WEISSES KREUZ - Sexualität und Sucht - ZeitschriftfürSexualitätundBeziehung Ausgabe1|2020|#80
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
WEISSES KREUZ Zeitschrift für Sexualität und Beziehung Ausgabe 1 | 2020 | #80 EINZELPREIS 3 EUR Sexualität und Sucht Suchtverhalten verstehen Schritte zur Veränderung entwickeln Medienkompetenz gewinnen
Editorial Sexualität und Sucht Liebe Leserinnen und Leser, Martin Leupold vieles im Leben kann uns zutiefst Freude bereiten. Aber alles, was Freude macht, kann Leiter Weißes Kreuz e. V. auch zur Sucht werden. Die Wurzeln liegen oft tief in der Seele. Dazu kommt eine immer weiter fortschreitende Gewöhnung an Dinge, von denen man eigentlich weiß, dass sie nicht guttun, und die man trotzdem nicht lässt. Irgendwann werden sie zu einem Zwang, der das ganze Leben mitsamt seinen Beziehungen zerstören kann. Auch in der Sexualität liegt Suchtpotenzial. Etwas, was so rauschhaft und mit allen Sinnen erlebt wird, kann den Menschen eben auch gefangen nehmen. Nicht nur pornografische Medien können solche Wirkung haben. Auch in anderen Zusammenhängen kommt es im Impressum Bereich der Sexualität zu Suchtverhalten, auch in Partnerschaften. Herausgeber: Dr. Dietmar Seehuber führt uns umfassend in die Problematik ein und nimmt uns mit Weißes Kreuz e.V. hinein in seine Expertise als Chefarzt in der Fachklinik Hohemark. So verstehen wir, Weißes-Kreuz-Straße 3 welche physischen und psychischen Zusammenhänge in der Sexualität zur Sucht führen 34292 Ahnatal können, und lernen Möglichkeiten der Diagnose und Therapie kennen. Tel. 05609/8399-0 Fax: 05609/8399-22 Florian Mehring skizziert, wie sich übersteigertes sexuelles Verlangen (Hypersexualität) in der Paarbeziehung auswirken kann und woran sich Beratung in dieser Situation orien- info@weisses-kreuz.de www.weisses-kreuz.de tiert. Als erfahrener Berater benennt er nicht nur konkrete Methoden, sondern nimmt die ganze Persönlichkeit mitsamt den Überzeugungen und Haltungen zur Sexualität in Die Zeitschrift erscheint den Blick. vierteljährlich. Bezugspreis: Jürgen Naundorff hilft anhand von Einsichten aus der Arbeit mit Alkoholkranken, die 12 Euro jährlich Bedeutung der Familie und die Rolle von Angehörigen wahrzunehmen und zu geeigneten (Ausland 18 Euro) Schritten zu gelangen, die auch im Lebenszusammenhang der Süchtigen notwendige Konto: Veränderungen fördern. Weißes Kreuz e.V. Evangelische Bank eG Dominik Remmert schildert uns Erfahrungen aus der Beratung mit Menschen, die sich IBAN: am liebsten im virtuellen Raum bewegen und gefährdet sind, sich darin zu verlieren. DE22 52060410 0000 001937 Wichtig ist ihm dabei, die digitale Welt zu verstehen und nicht einseitig von ihren Gefahren BIC: GENODEF1EK1 her zu sehen. In den Theologischen Notizen gehe ich der Frage nach, was Sucht eigent- Schriftleitung: lich mit Gott zu tun hat, und stelle fest, dass es im Grunde um die Frage geht, wer oder Martin Leupold was in meinem Leben die Herrschaft hat. Titelbild: Wir freuen uns über Ihr Interesse an diesem für unsere Arbeit zentralen Thema und wünschen Priscilla Du Preez/ Ihnen eine hilfreiche und gewinnbringende Lektüre. Danke, dass Sie uns verbunden sind! unsplash.com Auflage: März 2020, Ihr 9.000 Exemplare Martin Leupold, Leiter Weißes Kreuz e. V. 2 Weißes Kreuz Zeitschrift 1 | 2020
Titelthema Foto: Inzmam Khan / pexels.com Sexuelle Süchtigkeit - ein Beitrag zum Verständnis Dr. Dietmar Seehuber Sehr geehrte Damen und Herren, anders mein Glück gesucht. Ich erkenne mich teilweise selber nicht bei ich wende mich heute an Sie, weil ich mich in der größten Krise mei- all den Sachen, die ich gemacht habe. Ich bin jetzt 49 Jahre alt und nes Lebens befinde und nicht weiß, wie es weitergehen soll. Seit vielen möchte alles dafür tun, eine normale Beziehung mit meiner Frau zu Jahren bin ich mit meiner Frau verheiratet, eine sehr liebevolle, für- führen. Ich liebe sie doch, obwohl ich ihr das nicht richtig zeigen sorgliche Frau. Wir haben 3 wundervolle Kinder, auf die wir wirklich konnte. Ich bin zu oberflächlich durch das Leben gegangen und habe sehr stolz sind. nur meine abweichende sexuelle Neugierde in den Mittelpunkt ge- Ich habe ein massives Online-Sexsuchtproblem. Ich hintergehe stellt. Das Wichtigste ist jetzt für mich, gegen die Sucht anzukämpfen, meine Frau regelmäßig. Ich hatte SM-Fantasien, schon in meiner die immer wieder mit dem Ansehen von Pornobildern beginnt und Kindheit, sie verfolgen mich. Jetzt bin ich wieder einmal vom Weg ab- dann beim stundenlangen Masturbieren oder irgendwann im Bordell gekommen und meine Frau hat es mitbekommen. endet. Darf ich Sie um einen Termin bitten? Ich bin sehr verzweifelt darüber, ihr und unserer Ehe all die Jahre nicht den Stellenwert eingeräumt zu haben, den sie haben müsste. Zu Mit freundlichen Grüßen wenig Zeit habe ich mit ihr verbracht, in sexuellen Dingen stets wo Herr S. 3
Solche Schilderungen begegnen mir in meiner ärztlichen Tä- Erlebens nicht gelingt; eine sexuelle Ausrichtung, die nicht in der tigkeit in den letzten Jahren zunehmend. Im Gespräch lerne ich Beziehung lebbar ist, die abgespalten bleibt. dann Menschen kennen, die tief verzweifelt sind und schnelle Gehen wir einen Schritt weiter: Verstehen bedeutet vor allem, Hilfe erwarten, dabei aber in einem Verhaltens- und Erlebens- die Entwicklungsbedingungen kennen zu lernen. Herr S. beschreibt: muster festgefahren sind, das nicht einfach veränderbar ist. Wie „In meinem Elternhaus gab es keine Nacktheit. Sexuelle Themen können wir das verstehen, was wissen wir heute darüber? Wie gab es nicht. Das wurde ganz ausgeklammert, wie verboten. Mit können wir als Berater und Therapeuten hilfreich handeln? 12 Jahren fing das „Kopfkino“ an, da hatte ich alle möglichen Vor- In der Öffentlichkeit, auch unter Fachleuten, wird häufig der stellungen und Bilder, was ich „Versautes“ mache, und wie ich da- Begriff „Sexsucht“ verwendet. Bereits in den frühen Werken der für bestraft, bloßgestellt und entwertet werde. Dann kam mit 14 Sexualwissenschaft wird über sexuelle Süchtigkeit geschrieben, das Masturbieren dazu, in der Schule haben wir uns fertigge- damals überwiegend im Zusammenhang mit deviantem (von der macht, das hat mich erregt. Zuhause war ich immer nackt, wenn Norm abweichend, d. Red.) Verhalten und Perversionen („Para- keiner da war. Das habe ich genossen. Beim Masturbieren hatte philien“). Ratsuchende, die wir heute sehen, berichten überwie- ich immer die Vorstellung, andere schauen mir zu und machen gend von einem nicht-paraphilen Sexualverhalten, das außer sich lustig über mich oder beschimpfen mich. Der erste sexuelle Kontrolle geraten ist und dass sie als exzessiv oder nicht befriedi- Kontakt war mit einer älteren Frau, das habe ich genossen, aber gend erleben. Das hat in den Fachpublikationen der letzten Jahre keinen Orgasmus gehabt. Dann habe ich meine Frau kennen ge- zu einer kontroversen Diskussion geführt, ob es sich dabei um lernt, da war es ähnlich. Parallel bin ich noch zu Prostituierten eine besondere Art der Zwangserkrankung, der Impulskontroll- gegangen. Vor 15 Jahren bin ich im Internet hängen geblieben, störung, der Verhaltenssucht oder der dysregulierten sexuellen stundenlang habe ich das gemacht, ich konnte überhaupt nicht Appetenz handelt. Eine zufriedenstellende Einordnung in unsere mehr damit aufhören.“ Diagnosekataloge fehlt bislang. Verstehen ist der erste Schritt Hintergründe erklären Wenn wir Herrn S. verstehen wollen, dann brauchen wir eine gute Sexuelle Entwicklung ist ein individueller, dynamischer Prozess, Sexualanamnese und Bedingungsanalyse. Dabei geht es zum ei- der im Spannungsfeld von Risiko- und Schutzfaktoren vorwärts- nen um Frequenz, Art und Quantität sexuellen Handelns (Was treibt. Entwicklungsziel ist neben der Fähigkeit, Intimität zuzu wird wie häufig unter welchen Umständen erlebt und getan?). lassen, sozusagen ein Gesamtkunstwerk, bestehend aus einer Quantität ist jedoch ein unzureichendes Kriterium, da es keine Komposition von Liebesfähigkeit, Begehren und Sexualisierung, quantifizierbare Norm gibt, was zu viel oder zu wenig ist. Wichti- Zärtlichkeit und Sinnlichkeit, Affektregulierung, Verhaltenssteue- ger erscheinen mir die Fragen, wie sich sexuelles Erleben entwi- rung, Nähe-Distanz-Balance, ethischer Reife. Die Integration der ckelt hat und welche Qualität und Funktion sich daraus ergeben eigenen Triebhaftigkeit in das Muster unserer Beziehungen und hat. Wird im sexuellen Tun mit einem Partner Befriedigung erlebt Begierden ist Aufgabe einer gelingenden Entwicklung. Sexuelle oder nicht? Wie ist die partnerschaftliche Gemeinschaft? Ist Sexu- Entwicklung als bio-psycho-sozialer Prozess baut auf unseren frü- alität Teil einer umfassenderen Beziehungsgeschichte oder episo- hen Bindungserfahrungen auf. Sichere Bindung bestimmt das ei- disch und beliebig? Dient Sexualität als Kompensation für etwas gene Sicherheitserleben, das basale Vertrauen, die Fähigkeit sich anderes, zum Beispiel der Regulation negativer Gefühle oder von zu beruhigen und zu regulieren. Störungen in dieser Entwick- Spannungszuständen? Je mehr wir hier ins Detail gehen, desto lungsphase, z. B. durch Vernachlässigung, Übergriffe, nicht-kind- differenzierter wird die Betrachtung. Unsere Sexualität ist eben gemäße Umgebungsbedingungen wirken sich nachhaltig aus. bunt, vielgestaltig, individuell. Normierungsversuche sind schwie- Dann dominieren Verunsicherung, Verlustängste, Stresserleben. In rig, von einer Überpathologisierung rate ich ab. Wir sollten Herrn der Pubertät kommt es dann zu einem massiven Entwicklungsschub, S. zunächst zuhören und dann das Gehörte phänomenologisch bedingt durch die hormonelle Umstellung und die Gehirnreifung. beschreiben. Das hört sich dann so an: Herr S. beschreibt ein Ehe- In einer Entwicklungszeit, die durch Umbrüche und Instabilität leben, das aus seiner Sicht „normal“ ist, da gehe es eintönig zu. gekennzeichnet ist, weil dem „früh-reifen“ Belohnungssystem (Er- Partnerschaftliche Sexualität will er, erlebt sie aber nicht befriedi- regung, Antrieb, Lust) kein reifes Frontalhirn (Vernunft, Regula gend, „da fehlt etwas“. Daneben bestehe ein episodisches sexuel- tion, Verhaltenssteuerung) gegenübersteht, finden dann bestimmte les Muster, bestehend aus Pornografiekonsum, erotischen Chats Erfahrungen und Erlebnisse statt: Beziehungserfahrungen, aber und wechselnden (promiskuitiven) sexuellen Kontakten. Dies übt auch zunehmend häufig und heftig Konfrontationen mit Internet- den Reiz des Verbotenen aus, steht aber seinem Wollen und seiner pornografie. Die parallel verlaufende Entwicklung des motivationa- Ethik entgegen. Dieser anderen Seite seiner Sexualität steht er len Systems (Belohnungssystem im Mittelhirn), der Sexualisierung ambivalent gegenüber, lässt sich hinreißen von Reiz und Sinnlich- und des Selbstbildes bieten Angriffsflächen für die Entwicklung keit des Verbotenen, verliert dabei Kontrolle („ich kann mich nicht von Süchtigkeit, Devianz und Selbstwertverunsicherungen, die mehr steuern, ich muss das machen“). Dann gerät er in ein exzes- sich in einem Kreislauf gegenseitig verstärken oder bedingen kön- sives, zwanghaft anmutendes Muster von mechanischer Selbstbe- nen. All unsere Antriebe können unter bestimmten Umständen friedigung ohne jegliche Befriedigung: stundenlang, ohne Möglich- süchtig entgleisen. keit, zu einem befriedigenden Ende zu kommen, eher belastend Sexuelle Neugier treibt an, setzt Energien frei, lässt suchen als entlastend. Das Erwischt-Werden gibt ihm die Chance, auf den und ausprobieren, finden und weitersuchen. Mit der jugendlichen „rechten Weg“ zurückzukommen, wenn er es alleine nicht schafft. Triebhaftigkeit tauchen Jugendliche ein in ihre Sinnlichkeit, ent- Das Ergebnis: Erschöpfung, keine orgastische Erlösung; ein mora- decken Vorlieben und Neigungen, verknüpfen Körperliches mit lisches Dilemma; massive Probleme mit der Partnerin, die ideali- Erregung. Ein individuelles Erregungsmuster („love-map“) wird siert wird, mit der aber Intimität und emotionales Teilen sexuellen geprägt und realisiert. Getriebensein kann sehr ausgeprägt oder 4 Weißes Kreuz Zeitschrift 1 | 2020
Titelthema eher moderat sein, auch hier sind Menschen verschieden. Auf den anders als vorher, so dass es sich selbst anschalten kann, bei be- gemachten Erfahrungen bauen wir auf und entwickeln uns weiter. stimmten Reizen ein intensives Verlangen oder anders gesagt eine Dabei sind wir nicht immer Herr im eigenen Haus (Sigmund Gier auslöst. Ein isoliertes Anspringen dieses Systems bei süchti- Freud), denn wie der Volksmund sagt: „Liebe macht blind“, zu- gen Menschen führt zu einer dranghaften Wiederholung, auch mindest manchmal. Dann bin ich nicht mehr vernünftig, kontrol- wenn dadurch die Gesundheit geschädigt wird. Das Belohnungs- liert, sondern auch impulsiv, kindlich oder unbeherrscht. Ich will, system beginnt, sich zunehmend der Steuerung durch das Frontal- ich will, ich will, was mir Glück verheißt. Treibende Kraft ist dabei hirn zu entziehen, es aktiviert eigenständig, führt eine Art Eigen- die Suche nach dem Lustgewinn, der Wunsch nach harmonischem leben, unkontrolliert und mit automatisierten Verhaltensmustern, Verschmolzensein oder das Verlangen nach dem Gegenüber, das die zielgerichtet zum wiederholten Konsum führen. Ergebnis die- mich zum Mann/zur Frau macht. Und diese Kräfte treiben weiter, ser Umkehr der Verhaltenssteuerung, die im Gehirn auch struktu- kommen nur kurz zum Stillstand und drängen auf Wiederholung. rell nachweisbar ist, sind Handeln wider besseres Wissen, Han- Erfahrungen dieser Art werden gespeichert, hinterlassen Spu- deln ohne nachzudenken, Einengung auf das süchtige Verhalten ren im Gehirn, Markierungen sozusagen. Bei andauerndem Kon- und letztlich Kontrollverlust. Das süchtige Tun wird zum kurzfris- sum von Pornografie kann eine Abhängigkeit entstehen. Dann tigen, dominierenden Verhaltensmuster, das in die Tat umgesetzt wird das Belohnungszentrum erregbarer, empfindlicher, reagiert wird, ohne langfristige Konsequenzen zu bedenken und danach zu Foto: Ricardo Aguilera / unsplash.com 5
handeln. Süchtiges Verhalten ist außer Kontrolle, verselbständigt. war mit der Partnerin möglich, scheiterte aber an einem Mangel Das eigene Tun wird erst rückwirkend bewertet und hinterfragt, an Intimität. Als Komorbidität (Begleitstörung, d. Red.) bestand das Mittelhirn hat sozusagen das Kommando übernommen und eine depressive Störung, die im Verlauf und als Folge des Sexual- nicht mehr das Großhirn, also der Bereich des Gehirns, mit dem verhaltens entstanden war. Die Persönlichkeit ließ sich als unreif, wir reflektieren und aufgrund unserer Erfahrungen und Bewer- mäßig gut integriert, beschreiben. In der emotionalen Reifung, in tungen unser Tun steuern. Süchtiges Verhalten hat mit Lust nichts der Gestaltung von Nähe, im Erleben und Genießen von Intimität mehr zu tun, sondern mit Verlangen, Gier, kurzfristiger Bedürfnis- gab es erhebliche Defizite. befriedigung. Sexuelle Süchtigkeit lebt vom Augenblick und der In der ersten Phase der Behandlung stand der Erwerb von kurzfristigen Spannungsabfuhr, verliert die sinnliche Qualität und Strategien zur Verhaltenskontrolle im Vordergrund. Herr S. muss- endet isoliert episodisch ohne befriedigenden Schlussakkord. Im te neu lernen und einüben, sein Verhalten zu steuern. In der Ana- Langzeitverlauf kommt es dann zu einer Fixierung auf destruktive lyse seiner Verhaltensrückfälle erkannte er seine Risikokonstellati- Lernprozesse mit automatischen Gedanken („ich kann sowieso onen und übte gezielt alternatives Verhalten ein. Der Verzicht auf nichts dagegen machen“, „ich bin sowieso nichts wert“) und Akti- Pornografie fiel ihm schwer, gelang aber letztlich. Im weiteren vierung bestimmter Abwehrmechanismen (wie externaler Attri- Verlauf spielte die Auseinandersetzung mit der eigenen Bezie- buierung, Projektion und Verleugnung). hungsbiografie eine entscheidende Rolle. Die Trauer, aber auch die Wut auf seine Eltern bekam Raum. In einem längeren, mühsa- men Prozess der Auseinandersetzung (teils stationär, teils ambu- Ist Pornografie ein Suchtstoff? lant) gelangte er zu einer besseren Integration seiner Sexualität in Herr S. beschrieb seinen „Pornografiekonsum“, wie alkoholab- sein Beziehungsleben und sein Wertesystem. Sein anfängliches hängige Patienten „ihren“ Alkohol beschreiben. Er war ein Teil „Es passiert mir immer wieder“ hatte sich verändert hin zu einem von ihm geworden, nicht wegzudenken, nicht einfach so ersetz- verantwortungsbewussten Fragen nach den eigenen Bedürfnissen bar. Internetpornografie, Masturbation und Promiskuität nahmen und deren Realisierung in der Partnerschaft. Parallel gelang die einen festen Platz in der Lebensgestaltung ein, eine Art Lebensnot- Einbeziehung der Partnerin. Ein gemeinsames Bemühen, Nähe wendigkeit wie Essen und Trinken. Ohne sich zu schützen, ohne und Sexualität partnerschaftlich weiter zu entwickeln, war das Er- vorher gemachte Versprechungen oder Vorsätze zu berücksichti- gebnis. Die Behandlung dauerte mehrere Jahre und war durch ein gen, wurden episodisch die altbekannten Pfade betreten. Auf und Ab gekennzeichnet. Internetpornografie bietet alle Merkmale eines effektiven Sexuelle Süchtigkeit bedeutet eine schwerwiegende Verände- Suchtstoffes. Sie ist überall preisgünstig, sehr einfach und schnell rung des Verhaltens, Erlebens und Denkens. Die Diagnosestellung verfügbar. Die Herstellung einer Konsumatmosphäre von Anony- sollte in einen mehrstufigen, komplexen Erkenntnisprozess einge- mität und Heimlichkeit ist möglich, geradezu vorgezeichnet. Die bunden sein. Da via Internet der „Suchtstoff Pornografie“ unbe- Wirkung ist rasch und massiv erregend und auf visuelle Reizung grenzt und unbegrenzbar zur Verfügung steht, sehen wir uns vor ausgerichtet, die ohnehin in der sexuellen Attraktion von beson- einer Aufgabe gigantischen Ausmaßes. Hierfür eine Praxis des derer Bedeutung ist. Die Vielfalt des Angebotes weckt immer mehr Verstehens und der Hilfe zu etablieren, ist eine Herausforderung Erwartungen und Wünsche. Grandiose Phantasien („Nichts ist für Seelsorger, Berater und Therapeuten. Der hier vorgelegte Bei- unmöglich“) verstärken Gier und Neugier und werden zum Motor trag möge dazu hilfreich sein. der Dosissteigerung, die sich in vermehrter Onanie oder Promis- kuität, vor allem auch im höheren Zeitbedarf zeigen. Die Vertraut- heit und die Neugier auf die Internetseiten werden geschickt auf- Dr. Dietmar Seehuber ist gebaut, der Reiz des Neuen wird aufrechterhalten. Ein Kick ist Psychiater und Psychotherapeut stets erreichbar, der in ein rastloses Unbefriedigtsein mündet. Das für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Er leitet als Internet als „Spielwiese“ süchtig-sexuellen Verhaltens ist auch Chefarzt die Abteilung Sozial- deshalb attraktiv, weil dort scheinbar grenzenlose Experimente psychiatrie Frankfurt der Klinik mit der eigenen Phantasie und Identität möglich sind. Es ist sozu- Hohe Mark. sagen eine Einladung an die bewusste und unbewusste Triebhaf- tigkeit, in polymorpher Weise umgesetzt zu werden. Dabei kann ich sein, wer ich will, über alle Grenzen der Geschlechtlichkeit und Normalität hinweg – eine Einladung, der Herr S. schwer wider- stehen kann. Vor allem für Jugendliche in der Identitätsentwick- lung bietet sich dadurch ein unglaublich aufreizendes, sich auf- drängendes, irritierendes Angebot. Laden Sie uns ein! Regelmäßig sind die Fachreferenten des Weißen Ist Veränderung möglich? Kreuzes zu Vorträgen und Workshops unter- Kommen wir zurück zu Herrn S.: die Diagnostik ergab eine Viel- wegs, z. B. in Gemeinden, Jugendgruppen und falt von suchtspezifischen Symptomen mit Verlust der Steuerungs- christlichen Schulen. Buchen auch Sie unsere fähigkeit und ausgeprägt drängenden Impulsen bei progredienter sexualkundliche Kompetenz. Einfach unter (voranschreitender, d. Red.) Verschlechterung. In der Verlaufsdy- www.heissethemen.de namik war ein süchtiges Muster mit typischen Abwehrstrategien und einem Doppelleben erkennbar. Eine Störung der Sexualpräfe- unsere Themen sichten und einen Termin anfragen. renz deutete sich an, war aber nicht fixiert. Sexuelle Befriedigung 6 Weißes Kreuz Zeitschrift 1 | 2020
Titelthema Hypersexualität in der Ehe – ANREGUNGEN FÜR DIE BERATUNG VON MENSCHEN Foto: Ann Danilina / unsplash.com MIT ÜBERSTEIGERTEM SEXUELLEN BEDÜRFNIS Von Florian Mehring 7
Beschreibung L ove is a battlefield“ – ein Popsong aus den 1980er Jahren neurobiologischer Erkenntnisse oder die lerntheore- bringt es irgendwie auf den Punkt – „Liebe ist ein tischen Konzepte der Verhaltenstherapie oder was Schlachtfeld“. Natürlich nicht immer, aber leider allzu sonst? Beraterinnen und Berater müssen diese Frage oft. Insofern müssten wir sagen: „kann ein Schlachtfeld sehr gut für sich klären, denn dies ist der Dreh- und sein“. So auch hinsichtlich unseres Themas Hypersexuali- Angelpunkt der gesamten weiteren Beratungsarbeit. tät in der Ehe. Es bedeutet: Mindestens einer von beiden (er)lebt Ich plädiere dafür, den Menschen als „nefesh“ (siehe ein übersteigertes sexuelles Bedürfnis. Häufig wird Hypersexuali- 1.Mose 2,7) zu betrachten, eine biblische Anthropo- tät mit Sexsucht gleichgesetzt, was jedoch nicht per se zutrifft. logie, die uns als lebendige Seele beschreibt. Damit Das DSM kennt seit 2015 die Diagnose Hypersexualität nicht ist immer der ganze und nie künstlich aufgeteilte mehr. Im ICD-10 wird der Zusammenhang unter anderem unter Mensch mit den aufeinander bezogenen Instanzen F52.7 als „Gesteigertes sexuelles Verlangen“ beschrieben. Doch ab des Leibes, der Psyche und des Geistes gemeint. Kon- wann ist das sexuelle Verlangen nicht mehr „normal“, sondern ge- kret bedeutet das, dass wir in der Beratung nie an- steigert bzw. übersteigert? So sehr, dass es klinisch relevant er- ders handeln dürfen, als den Ratsuchenden in seinen scheint? Ab wann wird es im Sinne des ICD problematisch? Was körperlichen, seinen psychischen und geistlich-spiri- also ist genau mit Hypersexualität gemeint? tuellen Kompetenzen und Bedürfnissen gleichsam zu Weil die Erscheinungsformen der Hypersexualität vielfältig adressieren. Jeder Mensch kann denken, fühlen, sind, ist auch die Beschreibung entsprechend vielschichtig. Hyper- handeln, glauben und ist fähig zur Progression. Je- sexualität wird beschrieben als gesteigertes sexuelles Verlangen der Mensch ist ein kompetenter Mensch. Diese Kom- aufgrund von Substanzmittelmissbrauch (z. B. Kokain) oder durch petenz gilt es zu adressieren. die Einnahme bestimmter Medikamente, aufgrund einer psychia- 2. Detaillierte Anamnese: In der Beratung geht es um trischen Erkrankung, einer organischen Ursache, einer Störung ein genaues Hinschauen und Verstehen. Ein Persön- der Impulskontrolle, gesteigertes sexuelles Verlangen beim Mann lichkeitstest (mind. Big Five, besser PST-R) und her- (Satyriasis) oder bei der Frau (Nymphomanie). Infolge der unter- meneutische Zugänge wie eine Skriptanalyse sind schiedlichen Genese von Hypersexualität müsste auch der Bera- hier hilfreich. tungsansatz entsprechend variationsreich sein. Doch ist dies in 3. Veränderungsmodell: Welches Verständnis haben wir der Praxis auch so? von Veränderung? Wie gelingt es, dass ein Ratsuchen- der (oder wir selber) von A nach B kommt? Bera- Häufige Ausdrucksformen und Konsequenzen tungsansätze sind hier unterschiedlich und vielfältig. der Hypersexualität sind Oft gab und gibt es diesbezüglich Konkurrenzen und s tändige Lust (Appetenz) unnötige Grabenkämpfe. Ich meine, die Ganzheit- spezifische Erwartungen an den Partner oder die Partnerin lichkeit des Menschen einbeziehend, sind alle Wege hinsichtlich der Ausgestaltung der gemeinsamen Sexualität hilfreich, die Lernschritte initiieren und vertiefen. Als übersteigerte Masturbation (Klienten berichten didaktisches Modell füge ich das Veränderungsmo- von „immer muss ich masturbieren“) dell von Prof. Dr. M. Dieterich an. übersteigerter Konsum von Pornografie Rückzüglichkeit (Verringerung von sozialen Kontakten) ungesundes Nähe-Distanz-Verhalten Schwächung des Selbstwertgefühls MEDIKAMENTE das Gefühl immer Befriedigung zu suchen, aber nie zu erlangen die Motivation sich anderen schönen und GEDANKEN ORGANISMUS sinnstiftenden Aktivitäten zuzuwenden lässt nach SPIRI sexuelle Abstinenz verursacht psychische Probleme insgesamt Bereitschaft zu riskantem Verhalten, ZUSTAND T U A L I TÄT STIMULI VERSTÄRKER um sein sexuelles Bedürfnis auszuagieren etc. VERHALTEN Wir sehen, es geht darum, dass Sex und das Erleben desselben ÜBUNG vorrangig und überwertig werden. KONTINGENZ Zur Sucht wird es dann, wenn Betroffene nicht mehr anders SYSTEM können, immer mehr desselben benötigen und/oder fortschrei- tenden Kontrollverlust erleiden. Mitunter sind sie sogar bereit, hohe Risiken einzugehen, um an ihren „Suchtstoff“ zu gelangen. Hier lässt sich gut erkennen, warum Hypersexualität und Sexsucht sehr oft identisch gesehen wird bzw. die Übergänge fließend sind. Veränderungsmodell der ABPS – Allgemeine Beratung, Beratung Psychotherapie und Seelsorge Jede gute Beratung lebt von folgendem Vierklang: In diesem Metamodell werden alle Wirkfaktoren ge- 1. Anthropologische Grundannahme: Wie sehen wir in der Be- nannt, die Einfluss auf die Entstehung des Problemverhal- ratung den Menschen? Auf der Grundlage welchen Konzep- tens bzw. auf die Gestaltung des Veränderungsprozesses tes beraten wir? Leitet uns das Instanzenmodell von Freud haben. Rot=körperliche Aspekte /Grau=psychische As- oder Berne, die Theorien eines Fritz Pearls, die Grundlagen pekte / Grün=Spiritualität 8 Weißes Kreuz Zeitschrift 1 | 2020
Titelthema 4. valuation: Während des Beratungsprozesses sollte man im- E mer wieder evaluieren: Wo stehen wir, was benötigt der Klient noch? Am Ende eines Beratungsprozesses ist zu schauen, ob und was man erreicht hat. Dazu kann auch gehören, nach dem Ende eines Beratungsprozesses einen Kontrolltermin anzubie- ten, um zu überprüfen, ob und was der Klient noch benötigt. Foto: Scott Webb / pexels.com Vor dem Hintergrund dieses Vierklangs findet selbstverständ- lich auch die Beratung von Menschen mit dem Thema Hypersexua lität statt. Vor allem muss aber zunächst einmal gewährleistet sein, dass der Klient sich richtig und gut in der Beratung aufgehoben fühlt. Er soll ein Gefühl von Sicherheit und niemals das Gefühl von Beschämung in und durch die Beratung erleben. Beratung ist ein Ort der Gastfreundschaft. Der Klient ist Gast. Er ist willkommen und erhält Raum. In diesem Raum kann er sein und sich entfalten. nterschiedliche Settings anbieten bzw. anregen: Einzelberatung, U Das holländische Wort für Gastfreundschaft lautet „Gastvrijheid“ Paarberatung, gegebenenfalls auch Familienberatung; Gruppen- (der wunderbare Henri Nouwen beschreibt das in einem seiner therapie als Selbsthilfegruppe oder angeleitete Gruppe. Bücher). Der Gast ist willkommen und darf so sein, wie er ist. Be- Ferner multiprofessionelle Zusammenarbeit, wo immer nötig und ratung ist ein Ort der Freiheit, wo man sein darf, wie man ist – möglich: Mediziner hinzuziehen bzw. bei Bedarf empfehlen. ohne Wenn und Aber. So kann Beratung zu einem Möglichkeitsort Schauen, wo die Grenze zur Therapie ist. Therapie ist Heilkunde. für Reflektion und Progression werden. Ein Ort, an dem ein Pro- Immer dann, wenn die Störung einen „Krankheitswert“ hat. Ein zess der Entfaltung gelingen kann. Wohin die Entfaltung gedeiht, Indikator dafür ist die Notwendigkeit einer höheren Gesprächs- obliegt wesentlich dem Ratsuchenden. Wir Berater können dafür frequenz, z. B. wöchentlich, im Gegensatz zur Beratung. Über- den Rahmen und eine hilfreiche Struktur anbieten, wir können prüfen, ob im Rahmen von therapeutischer Notwendigkeit zu- aber nicht das Gelingen „produzieren“. Gott sei Dank! nächst eine Klinik der richtige Rahmen ist. Ein Zeichen guter Wenn Sexualität zu einem Problem oder zu tonangebend ge- Beratung ist das Erkennen der eigenen Grenzen. Der persönli- worden ist, dann sollte der Klient die Fähigkeit erlangen, wieder chen, der fachlichen oder der Grenzen des Settings. Berater be- „nein“ sagen zu können. In diesem Fall bedeutet das: Nein zum nötigen unbedingt Supervision. Ferner ein gutes Händchen für gesteigerten Ausleben der Sexualität in all den bereits genannten die eigene Psychohygiene. Facetten. Da Sex direkt mit der Ausschüttung von Dopamin im Ge- Sucht ist eine „Hungerstörung“. Was steckt hinter der Sucht? hirn als körpereigenes Belohnungssystem verlötet ist, ist dies der Wonach hat der Mensch eigentlich „Hunger“, wonach sehnt es kräftige Gegenspieler bei der Unternehmung, die erlebte Sexua ihn? Das kann auch die spirituelle Dimension einschließen. Ich lität, das Begehren, auf ein wesentlich geringeres Niveau zu sen- glaube schon lange, dass hinter all unseren Sehnsüchten letzt- ken. Anders formuliert: Es gibt kaum einen wirksameren Verstär- lich Gott steckt, der unablässig nach uns ruft. ker als Sex. Es knallen ständig die Sektkorken im Kopf. Alles andere ist weniger schnell wirksam. Ergo muss der Klient wirklich Wir sehen, Beratung ist ein anspruchsvolles Unterfangen – so hoch motiviert sein, an seinem Thema arbeiten zu wollen. Das gilt auch beim Thema Hypersexualität. Ihrer Entwicklung spielt in die für jede Beratung, ist bei unserem Thema wegen des Grundrau- Karten, dass wir in einer Zeit allgegenwärtiger und stets konsu- schens des Dopaminsignals aber von besonders großer Bedeu- mierbarer Sexualität leben. Eine Beratung von Hypersexuellen tung. Es bedeutet für uns in der Beratung auch, „nicht mehr zu fordert auch die Berater selbst heraus, die eigene Sexualität zu re- wollen als der Klient“. flektieren: Welche Wünsche konnten wir nicht erlangen? Wo mischt sich Neid ein? Wo beobachten wir bei uns auch Anfänge Inhaltlich geht es in der Beratung hypersexuellen Verhaltens im Sinne von „Wasser predigen und um folgende Punkte: Wein saufen“? Sie sollten echte und wahrhaftige Begleiter auf dem Weg durch die Wüste sein. Dabei ist es sehr hilfreich, wenn Es empfiehlt sich, die Turbine der Sexualität gründlich herunter- man ortskundig ist! zufahren. Eine mehrwöchige Abstinenz hat vielen Betroffenen ge- holfen, auch wenn dies im Vorfeld unerreichbar schwer erschien. Florian Mehring, M. Sc. Psych., ist selbstständig in eigener Praxis Anregen, dass Liebe neben Erotik und Sex auch noch andere As- für Beratung, Supervision, Coaching pekte kennt. und Seminararbeit. Neben seiner Die gesamte Klaviatur der Möglichkeiten zur Verhaltensände- Praxistätigkeit ist er als Ausbilder von Berater/innen und Supervisor/ rung kann in Anschlag gebracht werden: Was sind Auslöser, wie innen, Dozent und Lehrbeauftragter können Unterbrecher gesetzt werden, wer kann Unterstützer tätig. sein, wie kann alternatives Verhalten aufgebaut werden? Mög- lich sind die Vorwegnahme des Gelingens, die Miteinbeziehung des Glaubens oder der Spiritualität als Ressource, die Stärkung der Selbstwirksamkeit etc. (vgl. das Veränderungsmodell von Prof. Dieterich). Mehr zum Thema Sexualität und Sucht unter Die Kurzfassung von Veränderung lautet: „Verstehen, Entschei- www.internet-sexsucht.de den, Trainieren!“ Der Weg dahin kann freilich ein sehr langer sein. 9
Foto: Kalisa Veer / unsplash.com Angehörige von Suchtkranken Von Jürgen Naundorff O hne Beziehungen kein Leben! Wir teilen unser Leben mit eigentlich das letzte Mal Sex? Keine Ahnung, ist schon eine Weile Eltern, dem Ehepartner, mit Kindern, Verwandten, her. „Vielleicht bin ich auch nach Arnos Geburt nicht mehr so at- Freunden, Arbeitskollegen und Bekannten. Das ist gut traktiv für Paul. Vielleicht gehe ich ihm mit meiner Art auch hin so, bereichert und trägt unser Leben – normalerweise! und wieder auf den Wecker“, macht sich Ruth Vorwürfe. Sie weiß Aber in unseren Beziehungen kann sich auch eine ungu- nicht, was sie denken soll. Irgendwie macht jeder seins: Ruth hat te Dynamik entwickeln. Nicht selten wird das durch eine Sucht ent- Arno und Paul hat …, ja, was eigentlich? Sein Motorrad, seinen scheidend beschleunigt. Angehörige von Suchtkranken sind dieser Verein oder doch eher „die Flasche“? Ruth vermisst die Nähe von Beziehungsdynamik insbesondere ausgesetzt und fühlen sich häufig Paul und zugleich fühlt sie sich durch seinen Alkoholkonsum ab- überfordert, hilflos und schuldig. Was tun? gestoßen. Vielleicht liegt das aber alles nur an ihr!? Ruth hat einige Jahre nur das vage Gefühl gehabt, dass irgend- Schauen wir einmal – inspiriert durch die Geschichte von etwas in ihrer Ehe nicht stimmt. Die Zweisamkeit mit Paul ist nicht Paul, Ruth und Arno – auf einige Aspekte in der Beziehung zwi- mehr so prickelnd wie früher. Seit Arno geboren wurde, zieht sich Paul zunehmend zurück. Sein Motorrad und der Fußballverein scheinen ihm wichtiger. Ihr fällt auf, dass Paul zwar häufig im Schuppen am Motorrad bastelt, aber immer seltener damit fährt. Beratung finden Ja, er trinkt mehr Alkohol als früher. Aber das ist doch auch ir- Sie suchen eine Beratungsstelle in Ihrer Nähe? gendwo verständlich: der Stress auf der Arbeit und abends – da Geben Sie einfach Ihre Postleitzahl ein unter trinkt doch jeder Mann sein „Bierchen“. In letzter Zeit fiel Ruth durchaus auf, dass er häufig „eine Fahne hatte“. Sie hatte Paul www.weisses-kreuz-hilft.de auch mal darauf angesprochen, dass sie das störe. Wann hatten sie 10 Weißes Kreuz Zeitschrift 1 | 2020
Titelthema schen Alkoholkranken und Angehörigen. Welche Parallelen, wel- gar nicht gut. Heute macht er es selbst so. Einerseits empfindet er, che Unterschiede gibt es zu Menschen, die sexsüchtig wurden, dass ein solches Verhalten nicht richtig ist. Andererseits sieht er und ihren Angehörigen? keine Alternative. Was soll er denn machen!? Schließlich hilft ihm Beiden, Alkoholkranken und Sexsüchtigen, gelingt es meist jah- die betäubende Wirkung von Alkohol, seinen Stress mit Ruth zu relang, ihr süchtiges Verhalten zu verbergen. Das Verheimlichen vergessen und sich irgendwie besser zu fühlen. ist eine wichtige Strategie, um die jeweilige Sucht ausleben zu Ruth hat als ältestes Kind in ihrer Herkunftsfamilie bereits häufig können. Verantwortung übernehmen müssen. Deshalb neigt sie auch jetzt Wenn Angehörige diese Sucht bemerken, spielen Scham, Ge- dazu, vermehrt Verantwortung zu übernehmen – auch diejenige, heimnisverrat, Ängste eine große Rolle, so dass sie häufig mit die eigentlich von Paul wahrgenommen werden müsste. diesem Wissen allein bleiben. Es dauert meist lang, bis sie sich Paul und Ruth wird nach Arno noch ein weiterer Sohn, Axel, Hilfe holen. geboren. Die Jahre vergehen. Die Beziehungsmuster verfestigen Alkoholkranke und Sexsüchtige belasten durch ihr Verhalten die sich. Paul trinkt immer mehr. Ruth konzentriert sich voll auf die Beziehung zum Ehepartner enorm. Meist sind die direkten Aus- Erziehung ihrer Kinder und die Halbtagsstelle, die sie angetreten wirkungen auf die Familien Alkoholkranker gravierender und hat. Paul und Ruth haben sich kaum mehr etwas zu sagen. Meist unmittelbar. Sexsüchtige wiederum finden noch weniger Ver- enden die Gespräche im Streit. Axel ist ein richtiger Sonnenschein ständnis und Hilfsangebote. und ein kleiner Clown. Immer wieder gelingt es ihm, durch seine Nicht wenige Angehörige Alkoholkranker und Sexsüchtiger füh- Albernheiten alle zum Lachen zu bringen. Sonst wird selten in der len sich mitschuldig an der Sucht des Partners. „Wegen mir Familie gelacht. Aber Axel schafft das! Arno dagegen fällt eher ne- trinkt er oder sucht sich anderweitig sexuelle Befriedigung.“ gativ durch seine Rüpeleien auf. Schon in der zweiten Klasse muss Beide, Angehörige von Alkoholkranken und Angehörige Sexsüch- Ruth zur Schulleitung, weil Arno Mitschüler provoziert und ge- tiger, leiden enorm! Doch dabei gibt es unterschiedliche Facetten. schlagen hat. So leiden Angehörige Sexsüchtiger unter dem Entzug von Sexua- Familientherapeuten weisen darauf hin, dass solch auffälliges lität bzw. darunter, sexuell benutzt zu werden. Die Partnerschaft Verhalten von Kindern meist Signalcharakter hat. Dabei ist es un- wird durch Außenkontakte um die intime Exklusivität gebracht. erheblich, ob das Verhalten eher positiv oder eher negativ bewer- Wenn Alkoholkranke und Sexsüchtige trotz ernsthafter Verspre- tet wird. Kinder weisen häufig unbewusst durch ihr auffälliges chen sich immer wieder süchtig verhalten, fühlen sich deren An- Verhalten daraufhin, dass etwas im Beziehungsgefüge der Familie gehörige hintergangen. Tiefe Enttäuschungen sind die Folge. nicht stimmt. Und paradoxerweise trägt ihr Verhalten dazu bei, Angehörige von Alkoholkranken und Sexsüchtigen versuchen zu dass Papa und Mama enger zusammenrücken müssen oder kön- helfen! Indem sie Alkoholverstecke aufspüren und Alkohol ver- nen. Entweder indem gemeinsam gelacht oder indem sich dem nichten. Indem sie den Browserverlauf und die Zeiten am PC etc. vermeintlichen „Problemkind“ zugewendet wird. Die Familie, das kontrollieren. Zurück bleibt meist ein Gefühl der Ohnmacht. Beziehungssystem, wird dadurch stabilisiert. Irgendwann kündigen die Angehörigen Konsequenzen an. Ange- So verfestigen sich die Beziehungsmuster zwischen Paul, Ruth, hörige von Alkoholkranken halten die Trinkexzesse nicht mehr Arno und Axel immer weiter. Obwohl alle darunter leiden, bleibt aus und Angehörige von Sexsüchtigen wollen sich nicht länger jeder in seinem Verhaltensmuster gefangen. Paul leidet darunter, betrügen oder missbrauchen lassen. dass er mit Ruth kaum mehr schläft und bemerkt erste negative Anzeichen seiner Alkoholexzesse. Ruth fühlt sich mit der Kinder- Nun könnte der Schluss naheliegen: Der Alkoholkranke bzw. erziehung und ihrem alkoholtrinkenden Mann überfordert und der Sexsüchtige müsste lediglich sein süchtiges Verhalten aufge- schuldig. Arno möchte statt negativer Zuwendung eher positive. ben. Dann käme alles wieder in Ordnung. Doch so einfach ist das Und Axel möchte auch mal ernst genommen werden. Das alles nicht. Bei genauerer Betrachtungsweise handelt es sich beim ex- läuft nicht explizit im Kopf ab, sondern in einem Gemisch aus Ge- zessiven Alkoholtrinken wie bei Pornokonsum erst einmal um dankenfetzen und Gefühlen. Dennoch geht es immer weiter so! wahrgenommene Symptome. Der Alkoholkranke trinkt z. B. mehr Über Jahre! als andere oder trinkt bereits am Arbeitsplatz Alkohol. Die ent- Gibt es ein Entkommen aus diesen belastenden und chronifi- scheidende Frage ist: Was steckt hinter den Symptomen? zierten Beziehungsmustern? Ja, indem einer anfängt, sich anders Mediziner erklären heutzutage die Symptomatik Alkoholkran- als gewohnt zu verhalten. Denn dann ist es plötzlich nicht mehr ker – vereinfacht beschrieben – anhand des so genannten „Sucht- wie immer. gedächtnisses“, welches sich bei Alkoholkranken herausgebildet Ruth hat sich an eine Suchtberatungsstelle1 gewandt, weil sie hat und maßgeblich dazu beiträgt, dass weiterhin Alkohol konsu- sich keinen Rat mehr wusste. Die Hilfe, die Ruth erhielt, war einer- miert wird. Doch ist dies nur die „eine Seite der Medaille“. Die an- seits grundlegend: dere Seite – und auf die möchte ich hier näher eingehen – bilden Ruth konnte alles aussprechen, was ihr auf dem Herzen lag. Sie die psychosozialen Aspekte. Mit anderen Worten: Die Beziehun- hat erzählen können, dass sie in den letzten Jahren ihre Freun- gen und die sich darin verfestigenden Beziehungsmuster bestim- dinnen nicht mehr aufgesucht hat. Hobbys? Fehlanzeige! Sie men das Denken und Fühlen, das Reden und Handeln aller Akteu- schläft schlecht, weil sie nachts viel grübelt. Ist niedergeschla- re, Suchtkranker und Angehöriger. Und natürlich gestaltet jeder gen und schämt sich ihres Mannes und ihres Versagens.2 Endlich diese Beziehungsmuster unbewusst mit. Meist verhalten sich konnte sie das alles „mal loswerden“. Menschen so, wie sie es in der Kindheit vorgelebt bekommen ha- ben. Sprich: Wie Papa und Mama miteinander umgegangen sind – 1 Das kann auch ein Seelsorger, Therapeut oder eine Selbsthilfegruppe oder andere prägende Bezugspersonen. (für Angehörige) sein. 2 Forschungsprojekt BEPAS – Belastungen und Perspektiven Angehöriger Paul hat in seiner Kindheit erlebt, wie sich Papa bei Streit in Suchtkranker; Universität Lübeck - Zentrum für Integrative Psychiatrie der Ehe zurückgezogen hat und Alkohol trank. Das fand er damals (ZIP) 11
ort hat sie aber auch erfahren, dass weder sie noch ihr Mann D wichtige Erfahrung und grundsätzliche Veränderung: Papa und und schon gar nicht ihre Kinder Schuld sind, dass es in ihrer Fa- Mama reden vernünftig miteinander über die richtig wichtigen milie unerträglich geworden ist. Es hat sich ein für alle sehr be- Sachen. Die Anwesenheit der Kinder hilft den Eltern, ehrlich zu lastenden Beziehungsmuster herausgebildet. sein und sich nicht gehen zu lassen. Ruth schöpfte Zuversicht, dass sich doch etwas ändern kann. Ja, Sie nehmen Hilfe für sich selbst in Anspruch. Paul besucht eine schrittweise kann aus dem sehr belastenden Beziehungsmuster Selbsthilfegruppe und Ruth eine Angehörigengruppe. Darüber ein erträgliches und schließlich beglückendes werden. Jeder hinaus hat Ruth gemerkt, dass sie in Folge der Sucht ihres Man- kann dazu beitragen! Mehr noch: Jeder sollte dazu beitragen. nes psychische Probleme bekam. Sie nimmt eine psychosomati- Aber einer muss anfangen! sche Kur in Anspruch. Andererseits hat Ruth in der Suchtberatungsstelle konkrete Eines Tages kommt Paul mit einem üppigen Blumenstrauß nach Hilfe in Form von Anleitungen erhalten, wie sie ein Gespräch mit Hause und überreicht ihn Ruth mit den Worten: „Bitte verzeih Paul führen und wie sie sich verhalten kann. Das tut sie dann auch! das Unverzeihliche, all das, was ich dir in meiner Zeit der Alko- holsucht angetan habe!“ Ruth steht wie erstarrt, ihr kommen die Gegen Sucht hilft Reden! Tränen und sie antwortet: „Ja, ich will dir verzeihen. Aber es ist Ruth spricht mit Paul über all das, was ihr konkret an ihm aufgefal- so schwer, gänzlich zu verzeihen. Bitte lass mir dafür Zeit!“ len ist. Sie bringt die vielen Anzeichen, die auf eine Alkoholabhän- Paul und Ruth tun wieder gemeinsam, was sie einst gern taten: gigkeit hindeuten, zur Sprache. Dabei schildert sie, wie sehr sie Sie besuchen Musicals und gehen gemeinsam schwimmen. darunter leidet. Sie sagt Paul auch, dass sie zu einem Gespräch in Sie nehmen sich wieder Zeit für sich selbst. Besonders Ruth hat der Suchtberatung gewesen ist und nun weiß: Paul ist nicht wil- sich früher wenig Zeit für sich selbst genommen. Jetzt gönnt sie lensschwach, sondern erkrankt, alkoholkrank geworden. Zugleich sich solche Auszeiten. sagt Ruth Paul, dass es aber nicht nur darum geht; vielmehr geht Immer wieder gibt es Rückschläge. Das alte Beziehungsmuster es um ihre Ehe. Sie wünscht sich, dass sie beide wieder so glück- lässt sich nicht so einfach abschütteln. Ruth befällt von Zeit zu Zeit lich werden können, wie sie es einst miteinander gewesen sind. die Angst, Paul könne wieder trinken. Misstrauen steigt in ihr auf. Das wird aber nur gelingen, wenn beide viel dafür tun. „Willst du Und die Narben der Vergangenheit, die Enttäuschungen und seeli- das, Paul?“ schen Verletzungen schmerzen. Paul kämpft nicht selten gegen Ruth sagt Paul, dass sie beide nicht so weitermachen können den inneren Drang, aus einer spannungsgeladenen Situation zu wie bisher. Sie bittet Paul, innerhalb der nächsten vier Wochen fliehen, statt sie auszuhalten bzw. aufzulösen. Und dann ist da Hilfe anzunehmen und entweder eine Suchtberatungsstelle, eine auch noch hin und wieder der Gedanke an „sein Suchtmittel“. Selbsthilfegruppe oder einen Seelsorger aufzusuchen. Wenn Paul Neue entlastende und fröhliche Beziehungen in der Familie mitzu- keine Hilfe sucht, so kündigt es Ruth an, wird sie ihn mit den Kin- gestalten ist nicht einfach. Das ist nun allen klargeworden. Aber dern verlassen müssen, weil sie diese Belastungen nicht mehr aus- alle wissen: Es lohnt sich! hält – und auch den Kindern nicht mehr zumuten kann. Sie möch- Ruth und Paul sind dankbar, dass sie gemeinsam beten können. te ihn nicht verlieren. Aber sie sieht keinen anderen Weg: Entweder Im Gebet werden sie vor Gott ehrlich, können aussprechen, wenn gibt es eine bessere gemeinsame Zukunft oder keine! sie aneinander schuldig wurden und sich der Vergebung Gottes Als Ruth dies über die Lippen gebracht hat, geht es ihr besser. vergewissern. Und sie können um Zuversicht bitten, den guten In der Suchtberatungsstelle hatte man sie gefragt, wie lange sie Weg an der Hand Gottes weiterzugehen. Gemeinsam glauben und bereit ist, diese Belastungen zu ertragen: einen Monat, ein halbes beten sie: „Von allen Seiten umgibst du uns und hältst deine Hand oder ganzes Jahr, 5 Jahre? Da ist ihr bewusst geworden: So kann über uns.“ (Psalm 139, 5) es nicht weitergehen! Paul sucht seinen Pfarrer auf, zu dem er seit seiner Konfirmation immer wieder mal Kontakt hatte und mit dem ihm die Liebe zum Jürgen Naundorff leitet den Hauptbereich gleichen Fußballverein verbindet. Ihm gegenüber kann er sich öff- Ideelles im Blauen Kreuz. Dazu zählen als nen. Das intensive Gespräch endet, indem der Pfarrer für Paul be- Querschnittsaufgabe für die berufliche tet – um Mut für Paul, die nächsten Schritte gehen zu können und Suchthilfe, Selbsthilfe und Prävention im Blauen Kreuz die therapeutischen und seel um Freiheit für Paul, in die Jesus Christus führt. Paul erkennt, dass sorgerlichen Schwerpunkte, die Arbeit in er eine Langzeittherapie in einer Suchtfachklinik absolvieren soll- Netzwerken und die Begleitung der Mitglieder, te, was er auch tut. Nach 3 Monaten Rehabilitation kommt er mo- Freunde und ca. 400 hauptamtlich Mitarbei tenden. Er wohnt im Erzgebirge und ist tiviert in seine Familie zurück. Doch nach kurzer Zeit merken Paul Mitglied der erweiterten Geschäftsführung. und Ruth, dass sie sich ähnlich verhalten, wie zu der Zeit, als Paul noch getrunken hatte. Nur jetzt ohne Alkohol. Sie reden nicht au- tomatisch mehr als früher. Es kostet sie Kraft und Willen, sich hin- zusetzen und miteinander zu reden. Als dann Ruth über ihr frühe- res Ergehen spricht und ihr Paul nun nüchtern zuhört, fühlt er sich Mehr erfahren angegriffen und weiß nicht, was er antworten soll. Am liebsten Sie würden sich gern näher über ein Thema im würde er wieder zu seinem Motorrad gehen; das schweigt wenigs- Bereich Sexualität und Beziehungen informie- tens. In der Folge beginnt ein mühevoller Weg, auf dem Paul und ren? Stöbern Sie einfach in der Mediathek des Ruth, Arno und Axel die Beziehungsmuster in ihrer Familie ge- Weißen Kreuzes unter meinsam verändern: Sie nehmen sich Zeit, miteinander zu reden – ehrlich und ge- www.weisses-kreuz.de/mediathek meinsam mit den Kindern. Das ist für die Kinder eine überaus 12 Weißes Kreuz Zeitschrift 1 | 2020
Titelthema Aus der Beratungspraxis: Analog und Digital – Foto: Martin Sanchez / unsplash.com zwei Welten finden zusammen Von Dominik Remmert W enn es mir schlecht geht, wunderschönen Wald und frage nach: Nach Erik Eriksson beginnt die Entwick- dann geh ich spazieren, „Hier die Straße hoch oder wo gehst du lung der Identität im Alter von 12 Jahren mit teilweise stundenlang,“ lang?“ „Nein, ich mach den Rechner an der Pubertät und ist im Alter von 18 Jahren erzählt Sven (Name ge- und laufe durch Skyrim (Computer-Rol- „gefestigt“. Als Erikson 1994 starb, gab es ca. ändert). Ich schaue aus lenspiel). Hier kenn ich mich aus, hier bin 4,5 Millionen mit dem Internet verbundene seinem Fenster und sehe entfernt den ich sicher.“ Computer. Heute ist diese Zahl nicht mehr 13
messbar. Wann die Entwicklung der Identität Sven reagierte auf verletzende und Schönheit von Gamedesign, das Gefühl von beginnt und wann diese gefestigt ist, kann schmerzhafte Erlebnisse mit Rückzug in die Gemeinschaft in kooperativen Onlinegames kaum noch klar definiert werden. Fragen digitale Gesellschaft. Dieser „Lösungsweg“ oder das Schaffen eigener Welten, die es nach dem „Wer“ und sogar nach dem „Was half ihm, sich Sicherheit, Selbstwirksamkeit ihm ermöglichten, seine Sehnsüchte, Träu- bin ich“ werden viel früher, stellenweise exis- und das Gefühl des Dazugehörens zu ermög- me und Verletzungen zu formulieren. tenzieller gestellt und zum Teil erst im Alter lichen, welches ihm im „Außen“ nicht gelang, In vielen Beratungsgesprächen mit Kli- von Ende 20 „zufriedenstellend“ beantwortet. sogar verwehrt wurde. Die ersten Schwierig- entenInnen dieser Generation begegnet Die Wege, sich zu vergleichen, sein ei- keiten traten auf, als die wenigen Freund- mir diese tiefe Sehnsucht nach Selbstwirk- genes Leben zu bewerten, sind vielfältiger schaften zerbrachen, die Bereitschaft sich zu samkeit, dem schöpferischen Gestalten und und laufen im Hintergrund permanent investieren zurückging. Es entwickelten sich „klaren, echten“ Beziehungen. Die Suche mit. Im Computerzeitalter können Bedürf- Ängste vor Menschengruppen, bei Familien- nach lebbaren Werten und klaren Persön- nisse und Sehnsüchte vordergründig schnel- treffen wurde schnell alles zu viel, das Stu- lichkeiten als Gegenüber kennzeichnet den ler befriedigt werden. Kommunikation wird dium wurde abgebrochen und die Resig- Weg der zukünftigen Erwachsenen. minimiert, Emotionen mit Icons oder Kür- nation nahm zu. Konflikte in der Familie Die Herausforderung in dieser sehr zeln dargestellt und Konflikte mit Ignorieren wurden handgreiflich gelöst. Erste Station schnellen, vielfältigen und auch wider- oder Blockieren gelöst. war die Kinder- und Jugendpsychiatrie, an- sprüchlichen Zeit sind groß und verlangen Die Fragen nach der Identität, der eige- fangs ambulant, danach 6 Wochen stationär. von jungen Menschen ein hohes Maß an nen Persönlichkeit, den eigenen Werten sind Im Anschluss wurde nach einer Anlauf- Flexibilität, aber auch Standhaftigkeit und signifikant mit dieser Lebensphase verbun- stelle gesucht, welche stabilisierend und Verantwortungsbewusstsein. den. 1997 wurde in der Analogie zur Mid- unterstützend wirken sollte. Svens Mutter Als Wegbegleiter dieser Menschen ist es life Crisis der Begriff der Quaterlife Crisis suchte eine Beratungsstelle mit christlichen für mich elementar geworden, beide Wel- gebildet. Sie umschreibt die große Unsicher- Werten und trat so an uns heran. Sven hatte ten zusammenzudenken und Brücken zu heit, die Sinn- und Persönlichkeitskrise, zum die Aufgabe, sich zu melden und einen Ter- bauen. Sven hat auf seinem Lösungsweg im Ende des ersten Lebensviertels. min zu vereinbaren. Bis zum Beginn des Netz Beziehungen gelebt, mit anderen ge- In der Beratung begegnen mir junge Beratungsprozesses vergingen aber mehre- meinsam Aufgaben gelöst, gelernt Verant- Menschen mit inneren Konflikten in Bezug re Wochen. Das löste bei seiner Mutter Un- wortung für andere zu übernehmen und auf ihre Sexualität, Geschlechtlichkeit, Be- verständnis und Wut aus. Von ihm selbst kreativ zu denken. Ein Aufzeigen seiner Fä- ziehungsfähigkeit und Zukunft. Eines der wurde es rückblickend als gute und neue higkeiten und seines Potentials sowie der Ziele ist fast immer: „Ich möchte wissen, Erfahrung geschildert. Er durfte entschei- Transfer hinaus aus der virtuellen Welt wer ich bin!“ Nicht selten sind ihre Biogra- den, wann er sich öffnen möchte. konnten es ermöglichen, dass er für sich fien geprägt von Beziehungsabbrüchen, un- Aufgeregt, blockiert und relativ stumm und seine Zukunft verantwortungsvolle geklärten Konflikten, fehlender haltgebender verlief das Erstgespräch. „Mal sehen, ob es Entscheidung treffen konnte. Zurzeit macht Unterstützung, einer großen Angst vor der weitergeht“, waren meine Gedanken. Doch er ein Praktikum im Bereich Gamedesign. Übernahme von Verantwortung und feh- er meldete sich gleich am nächsten Tag und lenden Perspektiven. sagte, er würde gerne kommen. Bis wir Es wäre vermessen, alles auf den Fak- starten konnten, vergingen aber wieder ei- tor „Internet und Digitalisierung“ zu schie- nige Wochen, da Termine von ihm verges- ben, leistet doch der Bedeutungsverlust sen oder kurzfristig abgesagt wurden. Dominik Remmert ist Gemeinde- und Dipl. der Familien einen erheblichen Beitrag zu Die Veränderung begann, als ich zu ihm Sozialpädagoge, Trau- dieser Krise. „Vom Du zum Ich“ formulierte nach Hause kam. Es war das Interesse an sei- mazentrierter Fach Martin Buber. In der Auseinandersetzung ner Welt, an seiner Gesellschaft, welches ihm berater, Trauma- und Erlebnispädagoge. mit meinem Gegenüber entwickelt sich und mir die Möglichkeit zu einem gemein- Gründete im Septem- mein Selbst. Positive sowie negative Rück- samen Weg eröffnete. Die Wertschätzung ber 2019 mit seiner meldungen prägen meine inneren Glau- seines selbstgesuchten Lösungsweges, der Frau Daniela das Unternehmen Lebens- benssätze, meinen Selbstwert und meine ihm eine lange Zeit Sicherheit und Halt gab, künstla (www.lebens- Rolle in der Gesellschaft. war ihm neu. Es waren Gespräche über die kuenstla.de) in Lemgo. Schritte zum Porno- „BegehrensWert“ ausstieg per Video! Kongress für Sexualität und Beziehungen Seit Ende Oktober 2019 erklärt ein Internet- vom 23. bis 25. April 2020 in der Evangelisch-Freikirchlichen video, wie es zu suchthaftem Pornografie- Gemeinde, Mönchebergstraße 10, 34125 Kassel konsum kommt und wie man daraus aus- steigen kann. Sie finden es unter Alle Infos und Anmeldung unter www.internet-sexsucht.de www.begehrenswert.info 14 Weißes Kreuz Zeitschrift 1 | 2020
Sie können auch lesen