Wir Älteren in den Gewerkschaften in Bremen und Bremerhaven - verdi Bremen
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Wir Nr. 40 | 2020 Älteren in den Gewerkschaften in Bremen und Bremerhaven Hinter diesen Fenstern: Der Kampfgegen Rassismus Kongress der Vagabunden Engels in Bremen > 13 bleibt aktuell > 18 und die Vorgeschichte > 24 Wir 40 - 2020 | 1
Liebe Leserin, lieber Leser, Editorial ja, wir haben die Nasen gestrichen voll, haben längst den Eindruck, alles sei schon dreimal gesagt. Und würden diesen mikroskopisch winzigen Quälgeist namens SARS-CoV-2 am liebsten per Abrakadabra ein für allemal aus der Welt zaubern. Die Pandemie zerrt an den Nerven, selbst bei denen, deren wirtschaftliche Sicherheit noch nicht gelitten hat. Also mal abschalten? Sich schöneren Dingen zuwenden? – Fakt ist: Mit fortgesetzter Dauer entwickelt die Pandemie immer mehr politischen Zündstoff. Die Kräfte vom rechten Rand kochen längst ihr braunes Süppchen aus den Krisenzutaten, maskieren sich als Anwälte der individuellen Freiheiten, kanalisieren berechtigte Unzufriedenheit aufihre Bahnen. Und In Heft 39 war der „WIR“-Titel natürlich besteht auch dieses Mal die Gefahr, dass die Kosten im Druck verloren gegangen. der Krise vorrangig denen aufgebürdet werden, die finanziell Per Filzstift sorgten fleißige am wenigsten gut gepolstert sind. Nicht zuletzt die Hände für Abhilfe. Gewerkschaften müssen hier am Ball bleiben. Im Ergebnis bindet die Nr. 40 einen bunten Strauß aus Corona-Fragen und anderen aktuellen Themen. Über kritische Anmerkungen freut sich die WIR mehr denn je (an wir@aulbremen. de). Achja, mit dieser Ausgabe nullt die WIR zum vierten Mal. Übers Heft versrteut finden sich kurze Anmerkungen von Kolleg*innen, die schon bei der Nr. 1 dabei waren. Die Redaktion Schwerpunkt CORONA 1 6 PLATT: Politisch Afstand hollen Inhalt 3 Viele Fragen, wenig Gewissheiten un sik avers nich trüchtrecken Traudel Kassel Holger Zantopp 4 Was ist wirklich wichtig? 1 8 Black Lives Matter Traudel Kassel Bernd Krause 5 Wer entscheidet? 20 Impressum Traudel Kassel 22 Leserbrief 6 Krise – was bedeutet das eigentlich? 23 „Sozial schwach“??? Wolfgang Schröder Wolfgang Bielenberg 8 Corona bringt es an den Tag 24 Der Vagabunden-Kongress 2020 in Traudel Kassel Berlin – und seine Vorläufer 1 0 Glosse: Das Corona-Virus und wie ich ... Traudel Kassel Marita Froese-Sarimun 26 Wem gehört Deutschland ? Wolfgang Schröder 1 1 Das Ende eines Rüstungskonversions-Projekts 27 Ein Blick zurück nach vorn – Udo Hannemann 75 Jahre DGB Bremen 1 2 Digitale Patient*innen-Akte Eine Einladung zur Mitarbeit Marlene Henrici 28 Internationaler Tag der Älteren Generation 1 3 Friedrich Engels in Bremen Am 1 . Oktober auf dem Marktplatz Johann-Günther König 2 | Wir 40 - 2020
N \ A Viele Fragen, C \O \ R \ O \ wenig Gewissheiten Seit einem halben Jahr täglich neue Nach- merhaven fast unberührt vom Virus, der Traudel Kassel richten, neue Erkenntnisse, neue Proble- Norden überhaupt nicht stark betroffen. me – hier und in anderen Teilen der Welt. Aber auch Bremen hatte seine Ischgl- Was von alledem geht uns an, was ist Fälle, dann plötzlich waren Pflegeheime wichtig – was nicht? Wie wird es in ein betroffen, Kliniken, Kirchengemeinden, paar Monaten aussehen oder in einem eine Flüchtlingsunterkunft. Jahr? Ist das Klinik-Personal nicht schon ohne An viele neue Wörter haben wir uns ge- Corona überlastet und werden die Forde- wöhnt: Super-Spreader, Hotspot, Lock- rungen nach besserer Bezahlung, sondern down oder Triage – ein Wort, das jedem auch nach mehr Personal und besseren eiskalte Schauer über den Rücken laufen Arbeitsbedingungen nicht seit Jahren lässt, der die Bedeutung kennt! immer lauter? Würden die Kliniken mit An manche Regeln und neue Verhaltens- vielen schweren Fällen fertig werden? weisen haben wir uns gewöhnt, bei man- chen Regelungen blicken wir nicht mehr Zu einer Aktion am durch: Familie plus 1 oder 3 Menschen 1. Mai aufder auf Abstand? Trauerfeiern mit 10, 20 oder Wilhelm-Kaisen- 50 Menschen? Brücke hatten Attac, Kaum hatte mensch sich dran gewöhnt, die Linke, Omas dass zu Hause bleiben am besten ist und gegen Rechts u.a. auf der Straße höchstens zu zweit in sitt- aufgerufen. samem Abstand und fühlte sich damit halbwegs auf der sicheren Seite, hatte auch genug Mehl und Klopapier und Des- infektionszeugs im Haus, da ging das schon wieder los mit Lockerungen: für wen, für wen nicht? War ein Buchladen ein gefährlicherer Ort als ein Supermarkt? Ein Möbelhaus gefährlicher als ein Auto- haus? Und die Pulks meist junger Menschen, die sich bald unbekümmert am Werdersee oder Osterdeich tummelten? Die Tage waren so sonnig und die Abende so lau. In Berlin Riesenparties im Freien. Hat das Folgen oder ist alles doch nicht so schlimm? Was sagen die Zahlen? Dazu macht die Gefahr einer schlimme- Also doch lieber vorsichtig bleiben, zumal ren „zweiten Welle“ die Runde. Vor hun- auch die Wissenschaftler nicht einig sind dert Jahren hat eine solche Millionen und auch nicht sein können, weil das Menschen hingerafft. Bilder von Kran- Virus auch für sie immer wieder neue kensälen mit hunderten Patienten prägen Überraschungen und Erkenntnisse bringt. sich tief ein, genau wie die Bilder zuerst aus Italien oder Spanien, als die Pandemie Wir bleiben hin- und hergerissen zwi- Europa überrollt hatte. 1000 Tote an schen Hoffnung auf einen glimpflichen einem einzigen Tag … und jetzt die USA Verlauf der Pandemie in unserer Umge- und Lateinamerika. Die Gesundheitssys- bung und dem Wissen, dass es viel teme desolat. Es trifft vor allem die schlimmer kommt, wo nicht schnell wirk- Armen, die sich nicht schützen können. same Maßnahmen ergriffen worden sind. Hier in Norddeutschland schien erst alles Wir müssen lernen damit zu leben, dass es so anders. Zunächst wenige Fälle, Bre- viele Fragen und wenige Antworten gibt. Wir 40 - 2020 | 3
Was ist wirklich wichtig? Waren alle die Maßnahmen nötig, die in Landwirtschaft, Geschäfte und Märkte für Traudel Kassel Deutschland zur Bewältigung der Pande- die Versorgung der Bevölkerung – auch mie getroffen wurden? Wie lange waren sie sind unverzichtbar. Aber dient die sie nötig – hat es Fehlentscheidungen ge- landwirtschaftliche Produktion in geben? Sind die zuweilen sehr unüber- Deutschland wirklich vorrangig der Le- sichtlichen Lockerungen übereilt oder zu bensmitelversorgung hier? Nur 1% der spät? Wem nützten sie, wem schadeten Flächen dienen dem Obst- und Gemüse- sie? Aufgrund welcher Interessen wurde anbau. Export von Fleisch und Milch in entschieden? alle Welt nimmt einen Großteil der land- wirtschaftlichen Produktion und der Flä- Lassen sich Anforderungen des Gesund- chen ein. heitsschutzes mit Wirtschaftsinteressen zusammenbringen? Ohne die öffentichen Ver- und Entsor- gungsdienste geht auch nichts. Strom, Wer ist überhaupt „die Wirtschaft“? Die Heizung, Wasser und Müllentsorgung Autoindustrie mit ihrem Netz an Zuliefe- müssen ebenso funktionieren wie Polizei rern, Händlern und Werkstätten, die und Feuerwehr oder öffentlicher Verkehr. immer den Anspruch erhebt, dass ohne Auch Soziales muss geregelt werden, sie gar nichts geht? Dabei ging zu den damit Menschen nicht mit ihren existen- Zeiten des Lockdown eigentlich sehr viel ziellen Problemen allein dastehen. ohne Autos, auch ohne Kreuzfahrten und mit sehr wenigen Flügen. Lkw-Fahrten und Waren-Zustellung jeder Art sind unverzichtbar, wenn Geschäfte Ist Wirtschaft überhaupt nur die Industrie geschlossen sind und der Internethandel – und welche? Ist die Pharmaindustrie vor regelrecht aufblüht. Aber sind alle bestell- Ort wichtiger als gedacht, die Lebensmi- ten Produkte wirklich notwendig? Müssen telindustrie, was ist mit den ungezählten Tiere quer durch Europa gefahren wer- Dienstleistungen wie Gesundheitswesen, den, nur um das Fleisch ein paar Cents Handel, Kultur, Tourismus, Gastronomie billiger zu machen? und viele mehr? Neue und immer gößere Autos sind nicht Es wurden Debatten geführt, was „sys- lebensnotwendig. Sie könnten viel länger temrelevant“ sei. Was heißt das eigentlich: gefahren werden als heute, z.B. bei Miet- systemrelevant? Müsste es nicht heißen: und Firmenwagen. Falls ein Auto nicht unverzichtbar für das Zusammenleben mehr zu reparieren ist, stehen reichlich der Gesellschaft – oder wie manche etwas gebrauchte Autos zur Verfügung. flapsig sagen: „...damit der Laden läuft“? Anlass zum Nachdenken, was wirklich WIR Dass Krankenhäuser, Pflege- und Ge- unverzichtbar ist und wo die Gesellschaft sundheitseinrichtungen unverzichtbar umsteuern muss – im Gesundheitswesen sind, war schnell klar. weg vom ökonomischen Zwang profitabel zu sein. In der Industrie: welche Produkte Ich bin vom Anfang an beim WIR-Projekt werden wirklich gebraucht. Hier sind 40 gewesen. Die letzten Jahre habe ich auch die Gewerkschaften gefordert, nicht mich aus gesundheitlichen Gründen nur Arbeitsplätze zu sichern, sondern sich zurückgezogen. Ich verteile weiterhin auch für umwelt- und klimagerechte Pro- 20 Exemplare pro Ausgabe in meiner duktion und damit zukunftsfähige Ar- Umgebung. Die Senioren, die von mir beitsplätze einzusetzen. die WIR bekommen, interessieren sich Bloße Tarifpolitik reicht nicht mehr aus. mehr für lokale Themen, Bremen und Wegducken aufgrund der Krise hilft nicht. Umgebung. Politische Texte besonders Gesellschaftliche Fragen müssen in den über das Ausland interessieren sie weniger. Und die Texte Vordergrund treten und dafür mobilisiert sollten seniorengerecht sein, d.h. besser kürzere Texte. - werden: Aktionen mit Maske – aber ohne Inge Markowsky Maulkorb. 4 | Wir 40 - 2020
O \ R \ O \ N \ A C\ Die „illegal“ aufgestellte Skulptur eines unbekannten Künstlers wurde zum Symbol für die Verelendung armer Menschen und Obdachloser während des Lockdowns. Wer entscheidet? Schlimme Nachrichten über Ausbrüche in Viele Menschen in dieser Situation sagen, Pflegeheimen – wohlgemerkt bei Bewoh- sie fürchten eigentlich nicht den Tod, der Traudel Kassel ner*innen und Pfleger*innen kursierten – unausweichlich auf sie zukommt. Was sie im April. Kein Besuch mehr. Muttertag fürchten, ist großes Leiden im Sterbepro- wurde im Pflegeheim gefeiert – mit Blu- zess. Noch schlimmer, wenn sie dabei men in der Kaffeerunde – ermöglicht ohne die Nähe lieber Menschen bleiben. durch das Personal, das selbst wenig ge- Inzwischen werden Besuchsregeln gelo- schützt und immer schon überlastet war. ckert, immer in Abwägung: Was muss Eine schöne Geste. möglich sein, ohne Bewohner*innen und Pflegekräfte zu gefährden? Anders die Situation in Pflegeheimen, in denen das Virus grassierte und Bewoh- Aber es gibt Menschen, die sich heraus- ner*innen über Wochen nicht aus ihren nehmen über das Recht dieser Menschen Zimmern durften. Für Kranke und be- auf Leben zu entscheiden. Wolfgang sonders für Menschen mit Demenz eine Schäuble und Tübingens OB Boris Palmer unerträgliche Situation. fragten, was wichtiger sei: das Recht auf Leben oder das Recht auf ungehinderte Wer entscheidet über Rechte und Bedürf- Entfaltung weniger betroffener Bevölke- nisse schwer kranker oder sehr alter Men- rungsteile und der Interessen der Wirt- schen, die sich dem Tod nahe fühlen? schaft. Da maßen sich politische Dürfen sie selbst bestimmen, was ihnen Persönlichkeiten an, über „lebenswertes am wichtigsten ist – liebevolle Zuwen- und lebensunwertes“ Leben zu entschei- dung oder „geschützt sein“ und einsam? den. Solchen Politikern (einer davon Wir 40 - 2020 | 5
O \ R \ O \ N \ A C\ Protest- und Solidaritäts- Aktion der Partei Die Linke (Kreisverband Links der Weser) am 1. Mai vorm Rotes-Kreuz Krankenhaus in der Neustadt. sogar christlich orientiert!) darf die Ent- Eltern werden krank. Unterstützung scheidung über Menschenleben nicht durch Großeltern ist unverzichtbar. Kon- überlassen werden. flikte zwischen den Generationen anzu- stacheln statt den Zusammenhalt in der Wer maßt sich an zu fordern, „Risiko- Gesellschaft zu fördern ist unverantwort- gruppen“ sollten halt zurückstecken, um lich. der „Normal“bevölkerung bei der Aus- übung ihres Lebens nicht im Weg zu ste- Es gilt, die Einschränkungen in ihrer zeit- hen? Einfach mal allein zu Hause bleiben lichen Dimension und Verhältnismäßig- – ohne leibhaftige Kontakte zur Familie keit überzeugend deutlich zu machen. oder anderen wichtigen Menschen – über Und es muss Gerechtigkeit herrschen bei Monate, ein Jahr – oder noch länger? der Verteilung der unvermeidlichen Be- lastungen. Wie sieht das Leben der „normalen“ Be- völkerung oft aus? (Sind gefährdete Men- schen nicht normal?) Erwerbstätige Eltern rackern sich ab, um ihren Alltag zu meis- tern. Kita-Betreuung und Schule sind un- glaublich wichtig für die Entwicklung der Kinder, können aber längst nicht die ganze Betreuung abdecken. Kinder oder Krise? Was bedeutet das eigentlich? Wolfgang Das Jahr 2020 wird im Rückblick sicher- Wenn man diese Frage richtig beantwor- lich als Zeitraum der weltweiten „Corona- ten will, dann sollte man zuerst einmal ins Schröder Krise“ in die Geschichte eingehen, der Lexikon oder in die Internet-Suchmaschi- Virus-Pandemie, die sehr wahrscheinlich nen schauen. Da steht, dass es vom grie- in Südchina ihren Anfang nahm und sich chischen Wort „krisis“ kommt (lat. mit fatalen Folgen in unserem ‚globalen „crisis“), was als „scheiden, trennen“ defi- Dorf‘ ausbreitete. niert wird. Jedoch schon seit dem 16. Jahrhundert bezeugt das Wort, zunächst Wenn man sich die bis zum heutigen Tage in der medizinischen Fachsprache, eine aufgelaufenen Todeszahlen in der Welt „entscheidende Wendung im Verlauf von ansieht, könnte man leider auch mit voller fieberhaften Erkrankungen“. Berechtigung vom „Corona-Massenster- ben“ sprechen! Aber was bedeutet denn Die Bedeutung fiel aber, ab dem 18. Jahr- nun das oben genannte Wort „Krise“ hundert, der Verallgemeinerung anheim. überhaupt? Nun sprach man öfter bei einer schwieri- 6 | Wir 40 - 2020
gen Lage, Situation oder Zeit, die den Klatschen macht nicht satt. Höhe- und Wendepunkt einer gefährli- Beschäftige im Klinikum chen Entwicklung darstellte, von einer Bremen-Mitte hängten eine „Krise“. Jeder Mensch hat bestimmt schon einmal Zeiten mit bedeutsamen Schwie- klare Botschaft aus dem rigkeiten, mit temporären, kritischen Si- Fenster. tuationen oder mit einer problematischen Gefährdung in seinem Leben durchge- macht, nicht nur im seelischen bzw. allge- mein-medizinischen Sinne. Viele Gewerkschafts-Kolleginnen und -Kollegen etwas älteren Semesters werden sich nun gewiss auch – was zum Beispiel die Gebiete ‚Politik‘ und ‚Weltgeschichte‘ angeht – an so einige Krisen erinnern, die sie mittlerweile schon miterlebt haben. Ich denke da zum Beispiel zunächst an die „Suez-Krise“ und die Krise namens „Un- garn-Aufstand“, die ja fast zeitgleich im Oktober 1956 stattfanden und die beinahe zu einer Weltkrise geführt hätten. Das war das erste Mal, dass ich als Kind das Wort „Krise“ aus unserem Radioemp- fänger vernahm, jedenfalls habe ich das noch in Erinnerung als eine sehr bedroh- liche Zeit. Vorher gab‘s ja schon die „Kohlen-Krise“, den Versorgungsengpass beim Brennstoff nach dem Zweiten Weltkrieg und den daraus resultierenden, lebensnotwendigen „Kohlen-Klau“. Dann natürlich noch die „Berlin-Krise“ von 1948/49 mit der Blo- ckade West-Berlins durch die Sowjets, die mittels Luftbrücke der Westmächte er- folgreich überwunden wurde. Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist mir aber die „Kuba-Krise“ vom Okto- ber 1962, bei der die Welt bekanntlich ganz unmittelbar vor einem globalen Atomkrieg stand und in den radioaktiven Abgrund blickte. Es kam dabei letztend- lich – Gott sei Dank! – nur ein einziger Mensch ums Leben: Der Pilot eines ame- rikanischen Aufklärungsflugzeuges wurde über Kuba abgeschossen. Auch die soge- nannte „Öl-Krise“ von 1973 ist unvergess- lich. Damals gab es ja vier autofreie Sonntage im Herbst, so dass man in Bre- men zum Beispiel mitten auf der Schwachhauser Heerstraße spazieren gehen konnte. In der jüngeren Vergangenheit war es eine Finanzkrise, die mit dem Zusammen- die „Flüchtlings-Krise“ von 2015, die un- bruch der US-Bank „Lehman Brothers“ sere Bundeskanzlerin in eine arge Notlage im Herbst 2008 begann und bei der brachte. schließlich diverse Geldinstitute von Staats wegen gerettet werden mussten. Und so manches Mal steht auch der ein- zelne, geistig tätige und schöpferische Später folgten noch die „Griechenland- Mensch vor einem großen Dilemma, einer Krise“ bzw. die „Euro-/Finanz-Krise“, die geradezu existentiellen Krise. Diese Kala- „Ukraine-Krise“, die „Diesel-Krise“ und mität nennt sich „Schreibblockade“! Wir 40 - 2020 | 7
Corona bringt es an den Tag Traudel Kassel Eigentlich wissen es alle, zumindest die beit, in der häuslichen Pflege oder ande- Menschen, denen es nicht gleichgültig ist: ren Dienstleistungen. In vielen Branchen der Wirtschaft gibt es Arbeitsverhältnisse, die es so in einer de- Nur selten Licht ins Dunkel ... mokratischen Wohlstandsgesellschaft gar nicht geben dürfte. Betriebe ohne Tarif- Wie viele Millionen Menschen es sind, die bindung gibt es ohnehin immer mehr, aus Gründen des Elends in ihren Her- hier geht es aber um Menschen, die sozu- kunftsländern solche (miesen) Bedingun- sagen mitten unter uns unter fragwürdi- gen und die zeitweise Trennung von gen Bedingungen leben und arbeiten. Freunden und Familie auf sich nehmen, um sozusagen fast unsichtbar im reichen Schwerpunktmäßig finden sich solche Deutschland Geld zu verdienen, damit es Fälle bei Werkverträgen auf dem Bau, in ihnen und der Familie besser gehen soll, der Fleischwirtschaft und im Reinigungs- weiß niemand genau. Allein in Privat- gewerbe, bei der Leiharbeit in vielen haushalten für Haushalts- und Pflegetä- Branchen, im Hotel- und Gastronomiege- tigkeiten rund um die Uhr sollen es werbe, der landwirtschaftlichen Saisonar- Hunderttausende sein, ebenso in der Sai- sonarbeit und in Werkvertragsverhältnis- Ob durch den Corona- sen. Deren Ausbeutung gelingt vor allem, Schleier oder nicht: Die weil sie kaum Deutsch sprechen und völ- Ausbeutung in der lig von ihren Subunternehmern abhängig Fleischindustrie wird im sind. Es gibt ein Dunkelfeld in unserer Gesellschaft, in das Politik und die großen Supermarkt allenfalls an Medien nur selten hineinleuchten. den Preisschildern sichtbar. Corona zerrt diese Verhältnisse nun ins Licht der breiten Öffentlichkeit, so dass sich auch die Politik damit befassen muss. Scheinheilig reagieren Politiker*innen aber, wenn sie vorgeben, vom Ausmaß der Ausbeutung in diesen Bereichen über- rascht zu sein. Das Werksvertrags-Unwe- sen ist ja erst durch politische Entscheidungen möglich geworden. Und schließlich kämpfen Gewerkschaften, un- terstützende Initiativen und Enthüllungs- journalisten seit vielen Jahren gegen diese WIR Geschäftsmodelle z.B. in der Fleischin- dustrie, aber auch in der Bauwirtschaft oder im Reinigungsgewerbe. Öffentliche Aufmerksamkeit für die Anliegen der pre- Die Entscheidung darüber, dass wir kär Beschäftigten konnten sie aber nur selten erreichen. 40 eine Zeitung machen, wurde aufeinem Seminar nach langen Diskussionen getroffen. Eine Zeitung von uns für alle Die WIR hat z.B. 2016/2017 über die Ar- Leute, nicht nur für Senior*innen. Sie beitsverhältnisse im Bremer Schlachthof sollte unsere Sicht der Dinge den und das Werkvertragsunwesen berichtet. Menschen vermitteln. Wir sind alle 2018 sprach die WIR mit Beraterinnen politisch und gewerkschaftlich engagierte der MOBA, die sich der Probleme der Leute. Es gab eine längere Diskussion sprachunkundigen Mobilen Beschäftigten über den Namen der neuen Zeitung. Ich (Hermann) habe dann aus dem europäischen Ausland annimmt. gesagt, dass wir die Zeitung machen und deshalb soll sie auch WIR heißen. Der Vorschlag wurde von den anderen Kolleg*innen Zwar hat es in NRW in der Fleischindus- angenommen. - Brigitte und Hermann Wilkening trie nach Interventionen der Politik in den vergangenen Jahren Selbstverpflichtungs- 8 | Wir 40 - 2020
\ O \ R \ O \ N \A C Die Pandemie hat dem erklärungen der Unternehmen zur der einmalige Bonus für Altenpfle- Kampffür mehr Verbesserung der Lage der Werkvertrags- ger*innen (für Krankenpflegekräfte gab es arbeiter*innen gegeben, die aber im Sande nicht einmal den!) reichen aus. Es braucht Personal in der Pflege verliefen. Freiwilligkeit hilft offensichtlich dauerhafte Besserstellung all der Beschäf- zusätzlichen Schub nicht, wenn hohe Gewinne auf dem Spiel tigten, die „den Laden am Laufen halten“, gegeben - wie hier stehen. nicht nur in der Corona-Krise. bei einer ver.di-Aktion Wieder neue Schlupflöcher? Wenn Corona untragbare Verhältnisse ins am 15.7. vorm Scheinwerferlicht gezogen hat, ist es an Krankenhaus Jetzt hat die Bundesregierung aufgrund uns allen, dass sie dort bleiben, bis die Bremen-Mitte. der Massenausbrüche in verschiedenen Missstände abgestellt sind: Werkverträge Schlachtbetrieben Ende Mai ein Verbot in der Fleischindustrie und anderswo, un- von Werkverträgen mit Subunternehmen gesicherte Beschäftigung im Einzelhandel beschlossen, so dass die Arbeitskräfte ab und in der Gastronomie, Personalnot- 2021 direkt vom Betrieb beschäftigt wer- stand und Bezahlung in Gesundheits- und den müssen. Es gilt aber zu verhindern, Pflegeberufen. Im breit angelegten Kon- dass wieder Schlupflöcher genutzt wer- junkturprogramm der Bundesregierung WIR den, wenn die öffentliche Aufmerksam- vom Juni kommt die Pflege beispielsweise keit nachlässt. Auch müssen solche gar nicht vor. Initiativen auch für Saisonarbeit und an- dere Bereiche ergriffen werden. Als die Idee für eine Zeitung für Auch in der Pflege oder im Einzelhandel, 40 Gewerkschaftssenior*innen im Jahr wo während der heißen Phase der Pande- 2002 aufeinem Seminar in Wremen mie die Beschäftigten im Rampenlicht von IGM und Ver.di Senioren entstand, standen und ihr Einsatz plötzlich als le- konnten wir nicht ahnen, dass im Jahre benswichtig gewürdigt wurde, wird es 2020 die 40. Ausgabe entstehen wird. darauf ankommen, dass die schon vor Heute ist die WIR ein wichtiger Bestand- Corona fehlende Wertschätzung dieser teil unserer gewerkschaftlichen Senio- Berufe – ausgedrückt in schlechter Bezah- renarbeit. Unser Dank gilt IGM, ver.di, lung und Arbeitsbedingungen und unge- GEW, NGG, Arbeit und Leben und den ehrenamtlichen sicherter Beschäftigung – im Bewusstsein Redakteur*innen. Ich wünsche der WIR weiterhin viel Erfolg. - der Menschen nicht wieder normal wird. Gerd Bohling Weder das Klatschen vom Balkon noch Wir 40 - 2020 | 9
Das Corona-Virus - oder wie ich von der„älteren Generation“ damit zurechtkommen musste Eine Glosse von Marita Froese-Sarimun In meiner ersten Glosse hatte ich Leute, ich schäme mich, doch beschrieben, wie gleich nach der dann habe ich mein Auto genom- Schulschließung mein Enkel zu men und bin neben ihm hergefah- mir kam und der festen Meinung ren und habe ihn instruiert ohne war, für ihn sind die Ferien ange- atemlos zu werden und für Gefah- brochen. Doch die Schule schickte renmomente habe ich meine ver.di per Mail an die Eltern einen Auf- Trillerpfeife eingesetzt. Er hat gabenkatalog, der es in sich hatte. Straßenregeln wie Ampelüberque- Der Enkel war höchst missmutig rungen, "rechts vor links" kapiert und desinteressiert an Schularbei- und Abstand zu Lastern bei Ein- ten. Tricks, Belohnungen und biegemanövern verinnerlicht. Und schriftliche Vereinbarungen, die er freute sich auf unsere täglichen abends lange verhandelt und ver- Ausflüge. Oma im Auto und das sprochen wurden, waren am Kind auf dem Rad! Die anderen nächsten Morgen wieder hinfällig Verkehrsteilnehmer haben schon und er verweigerte die Einhaltung. ein bisschen sonderbar auf mich Letztlich setzte ich Drohungen geschaut. Egal. meinerseits ein, keine seiner Lieb- lingsspeisen mehr zu kochen! So Wenn ich mich jetzt nach ein paar haben wir uns durchgekämpft, Wochen an diesen Ausnahmezu- doch er hatte die besseren Nerven. Anfänglich hatte ich mich noch stand erinnere, war vieles im nor- auf das Homeoffice meines Soh- malen Alltagleben mit Schlange Mathe und Geometrie sind nicht nes gefreut. Ich erwartete eine stehen verbunden. Vor dem Bä- meine Welt und werden es in die- Entlastung bei der Enkelbetreu- cker, Einkaufsmärkten, Garten- ser auch nicht mehr werden. Für ung, aber da war ich sehr auf dem oder Sperrmüllabgaben. Mit allen den Kunstunterricht mussten wir Irrweg. Zuerst arbeitete er vom möglichen und unmöglichen(!) uns mit Ikonen auseinanderset- Wohnzimmer aus, doch wir drei Desinfektionsmitteln kam ich in zen. Nach einer erschöpfenden störten uns nur gegenseitig. So Berührung, ein besonders Diskussion haben wir uns im bezog er sein Büro in der oberen ängstlicher Ladeneigner füllte ein Shintoismus gefunden und ich Etage. Nie zuvor war ich in mei- Chlorgemisch in seine Gebrauchs- durfte das Torii Tor zeichnen. Er nem Leben Hausfrau gewesen, flasche, was ging nur in diesem hat's rot angemalen. Ich weiß im jetzt war ich es und ausschließlich Kopf vor? nachherein gar nicht, wie meine mit der Versorgung, Verpflegung Zeichnung benotet wurde. von Sohn und Enkel und einer Über mehr Zeit für meine persön- Rundumhausarbeit beschäftigt. lichen Belange hätte ich mich sehr Einer meiner Vorschläge war, dass gefreut. Oft haben mich meine Kind gleich am PC arbeiten zu Nachmittags brauchte mein Enkel Aufgaben erschöpft. Wenn ich lassen. Schließlich spielt er dort sportlich aktive Beschäftigungen, beim Einkaufen Bekannte traf und gerne Spiele. Also wurden die sonst hätte er einen Stubenkoller sie mir von Langeweile erzählten Schulaufgaben auf meinem PC bekommen. Kein Spielplatz und und nicht wussten, wie sie den Tag gespeichert und hätten von ihm kein Kontakt zu anderen Kindern, herumkriegen sollten, hielt ich dort erledigt werden können. es war sehr hart für ihn. Doch der meine Klappe. Natürlich habe ich Wenn er denn gewollt hätte! Als Deich ist nah und abends der Fi- wie viele Senior*innen darüber Verhandlungs- und Druckmasse schereihafen ruhig genug, damit nachgedacht: was ist, wenn das fand er die Papierform effektiver. die kleine niedersächsische Land- Virus mich erwischt, Alter, pomeranze sich auf dem Fahrrad Grunderkrankungen, Überge- Dem Kindsvater haben wir nach an den städtischen Verkehr ge- wicht sind ja vorhanden und zwei Wochen müde, aber stolz, wöhnen konnte. Nach diesen Aus- meine Chancen sind dann nicht so einen Berg von beschriebenem flügen war ich total fertig. Vom gut, das unbeschadet zu überste- Papier zum Einscannen für die Schreien, Gestikulieren und der hen. Habe ich genug Vorsorge Schule übergeben. Das wiederum Sorge, dass der Bursche einen Un- getroffen und meine Hinterlassen- führte zu Überlastung und Stress fall baut. Die Straße zu überque- schaft geregelt? Natürlich nicht! beim Vater, weil er den ganzen ren bedeutete für ihn, sich wie ein Aber bald werde ich mich darum Abend damit beschäftigt war. Hase auf der Flucht zu verhalten. kümmern. Auch versprochen! 1 0 | Wir 40 - 2020
Das Ende eines Rüstungs- konversionsprojektes -In Zeiten von Corona werden individuel- Drei unterschiedliche Modelle (i-Serie, e- Udo Hannemann le Transportmittel immer wichtiger. Umso Serie, p-Serie) wurden für die Serienpro- unverständlicher ist, dass ein wirklich duktion ab 2003 zum Preis von 3.000 Dol- großartiges, aber leider durch Verordnun- lar (ca. 2.700 €) in Aussicht gestellt. gen und Gesetze zu teuer gemachtes Pro- dukt nun von Markt genommen wurde. Der neue Personentransporter (Segway- PT) wurde überall begeistert aufgenom- In den 70er Jahren geisterte ein Gerücht men. Aber der Verkauf lief nur schlep- über ein Projekt durch die Presse, dass pend an. Besonders in Deutschland tat dazu führen könnte alle Autos aus den In- man sich schwer. War doch erst nach nenstädten zu verbannen.Verkehrsplaner mehrjähriger Beratung klar, wie dieser und die Automobilkonzerne waren elek- Transporter eingestuft werden soll und wo trisiert. er fahren darf. Dazu kamen Probleme mit Versicherung, der Kennzeichnung und Dann kamen immer mehr Fakten an die der Fahrerlaubnis. Öffentlichkeit: „Projektname Ginger“. Dean Kamen, ein Millionär und promi- Mit der „Verordnung über die Teilnahme nenter Erfinder aus den USA mit Zugang elektronischer Mobilitätshilfen am Ver- zum Präsidenten, hatte für die US-Army kehr“ (Mobilitätshilfenverordnung ein Fortbewegungsmittel für Infanteristen -MobHV) gelang dann im Jahr 2009 der entwickelt. Damit sollten diese auch mit große Wurf (... der Automobillobby?). Der schwerem Gepäck und in schwierigem Segway wurde ähnlich einem Auto einge- Gelände, ohne Anstrengung an ihren Ein- stuft. Serienzulassung, Beleuchtung, Ver- satzort gelangen. sicherung, Fahrerlaubnis, Signalgeber, genaue Verkehrsflächenzuweisung und Dieses Transportmittel Verbote der Nutzung in Bussen oder Bah- ▶ sollte eine Person befördern, nen machten ihn (gewollt?) unattraktiv. ▶ sollte robust und in großen Stückzah- Und die Kosten stiegen auf die Höhe eines len billig herstellbar sein, Kleinwagens. Mittlerweile werden mehr ▶ sollte mit einem Akku elektrisch ange- als 5.000 € für einen einfachen Segway trieben werden, der langzeitlagerfähig fällig. ist, ▶ verfügte, weltweit erstmalig, über eine Der Segway-PT blieb somit (... wie poli- sich selbst stabilisierende Plattform, tisch gewollt?) auf wenige professionelle auf der eine Person stehen kann und in Anwender und Nutzung auf privaten Ge- der Elektronik und Akku integriert länden beschränkt. Am 15. Juli 2020 ist sind, die Produktion des Segway-PT, offiziell ▶ hat auf beiden Seiten die Möglichkeit wegen zu geringer Verkaufszahlen, einge- Taschen für Gepäck zu befestigen, stellt worden. ▶ hat zwei parallellaufende Ballon-Räder mit Radnabenmotor und einen Stab, an dem sich die fahrende Person fest- halten kann - aber nicht muss, ▶ wird nur durch Gewichtsverlagerung des Fahrers gelenkt. Und dann kam es doch anders: Die US-Army entschloss sich Soldaten zukünftig mit Hubschraubern zu trans- portieren. Damit war das Projekt ab dem Jahr 2000 für die zivile Nutzung freigege- ben. Der Projektname änderte sich von „Ginger“ in „Segway“ und eine Firma wurde gegründet. Die „US-Post“, der „Na- tionalpark-Park-Service“ und die Stadt Atlantis testeten die ersten zivilen Proto- typen bis zum Jahr 2003. Wir 40 - 2020 | 1 1
Digitale Patient*innen-Akte Marlene Henrici Das Thema der Digitalisierung wird halb ist zwingend eine dezentrale Spei- immer wichtiger. Das ist gerade jetzt in cherung vorzusehen. Die Daten müssen der Corona-Krise deutlich geworden. jeweils nach Zwecken getrennt verarbeitet Home Office, digitale Videokonferenzen werden. Es muss gewährleistet werden, und selbst der Kontakt mit Familie und dass das System stets dem neuesten tech- Freunden wurde durch digitale Medien nischen Stand entspricht. Eine Sicher- erst ermöglicht. heitslücke kann durch die Speicherung auf dem Smartphone oder Tablet entste- In der Industrie wird dieses Thema schon hen. Das heißt, dass zuerst sichergestellt lange im Zusammenhang mit der Verän- werden muss, dass aktuelle Sicherheits- derung der Arbeitswelt diskutiert. Zuneh- standards eingehalten werden, bevor das mend greift die digitale Welt auch in System eingeführt wird. unser Privatleben ein. So wird zum 1. Januar 2021 eine digitale Wichitig ist, dass Patient*innen selbst ent- Patient*innenakte eingeführt. Die not- scheiden, welche Daten dem/der behan- wendigen Daten sollen auf der Gesund- delnden Arzt/Ärztin zur Verfügung heitskarte gespeichert werden. stehen. Es ist ja die Frage, ob z.B.: der/die Zahnarzt/ärztin über alle Erkrankungen Gesundheitsleistungen sollen mit Hilfe informiert sein muss. Diese freie Ent- der Digitalisierung verbessert werden. Die scheidung ist erst in einem zweiten Schritt Daten der Patient*innen sollen allen be- geplant. Wer also zustimmt, erklärt sich handelnden Ärzt*innen zur Verfügung einverstanden, dass die Daten von allen stehen. Ab 2022 soll es möglich sein, Ärzt*innen einsehbar sind. Die Kosten Überweisungen und Rezepte auf dem von geschätzten etwa 450 Millionen Euro Smartphone oder Tablet zu speichern und sollen die Krankenkassen tragen. Dazu einzulösen. kommen noch jährliche Kosten von ca. 100.000 Euro. Es sind also noch viel Fra- Eine ganz zentrale Frage spielt aber hier gen offen. So sehr die Verbesserung im der Datenschutz. Es ist geplant, dass die Gesundheitssystem zu begrüßen ist, heißt Daten zentral gespeichert werden. Es hat es aber sich gezeigt, dass eine zentrale Speiche- rung einem möglichen Missbrauch Tür Sicherheit vor Schnelligkeit und Tor öffnet. Die Erfahrung, dass Ha- cker sich Zugang zu Datennetzen von Kli- Auch wenn die Teilnahme freiwillig ist, ist niken verschafft haben, zeigt, dass es es zu bedauern, dass die offenen Fragen große Interessen gibt, an diese Daten zu nicht vor Verabschiedung des Patient*in- gelangen. Es ist nie auszuschließen, dass nendaten-Schutz-Gsetzes geklärt wurden. Gesundheitsdaten zum Nachteil von Be- Vor diesem Hintergrund hat die Opposi- troffenen genutzt werden können. Des- tion dem Gesetz auch nicht zugestimmt. 1 2 | Wir 40 - 2020
Friedrich Engels in Bremen Vom 11. August 1838 bis Ende März 1841 lebte und wirkte Friedrich Engels in Johann-Günther der Freien Hansestadt Bremen. Hier begann seine welt-bewegende publizisti- König sche und polit-ökonomische Karriere, hier entwickelte sich der 18- bis 20-jäh- rige Kommis ungewöhnlich rasch zu einem weithin bekannten und anerkannten Publizisten. Allerdings nicht unter seinem eigenen Namen, sondern unter dem Pseudonym Friedrich Oswald (worauf er zu Lebzeiten keinen einzigen Hinweis gab). Darüber hinaus schloss er sich den Junghegelia- nern an und legte überhaupt den Grund- stein zu all dem, was ihn später zu einem weltberühmten Mann und führenden Kopf der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung machen sollte. Direkt bevor sich Friedrich Engels in Bre- men einfand, hatte er seinen als fort- schrittlichen Unternehmer gerühmten Vater nach London und Manchester be- gleitet. Nach der Rückreise erreichte er am 10. August 1838 Bremen und bezog Quar- tier beim Pastor Georg Gottfried Trevira- Der spätere Weggefährte von Karl Marx - links in einer nus und dessen Frau Mathilde im Zeichnung von G. W. Feistkorn aus dem Jahr 1840. geräumigen Pastorenhaus mit der Adresse St. Martini Kirchhof No. 2. Das Haus steht nicht mehr. Tagsüber – auch sonntags musste damals bis zur Mittagszeit gear- beitet werden – saß er schräg gegenüber wandererschiffen, in der nicht zuletzt die des Pastorenhauses in der Martinistraße Ursachen der Emigration hinterleuchtet No. 11 im Kontor seines Lehrherrn Hein- werden. Engels wurde während seiner rich Leupold, wo er rasch „Fakturabücher Lehrzeit wohl nicht zu konsularischen Tä- und Konti“ wie überhaupt alle Besonder- tigkeiten herangezogen. Allerdings ließ heiten des Großhandels beherrschen lern- der Königlich Sächsische Konsul seinen te. Das imposante Wohn- und Packhaus Zögling zweifellos an seinen Erkenntnis- des Königlich-Sächsischen Konsuls und sen zu Handels-, Wirtschafts- und Aus- Kaufmanns Heinrich Leupold wurde 1897 wanderungsthemen teilhaben. abgebrochen. Die durch die Zeiten geret- tete reizvolle Rokokofassade hält an Nr. 27 Auf seinem Lieblingsplätzchen im Pfarr- die Erinnerung an Engels‘ Tage in Bremen garten von St. Martini – mit Blick auf die wach. Weser und die Hafenanlagen an der Schlachte –, aber auch in seiner Stube, auf Um 1838 lebten in der Hansestadt rund dem Kontor und dem Packhausboden 37.000 Menschen und in der ländlichen sowie im Lesesaal der Kaufmannsgesell- Vorstadt zusätzliche 12.000. Der Handel schaft Union verschlang Engels nachgera- blühte und die rund 210 bremischen See- de demokratische Journale, diverse schiffe fuhren Ziele in aller Welt an. Zeitungen und Zeitschriften, Goethes Zudem entwickelte sich Bremen gerade Werke, Börnes Schriften etc. Insgesamt zum größten europäischen Auswanderer- setzte er sich mit Werken von knapp hafen. Prompt verfasste Engels alias Os- zweihundert Verfassern schöngeistiger, wald 1840 mit „Eine Fahrt nach philosophischer und religiöser Literatur Bremerhafen“ seine exzellente sozialkriti- auseinander und entwickelte sich dabei zu sche Reiseskizze über die Seestadt und die einem sprachgewaltigen und stilsicheren katastrophalen Verhältnisse auf den Aus- Intellektuellen. Wir 40 - 2020 | 1 3
Fassadenteile des früheren Hauses No. 11 in der Martinistraße, wo Engels seinen Arbeitsplatz hatte, erinnern noch an seine Bremer Jahre. Allerdings nicht mehr an der ursprünglichen Stelle. Warum auf dem Leupoldschen Kontor- borgen. Ein Beispiel: Als im Herbst 1840 bock versauern, wo man doch auch als in England der erste schnelle Schrauben- Kontorist literarisch reüssieren konnte? dampfer getestet wurde, erkannte Engels Als das „Bremische Conversationsblatt“ umgehend, welche verkehrstechnische am 16. September 1838 sein Gedicht „Die Revolution bevorstand und skizzierte für Beduinen“ anonym abdruckte, gab es für die – wie auch immer gebildeten – Leser Engels kein Halten mehr. Erst recht nicht, des „Morgenblatts“ die bemerkenswerte nachdem ab dem Januar 1839 in Karl Vision: Gutzkows namhaften „Telegraph für Deutschland“ seine erneut nicht nament- „Ist dann einmal der Anfang einer lich gekennzeichnete Reiseskizze „Briefe Dampfpaketfahrt zwischen Deutschland aus dem Wupperthal“ in mehreren Folgen und dem amerikanischen Kontinente ge- abgedruckt worden war. Die im Stil der macht, so wird die neue Einrichtung ohne Reisebilder gehaltene Schilderung verbin- Zweifel bald ausgebildet und von den det politische und soziale Verhältnisse mit größten Folgen für die Verbindung beider geschichtsphilosophischen Betrachtungen Länder werden. Die Zeit wird nicht lange und begründete seine Karriere als Essayist mehr auf sich warten lassen, wo man aus und Korrespondent für führende Zeitun- jedem Teile Deutschlands in vierzehn gen. Tagen New York erreichen, von dort aus in vierzehn Tagen die Sehenswürdigkeiten Friedrich Engels reifte in Bremen zu der Vereinigten Staaten beschauen und in einem bedeutenden Publizisten heran. vierzehn Tagen wieder zu Hause sein Unter dem Pseudonym Friedrich Oswald kann. Ein paar Eisenbahnen, ein paar lieferte er unermüdlich Essays und Korre- Dampfschiffe, und die Sache ist fertig …“ spondenzen für den „Telegraph“ sowie für die beiden damals einflussreichen Cotta- Neben seiner Kontorarbeit und der um- schen Zeitungen „Morgenblatt für gebil- fangreichen schriftstellerischen Produkti- dete Leser“ und „Augsburger Allgemeine on fand der Fabrikantensohn hinlänglich Zeitung“, für die auch Heinrich Heine und Zeit für das Zusammensein mit Freunden, Ludwig Börne schrieben. Wie blutjung Bekannten und Kaufleuten. Als „unläug- dieser Bremer Korrespondent eigentlich bar das beste Institut in Bremen“ bezeich- noch war, blieb den Lesern jedenfalls ver- nete er den Bremer Ratskeller, der zuvor 1 4 | Wir 40 - 2020
bereits Heinrich Heine und Wilhelm Hauff literarisch inspiriert hatte. Engels kannte sich bestens in den Buchhandlun- gen aus, besuchte Theateraufführungen und Konzerte. Zu Beginn des Jahres 1841 vermerkte er in einem Artikel über das bremische Kulturleben: „Die beste Seite Bremens ist die Musik. Es wird in wenig Städten Deutschlands so viel und so gut musiziert wie hier. Eine verhältnismäßig sehr große Anzahl von Gesangvereinen hat sich gebildet, und die häufigen Kon- zerte sind immer stark besucht.“ Er selbst wurde nach strenger Prüfung als Mitglied der 1815 gegründeten Sing-Academie aufgenommen. In den Bremer Jahren entwickelte Engels all die Fähigkeiten, die ihn bald darauf zum Mitverfasser des „Manifests der Kommunistischen Partei“ und steten An- treiber und Berater von Karl Marx werden ließen, dessen Jahrhundertwerk „Das Ka- pital“ ohne ihn nicht entstanden wäre. Die Bilanz der politischen Entwicklung von Engels‘ alias Friedrich Oswald in Bremen ist beeindruckend. Unter dem Strich steht seine Erkenntnis, dass sich die herkömm- liche Familie überlebt hat und dass Feu- dalismus, Absolutismus und Pietismus keine Daseinsberechtigung mehr haben. Als er 1844 in den von Karl Marx und Ar- nold Ruge herausgegebenen „Deutsch- Französischen Jahrbüchern“ seine „Um- risse zu Einer Kritik der Nationaloekonomie“ publizierte, stand darin seine in Bremen erstmals gestellte Schaukästen am Haus Martinistr. 27 illustrieren Engels' Bremer Jahre, Frage „nach der Berechtigung des Pri- vateigentums“ gewiss nicht zufällig im unter anderem mit einer eigenhändigen Zeichnung: „Hier zu sehen ist Vordergrund. meine Hängematte, enthaltend mich selbst, wie ich eine Zigarre rauche.’ Literatur Johann-Günther König: Friedrich En- Lars Bluma (Hg.): Friedrich Engels - gels, Bremen: Kellner-Verlag 2008. Ein Gespenst geht um in Europa, (Mit allen überlieferten Briefen, Wuppertal: Bergischer Verlag 2020 Schriften und Zeichnungen aus der (Begleitband zur Engelsausstellung). neuen MEGA.) Unser Autor Der Schriftsteller und Publizist Johann-Günther König lebt und arbeitet in Bremen. Neben zahlreichen Bremensien stehen auch wirtschaftspolitische und wirtschaftshistorische Arbeiten auf Königs umfangreicher Veröffentlichungsliste. Siehe www.johann-guenther-koenig.de Wir 40 - 2020 | 1 5
P LATT Politisch Afstand hollen un sik avers nich trüchtrecken Holger Zantopp As ik noch so’n lütten Bengel vun acht De eenzige, de mi direktemang wat över oder negen Johr weer, dor harrn af un an den Militärdeenst seggen kunn, weer Lüüd seggt, din Fründ Claas is nich goot Suldaat un Kommunist. Annars as ik harr för di. Se harrn mi wohrschaut, holl Af- he politisch argumenteert. Vunwegen stand!. Ik schall nich mit en vun de düsse Saak weer he en poor Mal achter “Smuddeligen Kinner” spelen. Ik heff mi Trallen bröcht worrn. Dat Snacken mit avers nich dorüm scheert, denn Claas min Raatgever weer avers för mi keen Na- weer en richtig goden Jung. deel. As ik min Tohoopkamen togeven harr, dor weer jümmers wedder to hören: Later harrn Lüüd wedder to mi seggt, holl Holl Afstand vun em, he is Kommunist! Afstand, dütmal weern Kommunisten To’n Sluss is min Andrag dörkamen, avers meent. Dat keem so: Mit 21 Johr bün ik eerst na een Johr harr mi de Bunnswehr teemlich laat na de Bunnswehr kamen. Ik freelaten. harr allens mitmaakt, ahn mi vörtostellen, wat de Deenst an Wapen to bedüden hett. Bliev mi vun‘t Lief! Eerst na en poor Maanden weer för mi WIR kloor, ik will dor ruut! To glieke Tiet heff ik domals avers ok markt, dat gifft gode Grünne, vun be- stimmte Saken aftostahn. To‘n Bispill vun den Vietnam-Krieg, later ok vun‘t Narüs- Als wir damals mit einigen, die sich aus ten un vun de Atoomenergie, vun Atoom- wapen. 40 dem Gewerkschaftshaus kannten, über- legten, wie wir unsere Kolleginnen und Kollegen erreichen und ermuntern könnten, Un vundaag? Konstantin Wecker hett dat am gewerkschaftlichen Leben weiter teilzu- in en vun sine Willy-Leeder (2020) op’n nehmen, kam die Idee auf: Wir schreiben Poeng bröcht: In Corona-Tiden geiht dat ihnen. Also machen wir eine Zeitung - aber üm dat Prinzip Afstand to hollen, avers anders als die offizielle Gewerkschafts- nich üm een Verlööf, vun de Grundrech- presse. Die war uns meistens ein bisschen ten wat wegtonehmen. De Gefohr is to zu trocken. Ja, dann haben wir uns im Gewerkschaftshaus groot, dat de Utnahmtostand den Weg getroffen und über die Themen, die uns am Herzen lagen, free maakt för en Diktatur. Afsparrte gesprochen ... schön, dass es die WIR immer noch gibt. Aber Wohnquarteren oder ganze Bunslänner, locker bleiben, auch bei ernsten Themen. - Hugo Köser de för en Tietlang dichtmaakt worrn sünd, weern klore Teken. Bavento harrn Lanns- 1 6 | Wir 40 - 2020
regerungen Demonstratschoonsrechten nich geven oder annere Minschen, de de afboot. Nazi-Tiet lüttsnacken doot. Wenn avers - dör Tofall oder nich - een vun de AfD vör De Afstandsregeln hebbt för mi to betü- di steiht, denn kannst Du mit Afstand den, dat ik en Reeg vun Minschen seggen düütlich seggen, wat nich blots du denkst: mutt: Bliev mi vun’t Lief! To’n Bispill De AfD is nienich en Alternative för Lüüd, de annere Minschen utnutzt. In de Düütschland. Na Terrorakschonen vun Fleeschindustrie hett de Kapitalismus all Neonazis hebbt vele Minschen de Partei dat schafft, wat för Katastrophen as Coro- vörsmeten, se weer mit ehr Polemik de na sorgt. Dat Utnutzen vun Arbeiters in egentliche Füerpüüster för de Anslääg. Wahnungen, de veel to eng sünd un ok de Butendem hebbt de Rechtsextremisten Ümgang mit Deerten sünd heel und deel jümmers wat scharp to bekritteln, wenn gräsig un hebbt sin Andeel an de Pande- dat üm Flüchtlinge un Muslime geiht. mie. Düsse Minnerheiten warrt vun Parteilüüd mit Gift un Gall un mit Haat angrepen. Dat Utnutzen vun de Arbeiterklass in an- nere Länner, dat Utplünnern vun Roh- Un se sünd gegen de Aktivistin Greta stoffen för kapitalistische Ünnernehmen, Thunberg, denn de Klimawannel is för de de global dat Seggen hebbt, dat hett mit Partei keen Problem. AfD-Afordnete Gerechtigkeit nix to doon. Dat faststellte strippelt ok de Corona-Gefohr af. Se Massenelend in de “Drütte Welt” is inkal- meent, de Bunnsregerung snackt vun en kuleert, also inrekent. Spennen to sam- Krise, de gifft dat na de Partei gor nich. meln is goot, avers to wenig. De Rassismus höört to de Substanz vun de AfD. Wat mi trurig maakt: Liddmaten vun Sik gegen Minschenfienden querstellen Gewerkschaften hebbt de AfD jümehr Stimme geven. De Rüstmafia hannelt mit Panzers, Bom- ben un Gewehren un geiht över Lieken. Afstand un Gegenwehr gaht tosamen Jeedeen Johr kummt de sonöömte Seker- heitskonferenz in München tosamen. Ok Ik bün ok gegen Lüüd, de den Klimawan- Vertreders vun de Rüstindustrie un Mili- nel nich wohrhebben wüllt, de de Fakten tärs sünd dorbi. Dat gifft ok den Vörslag, afstrippelt. De Eer warrt dör Profitgier Hotels to evakueren, wo Kriegsstrategen kaputtmaakt. Al nu tohoopkaamt. De Hotelstuven vun düsse gifft dat Minschen, de Mannslüüd schüllt denn för Geflüchtete sik wegen den Klima- freemaakt warrn. Free för Minschen, de wannel op’n Weg na vör Kanonen vun de Rüstmafia in Kriegs- en nee’e Steed maakt, lännern weglopen sünd. Gode Idee! Kon- üm dor to leven. An- stantin Wecker hett en Vörslag vun meist nere Minschen sünd desülvige Oort maakt. wegen Terror un Ge- walt op de Flucht. Rassisten, Rechtsextremisten un all Fa- Jümmers wedder schisten höört to Minschenfienden, wo kaamt Minschen bi de een veel Afstand hollen mutt. Dat gifft ok Överfahrt in’t Middel- Lüüd, de seggt, den Holocaust hett dat meer üms Leven. Butendem gifft dat wie- Afstandsregeln? derhen dusende Flüchtlinge op Eilannen in Grekenland. De Tostänn dor köönt blots as katastrophal un unminschlich be- tekent warrn. Stillswiegen vun de Euro- pääsch Union! Verraden und alleen laten. Ik holl mi an de Afstandsregeln in Coro- na-Tieden, för mi hett avers dat Woort “Afstand” ok wat anners to bedüden. Gah mi weg mit Lüüd, de bi de Infekschoons- Debatt vun en Komplott dör “düüstere Macht-Cliquen” snackt. Afstand to hollen meent nich, sik nich to Wehr to setten, meent nich, sik trüchtotrecken. Afstand un Gegenwehr gaht tosamen! Wenn een sien oder ehr egen Haltung düütlich maakt, denn mutt een jümmers mit Wed- Maskenproblem: 1889 soll sich Vincent van derpart op de anner Siet reken. Dat lohnt Gogh ein Ohr abgeschnitten haben. sik - för de Minschenrechten. Wir 40 - 2020 | 1 7
BLACK LIVES Bernd Krause MATTER Seit dem Mord an George Floyd in Min- Deutsch: Schwarze Leben zählen. neapolis am 25. Mai 2020 wird überall in der Welt gegen Rassismus und für Ge- BLM ist seit 2013 eine internationale rechtigkeit demonstriert. Gerechtigkeit Bewegung, die sich gegen Gewalt deshalb, weil für uns kaum oder nicht gegen Schwarze bzw. People of Color vorstellbar, sich in den USA Polizisten einsetzt. nicht vor Gericht (Grand Jury) verant- worten müssen. Der Ruf nach einer Justiz- und Polizeireform wird jedoch lauter. den Südstaaten der USA weit verbreitet. Trotz Corona gingen auch in vielen deut- Erst jetzt hat der Gouverneur des Staates schen Städten 200.000 Menschen auf die Mississippi das Konförderierten-Symbol Straße, zum Beispiel in Berlin waren es aus der Staatsflagge gestrichen, bisher war am 6. Juni über 15.000. Einige knieten 8 sie ein Zeichen der Unterdrückung der Minuten, solange drückte ein weißer Poli- Schwarzen in den Südstaaten. Gruppie- zist sein Knie in den Nacken. Und riefen rungen wie der Ku-Klux-Klan, Ableger die letzten Worte von George Floyd oder davon gibt es auch in Deutschland, oder hatten sie auf Plakate geschrieben: „I „White Power“ sind weit verbreitet, vom can´t breathe“ (Ich kann nicht atmen). derzeitigen Präsidenten wird dies auch nicht verurteilt, im Gegenteil, „alles eh- Gerade in Trumps USA fühlen sich Ras- renwerte Leute“. sisten wohl. Die Denke, dass weiße Men- schen mehr wert sind als Schwarze, ist in Der Rassismus wurde etabliert, um die Ausbeutung des globalen Südens, vor allem des afrikanischen Kontinents, zu le- gitimieren und das seit über 400 Jahren. Bis heute findet die Ausbeutung statt. Rassismus ist wie eine weltweite Pande- mie. Es ist ein System, um eine bestimmte Weltordnung herzustellen, in ihr wurde die Hierarchie rassifizierter Gruppen fest- geschrieben, etwa so: Weiße ganz oben, Schwarze ganz unten. Auch wir sind nicht frei von Rassismus, er ist bei uns alltäglich. Er ist schon sehr lange und heftig in unserer Geschichte, Kultur und unserer Sprache verwurzelt, er hat unsere Weltsicht geprägt, wir können gar nicht anders, es sind Gewohnheiten. Viele Ausdrücke und Dinge sind salonfä- hig geworden. So haben wir nichts mehr dagegen, wenn nicht-weiße Menschen unter Generalverdacht gestellt werden. Wenn bei Polizeikontrollen „Racial Profi- ling“ vollzogen wird, also verdachtsunab- 1 8 | Wir 40 - 2020
1932 als Ausdruck hansestädtischen Stolzes aufden Erfolg kolonialer Ausbeutung eingeweiht, ist der Elefant 1990, dem Jahr der Unabhängigkeit Namibias, zum Antikolonialdenkmal umgewidmet worden. Eingeklinkt eine von der IG-Metall-Jugend aufgestellte Gedenktafel. hängige Personenkontrollen vorgenom- Grund nicht gewährt werden, die auf der men werden. Ähnliches ist auch in der Straße das Geräusch von sich schlagartig Bahn und öffentlichen Verkehrsmitteln verriegelnden Autotüren vernehmen oft zu beobachten. Es werden immer noch müssen – immer und ausschließlich, weil Bilder propagiert, welche Eigenschaften sie als Gefahr, als Bedrohung, als mons- Schwarze haben. Drogendealer, Klein- tröse Andere wahrgenommen werden. oder Großkriminelle etc. Auch haben Joe Biden, der Präsidentschaftskandidat viele von uns die Befürchtung, Mus- für die im November diesen Jahres statt- lim*innen könnten demnächst ein Kalifat findenden US-Wahlen, sagte kürzlich auf in Deutschland errichten. Der frühere einer Veranstaltung, die USA seien ihrem US-Präsident Barack Obama hat in einer Grundsatzprinzip „alle Menschen sind Pressekonferenz im Zusammenhang mit gleich“ nie gerecht geworden. der Tötung des schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin von diesen alltäglichen Unsere Gesellschaft und Politik rücken Verletzungen berichtet. Obama sprach immer weiter nach rechts. Am deutlichs- von sich selbst und zugleich von der Er- ten wird dies mit Blick rund um Flucht fahrung aller Afroamerikaner*innen, die und Migration. So gab es in den Jahren im Supermarkt regelmäßig und grund- 2015 und 2016 ca. 1000 Anschläge auf sätzlich wie ein Dieb beobachtet werden, Unterkünfte von Geflüchteten. Im Mai denen Geschäftskredite ohne erkennbaren dieses Jahres stellte der Bundesminister Wir 40 - 2020 | 1 9
Seit 2009 ergänzt eine Bodenskulptur aus Steinen aus der Omaheke-Wüste das Antikolonialdenkmal. In dieser Wüste verdurste- ten viele Nama und Ovaherero, nachdem sie 1904 bei der Schlacht am Waterberg von den deutschen Truppen in die Flucht geschlagen wor- den waren. des Inneren, Horst Seehofer, die neusten Sie stehen nun mal für „Law and Order“. Zahlen vor. Unter anderem sagte er, „die Selbst Freunde und Kollegen von mir größte Bedrohung ist nach wie vor die Be- sehen ein Problem darin, „dass man keine drohung von rechts“. Es gebe allen Grund, Deutschen mehr auf der Straße sieht“. mit höchster Wachsamkeit vorzugehen. Er sprach von einer „langen Blutspur“ des Eine grundlegende Aufgabe von Gewerk- Rechtsextremismus. Die politisch moti- schaften sollte es sein, dies kritisch zu be- vierten Straftaten stiegen 2019 um 14 % obachten und zu diskutieren. Der DGB auf 41.000. Mehr als die Hälfte aller Fälle Bremen hat im Juni diesen Jahres eine Re- wurden der rechten Szene zugeordnet. solution verabschiedet: Demokratie Das BMI hat alle Hände voll zu tun. Auch schützen - Rassismus bekämpfen - für So- in den eigenen Reihen bei Polizei oder der lidarität, Respekt und Menschenwürde. Bundeswehr KSK (Kommando Spezial- Rassismus darf in unserer Gesellschaft kräfte, eine Eliteeinheit), sowie in einigen keinen Platz haben. In unserem Grundge- oder gar allen Fußballstadien gibt es Ras- setz steht im Artikel 1, Absatz 1: Die sismusprobleme. Leider gibt es einige Würde des Menschen ist unantastbar. Und Leute, die sich konservativ identifizieren im Artikel 3, Absatz 1: Alle Menschen und die grundsätzlich dagegen sind, die sind vor dem Gesetz gleich. Da steht Polizei oder Soldaten infrage zu stellen. nicht: die Würde des Deutschen. IMPRESSUM Die Zeitung wird gefördert durch EVG Bremen, GEW REDAKTION Bremen, IG Metall Bremen, NGG Bremen und ver.di Wolfgang Bielenberg (GEW), Gerd Bohling, Bremen. Über weitere Mitarbeiter*innen würden wir Udo Hannemann, Hugo Köser, Hermann Wilkening uns freuen. Kritik und Anregungen sind uns immer (IGM), Cornelia Förster-Bonomo, Wolfgang Schröder willkommen. (NGG), Willi Derbogen, Marita Froese-Sarimun, Marlene Henrici, Traudel Kassel, Bernd Krause, HERAUSGEBER & KONTAKT Reiner Meissner, Margot Müller, Günther Wesemann, Arbeitskreis DGB-Senior*innen Bremen Manfred Weule, Brigitte Wilkening, Holger Zantopp c/o Gerd Bohling, DGB-Haus Bremen (ver.di) Bahnhofsplatz 22–28, 281 95 Bremen E-Mail wir@aulbremen.de V.i.S.d.P. Jens Tanneberg DRUCK Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Wir machen Druck Tel. 0421 / 960 89 1 2 Frühere WIR-Ausgaben unter >>> https://www.aulbremen.de/projekt/senior-innenzeitung-wir 20 | Wir 40 - 2020
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