Wettrüsten im Krankenhaus - Das steckt hinter dem Abrechnungsstreit - Gerechte Gesundheit
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Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 48 – November 2019 Wettrüsten im Krankenhaus Das steckt hinter dem Abrechnungsstreit © stock.adobe.com, rogistok; Bearbeitung: pag, Anna Fiolka Wer darf Innovation? Die Vertrauensfrage Nicht lieferbar Kontrollierte Einführung: Kein Zaudern mehr: Ärzteschaft Arzneimittel werden zum knapp: Car-T-Zelltherapie nur in Zentren will digitale Medizin gestalten Was macht die Politik?
November 2019 Seite 3 • Eine Premiere kürzlich hat Gerechte Gesundheit die Seite gewechselt – vom Beobachter zum Veranstalter: Gemeinsam mit der Arbeitsgemein- schaft kommunaler Großkrankenhäuser, einem Funding-Partner unserer Initiative, haben wir ein Streitgespräch zur Kontroverse um Krankenhausabrechnungen organisiert. Bei dem Thema geht es um weitaus mehr als Codes für Krankheiten und Prozeduren. Die Auseinandersetzung zwischen MDK und Kassen auf der einen und Kliniken auf der anderen Seite wird auch deshalb so erbittert geführt, weil dahinter ein ungelöster Systemkonflikt steckt. Mehr über diesen Konflikt und das Streitgespräch lesen Sie in dieser Ausgabe. Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihre Antje Hoppe, Chefredakteurin Inhalt Im Fokus 4 Die Vertrauensfrage in der digitalen Medizin Kein Zaudern mehr: Ärzteschaft will gestalten 6 Nicht lieferbar Arzneimittel werden knapp – die Politik muss gegensteuern 8 CAR-T-Zelltherapie gehört in Innovationszentren vdek und Universitätskliniken wollen kontrollierte Einführung 10 Wettrüsten im Krankenhaus Das steckt hinter dem Abrechnungsstreit Im Gespräch 12 Kontroverse um Krankenhausabrechnungen Ein Streitgespräch mit Dirk Balster und Dr. Axel Meeßen In Kürze 16 Wo das BVA den Kassen auf die Finger schaut 17 Sozialwahlen online: Mehr Demokratie wagen? 18 Begehrt: Die Daten der Patienten 19 Gesundheit für alle? 20 Gerechte Pflege organisieren und finanzieren 21 Kinder mit Diabetes: Herausforderung Alltag 22 Demenz und Sex
• Seite 4 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT Die Vertrauensfrage in der digitalen Medizin Kein Zaudern mehr: Ärzteschaft will gestalten • Berlin (pag) – „Wir sollten uns auf den Weg machen, um die Digitalisierung der Medizin angemessen zu begleiten“, appelliert der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Klaus Reinhardt. Auf einer Veranstaltung der Kammer fordert er für die Digitalisierung eine Gesamtstrategie und einen Ordnungsrahmen für politische, rechtliche und ethische Fragen. „Die Vertrauensfrage in der digitalen Medizin“ lautet Apps auf Rezept verschreiben können. der Titel der BÄK-Veranstaltung. Dort unterstreicht Spahn ist davon überzeugt, dass das Vertrauen neben Dr. Peter Bobbert die enorme Geschwindigkeit, mit der einer robusten Datensicherheit und einem verlässlichen sich der digitale Wandel vollzieht. Das sei in der Ver- Datenschutz auch dadurch wächst, wenn positive gangenheit mehrfach unterschätzt worden. Dem Vor- Auswirkungen im Versorgungsalltag für die Patienten sitzenden des Kammerausschusses „Digitalisierung der spürbar werden. Als Beispiel nennt er die Video-Sprech- Gesundheitsversorgung“ ist es ein wichtiges Anliegen, stunde. Grundsätzlich wirbt er dafür, das „Digitale nicht dass die digitale Medizin „nicht nur eine andere, son- als Ersatz, sondern als Ergänzung“ wahrzunehmen und dern eine bessere Medizin“ wird. In deren Mittelpunkt es selbst zu gestalten anstatt es zu erleiden. Denn dann habe weiterhin die Menschlichkeit zu stehen. könne daraus etwas Gutes werden. Ähnlich sieht es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der betont, dass ärztliches Handeln weiterhin von dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen „Entwicklung ohne Risiko ist unrealistisch“ Arzt und Patient geprägt sein werde. Er geht auch auf Bei der folgenden Diskussion geht es insbesondere um Parameter ein, die das Vertrauen in die digitale Medizin Apps. Dr. Martin Hirsch, Mitbegründer der Gesundheits- stärken. Dazu gehört für den CDU-Politiker, dass sich app Ada, stellt in diesem Kontext die Vertrauensfrage Ärzte – aber auch andere Gesundheitsberufe – Kompe- anders herum: „Wie steht es mit dem Vertrauen gegen- tenzen in diesem Bereich aneignen. Das geplante Digi- über Ärzten, die sich solchen Tools verweigern?“ Für tale-Versorgung-Gesetz sieht vor, dass Ärzte künftig den Vorstandsvorsitzenden der Barmer, Prof. Christoph Straub, sind Apps keine stabilen Produkte, weil bei ihnen Veränderungen miteingebaut seien. Das erschwere © stock.adobe, arrow valide Urteile. Grundsätzlich wirbt er für eine gewisse Risikobereitschaft, denn: „Entwicklung ohne Risiko ist unrealistisch.“ Der Unfallchirug Dr. Sebastian Kuhn, Universitätsmedizin Mainz, stellt die ärztliche Aufgabe heraus, technische Innovationen in sinnvolle Patienten- behandlungen zu übersetzen. Als historisches Beispiel nennt er das Röntgen. Bevor die Strahlen ihren Sieges- zug in der Medizin antraten, hätten sich Jahrmarkt- besucher zur allgemeinen Belustigung durchleuchten lassen. In der Medizin sei diese Übersetzungsleistung daher nichts Neues, sie bestimme ärztliches Handeln seit Generationen. •
November 2019 Im Fokus Seite 5 • © pag, Fiolka „Ärzteschaft muss Verantwortung wahrnehmen“ Dr. Peter Bobbert, Vorsitzender des BÄK-Ausschusses „Digitalisierung der Gesundheitsversorgung“ Was müssen die nächsten konkreten Schritte der Ärz- Welche Hürden müssen dabei abgebaut werden? teschaft sein, um den digitalen Wandel in der Medizin nicht nur zu erdulden, sondern aktiv mitzugestalten? Dr. Bobbert: Es ist die Hürde zu nehmen, nicht mehr nur Ziele im Wandel zu beschreiben, sondern kon- Dr. Bobbert: Um gestalten zu können, benötigt man kret bei der Umsetzung Wege zu bauen. Wir dürfen einerseits den Willen und andererseits die Expertise. uns nicht auf andere verlassen, sondern müssen Der Wille besteht bereits spätestens seit dem Ärzte- unsere Verantwortung wahrnehmen. tag in Freiburg 2017, als die Ärzteschaft zum ersten Mal im breiten Konsens die Notwendigkeit des kon- In welchen Bereichen sind die Ärzte bei der digitalen struktiven Handelns im digitalen Wandel der Medi- Medizin gut aufgestellt, wo sehen Sie den größten zin einforderte. Gleichzeitig hat sie betont, dass die Nachholbedarf? Digitalisierung in der Medizin eine große Chance und kein Risiko ist. Die weiteren Schritte sind der schnelle Dr. Bobbert: Wir konnten in den letzten Jahren schon Erwerb einer ausreichenden wichtige Entwicklungen im ärztlichen Arbeitsalltag digitalen Kompetenz und und in der wissenschaftlichen Tätigkeit verzeichnen. © pag, Fiolka Expertise. In der ärztlichen Das Interesse und Engagement der Ärzteschaft, Aus-, Fort- und Weiterbil- digitale Anwendungen effektiv und schnell in unse- dung müssen digitale Inhal- ren Arbeitsalltag zu implementieren, ist hoch. Digital te implementiert werden, Health spielt bereits heute in der Nachwuchsförde- um die Voraussetzung zu rung, in der Wissenschaft und an den Universitäten schaffen, dass die Ärzte- eine entscheidende Rolle. Wir haben einen hervor- schaft den Wandel kompe- ragenden Prozess bereits begleiten können, der in tent und produktiv mitge- Zukunft wichtige Impulse geben wird. Berufspolitisch stalten kann. Zudem müssen müssen wir allerdings noch in unserem Handeln bes- wir in der ärztlichen Selbst- ser werden. Es fehlt nicht am Willen. Aber wir müssen verwaltung mehr als bisher verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen, um der Politik konkrete Angebote bei der Umsetzung auf politischer Ebene wieder als der kompetente An- und Realisierung digitaler Anwendungen machen. sprechpartner auch im digitalen Wandel angesehen Wir müssen es sein, die Antworten auf Fragen finden, zu werden. Dies bedeutet, dass wir beharrlich und wie zum Beispiel eine nützliche elektronische Patien- schnell stets konkrete Wege aufzeigen müssen, wie tenakte oder wie aus ärztlich wissenschaftlicher Sicht digitale Anwendungen in die Realität umgesetzt eine sinnvolle Einführung von digitalen Gesundheits- werden können. Die Zeit des Betonens, warum etwas apps auszusehen hat. nicht geht, ist vorbei. Die Ärzteschaft gestaltet.
• Seite 6 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT © iStock.com, Willowpix Nicht lieferbar Arzneimittel werden knapp – die Politik muss gegensteuern • Berlin (pag) – Wenn Arzneimittel nicht lieferbar sind, sogar Versorgungsengpässe drohen, wird das Vertrauen der Bürger in ihr Gesundheitssystem erschüttert. Die Politik will das Problem angehen – eine komplexe Herausforderung, nicht zuletzt, weil es um internationale Ressourcenallokation geht. In den vergangenen Wochen haben Ärzte und Apo- die stationäre Versorgung soll geprüft werden, ob bei theker erneut vor Lieferschwierigkeiten bei Arzneimit- diesen Medikamenten die Vorratshaltung in der Kran- teln gewarnt, die zunehmend die Patientenversorgung kenhausapotheke von zwei auf vier Wochen verlängert bedrohen. Dr. Ellen Lundershausen, Vizepräsidentin der werden kann. Ambulanter Sektor: Angeregt wird eine Bundesärztekammer, fordert die Politik auf, konsequent Verlängerung der Vorratshaltung beim Großhandel gegen solche Engpässe vorzugehen. Tatsächlich tut und beim Hersteller im vergleichbaren Zeitraum. Lun- sich etwas: In einem Positionspapier skizzieren Gesund- dershausen plädiert dafür, dass Ärzteschaft und Politik heitspolitiker der Unionsfraktion Lösungsvorschläge. gemeinsam mit Kostenträgern und Pharmaunterneh- men festlegen sollten, welche Medikamente in welchem Umfang vorgehalten werden müssen. Sie sagt: „Es Wie funktioniert eine nationale Arzneimittelreserve? wäre doch eine Schildbürgerei sondergleichen, wenn Einer der Vorschläge lautet, eine nationale Arzneimittel- Deutschland die Impfpflicht einführt, während gleich- reserve an verschiedenen Stellen der Verteilkette aufzu- zeitig die dafür notwendigen Impfstoffe fehlen“. bauen. Damit ist keine statische Einlagerung in zentralen Depots gemeint. Geprüft werden soll eine Verlängerung der Vorhaltepflicht. Die verpflichtende Vorratshaltung Rabattverträge regional zentralisieren würde jene Arzneimittel betreffen, die versorgungsre- Weitere Vorschläge aus dem Papier der Union: „Die levant sind und bei denen ein Lieferengpass droht. Für bereits für Krankenhausapotheken bestehende Melde-
November 2019 Im Fokus Seite 7 • pflicht muss auf versorgungsrelevante Medikamente für Deren Vizepräsident Mathias Arnold untermauert die die ambulante Versorgung ausgedehnt werden.“ erfragten Angaben zum Zeitaufwand mit Verordnungs- Rabattverträge sollten außerdem nur ausgeschrieben zahlen des Deutschen Arzneiprüfungsinstituts: Demnach werden, wenn mindestens drei Anbieter und zwei Wirk- hat sich die Anzahl der Rabattarzneimittel, die aufgrund stoffhersteller vorhanden sind. „Um die Vielfalt und eines Lieferengpasses ausgetauscht werden mussten, damit eine weitere Unabhängigkeit zu gewährleisten, bei gesetzlich Krankenversicherten von fünf Millionen sollte die Vergabe grundsätzlich auf mindestens zwei Packungen im Jahr 2016 auf 9,3 Millionen Stück im Jahr unterschiedliche Anbieter verteilt werden“, heißt es 2018 fast verdoppelt. Betroffen ist jedes 50. Rabatt- weiter. Außerdem wird eine stärkere regionale Zentra- arzneimittel (9,3 von 450 Millionen Packungen im Jahr lisierung des Rabattvertragssystems ins Spiel gebracht 2018). Im Jahr 2018 haben die Top-10-Wirkstoffe mit – soweit dies vergaberechtlich zulässig ist. Als Vorbild 4,7 Millionen Arzneimitteln fast die Hälfte der 9,3 Millio- werden die Rabattverträge bei der parenteralen Zu- nen Lieferengpässe ausgemacht. Hochdosiertes, rezept- bereitung genannt. pflichtiges Ibuprofen belegt mit 1,6 Millionen Packungen den ersten Platz auf der Liste. Mit fünf Wirkstoffen unter den Top 10 sind die Blutdrucksenker Valsartan, Ramipril Mehr Transparenz über deutsche Marktsituation und Bisoprolol sowie deren Kombinationen mit Diuretika Die Unionspolitiker mahnen auch mehr Transparenz an: (harntreibende Mittel) ebenfalls weit oben. insbesondere, was den Export von Arzneimitteln betrifft, die eigentlich zur Versorgung der Patienten in Deutsch- land zur Verfügung stehen sollten, jedoch aufgrund der © iStock.com, LumiNola globalen Marktsituation in andere Länder exportiert werden. Hierzu soll das Bundesgesundheitsministerium eine wissenschaftliche Studie in Auftrag geben. Als ulti- ma ratio wird sogar eine Exportbeschränkung im Falle bestehender Lieferengpässe genannt. Last but not least soll die Bundesregierung die pharmazeutische Produk- tion in der EU zu einem Schwerpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 machen. Nationale Alleingän- ge helfen nicht, um die Versorgung der Patienten sicher- zustellen, findet auch Dr. Oliver Funken. Der Vorsitzende des Hausärzteverbandes Nordrhein macht sich für Regelungen auf EU-Ebene stark, um Produktionsstätten wieder nach Europa zu holen. Eine europäische Lösung hätte viele Vorteile: kontinuierliche Qualitätskontrollen, Arzneimittel nicht lieferbar? Gemeinsam mit Ärzten, Großhändlern und verkürzte Lieferwege, mehr Arbeitsplätze. Funken: Patienten suchen Apotheker nach Versorgungslösungen. „Auch, wenn hierdurch die Preise steigen, sollte es uns die Sicherung der Versorgung wert sein.“ Nur Symptommanagement oder auch mehr? Die Zahlen zeigen, dass das Problem nicht ausgesessen Hausärzte und Apotheker berichten von Problemen werden kann, es gewinnt zunehmend an Brisanz. Tat- Der Hausarzt berichtet, dass mittlerweile selbst gängige sächlich hat die Politik in der Vergangenheit bereits Präparate kurzfristig nicht lieferbar seien. „Liefereng- mehrfach reagiert. Stichwortartig genannt seien der pässe treten bei Routineverordnungen hochfrequent Jour fixe des BfArM, die Beendigung der Ausschrei- auf“ – bei hochpreisigen, patentgeschützten Arznei- bung für Grippeimpfstoffe und der Wechsel zu einem mitteln hingegen derzeit noch selten. 229 Human- europäischen Referenzpreissystem. Bei der Ausschrei- arzneimittel führt das BfArM gegenwärtig mit einem bung von Rabattverträgen wurde nachjustiert sowie Lieferengpass (Stand Mitte September). eine Melderegelung an Krankenhäuser eingeführt. Auch bei den Apothekern gewinnen Lieferengpässe an Doch das alles reicht nicht, denn mittlerweile ist offen- Bedeutung. Als eines der größten Ärgernisse im Be- sichtlich – und das wird auch im Papier der Union ein- rufsalltag bezeichnen sie mittlerweile 91,2 Prozent der geräumt – dass eine nachhaltige Verbesserung der Lie- selbstständigen Apotheker. Im Jahr 2016 hatten sich nur fersituation zusätzliche Maßnahmen erfordert. So sinn- 35,5 Prozent der Inhaber darüber geärgert. Sechs von voll Reserven und Co. sein mögen, letztlich wird damit zehn Apothekern (62,2 Prozent) geben an, dass sie und Symptommanagement betrieben. Die wahre Herausfor- ihre Beschäftigten mehr als zehn Prozent ihrer Arbeits- derung besteht darin, eine weitere Abwanderung ins- zeit dafür aufwenden, um bei Lieferengpässen ge- besondere der Wirkstoffproduktion zu verhindern oder meinsam mit Ärzten, Großhändlern und Patienten nach wie es im Papier heißt „bestenfalls Produktionen nach Versorgungslösungen zu suchen. Das sind Ergebnisse Europa zurück zu verlagern.“ Ob und welche Impulse des Apothekenklima-Index 2019, einer repräsentativen dafür die deutsche Ratspräsidentschaft im kommenden Meinungsumfrage von Marpinion im Auftrag der ABDA. Jahr zu setzen vermag, wird spannend. •
• Seite 8 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT CAR-T-Zelltherapie gehört in Innovationszentren vdek und Universitätskliniken wollen kontrollierte Einführung Wunderwaffe CAR-T-Zellen – aber wo sollen die Patienten behandelt werden? „Wir möchten nicht, dass auf der grünen Wiese irgendwo ein Zentrum für CAR-T-Zellen entsteht, die jeden nehmen, der gerade passt“, sagt Prof. Bernhard Wörmann. © iStock.com, selvanegra • Berlin (pag) – CAR-T-Zelltherapien sollen zunächst ausschließlich in Innovationszentren angewendet und evaluiert werden. Dafür soll die Erstattungssicherheit vom ersten Tag der Zulassung gewährleistet sein. Das sind die Kernforderungen eines gemeinsamen Konzepts der Ersatzkassen und des Verbands der Universitätsklinika Deutschlands. „Wir wollen, dass solche Behandlungen in Spezialzen- zu tun. Die Ersatzkassenvertreterin sieht dringenden tren – in der Regel Uniklinika – erfolgen, weil dort eine Handlungsbedarf, weil bereits 107 Krankenhäuser aus besondere Expertise vorhanden ist“, sagt Ulrike Elsner, unterschiedlichen Versorgungsstufen einen Antrag auf Vorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek), die Anwendung der sehr komplexen CAR-T-Zelltherapie vor Journalisten. Die Anforderungen an diese Zentren gestellt haben. Hinzu kommt: 45 weitere Verfahren der seien neu und hätten wenig mit dem heutigen Zentrums- Gen- und Zelltherapie stehen in den nächsten Jahren verständnis im Bereich der Krankenhausversorgung vor der Zulassung. Neben der Beschränkung auf be-
November 2019 Im Fokus Seite 9 • sondere Innovationszentren ist Elsner ein gesetzlich ge- regeltes Evaluierungsverfahren für die neuen Therapien Plädoyer für Eigenherstellung wichtig. Dieses soll die Qualitäts- und Strukturanforde- rungen, die der Gemeinsame Bundesausschuss bereits Ersatzkassen und Uniklinika setzen sich auch dafür erlassen hat, ergänzen. ein, dass die Innovationszentren künftig recht- sicher und wirtschaftlich tragbar „Eigenherstel- lung“ betreiben können. Man wolle sich bei diesen Kritischer Punkt: die Auswahl der Patienten Therapieverfahren nicht völlig abhängig von der Das Konzept wird von der Deutschen Krebsgesellschaft Industrie machen, heißt es. „Stattdessen brauchen (DKG) und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische wir eigene Möglichkeiten, um an neuen Therapien Hämatologie und Onkologie (DGHO) mitgetragen. Prof. zu forschen und diese schnell und zu vertretbaren Bernhard Wörmann, medizinischer Direktor der DGHO, Kosten in die Patientenversorgung zu bringen“, betont auf der Pressekonferenz: „Wir möchten nicht, meint Ralf Heyder. dass auf der grünen Wiese irgendwo ein Zentrum für CAR-T-Zellen entsteht, die jeden nehmen, der gerade passt“. Aktuell wurden bisher in Deutschland 100 Pa- tienten mit der neuen Therapie behandelt, allerdings könnten. Die klinischen Studien laufen. Dem Verband habe man in den Zentren mehr als das Dreifache der forschender Pharmaunternehmen (vfa) zufolge sind Patienten gesehen, das bedeutet: „Die Auswahl der außerdem T-Zellen nicht die einzigen Immunzellen, die Patienten ist ein kritischer Punkt“. Wörmann sieht die sich im Rahmen der Immunonkologie therapeutisch Behandlung als schwierigen Cocktail: „Die Patienten nutzen lassen. Auch die dendritischen Zellen eines Pa- stehen mit dem Rücken zur Wand und wir haben ge- tienten kämen dafür in Betracht. Der Verband erwähnt netisch modifizierte Zellen.“ Eine weitere Zugabe seien außerdem den adoptiven Transfer von mesenchymalen die hohen Therapiekosten. Stammzellen (MSC) – Vorläuferzellen des Bindege- webes. „MSC lassen sich effizient mit eingeschleusten Genen modifizieren und zur zielgerichteten Therapie Die Herausforderung für das System verschiedener Krankheiten anwenden.“ Es wird nicht Bisher werden für die Verfahren Preise in sechsstelliger bei Car-T-Zellen bleiben, sagt daher Bruns. Ihm geht es Höhe aufgerufen. Das sind Kosten, wie DKG-General- darum, dass System so zu organisieren, „dass das Ver- sekretär Dr. Johannes Bruns betont, die das System sprechen eingehalten wird, dass hilfreiche Medikamente mit seinen Mechanismen nicht direkt aufgreifen könne. unmittelbar zur Verfügung stehen, unabhängig davon, Ralf Heyder vom Verband der Universitätsklinika (VUD) ob sie in Klinik oder Praxis eingesetzt werden.“ stellt das grundsätzliche Problem heraus: „Wir haben keinen wirklich guten Rechts- und Finanzierungsrah- men, um diese Themen vernünftig im System abzubil- Neue Therapieformen und die GKV den.“ Bisher können bis zur korrekten Kostenabbildung Die Diskussion, wie sich die GKV auf die Modalitäten einer medizinischen Innovation im deutschen Fallpau- neuer Therapieprinzipen einstellt, schwelt seit der Zu- schalensystem Jahre vergehen, wie Bruns ausführt. lassung der ersten CAR-T-Zelltherapien, Kymriah und Bis dahin müssten die Kliniken entweder den Einsatz Yescarta. Das Besondere an ihnen – neben den hohen neuer Verfahren auf eigene Kosten vorfinanzieren oder Heilungschancen – sie müssen nur einmal verabreicht innerhalb des Verfahrens für neue Untersuchungs- und werden. Auf einer Veranstaltung des Forum Instituts Behandlungsmethoden (NUB) individuelle und zeitlich wurde unter anderem über Abschreibungsmodelle und befristete Entgelte mit den Kassen vereinbaren. Laut die Einführung eines Risikopools diskutiert. Derweil Bruns wird das NUB-Verfahren allerdings nur einmal im appelliert der vfa-Vorsitzende Han Steutel, neuen Thera- Jahr durchgeführt – Start ist immer im Oktober – und pieformen keine Steine in den Weg zu legen. Bereits es dauere üblicherweise sechs bis 18 Monate. heute werde CAR-T ausschließlich in hoch spezialisierten Zentren angewendet. Auch die gültige Erstattungs- situation ziehe enge Grenzen. Der Gesetzgeber habe für Bleibt es bei CAR-T-Zellen? die zellbasierte Gentherapie entschieden, dass der Preis Das Konzept der Ersatzkassen und Uniklinika sieht im zwischen Hersteller und Krankenkassen verhandelt wird. Gegenzug zur Beschränkung der Leistungserbringung Zudem gibt es bereits heute sogenannte Pay-for-Perfor- Erstattungssicherheit für die betreffenden Kliniken mance-Vereinbarungen, die die Erstattung direkt an den vor – und zwar ab Zulassung. Eine Art vorgeschaltetes Erfolg der Behandlung koppeln. • NUB-Verfahren, ein „Fast Track“ für Innovationen, wie es VUD-Generalsekretär Heyder nennt. Um das zu ins- Weiterführender Link tallieren, ist aber der Gesetzgeber gefragt. Motivierend „Neue Therapieprinzipien – altes System“, Beitrag im dürfte für diesen die Überlegung sein, dass mit CAR-T- GG Newsletter 45, Februar 2019 Zellen künftig nicht nur weitere hämatologische Krebs- http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/ausga- arten, sondern auch solide Tumore behandelt werden be-45/neue-therapieprinzipen-altes-system/
• Seite 10 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT © stock.adobe.com, rogistok; Bearbeitung: pag, Anna Fiolka Wettrüsten im Krankenhaus Das steckt hinter dem Abrechnungsstreit • Berlin (pag) – Erbittert wird in Deutschland um Krankenhausabrechnungen gestritten – auf der einen Seite die Krankenkassen und ihre Medizinischen Dienste (MDK), auf der ande- ren die Krankenhäuser. Der Ton zwischen ihnen ist rau, die Bandagen sind hart. Verursacht wird die Auseinandersetzung durch einen tiefer sitzenden, ungelösten Systemkonflikt. Zwischen dem Streit um Krankenhausabrechnungen Jahre verkürzt. Eine Übergangregelung lässt den Kassen und dem Kalten Krieg bestehen erstaunlich viele Paral- bis zum 9. November 2018 Zeit, um Ansprüche, die vor lelen: Wir erleben einen Systemkonflikt, Polarisierungen, dem 1. Januar 2017 entstanden waren, gerichtlich gel- Stellvertreterkonflikte und einige Nebenkriegsschau- tend zu machen. Der daraufhin einsetzende Klage-Tsuna- plätze. Man könnte sich sogar bei der Klagewelle des mi konterkariert die eigentliche Intention des Gesetzge- vergangen Herbstes und dem daraufhin einberufenen bers, nämlich für mehr Rechtsfrieden zu sorgen. Krisengipfel im Bundesgesundheitsministerium (BMG), an dem Kassen- und Klinikvertretern teilnehmen, an die Zoff um Strukturmerkmale Kubakrise erinnert fühlen. Zuvor hat nämlich insbesondere die Rechtsprechung Der Krisengipfel beim Minister wurde einberufen, nach- des Bundessozialgerichts (BSG) für böses Blut zwi- dem sich im November vergangenen Jahres die Sozial- schen Kassen und Krankenhäusern gesorgt. Dabei geht gerichte innerhalb kürzester Zeit mit zehntausenden Kla- es unter anderem um eine für die Schlaganfallbehand- gen von Krankenkassen auf Rückzahlung abgerechneter lung notwenige Strukturvorgabe: Eine Neurochirurgie Krankenhauskosten konfrontiert sahen. Auslöser dieser muss entweder im Haus oder innerhalb von 30 Minuten Klagewelle: ein Passus im Pflegepersonal-Stärkungs- erreichbar sein. Das BSG legt fest: „Dieser Zeitraum gesetz, der die Rückforderungsansprüche der Kassen beginnt mit der Entscheidung, ein Transportmittel anzu- gegen die Krankenhäuser rückwirkend von vier auf zwei fordern, und endet mit der Übergabe des Patienten an
November 2019 Im Fokus Seite 11 • die behandelnde Einheit des Kooperationspartners.“ Die Wahnsinnig oder nachvollziehbar? Krankenhäuser haben bislang die 30 Minuten gemäß der So ganz falsch scheint der Kassenverband mit seiner Angaben des DIMDI auf die reine Transportzeit, Fahrzeit Einschätzung nicht zu liegen, immerhin warf Bundes- des Rettungswagens oder Flugzeit des Rettungshub- gesundheitsminister Jens Spahn den Kassen auf dem schraubers, bezogen. Deutschen Krankenhaustag 2018 vor, mit „Irrsinn, Starr- Dazu muss man wissen: Manche Leistungen im Kranken- sinn und Wahnsinn“ unterwegs zu sein. Verhalten sich haus werden anhand von sogenannten Komplexcodes die Kassen tatsächlich so irrational? Diese Diagnose ist abgerechnet. In ihnen sind bestimmte Strukturmerkmale nicht zutreffend, denn tatsächlich agieren alle Betei- enthalten, die das Krankenhaus erfüllen muss. Struktur- ligten höchst rational und folgen den Spielregeln des merkmale könne etwa die Anzahl und die Qualifikation Systems: Die im Wettbewerb stehenden Krankenhäuser beim Personal betreffen. Die Ausgestaltung von Kom- sind angesichts der unzureichenden Investitionskosten- plexcodes erfolgt in der Zeit von April bis September finanzierung der Länder darauf angewiesen, aus DRGs für das folgende Jahr, federführend ist das DIMDI. Viele und Zusatzentgelten zusätzliche Eigenmittel zu gene- Komplexcodes sind – zum Teil erheblich – entgelt- rieren. Bei den Kassen läuft der Wettbewerb vor allem relevant, erläutert der GKV-Spitzenverband in einem über die Zusatzbeiträge. Der unterschiedliche Erfolg Positionspapier. Darin heißt es auch: „Die Prüfung der der Abrechnungsprüfung hat wiederum Einfluss auf die Krankenhausabrechnung von Komplexbehandlungen Höhe der jeweiligen Beiträge, wie unlängst der Bundes- war besonders im Jahr 2018 streitbefangen.“ rechnungshof festgestellt hat. Dr. Axel Meeßen, Geschäftsführer des MDK Berlin-Bran- „Misstrauenskultur“ und „Falschabrechner“ denburg, bringt das Problem wie folgt auf den Punkt. Auf Streitbefangen klingt fast noch harmlos angesichts der einem von Gerechte Gesundheit veranstalteten Streit- zahlreichen und erbitterten Auseinandersetzungen und gespräch (lesen Sie dazu Seite 12) sagt er: „Jeder der Klagen, die landauf und landab um Krankenhausabrech- Beteiligten – Krankenhaus, Kasse und MDK – verhält sich nungen geführt werden. Entsprechend rau ist der Ton aus der Innensicht des Systems absolut logisch und nach- bei den Lobbyisten in Berlin. Die Deutsche Krankenhaus- vollziehbar, weil bestimmte Anreize gesetzt werden.“ Aus gesellschaft etwa konstatiert, dass das Prüfsystem für der Außensicht sei das System an manchen Stellen krank. Krankenhausabrechnungen „außer Kontrolle“ geraten sei. Sein Kontrahent an dem Abend, Dirk Balster, findet sogar, Es sei geprägt von einer überzogenen Misstrauenskultur dass das System „am Ende“ sei, so der kaufmännische durch die Krankenkassen, während sich die Kliniken in Geschäftsführer des Chemnitzer Klinikums. einer systematischen Verliererposition befänden. Natur- gemäß anders sieht der Medizinische Dienst der Kranken- Systembedingtes Wettrüsten versicherung die Lage. Er prüft im Auftrag der Kassen die Im Unterschied zum ambulanten Sektor, wo die Kas- Klinikrechnungen. Andreas Hustadt, Geschäftsführer des senärztlichen Vereinigungen das Honorar der Ärzte MDK Nordrhein, befürchtet angesichts einer sehr hetero- von den Kassen mit befreiender Wirkung erhalten und genen Abrechnungsqualität der Kliniken, „dass das Ziel selbst verteilen, findet im stationären Sektor mittlerwei- der richtigen und gerechten Vergütung im Krankenhaus- le ein systembedingtes Wettrüsten statt. Balster sagt: bereich verfehlt wird“. Der GKV-Spitzenverband wieder- „Wir verbrennen unsere Fachkräfte in Dokumentation, um hat den Eindruck, dass „Falschabrechner“ geschützt Verteidigung und Abrechnung.“ Der aktuellen Kranken- werden, da Krankenhäuser und Politik sich ausschließlich hauscontrolling-Studie zufolge gibt fast jedes zweite auf Prüfquoten der Krankenkassen fokussierten, die als Krankenhaus (47 Prozent) an, in den letzten drei Jahren Stein des Anstoßes gelten. einen Personalzuwachs bei Codierfachkräften zu ver- So beschreibt der Bundesrechnungshof den Systemkonflikt • Krankenhäuser betreiben zur häuser keine monetären Sanktionen Prüfungen lohnt sich grundsätzlich, Optimierung ihrer Abrechnungen befürchten müssen, wenn sie zu weil dadurch noch mehr fehlerhafte gegenüber Krankenkassen einen viel abrechnen. Auch dies schafft Abrechnungen identifiziert und wei- hohen Aufwand, der zunehmend Anreize, die Möglichkeiten des tere Rückzahlungen erzielt werden. auch ärztliches Personal bindet. DRG-Systems auszuschöpfen. Allerdings werden die Krankenkas- Notwendige Investitionen erhöhen sen durch die Aufwandspauschalen den Druck, bei Krankenhausab- • Bei Krankenkassen besteht eine an die Krankenhäuser in den Fällen rechnungen möglichst „hoch zu vergleichbare Situation. Sie be- belastet, in denen die Überprüfung codieren“ – auch, um sich gegen- trachten Abrechnungsprüfungen zu keiner Minderung des Abrech- über anderen Krankenhäusern und die erzielten Rückzahlungen nungsbetrages führt. Diese Zahlun- Wettbewerbsvorteile zu verschaf- ebenfalls als besonders wettbe- gen beliefen sich im Jahr 2016 auf fen. Hinzu kommt, dass Kranken- werbsrelevant. Eine Ausweitung der 144,5 Millionen Euro.
• Seite 12 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT zeichnen. Ähnlich sehe es beim MDK-Management aus, sorgung auswirken. Das kritisiert der Bundesrech- wo 37 Prozent der Häuser Personal aufstocken. nungshof in einem aktuellen Bericht zu dem Thema. Auf der anderen Seite der MDK: 15 Dienste mit insge- Darin schätzt er, dass alle Krankenkassen in 2016 samt fast 10.000 Mitarbeitern. Diese haben im ver- Rückforderungen von 2,2 Mrd. Euro durchsetzten. gangenen Jahr 5.729.000 sozialmedizinische Emp- Dem stand im GKV-System ein vermuteter Aufwand fehlungen für die Krankenversicherung erstellt, davon von knapp 800 Millionen Euro gegenüber. Hinzu 2.580.000 Krankenhausabrechnungsprüfungen. Beim kommt Aufwand bei den Krankenhäusern, den der MDK Baden-Württemberg gibt es eine sozialmedizini- Bundesrechnungshof nicht beziffern kann. sche Expertengruppe, die sich speziell mit Vergütung Der Gesetzgeber hat Handlungsbedarf erkannt und und Abrechnung beschäftigt und Codierempfehlungen will mit dem MDK-Reformgesetz gegensteuern. Es formuliert. Nicht bekannt ist, wie viel Ressourcen und sieht eine Reihe von Änderungen bei den Rechnungs- Personal die Kassen darüber hinaus selbst in den Kampf prüfungen vor, außerdem soll der MDK unabhängig um Krankenhausabrechnungen stecken. von den Krankenkassen werden. Sowohl Kassen als auch Krankenhäuser können in dem Gesetzentwurf Auf dem Rücken der Patienten zwar positive Aspekte erkennen, doch das Problem Das Fatale an diesem Wettrüsten ist, dass sich die der widersprüchlichen Systemanreize bleibt weitge- dadurch gebundenen finanziellen und personellen hend ungelöst. • Kapazitäten zunehmend zu Lasten der Patientenver- Kontroverse um Krankenhausabrechnungen Ein Streitgespräch mit Dirk Balster und Dr. Axel Meeßen • Berlin (pag) – Im Streit um Krankenhausabrechnungen sind MDK und Krankenhäuser erbitterte Kontrahenten. Umso überraschender, dass bei einem von Gerechte Gesundheit und der Arbeitsgemeinschaft kommunaler Großkrankenhäuser organsierten Streitgespräch auch gemeinsame Positionen entdeckt werden. Dirk Balster vom Klinikum Chemnitz und Dr. Axel Meeßen vom MDK Berlin Brandenburg über ein krankes System und Reformver- suche des Gesetzgebers. Die Lobby fährt bei den Kranken- Sache hart zu sein und das Andere, gesetzt werden. Aus der Außen- hausabrechnungen schweres Ge- trotzdem respektvoll miteinander sicht ist das System an manchen schütz auf. Selbst der Minister umzugehen. Und das erwarte ich Stellen krank. spricht von Irrsinn und Wahnsinn. von allen Beteiligten. Wie wirkt sich das auf die Zusam- Balster: Aus meiner Sicht ist das menarbeit vor Ort aus? Wird der Der GKV-Spitzenverband verkündet System sogar am Ende. Wir verbren- Ton rauer? immer wieder, dass jede zweite nen unsere Fachkräfte in Dokumen- geprüfte Krankenhausabrechnung tation, Verteidigung und Abrech- Balster: Der ist seit mehreren Jahren falsch sei. Rechnen die Kliniken nung. Die Gesetzgebung verschärft mehr als rau. Wir haben eine sehr wirklich so viel falsch ab? den Pflegemangel. Um zusätzliche angespannte Situation. Erlöse zu generieren, versuchen die Meeßen: Jeder der Beteiligten Kliniken, neue Bereiche aufzubauen. Und bei Ihnen, Herrn Meeßen? – Krankenhaus, Kasse und MDK – Dabei stehen wir in einem Hyper- verhält sich aus der Innensicht des wettbewerb um Fachkräfte. Der Meeßen: Natürlich geht es kontro- Systems absolut logisch und nach- Personalmarkt stellt eine immense vers zu. Aber das Eine ist, in der vollziehbar, weil bestimmte Anreize Belastung für die Krankenhäuser dar.
November 2019 © pag, Fiolka Im Fokus Seite 13 • Die Kontrahenten Dirk Balster (im Foto links) ist kaufmännischer Ge- Dr. Axel Meeßen ist Geschäftsführer des MDK Berlin- schäftsführer des Klinikums Chemnitz. Er ist Wirt- Brandenburg. Zuvor war er unter anderem beim schaftswissenschaftler und hat unter anderem bei GKV-Spitzenverband. Er kennt aber auch die andere Roland Berger deutschlandweit Projekte im Kranken- Seite: Herr Meeßen ist Arzt und hat in der Chirurgie, haussektor geleitet. Orthopädie und Medizininformatik gearbeitet. Und auf der anderen Seite begegnet Aber? Balster: Hundertprozentig sauber be- uns der MDK mit 2.100 Vollzeit- schrieben ist das nicht. Ein weiteres kräften, von denen ungefähr die Meeßen: Es gibt Lücken. Eine ist die Problem ist: Die Krankenkassen tren- Hälfte in der Abrechnungsprüfung fehlende Investitionskostenfinan- nen ganz klar zwischen dem Bud- beschäftigt sind. Wir Kliniken be- zierung durch die Länder. Die fehlt get-Verhandlungsteam und dem Ab- finden uns in der Defensive. in den Kliniken und muss aus den rechnungsteam. Und die Abrechner DRGs gedeckt werden, die dafür interessieren sich zunehmend nicht Fast jedes zweite Krankenhaus nicht kalkuliert sind. mehr dafür, was das Budget-Team stockt das Personal fürs Codieren vorher verhandelt hat. Beispielsweise auf. Beim MDK sieht es nicht viel Was sind weitere Lücken? wurde zur Versorgungssicherung in anders aus. Immer mehr Ressour- der Onkologie ein teilstationärer Satz cen fließen in Überwachung und Meeßen: Alle reden von Digitali- plus Zusatzentgelt für die Chemo- Kontrolle. Wie lange geht das noch sierung. Das sind Zusatzinvesti- therapien vereinbart. Der MDK sagt so weiter? tionen. Ich sehe nicht, dass die aber, dass es keine Indikation für Länder den Krankenhäusern einen teilstationären Fall gebe. Wir Meeßen: Vollkommen richtig ist, dafür zusätzlich Geld geben. Am bekommen also die 300 Euro für den dass das System kompliziert ist. schlimmsten ist aus meiner Sicht teilstationären Satz nicht – was nicht Wir haben zig Codes für Krankheiten aber, dass die privaten Häuser – weiter schlimm ist. Allerdings haben und Prozeduren. Die Gemeinsame immerhin ein Drittel aller Kliniken wir den Patienten mit Medikamenten Selbstverwaltung legt fest, wann – versuchen, zehn Prozent ihres für 4.000 bis 5.000 Euro versorgt. was und wie codiert werden kann Gewinns an die Aktionäre abzu- Die werden nicht bezahlt. Der MDK und darf. Und die Kalkulations- geben. Dabei ist unsere Kranken- ist da ein seelenloses, weil starres, häuser bilden die Realität für die hauslandschaft ein Teil der Da- Prüfinstrument. deutsche Kliniklandschaft ab. Das seinsvorsorge. Es ist daher ein Ziel ist ja nicht, den Krankenhäusern fataler Fehler, die Kliniken in den Herr Meeßen, wie seelenlos ist der weniger Geld zu geben, als da ist. Markt zu schicken. MDK? Eigentlich müsste jedes Kranken- haus eine adäquate Vergütung Bleiben wir noch bei der Abrech- Meeßen: „Seelenlos“ hört sich ne- bekommen, wenn es den Aufwand nung. Wie viel Interpretationsspiel- gativ an. Zu viel Seele und Mensch- abgebildet über Krankheit und Maß- raum gibt es bei den Codier-Richt- lichkeit würden zu viel Interpreta- nahmen codiert angibt. linien? tionen ermöglichen. Eine positive
• Seite 14 Im Gespräch GERECHTE GESUNDHEIT Seite der Seelenlosigkeit ist, dass Herr Balster, das erleben Sie anders? Mittlerweile ist davon etwa die Hälfte wir überprüfen, ob es verbindliche der Fälle mit 55 Prozent des Streit- Regeln gibt und wie diese anzu- Balster: Ein konkretes Beispiel für wertes – das sind etwa 1,5 Millionen wenden sind. Unsere bundesweite eine Rechnungssituation: Bei der – entschieden. Unsere Verfahrens- Abrechnungsgruppe überprüft Abrechnung der Schlaganfall-Kom- kosten liegen bei rund 760.000 Euro wiederkehrende Konflikte und gibt plexpauschale muss die Temperatur und die der Krankenkassen vermut- Empfehlungen, die auch veröffent- beim Patienten regelmäßig gemes- lich auch. Das heißt, dass wir mit licht werden. Das sind Maßnahmen, sen werden, auch in der Nacht ist dem Versuch uns anzunähern bereits um Interpretationsspielräume zu er dafür zu wecken. Eine fehlende 1,5 Millionen Euro zu Anwälten und reduzieren. Temperaturabnahme nachts um zwei Gerichten getragen haben. Uhr führt dazu, dass die Pauschale Aber im Grunde haben die Kran- nicht gezahlt wird. Da stelle ich mir Geld, das in der Versorgung fehlt. kenhäuser doch keine Planungs- schon die Frage nach der Sinnhaftig- Der Bundesrechnungshof kritisiert sicherheit. Sie behandeln Patienten, keit der Prüfung. Das gleiche gilt für diese Mechanismen, die zu Lasten schreiben Rechnungen und wissen die Strukturmerkmalprüfung. der Patienten gehen. Ist das auch am Ende nicht, ob sie wirklich das in Ihrem Haus so? Geld bekommen. Inwiefern? Balster: In meiner Region spüren Balster: Stichwort Pränatalmedizin: wir einen massiven Fachkräfteman- © pag, Fiolka Unser Klinikum hat die einzige Früh- gel beim Ärztlichen Dienst. Hinzu chenstation Level 1 im Umkreis von kommen Dokumentationspflichten, 80 Kilometern. Der MDK wollte uns die die Mediziner davon abhalten, über zwei Jahre diese Bezeichnung ihren ärztlichen Pflichten nachge- nicht zuerkennen, weil zwei oder drei hen zu können. Mal im Betrachtungszeitraum die pflegerische Besetzung in der Nacht Das heißt, sie müssen sich überle- nicht den Strukturmerkmalen ent- gen, ob der Arzt jetzt dokumentiert sprochen hätte. In der Konsequenz oder am Patientenbett steht. hätte dies zur Folge gehabt, dass die Versorgung in Chemnitz einge- Balster: Ja. stellt worden wäre und 500 Gramm schwere Babys durch das Land nach Kommen wir zum MDK-Reformge- Dresden oder Leipzig gefahren wer- setz. Wird damit das kranke System den. Was ist der Sinn der Rigidität geheilt? Und kommen Sie, Herr eines solchen Prüfverfahrens? Geht Balster, damit aus Ihrer Verlierer- Meeßen: Das sehe ich etwas an- es den Kassen um Strukturpolitik? position heraus? ders, schließlich gibt es für die Kli- niken keinen ökonomischen Anreiz, Meeßen: Bei der Selbstverwaltung Balster: Das Gesetz bringt sicherlich richtig abzurechnen. Daher sagt werden bestimmte Regeln verein- Verbesserungen mit sich, die aber derjenige, der das bezahlen muss: bart. Wenn ein bestimmter Parame- nicht maßgeblich helfen werden. „Das möchte ich jetzt aber gerne ter immer zu erfüllen ist, dann muss Dennoch haben wir die Hoffnung, wissen.“ Die Kassen bekommen er eben auch immer erfüllt werden. dass eine Neutralisierung des MDKs allerdings immer weniger medizini- Als Krankenhausträger würde ich hilfreich sein könnte. sche Daten von den Patienten. Die gerne Vereinbarungen treffen, bei MDK-Gutachter haben die Aufgabe, denen der Parameter in 98 Prozent Herr Meeßen, Sie werden demnächst Prozeduren und Abrechnung an- der Fälle zu erfüllen ist – und intern völlig unabhängig von den Kranken- zusehen, um zu kontrollieren, ob strebe ich 100 an. Dann sind die kassen. Was ändert sich für Sie? es Probleme gab. Wir sind ziemlich zwei Prozent, bei denen etwas ver- berechenbar bei der Frage, was für gessen wird, nicht so schlimm. Ein Meeßen: An der Arbeit unserer Gut- uns strittig ist und was nicht. Mein systematisches „Vergessen“ wäre achter ändert sich nichts, denn nicht Anspruch ist, dass es keine Überra- gleichzeitig so nicht möglich. ich oder der Verwaltungsrat machen schung gibt und dass die Kranken- diese Arbeit. Die organisationsrecht- häuser im Vorhinein wissen, wie wir Balster: Am Ende des Tages bleibt lichen Änderungen beeinflussen die die Sache einschätzen werden. doch die Frage, welche Zielsetzung Gutachter überhaupt nicht. die Krankenkasse verfolgt. Bei einer Seelenlos, aber berechenbar. bundesweit tätigen Ersatzkasse Im Verwaltungsrat sitzen künftig wussten wir uns vor vier Jahren nicht auch Patienten- und Pflegevertreter. Meeßen: Das ist die positive Seite mehr anders zu helfen, als 1.750 Fälle von Seelenlosigkeit. an einem Tag zu Gericht zu tragen. Meeßen: Diejenigen, die im Ver-
November 2019 Im Gespräch Seite 15 • waltungsrat sitzen, haben nichts Herr Balster, zum Abschluss unseres mit der inhaltlichen Arbeit zu tun. Gesprächs stellen Sie sich bitte vor, © pag, Fiolka Bereits heute ist das ganze opera- Herr Meeßen würde einige Tage bei tive Geschäft in der Verantwortung Ihnen hospitieren. Was wäre das der Geschäftsführung und des größte Aha-Erlebnis für ihn? leitenden Arztes – und nicht in der des Verwaltungsrates. Durch das Balster: … dass es das Prinzip der Gesetz wird sich im operativen Tun bewussten Falschabrechnung nicht nichts verändern. gibt. Das gibt es nicht in unserem Haus, den Versuch würden wir gar Die Strukturprüfungen haben im nicht wagen. Wir machen Right-Co- vergangenen Jahr für viel Wirbel ding und versuchen die Leistungen, gesorgt. Der Gesetzgeber plant die wir erbracht haben, abzurech- daher einige Änderungen, wie nen. Für Sie, Herr Meeßen, wäre es bewerten Sie diese? sicher auch interessant zu sehen, wie viele Leistungen, die wir erbracht Meeßen: Für die Kliniken soll das Ge- Meeßen: Eine wichtige Grundsatz- haben, mit null vergütet werden. schäft berechenbarer werden. Heute frage bleibt übrigens ungeklärt: Pri- werden die Anforderungen teilweise vate Kliniken müssen für ihren Träger Herr Meeßen, was wäre das Wich- im Einzelfall geprüft – und auch Gewinn machen. Aber in der Logik tigste, das Herr Balster im MDK nach der Leistungserbringung. Das unseres Systems ersetzen DRGs lernen könnte? Ganze soll jetzt umgedreht werden: den Aufwand. Wie kann man einen Das Krankenhaus lässt die Anforde- Gewinn abziehen und gleichzeitig Meeßen: Sie bekommen mit, wie rungen vorab vom MDK prüfen, holt korrekt seinen Aufwand abrechnen? es möglich ist, dass man sich über sich einen Stempel, geht damit zu grundsätzliche Dinge, bei denen man den Kassen und fordert die Leistung Balster: Da sind wir einer Meinung. auseinander liegt, verständigt und in der Budgetverhandlung. Solange Als kommunales Großkrankenhaus festlegt, wie es künftig gehandhabt sich an den Voraussetzungen nichts betreiben wir Daseinsvorsorge und wird. Wenn uns das System schon ändert, hat es damit die Gewähr, tragen in der Region die Verant- unlösbare Aufgaben gibt, sollten dass die Leistung bezahlt wird. wortung. Elf Millionen Euro ergeb- wir versuchen, es so gut wie mög- niswirksame Abschreibungen für lich hinzubekommen. Ich wäre für Eine gute Idee, Herr Balster? Investitionen, die wir für die Patien- Rahmenbedingungen dankbar, die tenvorsorge getätigt haben, müssen den Kliniken ökonomische Anreize Balster: Grundsätzlich ja. Gleichzei- wir refinanzieren. Durch private setzen, richtig abzurechnen. Bei kor- tig muss aber auch gesehen wer- Krankenhausbetriebe und -ketten rekter Abrechnung könnte man den den, wie diese Anforderungen zu werden Mittel aus dem System ge- Aufwand herunterfahren und mehr realisieren sind. Und es muss geklärt zogen. Und auf die grundsätzliche Leute könnten in die Versorgung werden, welche Risiken dadurch für Frage, welche Krankenhausstruktur zurück. Denn auch das würden Sie die weitere Versorgung entstehen. nachhaltig und dauerhaft finanzier- bei uns mitnehmen: Um jede Stellen- Die Strukturprüfungen dürfen nicht bar ist, haben wir hierzulande noch mehrung im ärztlichen Bereich tut die Versorgung gefährden. keine Antwort gefunden. es mir für die Versorgung weh. • On and off the record © pag, Fiolka Das Streitgespräch zwischen Dr. Axel Meeßen und Dirk Balster ist Teil der Veranstaltung „MDK-Prüfungen – Wett- rüsten im Krankenhaus“, zu der Gerechte Gesundheit und die Arbeitsgemeinschaft kommunaler Großkrankenhäuser einge- laden haben. Moderation: Lisa Braun und Antje Hoppe. Nach dem Streitgespräch gab es eine angeregte Diskussion mit den geladenen Gästen. Diese ist jedoch off the record – und damit nicht Teil unserer Be- richterstattung.
• Seite 16 In Kürze GERECHTE GESUNDHEIT Wo das BVA den Kassen auf die Finger schaut • Bonn (pag) – „Die Digitalisierung hat den Bereich der zusätzlichen Satzungsleistungen er- reicht.“ Das stellt das Bundesversicherungsamt (BVA) in seinem Tätigkeitsbericht 2018 fest. Darin kommen auch unliebsame Themen der Gesetzlichen Krankenversicherung zur Sprache: Ausschreibungen in der Hilfsmittelversorgung, Sondervereinbarungen zu Krankenhausab- rechnungen sowie die Liposuktion. Zahlreiche Versicherte beschwerten sich, dass Kassen Gesetzliche Regelungen „vollständig umgangen“ aus ihrer Sicht dringend erforderliche innovative medi- Zahlreiche Beschwerden lagen dem Amt in 2018 zinische Leistungen nicht finanzierten, teilt das BVA auch gegen die Vertragspraxis der Kassen zur Hilfs- mit. Darunter auch Versicherte mit einem Lipödem. mittelversorgung vor. Das Heil- und Hilfsmittelversor- Dieser Fall zeige exemplarisch ein Spannungsverhältnis gungsgesetz habe zwar die Anforderungen bei der – und zwar „zwischen den Wünschen einzelner Ver- Berücksichtigung von Qualitätsaspekten in Ausschrei- sicherter nach zeitnaher Versorgung mit innovativen bungen deutlich erhöht. Die Kassen hätten dies aber medizinischen Leistungen einerseits und andererseits nur unzureichend umgesetzt, heißt es im Bericht. Der den Interessen der Versichertengemeinschaft, dass nur Gesetzgeber reagierte mit dem Terminservice- und Ver- Leistungen von den Krankenkassen finanziert werden, sorgungsgesetz: Kassen müssen künftig die Hilfsmittel- deren Erforderlichkeit umfassend nachgewiesen ist“. versorgung auf dem Verhandlungsweg durch Rahmen- Das Amt verweist auf den Gemeinsamen Bundes- verträge mit Beitrittsmöglichkeit sicherstellen. auschuss (G-BA), der prüfe, ob eine Methode für die Für Knatsch sorgten ferner Sondervereinbarungen, die ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versor- einige Kassen mit Krankenhäusern geschlossen haben. gung erforderlich ist. Zur Erinnerung: Die Liposuktion hat Dabei ging es um pauschalierte Kürzung von Klinikrech- zu einer Machtprobe zwischen gemeinsamer Selbstver- nungen. Für die Kassen sei die Klärung strittiger Ab- waltung und Gesundheitsminister Jens Spahn geführt. In rechnungsfragen unter Einbeziehung des Medizinischen der Folge hat der G-BA eine Erprobungs-Richtlinie Lipo- Dienstes der Krankenversicherung vielfach aufwändig suktion erlassen. Das BVA hebt hervor, dass Kassen nur und kostenintensiv, berichtet die Aufsichtsbehörde. ausnahmsweise die Kosten für bisher nicht anerkannte Allerdings hätten einige mit diesen Vereinbarungen die Untersuchungs- und Behandlungsmethoden überneh- gesetzlichen Regelungen „vollständig umgangen“. Man men könnten. „Dies gilt insbesondere bei lebensbedroh- habe sie daher aufgefordert, darauf zu verzichten. Das lichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen.“ Bundesversicherungsamt zieht folgende Bilanz: In „fast allen Fällen“ wurden die Sonderver- einbarungen beendet. Eine Kran- kenkasse klagte jedoch gegen die aufsichtsrechtlichen Mittel. Der Stand zu digitalen Versor- gungsprodukten als Satzungs- leistungen: Das BVA hat die recht- lichen Möglichkeiten ausgelotet, größtenteils im positiven Sinne für die Versicherten, wie es betont. An Grenzen stoßen allerdings Produkte, die den Grundsätzen des SGB V nicht genügen. Zum Beispiel sei bei Produkten aus dem Heil- und Hilfs- mittelbereich eine ärztliche Verord- nung erforderlich. • Weiterführender Link Bundesversicherungsamt (BVA), Tätigkeits- bericht 2018 https://www.bundesversiche- rungsamt.de/fileadmin/redak- tion/allgemeine_dokumente/ pdf/taetigkeitsberichte/Taetig- Streitfall Liposuktion: Spannungsverhältnis zwischen den Wünschen einzelner Versicherter und den keitsbericht_BVA_2018_web. Interessen der Versichertengemeinschaft. © iStock.com, MartinPrescott pdf
November 2019 In Kürze Seite 17 • Sozialwahlen online: Mehr Demokratie wagen? • Berlin (pag) – Die Bundesbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, Rita Pawelski, und der Verband der Ersatzkassen (vdek) wollen die Sozialwahl modernisieren – und zwar per Online-Abstimmung. Damit das bis zur nächsten Wahl im Jahr 2023 klappt, muss jetzt an den gesetzlichen Stellschrauben gedreht werden. „Die Zeit rinnt uns durch die Finger“, sagt Pawelski. Schließlich müssen Ausschrei- diese Option. Neben der Umfrage Problem Friedenswahl bungsfristen gewahrt, die not- präsentieren vdek und Pawelski Bleibt das Problem der sogenann- wendige Technik bereitgestellt auf der gemeinsamen Presse- ten Friedenswahl, der Wahl ohne werden. Wenn das Anliegen in den konferenz ein Working Paper Wahlmöglichkeit. Dabei werden kommenden Monaten nicht um- von Prof. Indra Spiecker genannt auf den Vorschlagslisten nicht gesetzt, sprich ein Vorschaltge- Döhmann zur rechtlichen Zuläs- mehr Kandidaten aufgestellt als setz auf den Weg gebracht wird, sigkeit einer Online-Wahl bei der Mitglieder zu wählen sind. Wie kann frühestens in zehn Jahren bei Sozialwahl. Damit wollen sie das überzeugend sind Modernisierungs- Sozialwahlen online abgestimmt Argument aus dem Bundesarbeits- bemühungen, die dieses Thema werden, lautet der Appell der ministerium entkräften, diese außen vorlassen? Klemens ist zwie- Wahlbeauftragten. Im Koalitions- Abstimmungsform sei aus verfas- gespalten: Auf Nachfrage räumt er vertrag haben SPD und Union sungsrechtlichen Gründen nicht ein, dass man „darüber nachdenken festgehalten, dass die Sozialwahl machbar. Die Rechtswissenschaft- müsste“. Allerdings stellt er auch zu modernisieren sei. Viel mehr lerin von der Goethe-Universität klar: „Das ist aber dann auch einer scheint nicht passiert zu sein. Und Frankfurt a.M. konstatiert: „Aus der Hinderungsgründe, die uns im Pawelski reißt allmählich der Ge- rechtlicher Sicht gibt es keine Hin- Weg stehen.“ Denn bei den meisten duldsfaden. „Mein Vorgänger hat derungsgründe.“ Sozialversicherungsträgern wird das Thema bereits von seinem Die Gründe für die digitale Er- friedlich gewählt. Urwahlen führen Vorgänger übernommen.“ gänzungsvariante stellt der verschiedene Betriebskrankenkas- Eine aktuelle Umfrage unter 1.002 vdek-Verbandsvorsitzende Uwe sen, die meisten Ersatzkassen und wahlberechtigten vdek-Versicher- Klemens dar: Er spricht – vor dem die Deutsche Rentenversicherung ten zeigt, dass zwei Drittel für die Hintergrund einer ausbaufähigen Bund durch. Auch Pawelski – so Einführung der Online-Wahl sind Wahlbeteiligung von 30,5 Prozent sehr sie sich auch über den euphe- – als zusätzliche Option neben in 2017 – von einem „entscheiden- mistischen Begriff der Friedenswahl der Briefwahl. In der Altersgruppe den Schritt zur Modernisierung“. echauffieren mag – will dieses Fass der 16- bis 44-Jährigen liegt die Und er hofft, damit mehr junge nicht aufmachen. Zu groß ist ihre Zustimmung sogar bei 75 Prozent. Menschen zu erreichen. Pawelski Sorge, dadurch den Weg zur On- Und auch Befragte im Alter von ergänzt: „Eine Online-Wahl stärkt line-Wahl zu verbauen. • 60 plus votieren mit 52 Prozent für die soziale Selbstverwaltung.“ Zeitplan Diese Schritte sind nötig, damit 2023 eine Online-Sozialwahl möglich ist Zeitplan: Diese Schritte sind nötig, damit 2023 eine Online-Sozialwahl möglich ist 2018 2019 2020 2021/22 2023 Weiterführender Link „Die rechtliche Zulässig- keit einer Online-Wahl zur Sozialwahl“ Prof. Dr. Koalitionsvertrag: Frühjahr 2019 Vorschaltgesetz Notwendige Vorbereitungen Sozialwahl 2023 iur. Indra Spiecker ge- muss spätestens im Januar bei den Trägern: als Brief- nannt Döhmann, LL.M., „Wir wollen die o Urwählende Träger 2020, Gesetze/Verordnungen /Online-Wahl und Dr. iur. Sebastian Selbstverwaltung erstellen und verteilen müssen bis 30. Juni 2020 in o Satzungsänderungen für eine Online- Sozialwahl müssen durch die Bretthauer stärken und Vorschläge zur Kraft getreten sein gemeinsam mit den Rechtsgestaltung für Selbstverwaltung beschlossen und www.vdek.com/presse/ Sozialpartnern die eine fakultative Andernfalls ist eine Online- durch die Aufsicht genehmigt werden pressemitteilungen/2019/ Sozialwahl Online-Sozialwahl Sozialwahl 2023 o Gründung einer Pflicht- forsa-umfrage-gutachten modernisieren.“ ausgeschlossen Arbeitsgemeinschaft -online-sozialwahl/_jcr_ Juni 2019 content/par/download o Ausschreibung/Vergabe für eine _187297 o BMAS und BMI prüfen Software zur Online-Sozialwahl 6010/ file. die (verfassungs-) rechtlichen o Technische res/06_ Voraussetzungen für Umsetzung/Vorbereitungen bei den Gutach- eine Online-Sozialwahl teilnehmenden Trägern und ten_Wor- Dienstleistern für eine Brief- und king_Pa- Online-Sozialwahl per.pdf Grafik und Quelle:und Quelle: Ersatzkassen Ersatzkassen DRV Bund. und DRV Bund.
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