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung

 
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Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung
Was blüht
  dem Dorf?
Demokratieentwicklung
   auf dem Land
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INHALT
                                                                                                 04 Vorworte

                                                                                                 ESSAY
                                                                                                 10 „Sie fühlen es nur nicht“

                                                                                                 SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG
                                                                                                 16 „Soziale Orte“ – Basis einer Politik des Zusammenhalts
                                                                                                 30 Unausweichliche Schrumpfung?
                                                                                                 40 Inklusion von Migrant*innen wird gemacht
                                                                                                 46 „Widerstand ist zwecklos, Sie werden assimiliert werden“

                                                                                                 ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS
                                                                                                 54 „Den Wert eines Dorfladens kann man nicht in Mark und Pfennig ermessen“
                                                                                                 60 „Für Nazis geschlossene Ortschaft“
                                                                                                 64 „Es ist wichtig, dass es einfach einen Ort gibt, um Gemeinschaft zu pflegen“
                                                                                                 70 Politische Bildung auf dem Land – selten war sie wertvoller als heute!
                                                                                                 76 „Partizipation ist Grundlage einer gelungenen Integration“
                                                                                                 80 Das Ostritzer Friedensfest
                                                                                                 88 Was ist eigentlich Mobile Beratung?

                                                                                                 PERSPEKTIVEN UND FORDERUNGEN
                                                                                                 92 „Rettet das Dorf!“
    Erklärung zur Gender-Schreibweise in dieser Publikation                                      100 „ Integration bedeutet, dass beide Seiten einen Schritt aufeinander zu
                                                                                                      machen“
    Die Herausgeber*innen verwenden in den Fließtexten das Gender-Sternchen, da sie das Ziel
    verfolgen, möglichst alle geschlechtlichen Identitäten abzubilden und eine inklusive Spra-   106 Zivilgesellschaft im Dorf stärken
    che anstreben.
                                                                                                 112 Leseempfehlungen
    Für die Interviews wurde meist die Schreibweise sowohl des weiblichen als auch des männli-
    chen Geschlechtes gewählt. Auch wenn sich in dieser Schreibform das binäre Geschlechter-     114 Mobile Beratungsteams im Bundesverband Mobile Beratung
    system reproduziert, entspricht sie am ehesten den aktuellen Sprachgewohnheiten.             118 Impressum

2                                                                                                                                                                                   3
Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung
Vorwort der
    Bundeszentrale für
    politische Bildung
    Ländliche Räume – der Plural ist angesichts der Verschiedenartigkeit und
    der unterschiedlichen Ausgestaltung der Regionen notwendig – werden
    oft als Gegenpol von Urbanität und Ballungszentrum wahrgenommen.
    Und je nach Blickwinkel ist der Begriff positiv oder negativ besetzt.
                                                                                                                                                                        Foto: unsplash/Nigel Tadyanehondo

    G     eht man von bestimmten Indikato-
          ren aus wie Einwohnerdichte, Infra-
    struktur, Wirtschaftskraft, Freizeitange-
                                                   beantworten zu können, ist eine systemati-
                                                   sche Analyse der sehr heterogenen ländli-
                                                   chen Räume dringend notwendig.
                                                                                                  möglichkeiten zur Stärkung der Demokratie
                                                                                                  durch erhöhte Partizipation vorzustellen,
                                                                                                  die in der Praxis bereits existieren.
                                                                                                                                                    Möglichkeiten, gleichzeitig aber auch durch
                                                                                                                                                    gravierende Veränderungen und Heraus-
                                                                                                                                                    forderungen. In den meist peripheren Land-
    bote, Sozial- und Altersstruktur bis hin zu                                                                                                     strichen stehen Häuser leer, Schulen werden
    den Lebenschancen der Bevölkerung, sind           Insbesondere die Fragestellung nach              Mangelndes Wissen über und mangelnde         geschlossen, Arbeitsplätze fehlen, die Abwan-
    deutliche Unterschiede zwischen Stadt          der Demokratieentwicklung in ländlichen        Kontakte zu andere(n) Kulturen rufen Ängste       derung der Jungen führt zu „Überalterung“.
    und Land erkennbar.                            Räumen und ihren spezifischen Ausgangsla-      hervor, die durch Aufklärung über die eigent-     Was bleibt, ist das Gefühl, vergessen zu wer-
                                                   gen und Anforderungen wird bisher in den       lichen Sachverhalte und durch Beteiligung an      den, „abgehängt“ zu sein. Da ist es nicht ver-
       In der Wissenschaft ist das Verhältnis      Fachdebatten kaum berührt. So war es das       der Lösung der Probleme beseitigt werden –        wunderlich, wenn auch das Vertrauen in die
    zwischen beiden Gegenstand zahlreicher         Ziel der Konferenz, die der Bundesverband      und sogar eine positive Wendung nehmen            Politik und die demokratische Repräsentanz
    Untersuchungen. Vielfach wird ein Ausein-      Mobile Beratung e. V. und die Bundeszent-      können. Dies zeigte sich in den vergangenen       schwindet. Diese Entwicklung öffnet Freiräu-
    anderdriften der Lebensverhältnisse und da-    rale für politische Bildung (BpB) mit Akteu-   Jahren an vielen Orten bei der Aufnahme           me für populistische und extreme Tendenzen
    mit verbunden der politischen Präferenzen      rinnen und Akteuren aus Kommunalpolitik,       von Flüchtlingen. Hier ist die Arbeit der po-     und führt zu einer zunehmenden Emotionali-
    und Kulturen in Stadt und Land festgestellt.   Verwaltung, Zivilgesellschaft, Wissenschaft,   litischen Bildung stark gefragt.                  sierung von Politik, Medien und Gesellschaft,
    Inwiefern diese Analysen zutreffen und in-     Bildungsarbeit und Kultur im November                                                            zu neuen oftmals verstörenden Formen des
    wiefern die politische Polarisierung entlang   2018 in Göttingen veranstalteten, eben             Der ländliche Raum in seiner Vielfalt – von   sozialen und kommunikativen Miteinanders.
    der Linie Stadt/Land festgemacht werden        diese Herausforderungen zu diskutieren.        der Uckermark bis zum Bayerischen Wald,
    kann, ist noch offen und muss weiter disku-    Neben der Analyse der demokratiegefähr-        von Friesland bis zur Sächsischen Schweiz –         Schrumpfende Dörfer und Regionen
    tiert werden. Um diese Fragen verlässlich      denden Tendenzen ging es darum, Lösungs-       ist gekennzeichnet durch viele Chancen und        werden auch künftig zu unserem Land ge-

4     VORWORTE                                                                                                                                                                      VORWORTE                5
Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung
Raum zu fördern. Gleichzeitig sollen Wei-
                                                                                                                                                         terbildung und Vernetzung der Teilnehmen-
                                                                                                                                                         den mit Regionalkonferenzen und weiteren
                                                                                                                                                         Schulungsangeboten unterstützt werden.

                                                                                                                                                             Bereits seit 2010 werden mit dem Bun-
                                                                                                                                                         desprogramm „Zusammenhalt durch Teil-
                                                                                                                                                         habe“ (ZdT) Projekte für demokratische
                                                                                                                                                         Teilhabe und gegen Extremismus in länd-
                                                                                                                                                         lichen und strukturschwachen Gegenden
                                                                                                                                                         gefördert. Unter anderem werden Vereine
                                                                                                                                                         und Verbände dabei unterstützt, demokrati-
                                                                                                                                                         sche Verbandsstrukturen zu etablieren und
                                                                                                                                                         diskriminierende und demokratiefeindliche
                                                                                                                                                         Vorfälle im Verband zu bearbeiten. Auch
                                                                                                                                                         über zahlreiche Print- und Onlineprodukte
                                                                                                                                                         widmet sich die BpB seit langem der Thema-
                                                                                                                 Foto: Flickr/Bert Kaufmann | CC-BY-NC
                                                                                                                                                         tik „ländlicher Raum“.

    hören. Erst allmählich entsteht in Politik und   die jeweiligen Lebenskontexte abgestimmte        nahmen wie Selbstorganisation, Stärkung                Die BpB hat die Initiative des Bundes-
    Gesellschaft ein Bewusstsein dafür, welche       Maßnahmen dauerhaft stärken. Dabei geht          der Handlungskompetenzen, Erlernen von             verbandes für Mobile Beratung zu der
    Folgen es hat, wenn die sozial Mobilen fort-     es darum, jene zu erreichen, die bislang nicht   Gesprächskultur und Partizipation dabei zu         gemeinsamen Konferenz „Was blüht dem
    gehen, die Daseinsvorsorge vernachlässigt        von klassischer Bildung im Sinne von Demo-       helfen, Chancen und Perspektiven für sich          Dorf? Konferenz mit Impulsen zur Demo-
    wird und Bindungen wegbrechen. Um den            kratiebildung erreicht wurden. Politische        und die Gemeinschaft zu erkennen und die-          kratiestärkung“ sehr begrüßt. Diese Pub-
    ländlichen Raum zu gestalten, bedarf es Be-      Bildung muss hier neu denken und vor allem       se zu realisieren.                                 likation fasst Ergebnisse und Erfahrungen
    reitschaft zu Innovation, Bereitschaft, die      auf Kommunikation und Zuhören setzen.                                                               aus der Fachkonferenz zusammen und soll
    Potenziale zu erkennen und sie kreativ und       Politische Bildung muss sich bewegen und            Die Bundeszentrale für politische Bildung       die „Chancen und Herausforderungen von
    attraktiv für die dort lebenden Menschen         verstärkt aufsuchende politische Bildungs-       hat die Aktivitäten zur Demokratiestärkung         ländlich geprägten Regionen in ein neues
    und für das Gemeinwesen zu nutzen.               arbeit in ländlichen Regionen anregen, Be-       im ländlichen Raum deutlich verstärkt, unter       Licht rücken“ (Thomas Krüger). Der Hand-
                                                     darfe ermitteln und ihr eigenes Innovations-     anderem über das im Herbst 2018 gestar-            lungsbedarf ist klar, die Bemühungen müs-
       Politische Bildung kann bei der Erneu-        potenzial unter Beweis stellen. Das sind die     tete Kompetenz- und Qualifizierungspro-            sen fortgesetzt und stärker sichtbar werden.
    erung und Belebung der ländlichen Räume          Voraussetzungen, um die „abgehängten“ und        gramm „Miteinander Reden“. Ziel dieses
    helfen. Sie kann die kreative und dynami-        „abwärtsdriftenden“ ländlichen Regionen          mehrjährigen Programms ist es, Projekte            Hanne Wurzel
    sche politische Kultur von ländlichen Räu-       überhaupt zu begreifen, ihre Probleme zu         zur Stärkung der Gesprächskultur und zur           Leiterin des Fachbereichs „Extremismus“ der
    men durch gezielte, auf die Menschen und         erkennen und mit gezielten Bildungsmaß-          Kooperation von Kommunen im ländlichen             Bundes­zentrale für politische Bildung (BpB)

6     VORWORTE                                                                                                                                                                                VORWORTE   7
Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung
Vorwort                                                                                   letzt sehen und daran gemeinsam mit
                                                                                              Kommunalpolitik, Veraltung, regionaler
                                                                                              Wirtschaft, Kirchen, Sportverbänden,
                                                                                                                                          Regionen, um Chancen durch Migration
                                                                                                                                          und um mutige, engagierte Kommunalpo-
                                                                                                                                          litiker*innen.
    des Bundesverbandes Mobile Beratung                                                       Sozialeinrichtungen, Bürgerinitiativen          Der dritte Teil der Publikation behan-
                                                                                              und Vereinen arbeiten wollen.               delt Perspektiven der Demokratieförde-
                                                                                                  Der Bundesverband Mobile Beratung       rung in ländlichen Regionen – also das,

    W       arum befasst sich ein Bundes-
            verband Mobile Beratung mit
    Fragen der Demokratieentwicklung auf
                                                 der extremen Rechten versuchen einen
                                                 breiten Schulterschluss, von (pseudo)
                                                 intellektuellen Kräften über rassistische
                                                                                              hat deshalb im Herbst 2018 mit der Ta-
                                                                                              gung „Was blüht dem Dorf? Impulse zur
                                                                                              Demokratiestärkung auf dem Land“ zahl-
                                                                                                                                          was für eine positive Entwicklung not-
                                                                                                                                          wendig ist. Dazu gehört die politisch-pla-
                                                                                                                                          nerische und sozial-topograische Sicht
    dem Land? Die Antwort hängt eng mit          und islamfeindliche Bürger*innen bis hin     reiche Menschen aus Theorie und Praxis      genauso wie die migrantische und post-
    seiner Historie zusammen.                    zu offen gewalttätigen Neonazi-Struktu-      eingeladen, mit uns gemeinsam über die      migrantische Perspektive. Last but not
                                                 ren. Die teils gewalttätigen Demonstrati-    Demokratiestärkung auf dem Land zu          least schließt die Publikation mit einem
       Die ersten Mobilen Beratungsteams         onen im August und September 2018 in         beraten. Der Kongress brachte in ein-       Blick auf die Mobile Beratung selbst, die
    entstanden 1992 zunächst in Branden-         Chemnitz haben diese Zusammenarbeit          zigartiger Weise Menschen zusammen –        mit all diesen Engagierten und Gruppen
    burg. Sie wurden durch engagierte zivil-     erstmalig einer breiteren Öffentlichkeit     jenseits vom oft dominierenden Denken       und in vielfältigen Problemlagen arbeitet.
    gesellschaftliche Träger aufgebaut und       vor Augen geführt.                           in Verwaltungsstrukturen, Förderlogiken         Wenn Mobile Beratung gelingt, wenn
    hatten von Anfang an nicht nur das Ziel,        In unserer mittlerweile 25-jährigen       oder politischen Präferenzen. Sie ver-      irgendwo Demokratie und Menschen-
    rechtsextremistischen Einstellungen und      Geschichte hat sich gezeigt, dass die        band einzig der Wunsch sich auszutau-       rechte gestärkt werden, dann gehört
    Aktivitäten entgegenzuwirken, sondern        Beratung auf dem Lande ein Hauptar-          schen, neue Impulse zu bekommen und         dieser Erfolg nie den Berater*innen,
    ein positives Leitbild zu vertreten, also    beitsfeld ist und dass sie sich stark von    zu erfahren, wie Demokratieentwicklung      sondern immer den Menschen vor Ort.
    Demokratie und Menschenrechte zu             der Arbeit in städtischen Kontexten un-      auf dem Land gelingen kann. Die Impulse     Deshalb bin ich ganz besonders froh,
    stärken. Durch verschiedene Programme        terscheidet. Die alle bewegende und alles    der Konferenz wurden in der vorliegen-      dass sowohl die Konferenz wie auch die-
    der Bundesregierung wurde die Mobile         überwölbende Frage lautet: „In welcher       den Publikation fachlich reflektiert, mit   se Publikation Kommunalpoltiker*innen,
    Beratung ausgebaut und weiterentwi-          Gesellschaft wollen wir leben?“ Stets geht   gelungenen Beispielen unterlegt und zu      Vereine und Bündnisse, politischen Bild-
    ckelt, erst in den ostdeutschen Bundes-      es um Demokratiebildung, aktive Beteili-     einer Darstellung der Profession der Mo-    ner*innen, Menschen aus Bildungsarbeit,
    ländern und ab 2007 dann auch flächen-       gung an Dorf- und Regionalgestaltung,        bilen Beratung auf dem Lande verdichtet.    aus Behörden und Verwaltungen, aus
    deckend im Westen Deutschlands.              den Umgang mit Minderheiten und die              Zunächst ordnet der Band aus wis-       Kirchengemeinden, Sport, von den Lan-
       Unser Ansatz verhindert nicht, dass       Wertschätzung unseres Gesellschafts-         senschaftlicher Sicht die speziellen He-    deskoordinierungsstellen, Migrant*in-
    es Rassist*innen oder Neonazis gibt –        vertrages, unserer Verfassung. Diesen        rausforderungen ländlicher Regionen         nenorganisationen und Wissenschaft
    sondern er stärkt die Demokrat*innen.        Themen und Herausforderungen stellt          ein. Demographischer Wandel und Infra-      versammelt hat. Ihre vielfältigen Perspek-
    Er berät und unterstützt Engagierte, die     sich die Mobile Beratung in ihrer Ar-        strukturentwicklung sind genauso The-       tiven geben kaleidoskopartig Antwort(en)
    vor Ort Demokratie entwickeln, ausbau-       beit1 – gemeinsam mit den Menschen vor       men wie die soziokulturelle Dimension       auf die Frage „Was blüht dem Dorf?“
    en und für sie einstehen wollen. Damit ist   Ort, die für Demokratie und Menschen-        von Wachstum und Schrumpfung auf dem            Ich wünsche Ihnen spannende Er-
    der Fokus Mobiler Beratung klar gesetzt:     rechte eintreten, ganz konkret in ihrem      Lande. Nicht nur die Zuwanderung nach       kenntnisse und neue Impulse. Über Ihr
    auf die rund 80 Prozent der Bevölkerung      Dorf, in ihrer Stadt. Mobile Beratung        Deutschland wird betrachtet, sondern        Feedback freuen wir uns.
    in Deutschland, denen Demokratie am          denkt diese speziellen Herausforderun-       ebenso die innerdeutsche Migration.
    Herzen liegt. Sie stehen – ebenso wie die    gen unter regionalen, strukturellen und          Im zweiten Abschnitt finden sich ge-    Grit Hanneforth
                                                                                                                                          Sprecherin im Bundesverband Mobile Beratung.
    Mobile Beratung – durch die Entwick-         soziokulturellen Gegebenheiten genauso       lungene Beispiele aus der Praxis. Hier
    lung der vergangenen Jahre vor neuen         mit wie die Haltung zu den Grundwerten       geht es ganz konkret etwa um den Mehr-
                                                                                                                                          1. Was genau ist Mobile Beratung? Und was kann man von
    Herausforderungen: Rechtspopulismus          unserer Gesellschaft, die Beratungsneh-      wert von Dorfläden für eine Gemeinde            ihr erwarten? Siehe dazu S. 88 und http://www.bundes-
    breitet sich aus. Verschiedene Akteure       mer*innen oft als missachtet oder ver-       und um politische Bildung in ländlichen         verband-mobile-beratung.de

8   VORWORTE                                                                                                                                                                      VORWORTE            9
Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung
„Sie fühlen es
                    nur nicht“
                Die Schriftstellerin Manja Präkels hat ein Buch geschrieben über ihre
                Jugend in der ostdeutschen Provinz kurz vor und nach der Wiedervereini-
                gung. „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ wurde mit mehreren Preisen
                ausgezeichnet. In den vergangenen Monaten war sie damit auf Lesereise –
                und erfuhr dabei einiges über demokratische Kultur auf dem Land.

                Von Manja Präkels

                F    rühling in der Lausitz. Ich fahre durch
                     leere Landschaften, durchquere ty-
                pische Straßendörfer. Die Häuser ducken
                                                               schen und ist sichtlich nervös. „Die Polizei
                                                               war bei uns zu Hause.“ Die Beamten hätten
                                                               sie gewarnt: Dein Name steht auf einer Lis-
                sich aneinander, mit Sicherheitsabstand        te. Halte dich zurück. Wir observieren euer
                zur Straße. Damit niemand hineinschau-         Wohnhaus.
                en kann.
                                                                  Erst wenige Wochen zuvor war ich im
                    Kein Mensch zu sehen. Verandas, Gär-       sächsischen Wurzen einem Mitglied des
                ten und Hollywoodschaukeln wurden, ge-         Stadtrats begegnet, der regelmäßig die Rad-
                schützt vor zufälligen Begegnungen, zu         muttern seines Autos überprüft, seit Unbe-
                den zartgrünen Feldern hin ausgerichtet.       kannte sie lose geschraubt hatten. Auch er ist
                Ein blonder Junge, der plötzlich am Stra-      dafür bekannt, dass er für eine offene Gesell-
                ßenrand auftaucht, führt einen massigen,       schaft eintritt, für Vielfalt und Toleranz. An
                schwarzen Hund spazieren. Er trägt ein         einem anderen Abend, in dem nach Amadeu
                T-Shirt der Band Landser, die in Neonazi-      Antonio, einem der ersten Opfer rechtsext-
                kreisen kultisch verehrt wird, und blinzelt    remer Gewalt nach 1990, benannten Veran-
                friedlich in die Sonne.                        staltungshaus in Eberswalde, berichtete mir
                                                               ein Student von seiner Abiturfeier im fränki-
                   Ich bin unterwegs auf einer kleinen         schen Vogtland. Die endete damit, dass ein
                Lesetour durch Brandenburg. Noch am            Pulk von Neonazis das Wirtshaus, in dem sie
                selben Abend begegne ich einer jungen          feierten, umzingelte, um die Herausgabe des
                Aktivistin, sie organisiert mit Freunden       einzigen nicht-weißen Schülers zu fordern.
                Gegendemonstrationen zu Nazi-Aufmär-           Lynchstimmung.

10   VORWORTE                                                                                      ESSAY        11
Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung
ben genauso betrafen wie die Angestellten,               Städter sehnen sich oft
                                                                                                              Arbeiter und Ingenieure der Industriewerke,          danach; wer es aber hat, will
                                                                                                              blieb vielen nichts anderes übrig als fortzu-        fliehen oder muss fort – das
                                                                                                              ziehen. Das hält bis heute an. Inzwischen
                                                                                                              sind die Jahrgänge unserer Eltern im Ren-
                                                                                                                                                                   Landleben kann Paradies
                                                                                                              tenalter, folgen Kindern und Enkeln gen              und Hölle sein.
                                                                                                              Westen. Selbst die Friedhöfe werden leerer.
                                                                                                                                                               den vergangenen dreißig Jahren stark ver-
                                                                                                                  Aus dem jeweiligen persönlichen Durch-       ändert. Im Osten früher und drastischer
                                                                                                              kommen durch diese Zeit und Fortkommen           als im Westen. Doch trotz regionaler Spe-
                                                                                                              aus den Provinzen erklären sich heute die so     zifik der Problemlagen gibt es auch Paral-
                                                                                                              unterschiedlichen Bewertungen jener Jah-         lelen. Infrastruktur wird hier wie dort weg-
                                                                                                              re – Gewinn für die einen, soziale Katastro-     gespart. Wer auf dem Land lebt, braucht ein
                                                                                                              phe für die anderen. Der Preis der Freiheit?     Auto, wer keins hat, hat Pech. Schon deshalb
                                                                                                              Ist oftmals das Verdrängen dessen, was war.      sind chronisch Kranke und ältere Menschen
                                                                                                              Das Leugnen der Herkunft. Das Vergessen.         nicht nur vom Ärztemangel besonders hart
                                                                                                              Bei einer Lesung in Kiel begegne ich einer       betroffen. Fahrende Händler beleben ein-
                                                                             Foto: Flickr/herr.g | CC BY-SA
                                                                                                              Mecklenburgerin, aufgewachsen in Waren           mal wöchentlich verwaiste Dorfplätze. Rol-
                                                                                                              an der Müritz. Sie hört sich mit großem Inte-    lende Bibliotheksbusse und in Turnhallen
        Menschen in Ausnahmezuständen? Das           einer Welle rassistischer und fremdenfeind-              resse Auszüge aus meinem Buch an, das die        improvisierte Kinos entstehen aus Eigeni-
     war einmal. In den ersten Jahren nach dem       licher Gewalt, die nicht selten Träume von               Auswirkungen des Systemzusammenbruchs            nitiativen. Die Zukunftsforscher, die in der
     Mauerfall. Inzwischen haben sich Bedro-         Neubeginn und Aufbruch in Albträume von                  auf das Leben von Teenagern in der ostdeut-      Großstadt über „Smart City“-Konzepten
     hungslagen wie diese an zahlreichen Orten als   Angst und Gewalt verwandelte.                            schen Provinz beschreibt. „Komisch“, sagt sie    brüten, sind hier draußen kaum einen Witz
     Normalität etabliert – nicht nur im Osten. Im                                                            dann. „Ich bin ja dieselbe Generation, aber      wert. Und allzu oft wird die Langeweile un-
     Schutze entlegenerer, ländlicher Räume konn-        Ich hatte großes Glück bei der Arbeits-              ich kann mich an nichts erinnern.“ Der Strom     ausgefüllter Tage und Nächte betäubt – mit
     ten Rechtsextreme in den vergangenen Jahr-      suche. Die neue, westdeutsche Lokalzei-                  der Ereignisse, Veränderungen, Lern- und         Drogen, Kampfsport, Hassgesängen, mit
     zehnten als Konzertveranstalter, Besitzer von   tungschefin stellte mich ohne Referenzen                 Anpassungsprozesse haben ihr Gedächtnis          der Jagd. Waren die in meinem Roman be-
     Gasthäusern und Bauernhöfen, Betreiber von      ein. Aus purer Sympathie. Zu meinen ersten               verschluckt. Ein Spezifikum ostdeutscher         schriebenen Gewaltausbrüche der frühen
     Sicherheitsdiensten und Sportklubs Struktu-     Aufgaben als Journalistin gehörte es, sämt-              Erfahrung nach 1989. Auch Erinnerungs-           Neunziger noch hauptsächlich von Saufge-
     ren schaffen, die nachhaltig wirken.            liche Jugend- und Kultureinrichtungen im                 lücken nachzurecherchieren wird schwieri-        lagen angetrieben, fluten seit einigen Jahren
                                                     Landkreis aufzusuchen. Das war nicht leicht              ger. Meine alte Lokalredaktion gibt es nicht     neue Stoffe die Kinder- und Jugendzimmer.
     Der Preis der Freiheit? Ist oftmals             und oftmals traurig. Viele der Jugendzim-                mehr. Das Zeitungssterben hinterlässt eine       In Erfurt, Dresden und Chemnitz landet so
     das Verdrängen dessen, was war                  mer, Kinos und Klubs waren von Schließung                unbestellte Öffentlichkeit. Archive werden       viel Crystal Meth im Abwasser wie nirgends
     Ich bin selbst in so einer Gegend aufgewach-    bedroht oder existierten bereits nicht mehr.             aus Kostengründen nicht digitalisiert. Pa-       sonst in Europa. In den Dörfern drumherum
     sen. Ab vom Schuss, wie man bei uns sagt.       An manchen Orten kämpften Schülerinnen,                  pierne Fundgruben, Zeugnisse des Gestern,        gibt es solche Messungen nicht. Die Crystal
     Dabei ist Berlin nur eine Fahrstunde ent-       Auszubildende, Sozialarbeiter und zivilge-               die in Kellern zu Staub zerfallen.               Meth-Küchen in den Wäldern grenznaher
     fernt. Meine Jugendweihe, das Einschwören       sellschaftlich Engagierte enthusiastisch um                                                               Gebiete werden oft von ehemaligen vietna-
     auf Staatstreue und DDR-Sozialismus, fiel       den Erhalt ihrer Räume, um Gelder und Be-                Die Zukunftsforscher sind hier                   mesischen Vertragsarbeitern betrieben. Im
     ins selbe Jahr wie die Maueröffnung. Später     treuungsstellen. Die meisten verloren. Rie-              draußen kaum einen Witz wert                     weiteren Verteilungskreislauf sind Nazi- und
     war ich eine der wenigen aus meinem Abi-        ben sich auf.                                            Städter sehnen sich oft danach; wer es aber      Drogenmilieu kaum voneinander zu tren-
     turjahrgang, die nicht sofort gen Berlin, gen                                                            hat, will fliehen oder muss fort – das Landle-   nen. Nach einem Einsatz beim traditionellen
     Westen aufbrach. Wurde Zeugin des großen          Im Zuge massiver Kündigungswellen, die                 ben kann Paradies und Hölle sein. Die grund-     Baumblütenfest in Werder/Havel wandte
     Umbruchs der Neunzigerjahre. Zeugin auch        Menschen aus landwirtschaftlichen Betrie-                legenden Lebensbedingungen haben sich in         sich die diensthabene Notärztin im vergan-

12     ESSAY                                                                                                                                                                                      ESSAY        13
Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung
genen Jahr an die Öffentlichkeit: „Das war        be, als zu verkaufen: Geschwister könnten
     Krieg.“ Innerhalb von sieben Stunden habe         einander im Erbfall einfach nicht mehr aus-
     sie mehr als hundert Patienten versorgt. Die      zahlen. „Letztes Weihnachten waren wir die
     Hälfte minderjährig. Ein Drittel komatös.         Einzigen im Dorf. Außer uns wohnt hier kei-
     „Ich kam mir vor wie im Lazarett.“                ner mehr ganzjährig.“ Dafür grasen nun La-
                                                       mas auf der Wiese hinterm Hof. Im Som-
        Im fränkischen Bad Berneck, nur einen          mer steigen Heißluftballons in den Himmel,
     Steinwurf von der ehemaligen innerdeut-           von wo aus man die Sattelschweine, Pfer-
     schen Grenze entfernt, erklärt eine einhei-       de, Hirsche, Wisente und Dromedare in ih-
     mische Zuhörerin im Anschluss an meine Le-        ren Gehegen betrachten kann. In Mecklen-
     sung: „Die Ostdeutschen dachten doch, die         burg-Vorpommern bilden entlaufene Emus
     kriegen jetzt ein Haus, ein Auto. Alles. Das      inzwischen eine eigene Population. Anders-
     war so, wie es heute mit den Flüchtlingen ist.“   wo – wie in Bad Berneck – schürt der Zuzug
     Ihre Freundin ergänzt: „Die da drüben sind        großstadtmüder Galeristen, Musiker, Kera-
     eben rückständiger.“ Auch andere Gäste            miker und Maler noch Hoffnung auf neue Im-
     reagieren vorwurfsvoll auf meine Ausfüh-          pulse. Der Künstlermensch als ein weiterer,
     rungen zu ostdeutschen Lebenswirklichkei-         Zukunft verheißender Exot.
                                                                                                                                                                                      Foto: libreshot/Martin Vorel
     ten: „Neue Straßen, sanierte Innenstädte.
     Was wollt ihr denn noch? Seid doch stolz!“           Im winzigen Dorf Jamel bei Wismar, das
     Ansichten aus einer heruntergekommenen            von Neonazis gezielt als „nationalsozialis-   meinden Hoffnung geschürt und teilweise         ren?“ Deren Hilfsbereitschaft werde so noch
     Kneipe im menschenleeren Kurort, der – so         tisches Musterdorf“ besiedelt wird, trat      auch eingelöst. Wenn die Schließung des ört-    im Nachhinein verächtlich gemacht. Dabei
     munkelt man später – aufgrund starker Ein-        Mitte August vergangenen Jahres Herbert       lichen Kindergartens durch den Zuzug einer      verweisen die Erfahrungen der vergange-
     brüche der Touristenzahlen seinen Status zu       Grönemeyer als Stargast bei „Jamel rockt      afghanischen Familie abgewendet werden          nen drei Jahrzehnte auf einen klaren Trend:
     verlieren droht.                                  den Förster“ auf. Einem Festival, das 2007    kann, stehen Türen und Herzen den Neu-          Wo auch immer breite Bündnisse zwischen
                                                       aus Gegenwehr gegründet wurde. Nur drei       ankömmlingen prompt offen. Bei der Pflege       Verwaltungen, zivilgesellschaftlichen Ak-
        Groß ist das Unwissen übereinander             Wochen nach seinem Auftritt verpachtete       von Häusern und Gärten entstehen Solidar-       teuren, Einheimischen und Zugezogenen
     hüben wie drüben. Ein eklatanter Mangel an        der SPD-geführte Gemeinderat die zentrale     gemeinschaften von Geflüchteten und Rent-       entstanden und in konkreten Auseinander-
     Feingefühl begegnet mir auf einer Podiums-        Freifläche von Jamel für wenig Geld an ein    nern. Hauptsache, die Bäckerei muss nicht       setzungen gewachsen sind – sei es gegen
     diskussion im Thüringischen, als ein west-        Mitglied der rechtsextremen Szene vor Ort.    schließen, weil plötzlich doch noch ein Lehr-   rechtsradikale Konzertveranstalter oder
     deutscher Landespolitiker dem sichtlich           Der parteilose Bürgermeister rechtfertigte    ling gefunden wird, ganz egal woher. Doch es    für den Erhalt von Schulen, Geschäften,
     entsetzten Publikum erklärt: „Es geht Ihnen       die Maßnahme später: „Wir leben jeden Tag     drohen Abschiebungen. Unverhältnismäßig         Kleinbetrieben und Kulturorten –, weicht
     besser, Sie fühlen es nur nicht.“                 mit diesen Leuten und müssen uns mit ih-      hohe Hürden im Umgang mit Behörden.             die Friedhofsruhe leerer Dorfplätze dem le-
                                                       nen irgendwie auseinandersetzen.“ Auf der                                                     bendigen Austausch über Ortsgrenzen und
     Doch manchmal weicht die                          betreffenden Wiese werden im Juni wieder         Eine junge, sächsische Grundschullehre-      Zäune hinweg.
     Friedhofsruhe leerer Dorfplätze                   Neonazis eine „Sonnenwendfeier“ veran-        rin berichtete mir unter Tränen von „ihren“
                                                                                                                                                     Manja Präkels, geboren 1974 in Zehdenick/Mark, ist
     dem lebendigen Austausch                          stalten. Mit Hüpfburg und Kremserfahrten      Kindern einer dritten Klasse, die miterle-      Musikerin, Sängerin und Autorin. Von 1993 bis 1997
     Am Rande eines Kunstfestivals in der Ucker-       im Kinderprogramm. Sie nennen es Zukunft.     ben mussten, wie eine Mitschülerin aus          arbeitete sie als Lokaljournalistin für die Märkische All-
     mark berichtet mir ein zugezogenes Ehepaar        Und frieren Zeit und Menschen darin ein.      dem Klassenzimmer geführt wurde. Das            gemeine Zeitung, studierte danach in Berlin Philoso-
     aus Hamburg, dass die Grundstückspreise                                                         Mädchen, dem die neuen Freundinnen und          phie, Soziologie und Osteuropäische Geschichte. Präkels
                                                                                                                                                     erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, für
     der bei Sommerfrischlern und Landflüch-              Die vielbeschworene und -diskutierte       Freunde so neugierig wie enthusiastisch
                                                                                                                                                     ihren zuletzt erschienenen Roman „Als ich mit Hitler
     tern immer beliebteren Gegend derart in die       Willkommenskultur der vergangenen fünf        dabei geholfen hatten, Deutsch zu lernen,       Schnapskirschen aß“ (Verbrecher Verlag 2017) unter
     Höhe geschossen seien, dass den Einheimi-         Jahre dagegen hat in besonders stark von      verschwand für immer aus ihrer aller Leben.     anderem den Anna-Seghers-Preis und den Deutschen
     schen häufig nichts anderes mehr übrig blei-      Überalterung und Wegzug betroffenen Ge-       „Wie soll man so was Neunjährigen erklä-        Jugendliteraturpreis.

14     ESSAY                                                                                                                                                                                        ESSAY            15
Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung
„Soziale Orte“ –
     Basis einer Politik des
     Zusammenhalts
     Wie steht es um die Demokratie in ländlichen Räumen? Und was kann
     man tun, um bürgerschaftliches Engagement zu stärken? Erste Ergebnisse
     eines Forschungsprojekts.

     Von Claudia Neu

     U     nlängst hat die bekannte deutsche
           Schriftstellerin Juli Zeh viel Kritik
     einstecken müssen. In einem Interview
                                                        Man hätte es ahnen können. Ist doch
                                                     auch ihr Roman Unterleuten (2016) gespickt
                                                     mit Klischees von fehlgeleiteten Städtern,
     mit der Basler Zeitung vom 21. Januar 2019      die aufs Land ziehen, um ihren Traum vom
     sprach sie von einer weiterhin bestehen-        guten Leben zu verwirklichen – und daran
     den Kluft zwischen Stadt und Land, zuneh-       scheitern. Zugleich bleibt das Landleben in
     mender „Offenherzigkeit beim Äußern             ihrem Interview wie im Roman ein Ort der
     von Fremdenfeindlichkeit um den Faktor          Ewiggestrigen, der Tumben und Kleingeis-
     10.000“ sowie von „noch ein paar Jahr-          tigen, ein Hort der alltäglichen Gewalt. Juli
     zehnte[n] Rückstand in der Entwicklung          Zeh wird es wahrscheinlich besser wissen,
     bestimmter Werte“ im ländlichen Raum            gleichwohl bedient sie freimütig den offen-
     Ostdeutschlands.                                bar nicht zu überwindenden Antagonismus
                                                     zwischen ländlicher Rückständigkeit und
        Zugleich betonte Juli Zeh, die selbst seit   urbaner Moderne, zwischen kalter Groß-
     zehn Jahren im Havelland lebt, sie wolle aber   stadt und heimeligem Dorf, in dem Men-
     auch die guten Seiten des Landlebens sehen:     schen mit robuster Konstitution füreinan-
     „Auf dem Dorf weiß man noch, was Hilfsbe-       der da sind („Hier draußen sagen die Eltern
     reitschaft und Loyalität bedeuten. Die Bin-     noch zu ihren Kindern: ‚Hör auf zu heulen,
     dungen zwischen den Menschen sind stark,        sonst fängst Du Dir eine.‘“ – Basler Zeitung
     dafür interessiert man sich nicht so sehr für   2019: 8).
     den Staat und seine Politik.“

16     SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG                                                            ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS   17
Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung
Das Bild von „Dörflichkeit“ als                 und Hobbygärtnerinnen abzutun. Vielmehr                                    Es sind vor allem periphere ländlichen
     Seismograph gesellschaftlicher                  spiegeln sich in diesen Be- und Verarbeitun-                            Räume, die besonders von Abwanderung und
     Entwicklung                                     gen die ökonomischen, demographischen                                   Alterung betroffen sind.
     Juli Zeh ist nur eine der vielen Schriftstel-   und sozialen Veränderungen der letzten
     lerinnen, Journalisten und Intellektuel-        Jahrzehnte wider, die insbesondere auch in
     len, die sich seit geraumer Zeit dem Thema      entlegenen ländlichen Räumen ihren Nie-
     Landleben widmen. Die Palette reicht von        derschlag finden. Das imaginierte Dorf ist     Wiederaneignung inzwischen brachliegen-          Beschreibung unschwer als typisch für den
     den sogenannten Heuballenheften (Land-          der überschaubare Mikrokosmos, der als         der Landschaften, aufgegebener Höfe und          abgelegenen ländlichen Raum (Ostdeutsch-
     lust & Co.), über Landkrimis und Roma-          Wunsch- oder Zerrbild, Resonanzboden           bevölkerungsarmer Dörfer kümmern und             lands) zu erkennen. Denn die Entwicklungen
     ne bis hin zu soziologischen Lebensberich-      und Austragungsort gesellschaftlicher Ver-     an einer erneuten ideologischen Besetzung        verlaufen keineswegs eindeutig entlang der
     ten aus der französischen Provinz (Louis        hältnisse dient, und der individualistische    ländlicher Räume arbeiten“ (Nell/Weiland         Stadt-Land-Achse: So sind nicht die ländli-
     2015). Nell/Weiland (2018: 24) stellen zu       Orientierungsmuster und kapitalistische        2018: 39).                                       chen Räume benachteiligt und die Städte
     dieser neuen Welle literarischer Bearbei-       Handlungspraxen reflektiert wie kritisiert.                                                     bevorzugt. Ländliche Räume im Speckgürtel
     tung des Dörflichen fest: „Die kulturelle Er-                                                  Polarisierung dörflicher                         prosperierender Städte, ja sogar entlegene
     findung des Dörflichen markiert den Beginn                                                     Lebenswelten                                     ländliche Räume im Schwarzwald boomen.
     einer Faszinationsgeschichte, die offensicht-          Sicherlich bedienen                     Welche gesellschaftlichen und politischen        Demgegenüber leiden auch Städte wie Dins-
     lich selbst dann noch weitererzählt werden          Heuballenhefte und                         Realitäten sind es nun, die so auflagenstark     laken, Duisburg und Anklam unter unbewäl-
     kann, wenn bereits allseitig das Verschwin-         andere Lifestyle-Magazine                  bearbeitet werden?                               tigtem Struktur- und demographischem
     den des Dorfes konstatiert und mitunter                                                                                                         Wandel. Es sind vor allem periphere ländli-
     auch betrauert wird: Die Topoi und Narra-
                                                         die Sehnsucht gestresster                     Juli Zeh beschreibt in dem Interview mit      chen Räume, die besonders von Abwande-
     tive des Dörflichen erweisen sich im kultu-         Städter nach Ursprünglich-                 der Basler Zeitung die Veränderung in ihrem      rung und Alterung betroffen sind. Je näher
     rell Imaginären als erstaunlich konstant und        keit, Naturnähe und                        dörflichen Lebensumfeld so: „Als ich herzog,     an der Agglomeration gelegen, desto besser
     flexibel zugleich; […] Dabei ist davon auszu-       vermeintlicher Gemeinschaft.               gab es noch nicht mal Internet. Da ist was       stehen die Entwicklungschancen für den
     gehen, dass es das Dörfliche (ebenso wie                                                       passiert. Aber gleichzeitig wird sehenden        Ort – so zumindest der erwartbare Verlauf.
     das Ländliche) in seinen jeweiligen idealty-                                                   Auges zugelassen, wie Infrastruktur sich in      Wenngleich es überall disperse räumliche
     pischen Ausformungen, wie sie sich in Lite-     Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch-      Nichts auflöst. Kein Wunder, dass sich die       Entwicklungen, also Wachsen und Schrump-
     ratur, Malerei oder Film als Gegenentwür-       mals an „Unterleuten“, aber auch an Saša       Leute von der Politik abwenden, wenn die         fen nebeneinander gibt – auch in den entle-
     fe zu den Bildern und Erfahrungen einer u.a.    Stanišićs Roman Vor dem Fest (2014), der       letzte Regionalbahn gestrichen wird, der         gensten ländlichen Regionen (BBSR 2012,
     von Industrie, Verstädterung und sozialer       den Niedergang, aber auch das Beharrungs-      letzte Arzt die Praxis verlässt und die letzte   2017; Albrech/Fink/Tiemann 2015).
     Verdichtung geprägten Moderne finden las-       vermögen eines brandenburgischen Dorfes        Apotheke schließt. […] Es kann doch nicht
     sen, in den historischen Zusammenhängen         thematisiert. Oder an Édouard Louis (2015),    sein, dass in einem der reichsten Länder der         Immer deutlicher ist in den vergangenen
     der zurückliegenden Jahrhunderte nie ge-        der in seinem Roman Das Ende von Eddy sein     Erde auf dem Land keine Schulbusse fahren.“      Jahren jedoch geworden, dass nicht allein
     geben hat.“                                     Aufwachsen als schwuler Junge in der nord-                                                      objektive Faktoren wie Arbeitsplatz, wirt-
                                                     französischen Provinz verarbeitet.                 Auch wenn bisher die Schulbusse im           schaftliche Sicherheit oder Bildung bestim-
        Sicherlich bedienen Heuballenhefte und                                                      ländlichen Raum noch fahren, so haben            men, wie Menschen ihre Lebensverhältnis-
     andere Lifestyle-Magazine die Sehnsucht ge-        Allerdings wird das Ineinandergreifen       demographischer Wandel, unbewältigter            se subjektiv empfinden. Objektiv betrachtet
     stresster Städter nach Ursprünglichkeit, Na-    von politischer Haltung und dem Nieder-        Strukturwandel, Engpässe in den öffent-          ist Deutschland eine Insel der Glückseligen
     turnähe und vermeintlicher Gemeinschaft         gang peripherer ländlicher Räume nirgends      lichen Haushalten und infolgedessen der          inmitten eines Meers von Jugendarbeitslo-
     (Neu 2016, 2018). Dementsprechend wer-          deutlicher als bei Rechtspopulist*innen und    Rückzug des Staates aus der Fläche (aber         sigkeit, Korruption und Flüchtlingscamps.
     den die „unschönen“ Seiten des Landlebens       völkischen Siedler*innenbewegungen und         auch aus ganzen Stadtvierteln in den Met-        Vielmehr ist es das „Gefühl der Welt“ (Heinz
     hier bewusst ausgespart. Dennoch griffe         den sie „begleitenden Zeitschriften, Publi-    ropolen) zu Investitionsrückständen, Verfall     Bude 2016), das Gefühl von Eingebunden-
     es zu kurz, den neuen Landtrend nur als         zisten und Aktivisten, die sich im Sinne ei-   und Lücken in der daseinsvorsorgenden            oder eben von Abgehängtsein, das den Blick
     Freizeitspaß für Hausfrauen, Krimifreunde       ner ‚Landnahme‘ um die Erschließung bzw.       Infrastruktur geführt. Gleichwohl ist Zehs       auf die Realität bestimmt. So entsteht die

18     SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ­EINORDNUNG                                                                                                     SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ­EINORDNUNG                  19
paradoxe Situation, dass eine Mehrheit der         erwiesen. Das raumplanerische Zentra-
     Deutschen ihre persönliche Situation als           le-Orte-Konzept, das die flächendeckende
     hervorragend bezeichnet, aber dem Land             Versorgung der Bevölkerung mit Waren,
     schlechte Noten ausstellt – „mir geht es gut,      Arbeitsplätzen sowie öffentlichen und pri-
     aber Deutschland geht es schlecht“ (Deut-          vaten Dienstleistungen sicherstellen soll,
     scher Paritätischer Wohlfahrtsverband              konnte weder den infrastrukturellen Rück-
     2018). Dass auf der einen Seite händerin-          bau in Schrumpfungsregionen hinreichend
     gend Arbeitskräfte gesucht werden, auf der         abfedern noch die infrastrukturelle und
     anderen Seite aber Zuwanderer angefeindet          soziale Segregation städtischer Quartiere
     werden und Flüchtlingsheime brennen.               in Wachstumsregionen mildern. Vielmehr
                                                        verloren Dörfer und Quartiere ihre soziale
     Verlust sozialer Orte                              Mitte, ihren Ankerpunkt für Öffentlichkeit
     Oft sind die Infrastrukturlücken eben nicht        und Begegnung (Kersten/Neu/Vogel 2012,
     nur Lichtungen, die Raum für Neues, Inno-          2013).
     vatives, Kreatives lassen, sondern sie sind
     Nutzungsbrachen, die Platz für das Engage-         Infrastrukturen und Engagement
     ment der Populisten und Rechtsextremen             Diese Entwicklung beeinflusst direkt das
     lassen (Kersten/Neu/Vogel 2013). Das al-           Bürgerschaftliche Engagement – auch wenn
     les ist nicht neu, aber politisch ist dies lange   es erst mal nicht so wirken mag. Auf den
     einfach ignoriert worden. Was nicht sein soll,     ersten Blick nämlich scheint sich das lieb-
     kann nicht sein.                                   gewonnene Bild des unermüdlich aktiven
                                                         Dorfbewohners, der nimmermüden Land-
                                                         frau empirisch zu bestätigen: Die Durch-
        Oft sind die Infrastruktur-                      schnittswerte, die im Rahmen des Freiwil-
     lücken eben nicht nur                               ligen-Survey 2014 (BMFSFJ 2016: 24ff)
     Lichtungen, die Raum für                            erhoben wurden, ergeben im städtischen
                                                         Raum einen Anteil von 42,7 Prozent frei-
     Neues, Innovatives, Kreatives                       willig Engagierter und auf dem Land einen
     lassen, sondern sie sind                            Wert von 45,5 Prozent (gesamt 43,6 %).
     Nutzungsbrachen.
                                                            Ein genauerer Blick aber ergibt ein diffe-
        Das hat auch zu einem (förder-)politi-          renziertes Bild: Die Unterschiede zwischen
     schen „Weiter so!“ geführt. Jedenfalls ha-         dünn besiedelten Räumen und kleinen bzw.
     ben die in der Vergangenheit praktizierten         mittleren Städten mit deren Umland sind
     politischen und rechtlichen Ausgleichsins-         gering, hier bewegen sich die Anteile von
     trumente wie Länderfinanzausgleich, Soli-          ehrenamtlich Engagierten zwischen 45 und
     daritätspakt und EU-Strukturfonds ebenso           46 Prozent. Demgegenüber ist die Zahl in
     wenig eine Trendumkehr bewirkt wie die             größeren und großen Städten mit 39 Pro-
     unübersehbare Zahl an Modellprojekten.             zent deutlich niedriger. Zudem zeigen sich
     Vielmehr haben sich die Versuche, regionale        deutliche Ost-West-Unterschiede: Vor al-
     Krisen mittels eines flexibilisierten Zentra-      lem im Westen weisen die ländlichen Räu-
     le-Orte-Konzepts1 zu bewältigen, in vielen         me ein hohes Engagement auf – dies lässt
     Schrumpfungsgebieten längst als überholt           sich in Ostdeutschland (mit Ausnahme von

20     SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ­EINORDNUNG                                                               SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ­EINORDNUNG   21
• Daseinsvorsorge sichern, flexible Ange-        nioren bei Skat und im Taubenzüchterverein
                                                                                                              bote unterbreiten,                             zusammenkamen und die Freiwillige Feuer-
                                                                                                            • Rahmenbedingungen für Engagement               wehr nicht die einzige verbliebene Freizeit-
                                                                                                              verbessern, Jugendarbeit stärken,              möglichkeit für Kinder und Jugendliche im
                                                                                                            • Frauen als Schlüsselpersonen ländlicher        Dorf war. Nicht nur hat der demographische
                                                                                                              Entwicklung sehen,                             Wandel den Nachwuchs weniger werden
                                                                                                            • Vernetzung, (interkommunale) Zusam-            lassen, zusätzlich haben auch lange Schulta-
                                                                                                              menarbeit,                                     ge, weite Wege und die Neuen Medien das
                                                                                                            • ressortübergreifendes Denken stärken.          Freizeitverhalten der Menschen verändert.
                                                                                                                                                             Zusammenlegungen und Schließungen von
                                                                                                                Zudem wird seit einigen Jahren verstärkt     Schulen, Kirchen, Banken oder Arztpraxen
                                                                                                            das Fehlen öffentlicher Orte hervorgeho-         tun ihr Übriges, um Treffpunkte im Dorf
                                                                                                            ben. Die Evangelische Akademie Mecklen-          (und im Stadtquartier) zu reduzieren. Den-
                                                                                                            burg-Vorpommern forderte bereits 2013            noch oder gerade deshalb: Der Wunsch nach
                                                                                                            in ihrem Projektbericht „Integrative Zusam-      Austausch und gemeinsamer Aktivität im öf-
                                                                                                            menarbeit“: „Es braucht klar erkennbare und      fentlichen Raum bleibt bestehen.
                                                                                                            von den Menschen akzeptierte öffentliche
                                                                                                            Orte in den ländlichen Kommunen. Diese
                                                                                                            müssen als Zentren wirken; also Orte des                Daher braucht es gerade
                                                                                                            Zusammenlebens der Verschiedenen sein.               in Zeiten veränderter Raum-
                                                                                                            Angesichts der zunehmenden Pluralisierung            strukturen und Lebens­muster,
                                                                                                            müssen diese Orte von den unterschied-
                                                                           Foto: Flickr/herr.g | CC BY-SA
                                                                                                            lichen Menschen angenommen werden.“
                                                                                                                                                                 kleinerer Familien und
                                                                                                            (Kaiser 2014: 68)                                    längerer Lebenszeit soziale
     Mecklenburg-Vorpommern) nicht beobach-        etlichen entlegenen ländlichen Räumen zu:                                                                     Orte, an denen sich Menschen
     ten. Zwar trägt Hamburg die „rote Laterne“    Arbeit weg, Infrastruktur weg, junge Leute                  Es mangelt jedenfalls nicht an der Situ-          wiederholt einfinden können.
     (36 Prozent), und auch Berlin (37,2 Pro-      weg, Engagement weg. Für junge Menschen                  ationsanalyse oder lautstarken Appellen
     zent) liegt weit hinten – aber neben diesen   bedeutet Aufwachsen im ländlichen Raum                   an den „aktiven Bürger“, sondern am politi-
     Großstädten stehen die Ost-Bundesländer       (Ostdeutschlands) eben oft nicht ein Leben               schen Willen zur Umsetzung der bekannten            Daher braucht es gerade in Zeiten verän-
     Sachsen-Anhalt (37,1 %), Sachsen (38,3        in einem ländlichen Idyll, sondern ein Leben             Empfehlungen. Und jetzt also auch noch           derter Raumstrukturen und Lebensmuster,
     %), Brandenburg (38,75 %) und Thüringen       nahezu ohne freizeitkulturelle Angebote                  öffentliche oder soziale Orte? Was können        kleinerer Familien und längerer Lebens-
     (39,3 %) weit abgeschlagen hinter den En-     und nicht selten nur noch rechtsextremen                 diese „sozialen Orte“ leisten? Wer „baut“ sie?   zeit soziale Orte, an denen sich Menschen
     gagement-Spitzenreitern im Südwesten          Freizeit- und Sinnangeboten (Hafeneger                   Wie können sie als Zentren wirken? Wieder        wiederholt einfinden können, geplant oder
     Deutschlands. Dort gaben nahezu die Hälf-     2006).                                                   nur neuer Wein in alten Schläuchen? Was ist      spontan, sich austauschen, diskutieren, Zeit
     te der Befragten an, bürgerschaftlich aktiv                                                            mit all den ungenutzten Dorfgemeinschafts-       miteinander verbringen, sich kennenler-
     zu sein (Rheinland-Pfalz 48,3 Prozent, Ba-    Wie weiter?                                              häusern, Kirchensälen und geschlossenen          nen und interagieren können. Diese Orte
     den-Württemberg 48,2 Prozent).                Die Idee der „Third Places“                              Jugendclubs? Das waren doch auch mal so-         wurden erstmalig von dem Soziologen Ray
                                                   Die Empfehlungen zur Entwicklung ländli-                 ziale Orte!?                                     Oldenburg 1989 in seinem Werk The Gre-
        Es zeigt sich also, dass bürgerschaftli-   cher Räume und zur Bekämpfung rechtsex-                                                                   at Good Place begrifflich gefasst als „Third
     ches Engagement vor allem dort blüht, wo      tremer Auswüchse im ländlichen Raum sind                     Stimmt – allerdings zu einer Zeit, in der    Places“. Völlig unabhängig vom „First Place“,
     Arbeitsplätze und Infrastruktur vorhanden     vielfach benannt (ohne bisher wirklich Erfol-            es fünf Fußballmannschaften im Ort gab, der      dem Zuhause, und dem „Second Place“, dem
     sind, junge und gut ausgebildete Menschen     ge verzeichnen zu können):                               Kirchenchor am Montag sang, sich der Frau-       Arbeitsplatz, sind diese „Dritten Plätze“ ge-
     leben. Demgegenüber spitzt sich die Lage in                                                            enkreis am Dienstagnachmittag traf, die Se-      meinschaftlich nutzbarer, öffentlicher Raum.

22     SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ­EINORDNUNG                                                                                                             SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ­EINORDNUNG                   23
Diese Kommunikationsorte ermöglichen             die ankommenden Flüchtlinge zum Anlass,         • Soziale Orte sind Kristallisationspunkte      ver Ansatz würde übersehen, dass es gera-
     verstetigte Kontakte, das Aushandeln des         um sich zu fragen, wie sie künftig zusammen-      und Kommunikationsorte, die öffentliche       de in entlegenen ländlichen Räumen häufig
     ortsüblichen Konsenses (in politischen, ge-      leben wollen. Sie verstehen die Integration       Räume und Güter konstituieren.                wenig demokratische Strömungen der Zivil-
     sellschaftlichen und anderen Fragen) sowie       der Flüchtlinge als Entwicklungsprozess, bei    • Soziale Orte sind nicht nur ein einmaliges    gesellschaft sind (die sogenannte dark side
     die Entwicklung von Kooperation – alles          dem gemeinsame Aktivitäten und neuer Zu-          Projekt, sondern ein Prozess, der langfris-   of civil society), die den öffentlichen Raum
     Basiskomponenten von Zusammengehörig-            sammenhalt für Alt- wie Neubürger geschaf-        tige Entwicklungen vor Ort anstößt.           besetzen, was sie – in Ermanglung anderer
     keitsgefühl und sozialer Bindung, sowie ele-     fen werden sollen.                              • Dies geht mit einer starken Netzwerkbil-      Akteure – ja auch nicht selten schaffen. Al-
     mentar für die Zivilgesellschaft, das soziale                                                      dung einher, die überregionale Strahlkraft    lerdings handelt es sich bei diesen „braunen“
     Engagement und nicht zuletzt die Demokra-           In Thüringen wurde neben Saalfeld-Beul-        entwickelt und sich durch neue Formen         Aktivitäten eben nicht um gemeinschaftlich
     tie an sich.                                     witz und Saalfeld-Gorndorf Schwarzburg in         der Beteiligung und des Zusammenhalts         nutzbaren öffentlichen Raum, sondern um
                                                      die Studie mit einbezogen. Schwer gebeu-          sowie Konnektivität (also die Fähigkeit,      exkludierende Angebote, die klaren völki-
        Was qualifiziert die „Third Places“ als So-   telt von strukturellen Umbrüchen, vor allem       sich zu vernetzen) auszeichnet.               schen oder rassistischen Regeln folgen. Bru-
     ziale Orte? Schauen wir uns konkrete Fall-       in der Tourismusbranche, hat Schwarzburg                                                        no Hafeneger (2006: 37) macht aus diesem
     beispiele aus unserem BMBF-Projekt „Das          seit vielen Jahren unter den Folgen des de-     An dieser Stelle muss darauf hingewie-          Grund noch einmal deutlich, wieso es einer
     Soziale-Orte-Konzept. Neue Infrastruktu-         mographischen Wandels und dem Rückbau           sen werden, dass Soziale Orte nicht per se      erhöhten Aufmerksamkeit für Engagement
     ren für sozialen Zusammenhalt“ an (Neu/          der Infrastruktur zu leiden. Die kleine Ge-     „great good places“, also nicht automatisch     und Soziale Orte bedarf – besonders im Hin-
     Vogel: 2019):                                    meinde mit rund 500 Einwohnern besinnt          großartig und toll sind. Ein solcher normati-   blick auf die umfassende Demokratiestär-
                                                      sich jedoch zunehmend auf ihr historisches
        In der ersten Phase des Projekts (2016)2
                                                                                                                                                                              Foto: Wikipedia/Silar | CC BY-SA
     wurden drei Orte in Hessen (im Landkreis
     Waldeck-Frankenberg) und drei Orte in                   Erst mit der Eröffnung
     Thüringen (im Landkreis Saalfeld/Rudol-              eines Dorfladens sowie der
     stadt) untersucht. Die ausgewählten Orte/            Sanierung des Dorfplatzes
     Ortsteile haben in den vergangenen Jahren,
     ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen
                                                          und der umgenutzten alten
     Ausgangslage, Soziale Orte aufgebaut, den            Schule entstand dieser
     öffentlichen Raum zurückerobert und (neu-            öffentliche Raum wieder.
     en) Zusammenhalt geschaffen. Der kleine
     Ort Dalwigksthal (200 Einwohner) in Hessen
     hat beispielsweise eine Gastwirtschaft eröff-    Erbe: das Schloss, die einmalige Sommerfri-
     net, die als Genossenschaft geführt wird. Das    sche-Architektur und seine Bedeutung für
     hessische Löhlbach (1050 Einwohner) ist ein      die Demokratie. Friedrich Ebert unterzeich-
     bürgerschaftlich sehr aktiver Ort, der viele     nete im August 1919 während seines Som-
     Vereine zählt. Dennoch fehlte es an einem        merurlaubs in Schwarzburg die Weimarer
     gemeinsamen Begegnungsort, an dem Mar-           Verfassung. Vielfältige Aktionen und Pro-
     tinsfeuer, Kaffeetrinken oder Weihnachts-        jekte schließen sich hier an: die Sommerfri-
     singen möglich war. Erst mit der Eröffnung       sche, Denkort Demokratie, Schwarzburger
     eines Dorfladens sowie der Sanierung des         Gespräche und die Beteiligung bei der IBA
     Dorfplatzes und der umgenutzten alten            Thüringen.
     Schule entstand dieser öffentliche Raum wie-
     der, der nun rege zu allen möglichen Anlässen    Als erste Projektergebnisse lassen sich fest-
     genutzt wird. Die Diemelstädter hingegen         halten:
     (5000 Einwohner, ebenfalls Hessen) nahmen

24     SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ­EINORDNUNG                                                                                                       SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ­EINORDNUNG                             25
kung und Rechtsextremismusprävention im            und eben nicht nur punktuelle Projekte zu          Aber auch die freie Wirtschaft, Unternehmen und
     ländlichen Raum:                                   ermöglichen.                                    Handwerksbetriebe sind durchaus in der Lage und in der
                                                      • Zweitens bedarf es überdurchschnittlich         Pflicht, Räume oder Ressourcen zur Verfügung
     • (Zivil-)gesellschaftliche Institutionen bin-     engagierter und innovationsfähiger Ak-
       den Menschen sozial, kulturell und mental        teure.
                                                                                                        zu stellen.
       ein und erkennen, nutzen und helfen im         • Drittens ist eine öffentliche Verwaltung
       besten Fall bei der Entfaltung des eigenen       wichtig, die offen ist für partizipative Pro-   geber), die ein Projekt in Gang halten. Die       mit diversen Beteiligten ist nie konfliktfrei,
       (Entwicklungs-)Potenzials.                       zesse und innovative Kooperationen.             Kommunalverwaltung belegt in den meis-            Prozessbegleitung kann hier als Demokra-
     • Entscheidend ist, dass die Sozialen Orte       • Schließlich benötigen Soziale Orte überre-      ten Fällen die Position des Raum- und/oder        tieförderung verstanden werden.
       unterschiedliche Wirklichkeiten, Erfah-          gionale Aufmerksamkeit und Einbindung.          Ressourcengebers, und der Bürgermeister
       rungsräume und Deutungsangebote be-                                                              oder Ortsvorsteher wird häufig zum agils-         Das Soziale-Orte-Konzept
       reithalten, die miteinander in Wider- und      Zugegeben, es scheint voraussetzungsvoll,         ten Promoter. Aber auch die freie Wirtschaft,     Ziel des geschilderten BMBF-Projektes
       Wettstreit treten können.                      die „Erfolgsfaktoren“ – Infrastruktur, Akteu-     Unternehmen und Handwerksbetriebe sind            ist nicht nur, Soziale Orte vorzustellen und
     • Menschen aller Altersgruppen, aber ins-        re, Verwaltung und Aufmerksamkeit – zu-           durchaus in der Lage und in der Pflicht – folgt   zur Nachahmung zu empfehlen, sondern ei-
       besondere Jugendliche können hier kom-         sammenzubekommen, um einen „gelingen-             man dem Corporate Citizenship-Ansatz –,           nen Schritt weiterzugehen: Das Soziale-Or-
       munales Leben erfahren und gestalten.          den“ Sozialen Ort auf die Beine zu stellen.       Räume oder Ressourcen zur Verfügung zu            te-Konzept (Kersten/Neu/Vogel 2017)
     • Letztlich bieten zivilgesellschaftliche In-    Da in unserer Untersuchung allerdings auch        stellen oder die Öffentlichkeitsarbeit für den    bildet die Basis einer neuen Politik des Zu-
       stitutionen Anerkennung, Identität und         kleine Orte und prekäre Stadtteile vertre-        neuen Sozialen Ort zu übernehmen. Denn            sammenhalts (Kersten/Neu/Vogel 2019),
       Zugehörigkeit jenseits von prekären Le-        ten sind, stimmt es doch einigermaßen hoff-       Unternehmen profitieren von den staatli-          die bei den Gestaltungswünschen und -mög-
       bensumständen oder (schlechten) Erfah-         nungsvoll, dass nicht nur Premium-Dörfer          chen Infrastrukturen, Bildungs- und Sozi-         lichkeiten der Dorf- und Quartiersbewohner
       rungen in Schule und Beruf.                    und „Reiche-Leute-Viertel“ ihre Sozialen          alsystemen sowie den Sicherheitsorganen,          ansetzt.
     • So begründen sie lokale Demokratie und         Orte stemmen. Unabhängig von der Grö-             wofür sie sich revanchieren sollten – und
       schaffen soziales Bewusstsein.                 ße des Ortes oder seiner wirtschaftlichen         meist auch wollen. Hingegen wird bisher               Das Soziale-Orte-Konzept betrachtet
                                                      Stärke kann das Zusammenspiel von Politik/        eher wenig diskutiert, welch wichtige Rolle       Gemeinden – im Gegensatz zum Zentra-
                                                      Verwaltung, Privatwirtschaft und Zivilge-         kommunale Unternehmen und Dienstleister           le-Orte-Konzept – nicht rein formal, nach
        Aber wie entstehen                            sellschaft gut funktionieren, wenn diese Ak-      beim Aufbau Sozialer Orte spielen können.         ihrer Funktion als Grund-, Mittel- oder
     diese ­Erfahrungsräume?                          teure ihre jeweilige Rolle bewusst ausfüllen:                                                       Oberzentrum, sondern fokussiert auf den
     Was braucht es, damit sich                       eine Kommunalverwaltung als regulieren-               Nicht zu vergessen die Mobilen Bera-          sozialen Zusammenhalt. Gemeinden werden
                                                      des, ermöglichendes Organ; private und öf-        tungsteams gegen Rechtsextremismus: Sie           hier nicht nur nach Bevölkerungs-, Arbeits-,
     Soziale Orte bilden und                          fentliche Unternehmen, die den Fokus mehr         werden in der Regel nicht gerufen, wenn           Finanz-, Infrastruktur- und Wirtschaftsda-
     dauerhaft existieren?                            auf lokales Engagement im Rahmen ihrer            alles super läuft – sie kommen oft erst,          ten bewertet, es werden daneben auch zi-
                                                      CSR („Corporate Social Responsibility“, zu        wenn es brennt. Sie sind besonders dann           vilgesellschaftliche Strukturen in den Blick
     Aber wie entstehen diese Erfahrungsräume?        deutsch: unternehmerische Gesellschafts-          gefordert, wenn sich Rechtsaußen-Akteure          genommen. Dies führt zu einer vollkommen
     Was braucht es, damit sich Soziale Orte bilden   oder Sozialverantwortung) legen; und eine         anschicken, einen Sozialen Ort nach ihrem         neuen Einordnung: Es findet nicht nur ein
     und dauerhaft existieren? Die bisherigen For-    Zivilgesellschaft, die mit ihren Vereinen und     Geschmack aufzubauen. Unterstützung               Mapping von Verlust- und Gewinnregio-
     schungsarbeiten im Projekt „Das Soziale-Or-      Verbänden, Nichtregierungs- und Non-Pro-          brauchen dann die demokratischen Kräfte,          nen statt, nicht nur ein Kartografieren von
     te-Konzept“ haben gezeigt, dass es vor allem     fit-Organisationen, Stiftungen, Selbsthilfe-      die sich nicht einschüchtern lassen wollen.       Migration und demographischem Wandel –
     vier Faktoren sind, die über „Gedeih und Ver-    gruppen und Bürgergemeinschaften den öf-          Aber auch ohne solchen krisenhaften An-           sondern es finden sich in Schrumpfungsre-
     derb“ von Sozialen Orten entscheiden:            fentlichen Raum zwischen Staat, Markt und         lass können Mobile Beratungsteams bereits         gionen durchaus resiliente Gemeinden mit
                                                      privater Sphäre füllt.                            in den Prozess der „Neugründung“ Sozialer         der entsprechenden Selbstwirksamkeit, le-
     • Erstens ist es das Vorhandensein und das                                                         Orte oder der Rückeroberung des öffentli-         bendige Gemeinschaften, die innovative Lö-
       Vorhalten öffentlicher Infrastruktur (in         Aus der Zivilgesellschaft stammen sehr          chen Raums als Katalysatoren einbezogen           sungen für neue Herausforderungen finden,
       der Fläche), um selbsttragende Prozesse        häufig die Ideen und das Herzblut (Ideen-         werden. Denn Arbeit im öffentlichen Raum          seien es Digitalisierung oder Bewältigung

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