Was wirkt im Jugendstrafvollzug? - DVJJ
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Kriminologischer Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen Was wirkt im Jugendstrafvollzug? Vortrag im Rahmen der 7. „Praktikertagung Jugendstrafvollzug“ der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. am 31. Oktober 2018 in Berlin Wolfgang Wirth Kriminologischer Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen
Was wirkt im Jugendstrafvollzug? Überblick • Wirkungserwartungen: Professionelles Selbstverständnis & Normatives I Regelwerk & Empirische Forschungsfragen • Wirkungsbelege: Befähigung im Strafvollzug & Rückfall nach II Strafvollzug & Legalbewährung durch Strafvollzug • Wirkungsbedingungen: Smarte Hilfeplanung & Strukturiertes Übergangs- III management & Evidenzbasiertes Lernen Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Was wirkt im Jugendstrafvollzug? Überblick • Wirkungserwartungen: Professionelles Selbstverständnis & Normatives I Regelwerk & Empirische Forschungsfragen • Wirkungsbelege: Befähigung im Strafvollzug & Rückfall nach II Strafvollzug & Legalbewährung durch Strafvollzug • Wirkungsbedingungen: Smarte Hilfeplanung & Strukturiertes Übergangs- III management & Evidenzbasiertes Lernen Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Professionelles Selbstverständnis: Wirkungserwartung Was soll der Jugendstrafvollzug aus Ihrer Sicht erreichen? Bitte denken Sie einmal an das Wirkungsziel, das Ihnen persönlich am wichtigsten ist. Sind Sie nun eher pessimistisch oder eher optimistisch, wenn Sie sich fragen, ob Sie dieses Ziel mit Ihrer Arbeit erreichen können? Eher Eher pessimistisch optimistisch Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Professionelles Selbstverständnis: Wirkungserwartung Für den Fall, dass Sie nicht an „Rückfallprävention“ als Vollzugsziel gedacht haben: Wie steht es hier um Ihre Wirkungserwartung? Sind Sie eher pessimistisch oder eher optimistisch, wenn Sie sich fragen, ob Ihre Arbeit zur Vermeidung weiterer Straftaten beitragen kann? Eher Eher pessimistisch optimistisch Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Normatives Regelwerk: Jugendgerichtsgesetz § 2 Abs. 1 JGG „Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.“ Rückfallvermeidung durch Erziehung? Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Normatives Regelwerk: (Jugend-)Strafvollzugsgesetz § 2 JStVollzG NRW: Vollzugsziel, Aufgaben Der Vollzug der Jugendstrafe dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Er trägt durch eine an den Entwicklungs- potentialen der Gefangenen orientierte Förderung dazu bei, individuelle Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen. § 1 StVollzG NRW: Ziel des Vollzuges Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient dem Ziel, Gefangene zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Rückfallvermeidung durch „Befähigung“! Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Zum Vergleich: Die bundeseinheitliche „Altregelung“ § 2 StVollzG: Aufgaben des Vollzuges Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). …. Erkennen Sie den Unterschied? Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Zum Vergleich: Die bundeseinheitliche „Altregelung“ § 2 StVollzG: Aufgaben des Vollzuges Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). …. Strafvollzugsgesetze NRW Der Vollzug der Jugendstrafe/Freiheitsstrafe dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. … Letzteres ist also ein eindeutiger Arbeitsauftrag, der allerdings noch ergänzt wird … Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Normatives Regelwerk: Befähigung und Eingliederung Europäische Strafvollzugsgrundsätze: „Jede Freiheitsentziehung ist so durchzuführen, dass sie den betroffenen Personen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtert.“ (6) „Neben den Vorschriften, die für alle Gefangenen gelten, ist der Vollzug für Strafgefangene so auszugestalten, dass sie fähig werden, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“ (102.1) durch die Zusatzaufgabe der „Wiedereingliederung“ der Strafgefangenen Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Empirische Forschungsfragen: Auch zur Beantwortung der Vortragsfrage Befähigung: Wurde(n) die Maßnahme(n) im Vollzug erfolgreich durchgeführt? Rückfallgefährdete Befähigungsmaßnahme Maßnahmeziele Zielgruppen erreicht? planmäßig beendet? vollständig erreicht? (Bedarfsorientierung) (Motivationsförderung) (Kompetenzsteigerung) Eingliederung: Ist die soziale/berufliche (Re-)Integration erfolgreich verlaufen? Vermittlung von Vermittlung der (ehemaligen) Eingliederungshilfen an Gefangenen in (ehemalige) Gefangene gesichert? Arbeit- oder Ausbildung gelungen? (Maßnahmekontinuität) (Integrationserfolg) Legalbewährung: Sind nach der Haft neue Straftaten begangen worden? Erneute Straffälligkeit und/oder erneute Rückkehr der (ehemaligen) Gefangenen in den (Jugend-)Strafvollzug registriert? (Rückfallvermeidung) Diese Fragen sind jeweils für sich, aber auch als Wirkungskette, zu analysieren. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Empirische Forschungsfragen: Zieltrias und Wirkungsketten Befähigungs- Eingliederungs- Legalbewährungs- wirkungen wirkungen und Teilhabe- im Vollzug der im Übergang aus wirkungen „in the Jugend- oder der Haft in die long run“ nach der Freiheitstrafe Freiheit Entlassung (individuelle Resozialisierung) (soziale Reintegration) (Prävention und Inklusion) Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Empirische Forschungsfragen: Wirkungshypothesen Die Rückfallrisiken werden durch eine gelungene soziale (Wieder-) Eingliederung nach Strafvollzug gesenkt. Die dazu erforderlichen (Wieder-)Eingliederungschancen werden durch eine erfolgreiche individuelle Befähigung der Gefangenen im Strafvollzug gesteigert. Die diesbezüglichen Befähigungsmöglichkeiten sind von Bedarfsmerkmalen der Gefangenen und von der bedarfsgerechten Planung und Gestaltung der „Befähigungsmaßnahmen“ des Strafvollzuges abhängig. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Ausgangslage 1: Exklusionsrisiken vor Strafvollzug Quelle: KrimD NRW - Falldaten Evaluation Jugendstrafvollzug NRW (Stand: 31.12.2017) 100 91,4 90 N = 4.203 junge Gefangene mit min. 181 Tagen Strafhaft) 80 73,7 70 65,0 65,0 60 % 50 40 30 21,0 20 12,1 10 0 kein Schulabschluss keine berufliche in schulischer/ arbeitslos Arrest- oder Strafhafterfahrung (Teil-) Qualifikation beruflicher Ausbildung Hafterfahrung Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Ausgangslage 2: Inklusionshoffnungen im Strafvollzug Objektive Exklusionsrisiken vor und durch (Jugend-)Strafvollzug Niedriges Bildungsniveau erhöht Armuts- und Arbeitslosigkeitsrisiko Arbeitslosigkeit erhöht Straffälligkeits- und Inhaftierungsrisiko Inhaftierung hat zudem Stigmatisierungseffekte und negative Folgen wie Einschränkung individueller Autonomie und sozialer Beziehungen Verlust von Wohnung, Arbeits- und Ausbildungsplatz etc. (soweit zuvor vorhanden), die ebenfalls zu einer Steigerung der Rückfallrisiken beitragen Subjektive Inklusionshoffnungen der Inhaftierten im Strafvollzug Trotz prekärer Lebenslagen und gemischter Erfahrungen mit klassischer Sozialarbeit, Bewährungshilfe, Sozialdienst (früherer) JVAen (eher positiv) Gerichtshilfe, Jugend- und Arbeitsämter (eher negativ) haben junge Gefangene zumeist kein eigenes Exklusionsbewusstsein, aber zu 80% optimistische Zukunftserwartungen (Quelle: Stelly/Thomas/Vester/Schaffer (2014): Lebenslagen von Jugendstrafgefangenen. In: MschrKrim 97, S. 267 – 279) Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Zwischenfazit 1: Jugendstrafvollzug als ultima ratio? Familiale Sozialisation (zunehmend) bindungslos Herkunftsfamilie und persönliches Umfeld der Gefangenen konnten keine stabile Integrationsgrundlage schaffen. Sozial(politisch)e Interventionen (zu oft) erfolglos Jugendhilfe, Ausbildungssysteme und ambulante soziale Dienste konnten ihrem Integrationsanspruch nicht gerecht werden. Strafrechtliche Sanktionen (bisher) wirkungslos Inhaftierung droht die soziale Ausgrenzung weiter zu verfestigen und wird doch als „letzte“ (?) Re-Integrationschance begriffen, zu deren Nutzung die jungen Gefangenen befähigt werden sollen. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Was wirkt im Jugendstrafvollzug? Überblick • Wirkungserwartungen: Professionelles Selbstverständnis & Normatives I Regelwerk & Empirische Forschungsfragen • Wirkungsbelege: Befähigung im Strafvollzug & Rückfall nach II Strafvollzug & Legalbewährung durch Strafvollzug • Wirkungsbedingungen: Smarte Hilfeplanung & Strukturiertes Übergangs- III management & Evidenzbasiertes Lernen Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Befähigung im Jugendstrafvollzug: (Be-)Handlungserfordernisse Suchtberatung 55,5 Quelle: KrimD NRW - Falldaten Evaluation Jugendstrafvollzug NRW (Stand: 31.12.2017) Soziale Trainingsmaßnahmen 53,9 Berufliche Qualifizierungskurse 53,7 N = 4.203 junge Gefangene mit min. 181 Tagen Strafhaft) Vollqualifizierende Berufsausbildung 51,2 Schulabschlussbezogene Maßnahmen 45,0 Suchttherapie(vorbereitung) 39,5 Anti-Gewalt-Maßnahmen/Trainings 32,9 Berufsvorbereitungsmaßnahmen 30,9 Schuldnerberatung/Schuldenregulierung 26,9 Schulische Förder-/Liftkurse 26,3 Deliktbezogene Maßnahmen (soweit nicht Anti-Gewalt) 17,8 Psychotherapeutische Behandlung 10,5 Arbeitstherapeutische Maßnahmen 9,2 Sozialtherapeutische Behandlung 7,4 Schulische Elementar-/Grundkurse 6,3 Sprach- und Integrationskurse für Ausländer 4,7 0 10 20 30 40 50 60 % Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Befähigung im Jugendstrafvollzug: Bedarfe und Verläufe (kompakt) Im Falle einer Maßnahmeumsetzung (bei Bedarf) Quelle: KrimD NRW - Falldaten Evaluation Jugendstrafvollzug NRW (Stand: 31.12.2017) Umsetzung Ziele Bedarf Art der Maßnahme Maßnahme gem. Fachdienst Folge- vorzeitig mindestens N = 4.203 junge Gefangene mit min. 181 Tagen Strafhaft) bedarf beendet annähernd erreicht Berufliche Fördermaßnahmen 76,0 74,7 48,3 67,8 57,4 Suchtberatung/Suchttherapie(vorbereitung) 71,7 69,9 16,1 75,2 45,8 Schulische Bildungsmaßnahmen 56,4 52,4 39,2 68,5 55,9 Soziale Trainingsmaßnahmen 53,9 37,3 9,3 86,5 45,2 Anti-Gewalt /andere deliktorientierte Maßnahmen 41,9 40,5 17,9 68,4 28,1 Schuldnerberatung/Schuldenregulierung 26,9 49,0 32,8 54,8 59,1 Psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen 10,5 55,4 25,4 59,0 39,1 Arbeitstherapeutische Maßnahmen 9,2 73,4 59,6 47,6 39,2 Sozialtherapeutische Behandlung 7,4 47,4 36,2 61,2 26,3 Sprach- und Integrationskurse für Ausländer 4,7 76,0 31,6 67,1 60,5 Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Zwischenfazit 2: Befähigung im (Jugend-)Strafvollzug Befähigungsbedarfe der Gefangenen sind komplex Die multiplen Problemlagen der Gefangenen erfordern vielfältige Maßnahmen im Vollzug – aber auch Priorisierungen. Befähigungsmöglichkeiten des Vollzuges sind begrenzt Angesichts der Problemkomplexität und der zeitlich begrenzten Vollzugsdauer sind die kriminalpräventiven Wirkungserwartungen auf ein realistisches Maß zu reduzieren! Vorbeugung durch die Haft verlangt Nachsorge nach der Haft Die bei Entlassung fortbestehenden (Be-)Handlungsbedarfe erfordern vernetzte Eingliederungshilfen, um die Rückfallraten nachhaltig senken zu können! Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
„Rückfall und Rückkehr“ nach Jugendstrafvollzug: Forschungsbefunde Rückfalluntersuchung 2010 – 2013 und 2004 bis 2013. Berlin 2016 Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Quelle: Jehle, J.-M., Albrecht, H.-J., Hohmann-Fricke, S., Tetal, C.: in % 100 90 2007-2010 80 68,6 2010-2013 70 64,5 60 50 40 35,8 30,3 30 20 10 0 Rückkfallquote (jede neue BZR Eintragung) Rückkehrerquote (erneute Inhaftierung) Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
„Rückfall und Rückkehr“ nach Jugend- und Freiheitsstrafe: Ein Vergleich Rückfalluntersuchung 2010 – 2013 und 2004 bis 2013. Berlin 2016 Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Quelle: Jehle, J.-M., Albrecht, H.-J., Hohmann-Fricke, S., Tetal, C.: Jugendstrafe Freiheitsstrafe sonstige Rückfälle kein 23,5% sonstige Rückfall Rückfälle 35,5% 34,2% kein Rückfall 55,1% Rückkehr in den Rückkehr in Strafvollzug den 21,4% Strafvollzug 30,3% Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Generalisierbare Befunde: Die Delikt- und Sanktionsabhängigkeit Rückfalluntersuchung 2010 – 2013 und 2004 bis 2013. Berlin 2016 Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Quelle: Jehle, J.-M., Albrecht, H.-J., Hohmann-Fricke, S., Tetal, C.: Etwa jeder dritte Straftäter wird unabhängig von der Sanktionsart binnen drei Jahren nach Verurteilung/Entlassung erneut straffällig. Straftäter mit Delikten wie „Raub und Erpressung“ und „schweren Formen des Diebstahls“ werden am häufigsten rückfällig – bei Kapital- und Bagatelldelikten gibt es niedrigere Rückfallquoten. Mit zunehmender Schwere der Bezugsentscheidungen und wachsender Anzahl der Vorstrafen sinken die Legalbewährungs- quoten – allerdings wiederum altersdifferenziert. Höchste Rückfallrate: Jugendstrafe ohne Bewährung, knapp gefolgt von Jugendarrest, aber: die höheren Rückfallraten nach Jugendstrafen entsprechen der altersbedingt höheren Rückfälligkeit. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Generalisierbare Befunde: Die Alters- und Zeit-Abhängigkeit Rückfalluntersuchung 2010 – 2013 und 2004 bis 2013. Berlin 2016 Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Quelle: Jehle, J.-M., Albrecht, H.-J., Hohmann-Fricke, S., Tetal, C.: Die Rückfallraten sinken mit zunehmendem Alter der Gefangenen, was auch für die Straffälligkeit allgemein gilt. Die Legalbewährungsquoten steigen mit zunehmender Haftdauer, was auch auf deliktspezifisch variierende Rückfallrisiken zurückzuführen ist. Die Rückfallraten steigen mit längeren Kontrollzeiträumen, im Schnitt um + 9 Prozentpunkte nach sechs und um weitere + 3 Prozentpunkte nach neun Jahren. Ein Großteil der Rückfälle erfolgt gleichwohl im ersten (halben) Jahr nach der Entlassung – und auch die Rückfallgeschwindigkeit ist um so größer, je jünger die (ehemaligen) Gefangenen sind. („Bereits innerhalb von 14 bzw. 15 Monaten ist die Hälfte der jugendlichen und heran- wachsenden Rückfälligen erneut straffällig geworden.“) Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Einzelbefunde: Rückfallquoten im Zeitverlauf Entwicklung der Rückfallrate nach Altersgruppen im neunjährigen Rückfalluntersuchung 2010 – 2013 und 2004 bis 2013. Berlin 2016, S. 186 f Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Quelle: Jehle, J.-M., Albrecht, H.-J., Hohmann-Fricke, S., Tetal, C.: Beobachtungszeitraum (ohne Entscheidungen gem §§ 45, 47 JGG) Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Generalisierbare Befunde: Die Orts- und Maßnahmenabhängigkeit Neben den kriminogenen oder protektiven Merkmalen der Gefangenen variieren die Rückfallquoten zudem in Abhängigkeit von der Art, Konzeption und Strukturqualität der vorgehaltenen „Befähigungsmaßnahmen“, dem Verlauf und Ergebnis ihrer Durchführung in geschlossenen oder offenen Vollzugseinrichtungen, der Sicherung von Maßnahmekontinuität durch Vermittlung der Gefangenen in Folgemaßnahmen bzw. an ambulante Dienste sowie von den wiederum damit verbundenen Eingliederungs- chancen bzw. Integrationsergebnissen. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Legalbewährung durch Strafvollzug? Maßnahmetypus In: Bewährungshilfe , 59, Heft 2, S. 175 - 190 Quelle: Lösel, F. et. al. 2012: Resozialisierung junger Straftäter in Europa. Relativ konsistent positive Effekte haben: Allgemeinbildende Maßnahmen (basic education) Berufliche Fördermaßnahmen und Maßnahmen zur Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit (vocational & employability programmes) Kognitiv-behaviorale Behandlungsprogramme (z.B. Reasoning & Rehabilitation, Cognitive Restructuring, Anger Management) Therapeutische Gemeinschaften (therapeutic communities) Multisystemische Therapieformen und familienbezogene Programme (multisystemic therapy, family oriented programmes) Substituierende Drogensuchtbehandlung teilweise in Verbindung mit „drug courts“ (psychopharmacological/substitution drug treatment) Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Legalbewährung durch Strafvollzug? Maßnahmetypus In: Bewährungshilfe , 59, Heft 2, S. 175 - 190 Quelle: Lösel, F. et. al. 2012: Resozialisierung junger Straftäter in Europa. Unwirksam oder sogar schädlich sind: Ausschließlich strafende Interventionen (pure sanction) Ausschließlich abschreckende Maßnahmen (purely deterrent measures, e.g. scared straight, shock incarceration for juveniles) Ausschließlich disziplinierende Maßnahmen (strict discipline, boot camps without treatment elements) Ausschließlich psychodynamische und unstrukturierte Therapieansätze (purely psychodynamic and unstructured therapeutic approaches) Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Legalbewährung durch Strafvollzug? Präventionseffekte In: Rettenberger/Dessecker (Hg.): Behandlung im Justizvollzug. Wiesbaden, S.18-52. *Quelle: Lösel, F. (2016): Wie wirksam ist die Straftäterbehandlung im Justizvollzug? Die durchschnittliche Effektgröße bei der Rückfallreduzierung durch die Behandlung von Straftätern liegen bei d = 0.20 +/- 0.10 oder r = .10 +/- .05. Ein d von 0.20 entspricht bei einer mittleren Rückfallrate von 50 % einer Differenz von 10 Prozentpunkten oder 18 Prozent zwischen Behandlungs- und Kontrollgruppe.* Diese Quote kann steigen, wenn es gelingt, den Einfluss der „richtigen“ kriminogenen Faktoren durch geeignete Maßnahmen zu mindern bzw. entsprechend behandlungsbedürftige Gefangene mit bedarfsgerechten Maßnahmen zu erreichen und erfolgreich zu „behandeln“. Aber sie kann auch sinken, wenn die „Befähigungsmaßnahmen“ im Voll- zug nicht bedarfsgerecht, plangemäß und/oder anschlussfähig umgesetzt werden (können), wobei selbst „Befähigungserfolge“ in der Haft bei ausbleibenden Integrationserfolgen nach der Entlassung verpuffen können. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Legalbewährung durch Strafvollzug? Bedingte Erfolge Beispiel: Rückfallraten (erneute Haft) nach vollzuglicher Berufsförderung und späterem Erwerbsstatus % 100 Teilnehmer ohne Abschluss Teilnehmer mit Abschluss 90 90,0 Teilnehmer mit ausbildungsgemäßer Beschäftigung 80 70 80,0 60 64,5 50 40 30 40,4 32,8 20 10 0 arbeitslos erwerbstätig Status nach der Entlassung Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Zwischenfazit 3: Legalbewährung nach/durch Strafvollzug Legalbewährung nach Strafvollzug ist nicht gleichbedeutend mit Legalbewährung durch Strafvollzug Allein anhand der vorliegenden Rückfalldaten darf nicht auf Erfolg oder Scheitern des Vollzuges geschlossen werden. Der (Jugend-)Strafvollzug wirkt stets nur bedingt präventiv Die potentiell rückfallsenkende Wirkung wird durch eine Vielzahl moderierender Faktoren positiv wie negativ „gebrochen“. Die Wirkungspotentiale müssen mit Hilfe systematischer Bedingungsanalysen identifiziert und gesteigert werden Dazu ist herauszufinden, welche Maßnahmen wann und wie bei welchen Gefangenen wirken und warum (nicht). Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Was wirkt im Jugendstrafvollzug? Überblick • Wirkungserwartungen: Professionelles Selbstverständnis & Normatives I Regelwerk & Empirische Forschungsfragen • Wirkungsbelege: Befähigung im Strafvollzug & Rückfall nach II Strafvollzug & Legalbewährung durch Strafvollzug • Wirkungsbedingungen: Smarte Hilfeplanung & Strukturiertes Übergangs- III management & Evidenzbasiertes Lernen Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Wirkungsbedingungen: What Works (1)? Konzentration auf motivierende Befähigungsmaßnahmen mit realistischer Eingliederungsperspektive anstelle von reiner Abschreckung (Strafe, Überwachung) – und dabei sind ambulante Maßnahmen grundsätzlich wirksamer als stationäre Unterbringungen. Ausrichtung der Behandlung am Grad des Rückfallrisikos (risk) mit Orientierung des Befähigungsbedarfs (needs) an kriminogenen Faktoren und Förderung der Ansprechbarkeit der Gefangenen (responsivity) – was allerdings die Gestaltung entsprechend „ansprechender“ Maßnahmen (responsiveness) zwingend voraussetzt. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Wirkungsbedingungen: What Works (2)? Verbindung einzelner, möglichst modular aufgebauter „Befähigungsmaßnahmen“ zu „integrierten Eingliederungs- programmen“ im Strafvollzug – weil multiple Problemlagen nicht allein mit „einer Maßnahme für alles“ bewältigt werden können. Vermeidung von Maßnahmeabbrüchen in der Haft und Sicherung der Maßnahmekontinuität nach der Entlassung – weil „Abbrecher“ immer höhere Rückfallrisiken haben. Ergänzung stationärer Behandlung durch ambulante Nachsorge, auch und vor allem zur Vermittlung in Ausbildung und/oder Arbeit - was nur im Wege eines vollzugsübergreifenden Übergangsmanagements gelingen kann. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Wirkungsbedingungen: Smarte Hilfeplanung In Anlehnung an: Projektmanagment-Manufaktur (http://projektmanagement-manufaktur.de/smart-ziele) – dort SMART* formulierte Befähigungsziele müssen allerdings mit dem Begriffspaar „attraktiv/akzeptierend“ anstelle des hier genutzten Begriffs „ansprechend“. Spezifisch Messbar Ansprechend Realistisch und Terminiert sein, um für (ehemalige) Gefangene hinreichend motivierend wirken zu können! Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Wirkungsbedingungen: Smarte Maßnahmegestaltung SMART strukturierte Befähigungsmaßnahmen mit Schriftlich fixierten Konzepten und Zieldefinitionen, Methodisch geleiteter Zugangssteuerung, Anerkannten und anschlussfähigen Verfahren, Risiko- und bedarfsorientierter Umsetzung sowie Teilnehmerbezogener Ergebnisdokumentation haben bessere Präventionswirkungen als eher unstrukturierte Maßnahmen. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Wirkungsbedingungen: Smarte Übergangsplanung SMART koordinierte Übergänge aus der Haft in Freiheit Steigern die Präventionswirkungen des Vollzuges Mit bedarfsgerechten Folgemaßnahmen und Ambulanten Eingliederungshilfen im besonders Rückfallträchtigen ersten (Halb-)Jahr nach der Haft und Tragen so zu kriminal- und sozialpolitischen Zielen bei! was allerdings ein erfolgreiches „Schnittstellenmanagement“ auf mehreren Ebenen voraussetzt. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Strukturiertes Übergangsmanagement: Zu gestalten ist … 1. der Wechsel der Gefangenen in die Zuständigkeit von ambulanten Diensten der Justiz – z. B. der Bewährungshilfe (aber: dieser Übergang betrifft bei weitem nicht alle Gefangenen) 2. die Aufnahme der Gefangenen als „Klienten“ originär zuständiger (Jugend-)Hilfesysteme bzw. kommunaler sozialer Dienste (aber: dieser Übergang wird durch Zuständigkeitsgrenzen der beteiligten Organisationen erschwert) . 3. die (kooperative) Vermittlung von (ehemaligen) Gefangenen in Arbeit oder Ausbildung - möglichst schon vor der Entlassung (aber: dies kann im Strafvollzug erfolgreich initiiert werden, muss jedoch in der „Nachsorge“ nachhaltig stabilisiert werden.) Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Integrationsbefunde: Eingliederung in Arbeit oder Ausbildung nach Jugendstrafvollzug: nach Freiheitsstrafenvollzug: Quelle: KrimD NRW – Falldatenanalyse Gemeinschaftsinitiative B5 (Stand: 31.03.2018) (N = 1.456) (N = 2.385 ohne EFS) via Entlassungs- in der via Entlassungs- in der vorbereitung (n=1.456) Nachsorge (n=677) vorbereitung (n=2.385) Nachsorge (n=1.104) 46,8 % 57,3 % 33,3 % 50,4 % davon vorbehaltlich: 14,1% davon vorbehaltlich: 7,7 % davon vorbehaltlich: 15,0 % davon vorbehaltlich: 7,2 % ohne mit ohne mit ohne mit ohne mit Berufs- Berufs- Berufs- Berufs- Berufs- Berufs- Berufs- Berufs- qualifikation qualifikation qualifikation qualifikation qualifikation qualifikation qualifikation qualifikation im Vollzug: im Vollzug: im Vollzug: im Vollzug: im Vollzug: im Vollzug: im Vollzug: im Vollzug: 41,8 % 53,0% 52,4 % 63,9 % 31,3 % 39,8 % 49,3 % 56,1 % Vermittlungsquote bei Teilnahme an Entlassungs- vorbereitung und Nachsorge (n=1.809): 73,1 % - It Works! (erhöhtes n durch Berücksichtigung von Fällen ohne Differenzierungsangaben zu Jugend-/Freiheitsstrafe) Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Wirkungsbedingungen: What Works (3)? Schließlich: Steuerung der „Befähigungsmaßnahmen“ und des Übergangsmanagements mit Hilfe „eingebauter Evaluationen“ – weil systematisches Qualitätsmanagement, standardisierte Ergebnisdokumentation und empirische Erfolgskontrollen die Effektivität, Effizienz und Wirksamkeit vollzuglicher Interventionen sichern und ihre evidenzbasierte Weiterentwicklung ermöglichen (können). Das gilt insbesondere für wechselseitiges Lernen an den Schnittstellen zwischen Strafvollzug und ambulant wirkenden Diensten. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Wirkungsbedingungen: Worauf ist also primär zu achten? Individuelles Rückfallrisiko Alter und strafrechtliche Vorbelastung der Inhaftierten Art und Dauer der strafrechtlichen Sanktionierung Kriminogene (Be-)Handlungsbedarfe bei Haftantritt Schulisches und berufliches Bildungsniveau (Lebenslage) Suchtgefährdung, Gewaltbereitschaft, Schuldenstand (Lebensweise) Bedarfsgerechte Befähigungsmaßnahmen im Vollzug Strukturierungsgrad, Verknüpfbarkeit und Motivierungspotential Abbruchvermeidung, Zielerreichung und Erfolgskontrolle Fortbestehende (Be-)Handlungsbedarfe bei Entlassung Vermittlung in, Inanspruchnahme von geeignete(n) Anschlussmaßnahmen Integration im „sozialen Empfangsraum“, insb. in Arbeit/Ausbildung Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Schlussfazit: Evidenzbasiertes Lernen Wirkungseuphorie? Die Formel „It works! Let‘s have more of the same!“ hat sich erledigt. Wirkungsskepsis? Die Forderung „Nothing works! Let‘s get rid of it!“ ist (wieder) häufiger zu hören, findet aber vergleichsweise wenig Resonanz. Wirkungsevidenz? Das Credo „What works? Let‘s analyze it!“ ist aktuell(er), zeigt aber nur, dass (einzelne) Maßnahmen wirken können, nicht warum (nicht) und wie (besser). Wirkungssteigerung? Die Losung „What‘s measured improves! Let‘s prove it!“ muss über systema- tische Bedingungsanalysen zu steuerungsrelevanten Lerneffekten führen. Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Denn auch hier gilt der alte Satz von Wilhem Busch: „Stets äußert sich der Weise leise, vorsichtig und bedingungsweise“ Und genau dies ist die Voraussetzung für wechselseitiges Lernen an den „Schnittstellen der Disziplinen“, um die es in dieser Tagung geht! Wirth: Was wirkt im Jugendstrafvollzug? 10/2018
Kriminologischer Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Wolfgang Wirth Kriminologischer Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen Fritz-Roeber-Str. 2 40213 Düsseldorf wolfgang.wirth[at]krimd.nrw.de
Sie können auch lesen