Was blüht dem Dorf? Demokratieentwicklung auf dem Land - Bundesverband Mobile Beratung
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INHALT 04 Vorworte ESSAY 10 „Sie fühlen es nur nicht“ SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG 16 „Soziale Orte“ – Basis einer Politik des Zusammenhalts 30 Unausweichliche Schrumpfung? 40 Inklusion von Migrant*innen wird gemacht 46 „Widerstand ist zwecklos, Sie werden assimiliert werden“ ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS 54 „Den Wert eines Dorfladens kann man nicht in Mark und Pfennig ermessen“ 60 „Für Nazis geschlossene Ortschaft“ 64 „Es ist wichtig, dass es einfach einen Ort gibt, um Gemeinschaft zu pflegen“ 70 Politische Bildung auf dem Land – selten war sie wertvoller als heute! 76 „Partizipation ist Grundlage einer gelungenen Integration“ 80 Das Ostritzer Friedensfest 88 Was ist eigentlich Mobile Beratung? PERSPEKTIVEN UND FORDERUNGEN 92 „Rettet das Dorf!“ Erklärung zur Gender-Schreibweise in dieser Publikation 100 „ Integration bedeutet, dass beide Seiten einen Schritt aufeinander zu machen“ Die Herausgeber*innen verwenden in den Fließtexten das Gender-Sternchen, da sie das Ziel verfolgen, möglichst alle geschlechtlichen Identitäten abzubilden und eine inklusive Spra- 106 Zivilgesellschaft im Dorf stärken che anstreben. 112 Leseempfehlungen Für die Interviews wurde meist die Schreibweise sowohl des weiblichen als auch des männli- chen Geschlechtes gewählt. Auch wenn sich in dieser Schreibform das binäre Geschlechter- 114 Mobile Beratungsteams im Bundesverband Mobile Beratung system reproduziert, entspricht sie am ehesten den aktuellen Sprachgewohnheiten. 118 Impressum 2 3
Vorwort der Bundeszentrale für politische Bildung Ländliche Räume – der Plural ist angesichts der Verschiedenartigkeit und der unterschiedlichen Ausgestaltung der Regionen notwendig – werden oft als Gegenpol von Urbanität und Ballungszentrum wahrgenommen. Und je nach Blickwinkel ist der Begriff positiv oder negativ besetzt. Foto: unsplash/Nigel Tadyanehondo G eht man von bestimmten Indikato- ren aus wie Einwohnerdichte, Infra- struktur, Wirtschaftskraft, Freizeitange- beantworten zu können, ist eine systemati- sche Analyse der sehr heterogenen ländli- chen Räume dringend notwendig. möglichkeiten zur Stärkung der Demokratie durch erhöhte Partizipation vorzustellen, die in der Praxis bereits existieren. Möglichkeiten, gleichzeitig aber auch durch gravierende Veränderungen und Heraus- forderungen. In den meist peripheren Land- bote, Sozial- und Altersstruktur bis hin zu strichen stehen Häuser leer, Schulen werden den Lebenschancen der Bevölkerung, sind Insbesondere die Fragestellung nach Mangelndes Wissen über und mangelnde geschlossen, Arbeitsplätze fehlen, die Abwan- deutliche Unterschiede zwischen Stadt der Demokratieentwicklung in ländlichen Kontakte zu andere(n) Kulturen rufen Ängste derung der Jungen führt zu „Überalterung“. und Land erkennbar. Räumen und ihren spezifischen Ausgangsla- hervor, die durch Aufklärung über die eigent- Was bleibt, ist das Gefühl, vergessen zu wer- gen und Anforderungen wird bisher in den lichen Sachverhalte und durch Beteiligung an den, „abgehängt“ zu sein. Da ist es nicht ver- In der Wissenschaft ist das Verhältnis Fachdebatten kaum berührt. So war es das der Lösung der Probleme beseitigt werden – wunderlich, wenn auch das Vertrauen in die zwischen beiden Gegenstand zahlreicher Ziel der Konferenz, die der Bundesverband und sogar eine positive Wendung nehmen Politik und die demokratische Repräsentanz Untersuchungen. Vielfach wird ein Ausein- Mobile Beratung e. V. und die Bundeszent- können. Dies zeigte sich in den vergangenen schwindet. Diese Entwicklung öffnet Freiräu- anderdriften der Lebensverhältnisse und da- rale für politische Bildung (BpB) mit Akteu- Jahren an vielen Orten bei der Aufnahme me für populistische und extreme Tendenzen mit verbunden der politischen Präferenzen rinnen und Akteuren aus Kommunalpolitik, von Flüchtlingen. Hier ist die Arbeit der po- und führt zu einer zunehmenden Emotionali- und Kulturen in Stadt und Land festgestellt. Verwaltung, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, litischen Bildung stark gefragt. sierung von Politik, Medien und Gesellschaft, Inwiefern diese Analysen zutreffen und in- Bildungsarbeit und Kultur im November zu neuen oftmals verstörenden Formen des wiefern die politische Polarisierung entlang 2018 in Göttingen veranstalteten, eben Der ländliche Raum in seiner Vielfalt – von sozialen und kommunikativen Miteinanders. der Linie Stadt/Land festgemacht werden diese Herausforderungen zu diskutieren. der Uckermark bis zum Bayerischen Wald, kann, ist noch offen und muss weiter disku- Neben der Analyse der demokratiegefähr- von Friesland bis zur Sächsischen Schweiz – Schrumpfende Dörfer und Regionen tiert werden. Um diese Fragen verlässlich denden Tendenzen ging es darum, Lösungs- ist gekennzeichnet durch viele Chancen und werden auch künftig zu unserem Land ge- 4 VORWORTE VORWORTE 5
Raum zu fördern. Gleichzeitig sollen Wei- terbildung und Vernetzung der Teilnehmen- den mit Regionalkonferenzen und weiteren Schulungsangeboten unterstützt werden. Bereits seit 2010 werden mit dem Bun- desprogramm „Zusammenhalt durch Teil- habe“ (ZdT) Projekte für demokratische Teilhabe und gegen Extremismus in länd- lichen und strukturschwachen Gegenden gefördert. Unter anderem werden Vereine und Verbände dabei unterstützt, demokrati- sche Verbandsstrukturen zu etablieren und diskriminierende und demokratiefeindliche Vorfälle im Verband zu bearbeiten. Auch über zahlreiche Print- und Onlineprodukte widmet sich die BpB seit langem der Thema- Foto: Flickr/Bert Kaufmann | CC-BY-NC tik „ländlicher Raum“. hören. Erst allmählich entsteht in Politik und die jeweiligen Lebenskontexte abgestimmte nahmen wie Selbstorganisation, Stärkung Die BpB hat die Initiative des Bundes- Gesellschaft ein Bewusstsein dafür, welche Maßnahmen dauerhaft stärken. Dabei geht der Handlungskompetenzen, Erlernen von verbandes für Mobile Beratung zu der Folgen es hat, wenn die sozial Mobilen fort- es darum, jene zu erreichen, die bislang nicht Gesprächskultur und Partizipation dabei zu gemeinsamen Konferenz „Was blüht dem gehen, die Daseinsvorsorge vernachlässigt von klassischer Bildung im Sinne von Demo- helfen, Chancen und Perspektiven für sich Dorf? Konferenz mit Impulsen zur Demo- wird und Bindungen wegbrechen. Um den kratiebildung erreicht wurden. Politische und die Gemeinschaft zu erkennen und die- kratiestärkung“ sehr begrüßt. Diese Pub- ländlichen Raum zu gestalten, bedarf es Be- Bildung muss hier neu denken und vor allem se zu realisieren. likation fasst Ergebnisse und Erfahrungen reitschaft zu Innovation, Bereitschaft, die auf Kommunikation und Zuhören setzen. aus der Fachkonferenz zusammen und soll Potenziale zu erkennen und sie kreativ und Politische Bildung muss sich bewegen und Die Bundeszentrale für politische Bildung die „Chancen und Herausforderungen von attraktiv für die dort lebenden Menschen verstärkt aufsuchende politische Bildungs- hat die Aktivitäten zur Demokratiestärkung ländlich geprägten Regionen in ein neues und für das Gemeinwesen zu nutzen. arbeit in ländlichen Regionen anregen, Be- im ländlichen Raum deutlich verstärkt, unter Licht rücken“ (Thomas Krüger). Der Hand- darfe ermitteln und ihr eigenes Innovations- anderem über das im Herbst 2018 gestar- lungsbedarf ist klar, die Bemühungen müs- Politische Bildung kann bei der Erneu- potenzial unter Beweis stellen. Das sind die tete Kompetenz- und Qualifizierungspro- sen fortgesetzt und stärker sichtbar werden. erung und Belebung der ländlichen Räume Voraussetzungen, um die „abgehängten“ und gramm „Miteinander Reden“. Ziel dieses helfen. Sie kann die kreative und dynami- „abwärtsdriftenden“ ländlichen Regionen mehrjährigen Programms ist es, Projekte Hanne Wurzel sche politische Kultur von ländlichen Räu- überhaupt zu begreifen, ihre Probleme zu zur Stärkung der Gesprächskultur und zur Leiterin des Fachbereichs „Extremismus“ der men durch gezielte, auf die Menschen und erkennen und mit gezielten Bildungsmaß- Kooperation von Kommunen im ländlichen Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) 6 VORWORTE VORWORTE 7
Vorwort letzt sehen und daran gemeinsam mit Kommunalpolitik, Veraltung, regionaler Wirtschaft, Kirchen, Sportverbänden, Regionen, um Chancen durch Migration und um mutige, engagierte Kommunalpo- litiker*innen. des Bundesverbandes Mobile Beratung Sozialeinrichtungen, Bürgerinitiativen Der dritte Teil der Publikation behan- und Vereinen arbeiten wollen. delt Perspektiven der Demokratieförde- Der Bundesverband Mobile Beratung rung in ländlichen Regionen – also das, W arum befasst sich ein Bundes- verband Mobile Beratung mit Fragen der Demokratieentwicklung auf der extremen Rechten versuchen einen breiten Schulterschluss, von (pseudo) intellektuellen Kräften über rassistische hat deshalb im Herbst 2018 mit der Ta- gung „Was blüht dem Dorf? Impulse zur Demokratiestärkung auf dem Land“ zahl- was für eine positive Entwicklung not- wendig ist. Dazu gehört die politisch-pla- nerische und sozial-topograische Sicht dem Land? Die Antwort hängt eng mit und islamfeindliche Bürger*innen bis hin reiche Menschen aus Theorie und Praxis genauso wie die migrantische und post- seiner Historie zusammen. zu offen gewalttätigen Neonazi-Struktu- eingeladen, mit uns gemeinsam über die migrantische Perspektive. Last but not ren. Die teils gewalttätigen Demonstrati- Demokratiestärkung auf dem Land zu least schließt die Publikation mit einem Die ersten Mobilen Beratungsteams onen im August und September 2018 in beraten. Der Kongress brachte in ein- Blick auf die Mobile Beratung selbst, die entstanden 1992 zunächst in Branden- Chemnitz haben diese Zusammenarbeit zigartiger Weise Menschen zusammen – mit all diesen Engagierten und Gruppen burg. Sie wurden durch engagierte zivil- erstmalig einer breiteren Öffentlichkeit jenseits vom oft dominierenden Denken und in vielfältigen Problemlagen arbeitet. gesellschaftliche Träger aufgebaut und vor Augen geführt. in Verwaltungsstrukturen, Förderlogiken Wenn Mobile Beratung gelingt, wenn hatten von Anfang an nicht nur das Ziel, In unserer mittlerweile 25-jährigen oder politischen Präferenzen. Sie ver- irgendwo Demokratie und Menschen- rechtsextremistischen Einstellungen und Geschichte hat sich gezeigt, dass die band einzig der Wunsch sich auszutau- rechte gestärkt werden, dann gehört Aktivitäten entgegenzuwirken, sondern Beratung auf dem Lande ein Hauptar- schen, neue Impulse zu bekommen und dieser Erfolg nie den Berater*innen, ein positives Leitbild zu vertreten, also beitsfeld ist und dass sie sich stark von zu erfahren, wie Demokratieentwicklung sondern immer den Menschen vor Ort. Demokratie und Menschenrechte zu der Arbeit in städtischen Kontexten un- auf dem Land gelingen kann. Die Impulse Deshalb bin ich ganz besonders froh, stärken. Durch verschiedene Programme terscheidet. Die alle bewegende und alles der Konferenz wurden in der vorliegen- dass sowohl die Konferenz wie auch die- der Bundesregierung wurde die Mobile überwölbende Frage lautet: „In welcher den Publikation fachlich reflektiert, mit se Publikation Kommunalpoltiker*innen, Beratung ausgebaut und weiterentwi- Gesellschaft wollen wir leben?“ Stets geht gelungenen Beispielen unterlegt und zu Vereine und Bündnisse, politischen Bild- ckelt, erst in den ostdeutschen Bundes- es um Demokratiebildung, aktive Beteili- einer Darstellung der Profession der Mo- ner*innen, Menschen aus Bildungsarbeit, ländern und ab 2007 dann auch flächen- gung an Dorf- und Regionalgestaltung, bilen Beratung auf dem Lande verdichtet. aus Behörden und Verwaltungen, aus deckend im Westen Deutschlands. den Umgang mit Minderheiten und die Zunächst ordnet der Band aus wis- Kirchengemeinden, Sport, von den Lan- Unser Ansatz verhindert nicht, dass Wertschätzung unseres Gesellschafts- senschaftlicher Sicht die speziellen He- deskoordinierungsstellen, Migrant*in- es Rassist*innen oder Neonazis gibt – vertrages, unserer Verfassung. Diesen rausforderungen ländlicher Regionen nenorganisationen und Wissenschaft sondern er stärkt die Demokrat*innen. Themen und Herausforderungen stellt ein. Demographischer Wandel und Infra- versammelt hat. Ihre vielfältigen Perspek- Er berät und unterstützt Engagierte, die sich die Mobile Beratung in ihrer Ar- strukturentwicklung sind genauso The- tiven geben kaleidoskopartig Antwort(en) vor Ort Demokratie entwickeln, ausbau- beit1 – gemeinsam mit den Menschen vor men wie die soziokulturelle Dimension auf die Frage „Was blüht dem Dorf?“ en und für sie einstehen wollen. Damit ist Ort, die für Demokratie und Menschen- von Wachstum und Schrumpfung auf dem Ich wünsche Ihnen spannende Er- der Fokus Mobiler Beratung klar gesetzt: rechte eintreten, ganz konkret in ihrem Lande. Nicht nur die Zuwanderung nach kenntnisse und neue Impulse. Über Ihr auf die rund 80 Prozent der Bevölkerung Dorf, in ihrer Stadt. Mobile Beratung Deutschland wird betrachtet, sondern Feedback freuen wir uns. in Deutschland, denen Demokratie am denkt diese speziellen Herausforderun- ebenso die innerdeutsche Migration. Herzen liegt. Sie stehen – ebenso wie die gen unter regionalen, strukturellen und Im zweiten Abschnitt finden sich ge- Grit Hanneforth Sprecherin im Bundesverband Mobile Beratung. Mobile Beratung – durch die Entwick- soziokulturellen Gegebenheiten genauso lungene Beispiele aus der Praxis. Hier lung der vergangenen Jahre vor neuen mit wie die Haltung zu den Grundwerten geht es ganz konkret etwa um den Mehr- 1. Was genau ist Mobile Beratung? Und was kann man von Herausforderungen: Rechtspopulismus unserer Gesellschaft, die Beratungsneh- wert von Dorfläden für eine Gemeinde ihr erwarten? Siehe dazu S. 88 und http://www.bundes- breitet sich aus. Verschiedene Akteure mer*innen oft als missachtet oder ver- und um politische Bildung in ländlichen verband-mobile-beratung.de 8 VORWORTE VORWORTE 9
„Sie fühlen es nur nicht“ Die Schriftstellerin Manja Präkels hat ein Buch geschrieben über ihre Jugend in der ostdeutschen Provinz kurz vor und nach der Wiedervereini- gung. „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. In den vergangenen Monaten war sie damit auf Lesereise – und erfuhr dabei einiges über demokratische Kultur auf dem Land. Von Manja Präkels F rühling in der Lausitz. Ich fahre durch leere Landschaften, durchquere ty- pische Straßendörfer. Die Häuser ducken schen und ist sichtlich nervös. „Die Polizei war bei uns zu Hause.“ Die Beamten hätten sie gewarnt: Dein Name steht auf einer Lis- sich aneinander, mit Sicherheitsabstand te. Halte dich zurück. Wir observieren euer zur Straße. Damit niemand hineinschau- Wohnhaus. en kann. Erst wenige Wochen zuvor war ich im Kein Mensch zu sehen. Verandas, Gär- sächsischen Wurzen einem Mitglied des ten und Hollywoodschaukeln wurden, ge- Stadtrats begegnet, der regelmäßig die Rad- schützt vor zufälligen Begegnungen, zu muttern seines Autos überprüft, seit Unbe- den zartgrünen Feldern hin ausgerichtet. kannte sie lose geschraubt hatten. Auch er ist Ein blonder Junge, der plötzlich am Stra- dafür bekannt, dass er für eine offene Gesell- ßenrand auftaucht, führt einen massigen, schaft eintritt, für Vielfalt und Toleranz. An schwarzen Hund spazieren. Er trägt ein einem anderen Abend, in dem nach Amadeu T-Shirt der Band Landser, die in Neonazi- Antonio, einem der ersten Opfer rechtsext- kreisen kultisch verehrt wird, und blinzelt remer Gewalt nach 1990, benannten Veran- friedlich in die Sonne. staltungshaus in Eberswalde, berichtete mir ein Student von seiner Abiturfeier im fränki- Ich bin unterwegs auf einer kleinen schen Vogtland. Die endete damit, dass ein Lesetour durch Brandenburg. Noch am Pulk von Neonazis das Wirtshaus, in dem sie selben Abend begegne ich einer jungen feierten, umzingelte, um die Herausgabe des Aktivistin, sie organisiert mit Freunden einzigen nicht-weißen Schülers zu fordern. Gegendemonstrationen zu Nazi-Aufmär- Lynchstimmung. 10 VORWORTE ESSAY 11
ben genauso betrafen wie die Angestellten, Städter sehnen sich oft Arbeiter und Ingenieure der Industriewerke, danach; wer es aber hat, will blieb vielen nichts anderes übrig als fortzu- fliehen oder muss fort – das ziehen. Das hält bis heute an. Inzwischen sind die Jahrgänge unserer Eltern im Ren- Landleben kann Paradies tenalter, folgen Kindern und Enkeln gen und Hölle sein. Westen. Selbst die Friedhöfe werden leerer. den vergangenen dreißig Jahren stark ver- Aus dem jeweiligen persönlichen Durch- ändert. Im Osten früher und drastischer kommen durch diese Zeit und Fortkommen als im Westen. Doch trotz regionaler Spe- aus den Provinzen erklären sich heute die so zifik der Problemlagen gibt es auch Paral- unterschiedlichen Bewertungen jener Jah- lelen. Infrastruktur wird hier wie dort weg- re – Gewinn für die einen, soziale Katastro- gespart. Wer auf dem Land lebt, braucht ein phe für die anderen. Der Preis der Freiheit? Auto, wer keins hat, hat Pech. Schon deshalb Ist oftmals das Verdrängen dessen, was war. sind chronisch Kranke und ältere Menschen Das Leugnen der Herkunft. Das Vergessen. nicht nur vom Ärztemangel besonders hart Bei einer Lesung in Kiel begegne ich einer betroffen. Fahrende Händler beleben ein- Foto: Flickr/herr.g | CC BY-SA Mecklenburgerin, aufgewachsen in Waren mal wöchentlich verwaiste Dorfplätze. Rol- an der Müritz. Sie hört sich mit großem Inte- lende Bibliotheksbusse und in Turnhallen Menschen in Ausnahmezuständen? Das einer Welle rassistischer und fremdenfeind- resse Auszüge aus meinem Buch an, das die improvisierte Kinos entstehen aus Eigeni- war einmal. In den ersten Jahren nach dem licher Gewalt, die nicht selten Träume von Auswirkungen des Systemzusammenbruchs nitiativen. Die Zukunftsforscher, die in der Mauerfall. Inzwischen haben sich Bedro- Neubeginn und Aufbruch in Albträume von auf das Leben von Teenagern in der ostdeut- Großstadt über „Smart City“-Konzepten hungslagen wie diese an zahlreichen Orten als Angst und Gewalt verwandelte. schen Provinz beschreibt. „Komisch“, sagt sie brüten, sind hier draußen kaum einen Witz Normalität etabliert – nicht nur im Osten. Im dann. „Ich bin ja dieselbe Generation, aber wert. Und allzu oft wird die Langeweile un- Schutze entlegenerer, ländlicher Räume konn- Ich hatte großes Glück bei der Arbeits- ich kann mich an nichts erinnern.“ Der Strom ausgefüllter Tage und Nächte betäubt – mit ten Rechtsextreme in den vergangenen Jahr- suche. Die neue, westdeutsche Lokalzei- der Ereignisse, Veränderungen, Lern- und Drogen, Kampfsport, Hassgesängen, mit zehnten als Konzertveranstalter, Besitzer von tungschefin stellte mich ohne Referenzen Anpassungsprozesse haben ihr Gedächtnis der Jagd. Waren die in meinem Roman be- Gasthäusern und Bauernhöfen, Betreiber von ein. Aus purer Sympathie. Zu meinen ersten verschluckt. Ein Spezifikum ostdeutscher schriebenen Gewaltausbrüche der frühen Sicherheitsdiensten und Sportklubs Struktu- Aufgaben als Journalistin gehörte es, sämt- Erfahrung nach 1989. Auch Erinnerungs- Neunziger noch hauptsächlich von Saufge- ren schaffen, die nachhaltig wirken. liche Jugend- und Kultureinrichtungen im lücken nachzurecherchieren wird schwieri- lagen angetrieben, fluten seit einigen Jahren Landkreis aufzusuchen. Das war nicht leicht ger. Meine alte Lokalredaktion gibt es nicht neue Stoffe die Kinder- und Jugendzimmer. Der Preis der Freiheit? Ist oftmals und oftmals traurig. Viele der Jugendzim- mehr. Das Zeitungssterben hinterlässt eine In Erfurt, Dresden und Chemnitz landet so das Verdrängen dessen, was war mer, Kinos und Klubs waren von Schließung unbestellte Öffentlichkeit. Archive werden viel Crystal Meth im Abwasser wie nirgends Ich bin selbst in so einer Gegend aufgewach- bedroht oder existierten bereits nicht mehr. aus Kostengründen nicht digitalisiert. Pa- sonst in Europa. In den Dörfern drumherum sen. Ab vom Schuss, wie man bei uns sagt. An manchen Orten kämpften Schülerinnen, pierne Fundgruben, Zeugnisse des Gestern, gibt es solche Messungen nicht. Die Crystal Dabei ist Berlin nur eine Fahrstunde ent- Auszubildende, Sozialarbeiter und zivilge- die in Kellern zu Staub zerfallen. Meth-Küchen in den Wäldern grenznaher fernt. Meine Jugendweihe, das Einschwören sellschaftlich Engagierte enthusiastisch um Gebiete werden oft von ehemaligen vietna- auf Staatstreue und DDR-Sozialismus, fiel den Erhalt ihrer Räume, um Gelder und Be- Die Zukunftsforscher sind hier mesischen Vertragsarbeitern betrieben. Im ins selbe Jahr wie die Maueröffnung. Später treuungsstellen. Die meisten verloren. Rie- draußen kaum einen Witz wert weiteren Verteilungskreislauf sind Nazi- und war ich eine der wenigen aus meinem Abi- ben sich auf. Städter sehnen sich oft danach; wer es aber Drogenmilieu kaum voneinander zu tren- turjahrgang, die nicht sofort gen Berlin, gen hat, will fliehen oder muss fort – das Landle- nen. Nach einem Einsatz beim traditionellen Westen aufbrach. Wurde Zeugin des großen Im Zuge massiver Kündigungswellen, die ben kann Paradies und Hölle sein. Die grund- Baumblütenfest in Werder/Havel wandte Umbruchs der Neunzigerjahre. Zeugin auch Menschen aus landwirtschaftlichen Betrie- legenden Lebensbedingungen haben sich in sich die diensthabene Notärztin im vergan- 12 ESSAY ESSAY 13
genen Jahr an die Öffentlichkeit: „Das war be, als zu verkaufen: Geschwister könnten Krieg.“ Innerhalb von sieben Stunden habe einander im Erbfall einfach nicht mehr aus- sie mehr als hundert Patienten versorgt. Die zahlen. „Letztes Weihnachten waren wir die Hälfte minderjährig. Ein Drittel komatös. Einzigen im Dorf. Außer uns wohnt hier kei- „Ich kam mir vor wie im Lazarett.“ ner mehr ganzjährig.“ Dafür grasen nun La- mas auf der Wiese hinterm Hof. Im Som- Im fränkischen Bad Berneck, nur einen mer steigen Heißluftballons in den Himmel, Steinwurf von der ehemaligen innerdeut- von wo aus man die Sattelschweine, Pfer- schen Grenze entfernt, erklärt eine einhei- de, Hirsche, Wisente und Dromedare in ih- mische Zuhörerin im Anschluss an meine Le- ren Gehegen betrachten kann. In Mecklen- sung: „Die Ostdeutschen dachten doch, die burg-Vorpommern bilden entlaufene Emus kriegen jetzt ein Haus, ein Auto. Alles. Das inzwischen eine eigene Population. Anders- war so, wie es heute mit den Flüchtlingen ist.“ wo – wie in Bad Berneck – schürt der Zuzug Ihre Freundin ergänzt: „Die da drüben sind großstadtmüder Galeristen, Musiker, Kera- eben rückständiger.“ Auch andere Gäste miker und Maler noch Hoffnung auf neue Im- reagieren vorwurfsvoll auf meine Ausfüh- pulse. Der Künstlermensch als ein weiterer, rungen zu ostdeutschen Lebenswirklichkei- Zukunft verheißender Exot. Foto: libreshot/Martin Vorel ten: „Neue Straßen, sanierte Innenstädte. Was wollt ihr denn noch? Seid doch stolz!“ Im winzigen Dorf Jamel bei Wismar, das Ansichten aus einer heruntergekommenen von Neonazis gezielt als „nationalsozialis- meinden Hoffnung geschürt und teilweise ren?“ Deren Hilfsbereitschaft werde so noch Kneipe im menschenleeren Kurort, der – so tisches Musterdorf“ besiedelt wird, trat auch eingelöst. Wenn die Schließung des ört- im Nachhinein verächtlich gemacht. Dabei munkelt man später – aufgrund starker Ein- Mitte August vergangenen Jahres Herbert lichen Kindergartens durch den Zuzug einer verweisen die Erfahrungen der vergange- brüche der Touristenzahlen seinen Status zu Grönemeyer als Stargast bei „Jamel rockt afghanischen Familie abgewendet werden nen drei Jahrzehnte auf einen klaren Trend: verlieren droht. den Förster“ auf. Einem Festival, das 2007 kann, stehen Türen und Herzen den Neu- Wo auch immer breite Bündnisse zwischen aus Gegenwehr gegründet wurde. Nur drei ankömmlingen prompt offen. Bei der Pflege Verwaltungen, zivilgesellschaftlichen Ak- Groß ist das Unwissen übereinander Wochen nach seinem Auftritt verpachtete von Häusern und Gärten entstehen Solidar- teuren, Einheimischen und Zugezogenen hüben wie drüben. Ein eklatanter Mangel an der SPD-geführte Gemeinderat die zentrale gemeinschaften von Geflüchteten und Rent- entstanden und in konkreten Auseinander- Feingefühl begegnet mir auf einer Podiums- Freifläche von Jamel für wenig Geld an ein nern. Hauptsache, die Bäckerei muss nicht setzungen gewachsen sind – sei es gegen diskussion im Thüringischen, als ein west- Mitglied der rechtsextremen Szene vor Ort. schließen, weil plötzlich doch noch ein Lehr- rechtsradikale Konzertveranstalter oder deutscher Landespolitiker dem sichtlich Der parteilose Bürgermeister rechtfertigte ling gefunden wird, ganz egal woher. Doch es für den Erhalt von Schulen, Geschäften, entsetzten Publikum erklärt: „Es geht Ihnen die Maßnahme später: „Wir leben jeden Tag drohen Abschiebungen. Unverhältnismäßig Kleinbetrieben und Kulturorten –, weicht besser, Sie fühlen es nur nicht.“ mit diesen Leuten und müssen uns mit ih- hohe Hürden im Umgang mit Behörden. die Friedhofsruhe leerer Dorfplätze dem le- nen irgendwie auseinandersetzen.“ Auf der bendigen Austausch über Ortsgrenzen und Doch manchmal weicht die betreffenden Wiese werden im Juni wieder Eine junge, sächsische Grundschullehre- Zäune hinweg. Friedhofsruhe leerer Dorfplätze Neonazis eine „Sonnenwendfeier“ veran- rin berichtete mir unter Tränen von „ihren“ Manja Präkels, geboren 1974 in Zehdenick/Mark, ist dem lebendigen Austausch stalten. Mit Hüpfburg und Kremserfahrten Kindern einer dritten Klasse, die miterle- Musikerin, Sängerin und Autorin. Von 1993 bis 1997 Am Rande eines Kunstfestivals in der Ucker- im Kinderprogramm. Sie nennen es Zukunft. ben mussten, wie eine Mitschülerin aus arbeitete sie als Lokaljournalistin für die Märkische All- mark berichtet mir ein zugezogenes Ehepaar Und frieren Zeit und Menschen darin ein. dem Klassenzimmer geführt wurde. Das gemeine Zeitung, studierte danach in Berlin Philoso- aus Hamburg, dass die Grundstückspreise Mädchen, dem die neuen Freundinnen und phie, Soziologie und Osteuropäische Geschichte. Präkels erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, für der bei Sommerfrischlern und Landflüch- Die vielbeschworene und -diskutierte Freunde so neugierig wie enthusiastisch ihren zuletzt erschienenen Roman „Als ich mit Hitler tern immer beliebteren Gegend derart in die Willkommenskultur der vergangenen fünf dabei geholfen hatten, Deutsch zu lernen, Schnapskirschen aß“ (Verbrecher Verlag 2017) unter Höhe geschossen seien, dass den Einheimi- Jahre dagegen hat in besonders stark von verschwand für immer aus ihrer aller Leben. anderem den Anna-Seghers-Preis und den Deutschen schen häufig nichts anderes mehr übrig blei- Überalterung und Wegzug betroffenen Ge- „Wie soll man so was Neunjährigen erklä- Jugendliteraturpreis. 14 ESSAY ESSAY 15
„Soziale Orte“ – Basis einer Politik des Zusammenhalts Wie steht es um die Demokratie in ländlichen Räumen? Und was kann man tun, um bürgerschaftliches Engagement zu stärken? Erste Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Von Claudia Neu U nlängst hat die bekannte deutsche Schriftstellerin Juli Zeh viel Kritik einstecken müssen. In einem Interview Man hätte es ahnen können. Ist doch auch ihr Roman Unterleuten (2016) gespickt mit Klischees von fehlgeleiteten Städtern, mit der Basler Zeitung vom 21. Januar 2019 die aufs Land ziehen, um ihren Traum vom sprach sie von einer weiterhin bestehen- guten Leben zu verwirklichen – und daran den Kluft zwischen Stadt und Land, zuneh- scheitern. Zugleich bleibt das Landleben in mender „Offenherzigkeit beim Äußern ihrem Interview wie im Roman ein Ort der von Fremdenfeindlichkeit um den Faktor Ewiggestrigen, der Tumben und Kleingeis- 10.000“ sowie von „noch ein paar Jahr- tigen, ein Hort der alltäglichen Gewalt. Juli zehnte[n] Rückstand in der Entwicklung Zeh wird es wahrscheinlich besser wissen, bestimmter Werte“ im ländlichen Raum gleichwohl bedient sie freimütig den offen- Ostdeutschlands. bar nicht zu überwindenden Antagonismus zwischen ländlicher Rückständigkeit und Zugleich betonte Juli Zeh, die selbst seit urbaner Moderne, zwischen kalter Groß- zehn Jahren im Havelland lebt, sie wolle aber stadt und heimeligem Dorf, in dem Men- auch die guten Seiten des Landlebens sehen: schen mit robuster Konstitution füreinan- „Auf dem Dorf weiß man noch, was Hilfsbe- der da sind („Hier draußen sagen die Eltern reitschaft und Loyalität bedeuten. Die Bin- noch zu ihren Kindern: ‚Hör auf zu heulen, dungen zwischen den Menschen sind stark, sonst fängst Du Dir eine.‘“ – Basler Zeitung dafür interessiert man sich nicht so sehr für 2019: 8). den Staat und seine Politik.“ 16 SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS 17
Das Bild von „Dörflichkeit“ als und Hobbygärtnerinnen abzutun. Vielmehr Es sind vor allem periphere ländlichen Seismograph gesellschaftlicher spiegeln sich in diesen Be- und Verarbeitun- Räume, die besonders von Abwanderung und Entwicklung gen die ökonomischen, demographischen Alterung betroffen sind. Juli Zeh ist nur eine der vielen Schriftstel- und sozialen Veränderungen der letzten lerinnen, Journalisten und Intellektuel- Jahrzehnte wider, die insbesondere auch in len, die sich seit geraumer Zeit dem Thema entlegenen ländlichen Räumen ihren Nie- Landleben widmen. Die Palette reicht von derschlag finden. Das imaginierte Dorf ist Wiederaneignung inzwischen brachliegen- Beschreibung unschwer als typisch für den den sogenannten Heuballenheften (Land- der überschaubare Mikrokosmos, der als der Landschaften, aufgegebener Höfe und abgelegenen ländlichen Raum (Ostdeutsch- lust & Co.), über Landkrimis und Roma- Wunsch- oder Zerrbild, Resonanzboden bevölkerungsarmer Dörfer kümmern und lands) zu erkennen. Denn die Entwicklungen ne bis hin zu soziologischen Lebensberich- und Austragungsort gesellschaftlicher Ver- an einer erneuten ideologischen Besetzung verlaufen keineswegs eindeutig entlang der ten aus der französischen Provinz (Louis hältnisse dient, und der individualistische ländlicher Räume arbeiten“ (Nell/Weiland Stadt-Land-Achse: So sind nicht die ländli- 2015). Nell/Weiland (2018: 24) stellen zu Orientierungsmuster und kapitalistische 2018: 39). chen Räume benachteiligt und die Städte dieser neuen Welle literarischer Bearbei- Handlungspraxen reflektiert wie kritisiert. bevorzugt. Ländliche Räume im Speckgürtel tung des Dörflichen fest: „Die kulturelle Er- Polarisierung dörflicher prosperierender Städte, ja sogar entlegene findung des Dörflichen markiert den Beginn Lebenswelten ländliche Räume im Schwarzwald boomen. einer Faszinationsgeschichte, die offensicht- Sicherlich bedienen Welche gesellschaftlichen und politischen Demgegenüber leiden auch Städte wie Dins- lich selbst dann noch weitererzählt werden Heuballenhefte und Realitäten sind es nun, die so auflagenstark laken, Duisburg und Anklam unter unbewäl- kann, wenn bereits allseitig das Verschwin- andere Lifestyle-Magazine bearbeitet werden? tigtem Struktur- und demographischem den des Dorfes konstatiert und mitunter Wandel. Es sind vor allem periphere ländli- auch betrauert wird: Die Topoi und Narra- die Sehnsucht gestresster Juli Zeh beschreibt in dem Interview mit chen Räume, die besonders von Abwande- tive des Dörflichen erweisen sich im kultu- Städter nach Ursprünglich- der Basler Zeitung die Veränderung in ihrem rung und Alterung betroffen sind. Je näher rell Imaginären als erstaunlich konstant und keit, Naturnähe und dörflichen Lebensumfeld so: „Als ich herzog, an der Agglomeration gelegen, desto besser flexibel zugleich; […] Dabei ist davon auszu- vermeintlicher Gemeinschaft. gab es noch nicht mal Internet. Da ist was stehen die Entwicklungschancen für den gehen, dass es das Dörfliche (ebenso wie passiert. Aber gleichzeitig wird sehenden Ort – so zumindest der erwartbare Verlauf. das Ländliche) in seinen jeweiligen idealty- Auges zugelassen, wie Infrastruktur sich in Wenngleich es überall disperse räumliche pischen Ausformungen, wie sie sich in Lite- Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch- Nichts auflöst. Kein Wunder, dass sich die Entwicklungen, also Wachsen und Schrump- ratur, Malerei oder Film als Gegenentwür- mals an „Unterleuten“, aber auch an Saša Leute von der Politik abwenden, wenn die fen nebeneinander gibt – auch in den entle- fe zu den Bildern und Erfahrungen einer u.a. Stanišićs Roman Vor dem Fest (2014), der letzte Regionalbahn gestrichen wird, der gensten ländlichen Regionen (BBSR 2012, von Industrie, Verstädterung und sozialer den Niedergang, aber auch das Beharrungs- letzte Arzt die Praxis verlässt und die letzte 2017; Albrech/Fink/Tiemann 2015). Verdichtung geprägten Moderne finden las- vermögen eines brandenburgischen Dorfes Apotheke schließt. […] Es kann doch nicht sen, in den historischen Zusammenhängen thematisiert. Oder an Édouard Louis (2015), sein, dass in einem der reichsten Länder der Immer deutlicher ist in den vergangenen der zurückliegenden Jahrhunderte nie ge- der in seinem Roman Das Ende von Eddy sein Erde auf dem Land keine Schulbusse fahren.“ Jahren jedoch geworden, dass nicht allein geben hat.“ Aufwachsen als schwuler Junge in der nord- objektive Faktoren wie Arbeitsplatz, wirt- französischen Provinz verarbeitet. Auch wenn bisher die Schulbusse im schaftliche Sicherheit oder Bildung bestim- Sicherlich bedienen Heuballenhefte und ländlichen Raum noch fahren, so haben men, wie Menschen ihre Lebensverhältnis- andere Lifestyle-Magazine die Sehnsucht ge- Allerdings wird das Ineinandergreifen demographischer Wandel, unbewältigter se subjektiv empfinden. Objektiv betrachtet stresster Städter nach Ursprünglichkeit, Na- von politischer Haltung und dem Nieder- Strukturwandel, Engpässe in den öffent- ist Deutschland eine Insel der Glückseligen turnähe und vermeintlicher Gemeinschaft gang peripherer ländlicher Räume nirgends lichen Haushalten und infolgedessen der inmitten eines Meers von Jugendarbeitslo- (Neu 2016, 2018). Dementsprechend wer- deutlicher als bei Rechtspopulist*innen und Rückzug des Staates aus der Fläche (aber sigkeit, Korruption und Flüchtlingscamps. den die „unschönen“ Seiten des Landlebens völkischen Siedler*innenbewegungen und auch aus ganzen Stadtvierteln in den Met- Vielmehr ist es das „Gefühl der Welt“ (Heinz hier bewusst ausgespart. Dennoch griffe den sie „begleitenden Zeitschriften, Publi- ropolen) zu Investitionsrückständen, Verfall Bude 2016), das Gefühl von Eingebunden- es zu kurz, den neuen Landtrend nur als zisten und Aktivisten, die sich im Sinne ei- und Lücken in der daseinsvorsorgenden oder eben von Abgehängtsein, das den Blick Freizeitspaß für Hausfrauen, Krimifreunde ner ‚Landnahme‘ um die Erschließung bzw. Infrastruktur geführt. Gleichwohl ist Zehs auf die Realität bestimmt. So entsteht die 18 SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG 19
paradoxe Situation, dass eine Mehrheit der erwiesen. Das raumplanerische Zentra- Deutschen ihre persönliche Situation als le-Orte-Konzept, das die flächendeckende hervorragend bezeichnet, aber dem Land Versorgung der Bevölkerung mit Waren, schlechte Noten ausstellt – „mir geht es gut, Arbeitsplätzen sowie öffentlichen und pri- aber Deutschland geht es schlecht“ (Deut- vaten Dienstleistungen sicherstellen soll, scher Paritätischer Wohlfahrtsverband konnte weder den infrastrukturellen Rück- 2018). Dass auf der einen Seite händerin- bau in Schrumpfungsregionen hinreichend gend Arbeitskräfte gesucht werden, auf der abfedern noch die infrastrukturelle und anderen Seite aber Zuwanderer angefeindet soziale Segregation städtischer Quartiere werden und Flüchtlingsheime brennen. in Wachstumsregionen mildern. Vielmehr verloren Dörfer und Quartiere ihre soziale Verlust sozialer Orte Mitte, ihren Ankerpunkt für Öffentlichkeit Oft sind die Infrastrukturlücken eben nicht und Begegnung (Kersten/Neu/Vogel 2012, nur Lichtungen, die Raum für Neues, Inno- 2013). vatives, Kreatives lassen, sondern sie sind Nutzungsbrachen, die Platz für das Engage- Infrastrukturen und Engagement ment der Populisten und Rechtsextremen Diese Entwicklung beeinflusst direkt das lassen (Kersten/Neu/Vogel 2013). Das al- Bürgerschaftliche Engagement – auch wenn les ist nicht neu, aber politisch ist dies lange es erst mal nicht so wirken mag. Auf den einfach ignoriert worden. Was nicht sein soll, ersten Blick nämlich scheint sich das lieb- kann nicht sein. gewonnene Bild des unermüdlich aktiven Dorfbewohners, der nimmermüden Land- frau empirisch zu bestätigen: Die Durch- Oft sind die Infrastruktur- schnittswerte, die im Rahmen des Freiwil- lücken eben nicht nur ligen-Survey 2014 (BMFSFJ 2016: 24ff) Lichtungen, die Raum für erhoben wurden, ergeben im städtischen Raum einen Anteil von 42,7 Prozent frei- Neues, Innovatives, Kreatives willig Engagierter und auf dem Land einen lassen, sondern sie sind Wert von 45,5 Prozent (gesamt 43,6 %). Nutzungsbrachen. Ein genauerer Blick aber ergibt ein diffe- Das hat auch zu einem (förder-)politi- renziertes Bild: Die Unterschiede zwischen schen „Weiter so!“ geführt. Jedenfalls ha- dünn besiedelten Räumen und kleinen bzw. ben die in der Vergangenheit praktizierten mittleren Städten mit deren Umland sind politischen und rechtlichen Ausgleichsins- gering, hier bewegen sich die Anteile von trumente wie Länderfinanzausgleich, Soli- ehrenamtlich Engagierten zwischen 45 und daritätspakt und EU-Strukturfonds ebenso 46 Prozent. Demgegenüber ist die Zahl in wenig eine Trendumkehr bewirkt wie die größeren und großen Städten mit 39 Pro- unübersehbare Zahl an Modellprojekten. zent deutlich niedriger. Zudem zeigen sich Vielmehr haben sich die Versuche, regionale deutliche Ost-West-Unterschiede: Vor al- Krisen mittels eines flexibilisierten Zentra- lem im Westen weisen die ländlichen Räu- le-Orte-Konzepts1 zu bewältigen, in vielen me ein hohes Engagement auf – dies lässt Schrumpfungsgebieten längst als überholt sich in Ostdeutschland (mit Ausnahme von 20 SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG 21
• Daseinsvorsorge sichern, flexible Ange- nioren bei Skat und im Taubenzüchterverein bote unterbreiten, zusammenkamen und die Freiwillige Feuer- • Rahmenbedingungen für Engagement wehr nicht die einzige verbliebene Freizeit- verbessern, Jugendarbeit stärken, möglichkeit für Kinder und Jugendliche im • Frauen als Schlüsselpersonen ländlicher Dorf war. Nicht nur hat der demographische Entwicklung sehen, Wandel den Nachwuchs weniger werden • Vernetzung, (interkommunale) Zusam- lassen, zusätzlich haben auch lange Schulta- menarbeit, ge, weite Wege und die Neuen Medien das • ressortübergreifendes Denken stärken. Freizeitverhalten der Menschen verändert. Zusammenlegungen und Schließungen von Zudem wird seit einigen Jahren verstärkt Schulen, Kirchen, Banken oder Arztpraxen das Fehlen öffentlicher Orte hervorgeho- tun ihr Übriges, um Treffpunkte im Dorf ben. Die Evangelische Akademie Mecklen- (und im Stadtquartier) zu reduzieren. Den- burg-Vorpommern forderte bereits 2013 noch oder gerade deshalb: Der Wunsch nach in ihrem Projektbericht „Integrative Zusam- Austausch und gemeinsamer Aktivität im öf- menarbeit“: „Es braucht klar erkennbare und fentlichen Raum bleibt bestehen. von den Menschen akzeptierte öffentliche Orte in den ländlichen Kommunen. Diese müssen als Zentren wirken; also Orte des Daher braucht es gerade Zusammenlebens der Verschiedenen sein. in Zeiten veränderter Raum- Angesichts der zunehmenden Pluralisierung strukturen und Lebensmuster, müssen diese Orte von den unterschied- Foto: Flickr/herr.g | CC BY-SA lichen Menschen angenommen werden.“ kleinerer Familien und (Kaiser 2014: 68) längerer Lebenszeit soziale Mecklenburg-Vorpommern) nicht beobach- etlichen entlegenen ländlichen Räumen zu: Orte, an denen sich Menschen ten. Zwar trägt Hamburg die „rote Laterne“ Arbeit weg, Infrastruktur weg, junge Leute Es mangelt jedenfalls nicht an der Situ- wiederholt einfinden können. (36 Prozent), und auch Berlin (37,2 Pro- weg, Engagement weg. Für junge Menschen ationsanalyse oder lautstarken Appellen zent) liegt weit hinten – aber neben diesen bedeutet Aufwachsen im ländlichen Raum an den „aktiven Bürger“, sondern am politi- Großstädten stehen die Ost-Bundesländer (Ostdeutschlands) eben oft nicht ein Leben schen Willen zur Umsetzung der bekannten Daher braucht es gerade in Zeiten verän- Sachsen-Anhalt (37,1 %), Sachsen (38,3 in einem ländlichen Idyll, sondern ein Leben Empfehlungen. Und jetzt also auch noch derter Raumstrukturen und Lebensmuster, %), Brandenburg (38,75 %) und Thüringen nahezu ohne freizeitkulturelle Angebote öffentliche oder soziale Orte? Was können kleinerer Familien und längerer Lebens- (39,3 %) weit abgeschlagen hinter den En- und nicht selten nur noch rechtsextremen diese „sozialen Orte“ leisten? Wer „baut“ sie? zeit soziale Orte, an denen sich Menschen gagement-Spitzenreitern im Südwesten Freizeit- und Sinnangeboten (Hafeneger Wie können sie als Zentren wirken? Wieder wiederholt einfinden können, geplant oder Deutschlands. Dort gaben nahezu die Hälf- 2006). nur neuer Wein in alten Schläuchen? Was ist spontan, sich austauschen, diskutieren, Zeit te der Befragten an, bürgerschaftlich aktiv mit all den ungenutzten Dorfgemeinschafts- miteinander verbringen, sich kennenler- zu sein (Rheinland-Pfalz 48,3 Prozent, Ba- Wie weiter? häusern, Kirchensälen und geschlossenen nen und interagieren können. Diese Orte den-Württemberg 48,2 Prozent). Die Idee der „Third Places“ Jugendclubs? Das waren doch auch mal so- wurden erstmalig von dem Soziologen Ray Die Empfehlungen zur Entwicklung ländli- ziale Orte!? Oldenburg 1989 in seinem Werk The Gre- Es zeigt sich also, dass bürgerschaftli- cher Räume und zur Bekämpfung rechtsex- at Good Place begrifflich gefasst als „Third ches Engagement vor allem dort blüht, wo tremer Auswüchse im ländlichen Raum sind Stimmt – allerdings zu einer Zeit, in der Places“. Völlig unabhängig vom „First Place“, Arbeitsplätze und Infrastruktur vorhanden vielfach benannt (ohne bisher wirklich Erfol- es fünf Fußballmannschaften im Ort gab, der dem Zuhause, und dem „Second Place“, dem sind, junge und gut ausgebildete Menschen ge verzeichnen zu können): Kirchenchor am Montag sang, sich der Frau- Arbeitsplatz, sind diese „Dritten Plätze“ ge- leben. Demgegenüber spitzt sich die Lage in enkreis am Dienstagnachmittag traf, die Se- meinschaftlich nutzbarer, öffentlicher Raum. 22 SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG 23
Diese Kommunikationsorte ermöglichen die ankommenden Flüchtlinge zum Anlass, • Soziale Orte sind Kristallisationspunkte ver Ansatz würde übersehen, dass es gera- verstetigte Kontakte, das Aushandeln des um sich zu fragen, wie sie künftig zusammen- und Kommunikationsorte, die öffentliche de in entlegenen ländlichen Räumen häufig ortsüblichen Konsenses (in politischen, ge- leben wollen. Sie verstehen die Integration Räume und Güter konstituieren. wenig demokratische Strömungen der Zivil- sellschaftlichen und anderen Fragen) sowie der Flüchtlinge als Entwicklungsprozess, bei • Soziale Orte sind nicht nur ein einmaliges gesellschaft sind (die sogenannte dark side die Entwicklung von Kooperation – alles dem gemeinsame Aktivitäten und neuer Zu- Projekt, sondern ein Prozess, der langfris- of civil society), die den öffentlichen Raum Basiskomponenten von Zusammengehörig- sammenhalt für Alt- wie Neubürger geschaf- tige Entwicklungen vor Ort anstößt. besetzen, was sie – in Ermanglung anderer keitsgefühl und sozialer Bindung, sowie ele- fen werden sollen. • Dies geht mit einer starken Netzwerkbil- Akteure – ja auch nicht selten schaffen. Al- mentar für die Zivilgesellschaft, das soziale dung einher, die überregionale Strahlkraft lerdings handelt es sich bei diesen „braunen“ Engagement und nicht zuletzt die Demokra- In Thüringen wurde neben Saalfeld-Beul- entwickelt und sich durch neue Formen Aktivitäten eben nicht um gemeinschaftlich tie an sich. witz und Saalfeld-Gorndorf Schwarzburg in der Beteiligung und des Zusammenhalts nutzbaren öffentlichen Raum, sondern um die Studie mit einbezogen. Schwer gebeu- sowie Konnektivität (also die Fähigkeit, exkludierende Angebote, die klaren völki- Was qualifiziert die „Third Places“ als So- telt von strukturellen Umbrüchen, vor allem sich zu vernetzen) auszeichnet. schen oder rassistischen Regeln folgen. Bru- ziale Orte? Schauen wir uns konkrete Fall- in der Tourismusbranche, hat Schwarzburg no Hafeneger (2006: 37) macht aus diesem beispiele aus unserem BMBF-Projekt „Das seit vielen Jahren unter den Folgen des de- An dieser Stelle muss darauf hingewie- Grund noch einmal deutlich, wieso es einer Soziale-Orte-Konzept. Neue Infrastruktu- mographischen Wandels und dem Rückbau sen werden, dass Soziale Orte nicht per se erhöhten Aufmerksamkeit für Engagement ren für sozialen Zusammenhalt“ an (Neu/ der Infrastruktur zu leiden. Die kleine Ge- „great good places“, also nicht automatisch und Soziale Orte bedarf – besonders im Hin- Vogel: 2019): meinde mit rund 500 Einwohnern besinnt großartig und toll sind. Ein solcher normati- blick auf die umfassende Demokratiestär- sich jedoch zunehmend auf ihr historisches In der ersten Phase des Projekts (2016)2 Foto: Wikipedia/Silar | CC BY-SA wurden drei Orte in Hessen (im Landkreis Waldeck-Frankenberg) und drei Orte in Erst mit der Eröffnung Thüringen (im Landkreis Saalfeld/Rudol- eines Dorfladens sowie der stadt) untersucht. Die ausgewählten Orte/ Sanierung des Dorfplatzes Ortsteile haben in den vergangenen Jahren, ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen und der umgenutzten alten Ausgangslage, Soziale Orte aufgebaut, den Schule entstand dieser öffentlichen Raum zurückerobert und (neu- öffentliche Raum wieder. en) Zusammenhalt geschaffen. Der kleine Ort Dalwigksthal (200 Einwohner) in Hessen hat beispielsweise eine Gastwirtschaft eröff- Erbe: das Schloss, die einmalige Sommerfri- net, die als Genossenschaft geführt wird. Das sche-Architektur und seine Bedeutung für hessische Löhlbach (1050 Einwohner) ist ein die Demokratie. Friedrich Ebert unterzeich- bürgerschaftlich sehr aktiver Ort, der viele nete im August 1919 während seines Som- Vereine zählt. Dennoch fehlte es an einem merurlaubs in Schwarzburg die Weimarer gemeinsamen Begegnungsort, an dem Mar- Verfassung. Vielfältige Aktionen und Pro- tinsfeuer, Kaffeetrinken oder Weihnachts- jekte schließen sich hier an: die Sommerfri- singen möglich war. Erst mit der Eröffnung sche, Denkort Demokratie, Schwarzburger eines Dorfladens sowie der Sanierung des Gespräche und die Beteiligung bei der IBA Dorfplatzes und der umgenutzten alten Thüringen. Schule entstand dieser öffentliche Raum wie- der, der nun rege zu allen möglichen Anlässen Als erste Projektergebnisse lassen sich fest- genutzt wird. Die Diemelstädter hingegen halten: (5000 Einwohner, ebenfalls Hessen) nahmen 24 SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG 25
kung und Rechtsextremismusprävention im und eben nicht nur punktuelle Projekte zu Aber auch die freie Wirtschaft, Unternehmen und ländlichen Raum: ermöglichen. Handwerksbetriebe sind durchaus in der Lage und in der • Zweitens bedarf es überdurchschnittlich Pflicht, Räume oder Ressourcen zur Verfügung • (Zivil-)gesellschaftliche Institutionen bin- engagierter und innovationsfähiger Ak- den Menschen sozial, kulturell und mental teure. zu stellen. ein und erkennen, nutzen und helfen im • Drittens ist eine öffentliche Verwaltung besten Fall bei der Entfaltung des eigenen wichtig, die offen ist für partizipative Pro- geber), die ein Projekt in Gang halten. Die mit diversen Beteiligten ist nie konfliktfrei, (Entwicklungs-)Potenzials. zesse und innovative Kooperationen. Kommunalverwaltung belegt in den meis- Prozessbegleitung kann hier als Demokra- • Entscheidend ist, dass die Sozialen Orte • Schließlich benötigen Soziale Orte überre- ten Fällen die Position des Raum- und/oder tieförderung verstanden werden. unterschiedliche Wirklichkeiten, Erfah- gionale Aufmerksamkeit und Einbindung. Ressourcengebers, und der Bürgermeister rungsräume und Deutungsangebote be- oder Ortsvorsteher wird häufig zum agils- Das Soziale-Orte-Konzept reithalten, die miteinander in Wider- und Zugegeben, es scheint voraussetzungsvoll, ten Promoter. Aber auch die freie Wirtschaft, Ziel des geschilderten BMBF-Projektes Wettstreit treten können. die „Erfolgsfaktoren“ – Infrastruktur, Akteu- Unternehmen und Handwerksbetriebe sind ist nicht nur, Soziale Orte vorzustellen und • Menschen aller Altersgruppen, aber ins- re, Verwaltung und Aufmerksamkeit – zu- durchaus in der Lage und in der Pflicht – folgt zur Nachahmung zu empfehlen, sondern ei- besondere Jugendliche können hier kom- sammenzubekommen, um einen „gelingen- man dem Corporate Citizenship-Ansatz –, nen Schritt weiterzugehen: Das Soziale-Or- munales Leben erfahren und gestalten. den“ Sozialen Ort auf die Beine zu stellen. Räume oder Ressourcen zur Verfügung zu te-Konzept (Kersten/Neu/Vogel 2017) • Letztlich bieten zivilgesellschaftliche In- Da in unserer Untersuchung allerdings auch stellen oder die Öffentlichkeitsarbeit für den bildet die Basis einer neuen Politik des Zu- stitutionen Anerkennung, Identität und kleine Orte und prekäre Stadtteile vertre- neuen Sozialen Ort zu übernehmen. Denn sammenhalts (Kersten/Neu/Vogel 2019), Zugehörigkeit jenseits von prekären Le- ten sind, stimmt es doch einigermaßen hoff- Unternehmen profitieren von den staatli- die bei den Gestaltungswünschen und -mög- bensumständen oder (schlechten) Erfah- nungsvoll, dass nicht nur Premium-Dörfer chen Infrastrukturen, Bildungs- und Sozi- lichkeiten der Dorf- und Quartiersbewohner rungen in Schule und Beruf. und „Reiche-Leute-Viertel“ ihre Sozialen alsystemen sowie den Sicherheitsorganen, ansetzt. • So begründen sie lokale Demokratie und Orte stemmen. Unabhängig von der Grö- wofür sie sich revanchieren sollten – und schaffen soziales Bewusstsein. ße des Ortes oder seiner wirtschaftlichen meist auch wollen. Hingegen wird bisher Das Soziale-Orte-Konzept betrachtet Stärke kann das Zusammenspiel von Politik/ eher wenig diskutiert, welch wichtige Rolle Gemeinden – im Gegensatz zum Zentra- Verwaltung, Privatwirtschaft und Zivilge- kommunale Unternehmen und Dienstleister le-Orte-Konzept – nicht rein formal, nach Aber wie entstehen sellschaft gut funktionieren, wenn diese Ak- beim Aufbau Sozialer Orte spielen können. ihrer Funktion als Grund-, Mittel- oder diese Erfahrungsräume? teure ihre jeweilige Rolle bewusst ausfüllen: Oberzentrum, sondern fokussiert auf den Was braucht es, damit sich eine Kommunalverwaltung als regulieren- Nicht zu vergessen die Mobilen Bera- sozialen Zusammenhalt. Gemeinden werden des, ermöglichendes Organ; private und öf- tungsteams gegen Rechtsextremismus: Sie hier nicht nur nach Bevölkerungs-, Arbeits-, Soziale Orte bilden und fentliche Unternehmen, die den Fokus mehr werden in der Regel nicht gerufen, wenn Finanz-, Infrastruktur- und Wirtschaftsda- dauerhaft existieren? auf lokales Engagement im Rahmen ihrer alles super läuft – sie kommen oft erst, ten bewertet, es werden daneben auch zi- CSR („Corporate Social Responsibility“, zu wenn es brennt. Sie sind besonders dann vilgesellschaftliche Strukturen in den Blick Aber wie entstehen diese Erfahrungsräume? deutsch: unternehmerische Gesellschafts- gefordert, wenn sich Rechtsaußen-Akteure genommen. Dies führt zu einer vollkommen Was braucht es, damit sich Soziale Orte bilden oder Sozialverantwortung) legen; und eine anschicken, einen Sozialen Ort nach ihrem neuen Einordnung: Es findet nicht nur ein und dauerhaft existieren? Die bisherigen For- Zivilgesellschaft, die mit ihren Vereinen und Geschmack aufzubauen. Unterstützung Mapping von Verlust- und Gewinnregio- schungsarbeiten im Projekt „Das Soziale-Or- Verbänden, Nichtregierungs- und Non-Pro- brauchen dann die demokratischen Kräfte, nen statt, nicht nur ein Kartografieren von te-Konzept“ haben gezeigt, dass es vor allem fit-Organisationen, Stiftungen, Selbsthilfe- die sich nicht einschüchtern lassen wollen. Migration und demographischem Wandel – vier Faktoren sind, die über „Gedeih und Ver- gruppen und Bürgergemeinschaften den öf- Aber auch ohne solchen krisenhaften An- sondern es finden sich in Schrumpfungsre- derb“ von Sozialen Orten entscheiden: fentlichen Raum zwischen Staat, Markt und lass können Mobile Beratungsteams bereits gionen durchaus resiliente Gemeinden mit privater Sphäre füllt. in den Prozess der „Neugründung“ Sozialer der entsprechenden Selbstwirksamkeit, le- • Erstens ist es das Vorhandensein und das Orte oder der Rückeroberung des öffentli- bendige Gemeinschaften, die innovative Lö- Vorhalten öffentlicher Infrastruktur (in Aus der Zivilgesellschaft stammen sehr chen Raums als Katalysatoren einbezogen sungen für neue Herausforderungen finden, der Fläche), um selbsttragende Prozesse häufig die Ideen und das Herzblut (Ideen- werden. Denn Arbeit im öffentlichen Raum seien es Digitalisierung oder Bewältigung 26 SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG SOZIALWISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG 27
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