Wir Älteren in den Gewerkschaften in Bremen und Bremerhaven - verdi Bremen

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Wir Älteren in den Gewerkschaften in Bremen und Bremerhaven - verdi Bremen
Wir
                                                           Nr. 40 | 2020

                          Älteren in den Gewerkschaften
                          in Bremen und Bremerhaven

Hinter diesen Fenstern:   Der Kampfgegen Rassismus   Kongress der Vagabunden
Engels in Bremen > 13     bleibt aktuell > 18        und die Vorgeschichte > 24
                                                                Wir 40 - 2020 | 1
Wir Älteren in den Gewerkschaften in Bremen und Bremerhaven - verdi Bremen
Liebe Leserin, lieber Leser,
Editorial           ja, wir haben die Nasen gestrichen voll, haben längst den Eindruck, alles sei schon dreimal gesagt.
                    Und würden diesen mikroskopisch winzigen Quälgeist namens SARS-CoV-2 am liebsten per
                    Abrakadabra ein für allemal aus der Welt zaubern. Die Pandemie zerrt an den Nerven, selbst bei
                    denen, deren wirtschaftliche Sicherheit noch nicht gelitten hat.

                    Also mal abschalten? Sich schöneren Dingen zuwenden? – Fakt
                    ist: Mit fortgesetzter Dauer entwickelt die Pandemie immer
                    mehr politischen Zündstoff. Die Kräfte vom rechten Rand
                    kochen längst ihr braunes Süppchen aus den Krisenzutaten,
                    maskieren sich als Anwälte der individuellen Freiheiten,
                    kanalisieren berechtigte Unzufriedenheit aufihre Bahnen. Und
                                                                                           In Heft 39 war der „WIR“-Titel
                    natürlich besteht auch dieses Mal die Gefahr, dass die Kosten
                                                                                           im Druck verloren gegangen.
                    der Krise vorrangig denen aufgebürdet werden, die finanziell
                                                                                           Per Filzstift sorgten fleißige
                    am wenigsten gut gepolstert sind. Nicht zuletzt die
                                                                                           Hände für Abhilfe.
                    Gewerkschaften müssen hier am Ball bleiben. Im Ergebnis
                    bindet die Nr. 40 einen bunten Strauß aus Corona-Fragen und
                    anderen aktuellen Themen. Über kritische Anmerkungen freut sich die WIR mehr denn je (an
                    wir@aulbremen. de).

                    Achja, mit dieser Ausgabe nullt die WIR zum vierten Mal. Übers Heft versrteut finden sich kurze
                    Anmerkungen von Kolleg*innen, die schon bei der Nr. 1 dabei waren.

                    Die Redaktion

                        Schwerpunkt CORONA                                1 6 PLATT: Politisch Afstand hollen
Inhalt               3 Viele Fragen, wenig Gewissheiten                       un sik avers nich trüchtrecken
                       Traudel Kassel                                         Holger Zantopp

                     4 Was ist wirklich wichtig?                          1 8 Black Lives Matter
                       Traudel Kassel                                         Bernd Krause

                     5 Wer entscheidet?                                   20 Impressum
                       Traudel Kassel                                     22 Leserbrief
                     6 Krise – was bedeutet das eigentlich?               23 „Sozial schwach“???
                       Wolfgang Schröder                                     Wolfgang Bielenberg
                     8 Corona bringt es an den Tag                        24 Der Vagabunden-Kongress 2020 in
                       Traudel Kassel                                        Berlin – und seine Vorläufer
                    1 0 Glosse: Das Corona-Virus und wie ich ...             Traudel Kassel
                        Marita Froese-Sarimun                             26 Wem gehört Deutschland ?
                                                                             Wolfgang Schröder
                    1 1 Das Ende eines Rüstungskonversions-Projekts       27 Ein Blick zurück nach vorn –
                        Udo Hannemann                                        75 Jahre DGB Bremen
                    1 2 Digitale Patient*innen-Akte                          Eine Einladung zur Mitarbeit
                        Marlene Henrici                                   28 Internationaler Tag der Älteren Generation
                    1 3 Friedrich Engels in Bremen                           Am 1 . Oktober auf dem Marktplatz
                        Johann-Günther König
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N \ A
Viele Fragen,                                                                     C \O \ R \ O \

wenig Gewissheiten
Seit einem halben Jahr täglich neue Nach-    merhaven fast unberührt vom Virus, der         Traudel Kassel
richten, neue Erkenntnisse, neue Proble-     Norden überhaupt nicht stark betroffen.
me – hier und in anderen Teilen der Welt.    Aber auch Bremen hatte seine Ischgl-
Was von alledem geht uns an, was ist         Fälle, dann plötzlich waren Pflegeheime
wichtig – was nicht? Wie wird es in ein      betroffen, Kliniken, Kirchengemeinden,
paar Monaten aussehen oder in einem          eine Flüchtlingsunterkunft.
Jahr?
                                             Ist das Klinik-Personal nicht schon ohne
An viele neue Wörter haben wir uns ge-       Corona überlastet und werden die Forde-
wöhnt: Super-Spreader, Hotspot, Lock-        rungen nach besserer Bezahlung, sondern
down oder Triage – ein Wort, das jedem       auch nach mehr Personal und besseren
eiskalte Schauer über den Rücken laufen      Arbeitsbedingungen nicht seit Jahren
lässt, der die Bedeutung kennt!              immer lauter? Würden die Kliniken mit
An manche Regeln und neue Verhaltens-        vielen schweren Fällen fertig werden?
weisen haben wir uns gewöhnt, bei man-
chen Regelungen blicken wir nicht mehr                                                      Zu einer Aktion am
durch: Familie plus 1 oder 3 Menschen                                                       1. Mai aufder
auf Abstand? Trauerfeiern mit 10, 20 oder                                                   Wilhelm-Kaisen-
50 Menschen?                                                                                Brücke hatten Attac,
Kaum hatte mensch sich dran gewöhnt,                                                        die Linke, Omas
dass zu Hause bleiben am besten ist und                                                     gegen Rechts u.a.
auf der Straße höchstens zu zweit in sitt-                                                  aufgerufen.
samem Abstand und fühlte sich damit
halbwegs auf der sicheren Seite, hatte
auch genug Mehl und Klopapier und Des-
infektionszeugs im Haus, da ging das
schon wieder los mit Lockerungen: für
wen, für wen nicht? War ein Buchladen
ein gefährlicherer Ort als ein Supermarkt?
Ein Möbelhaus gefährlicher als ein Auto-
haus?
Und die Pulks meist junger Menschen, die
sich bald unbekümmert am Werdersee
oder Osterdeich tummelten? Die Tage
waren so sonnig und die Abende so lau.
In Berlin Riesenparties im Freien. Hat das
Folgen oder ist alles doch nicht so
schlimm? Was sagen die Zahlen?
Dazu macht die Gefahr einer schlimme-        Also doch lieber vorsichtig bleiben, zumal
ren „zweiten Welle“ die Runde. Vor hun-      auch die Wissenschaftler nicht einig sind
dert Jahren hat eine solche Millionen        und auch nicht sein können, weil das
Menschen hingerafft. Bilder von Kran-        Virus auch für sie immer wieder neue
kensälen mit hunderten Patienten prägen      Überraschungen und Erkenntnisse bringt.
sich tief ein, genau wie die Bilder zuerst
aus Italien oder Spanien, als die Pandemie   Wir bleiben hin- und hergerissen zwi-
Europa überrollt hatte. 1000 Tote an         schen Hoffnung auf einen glimpflichen
einem einzigen Tag … und jetzt die USA       Verlauf der Pandemie in unserer Umge-
und Lateinamerika. Die Gesundheitssys-       bung und dem Wissen, dass es viel
teme desolat. Es trifft vor allem die        schlimmer kommt, wo nicht schnell wirk-
Armen, die sich nicht schützen können.       same Maßnahmen ergriffen worden sind.
Hier in Norddeutschland schien erst alles    Wir müssen lernen damit zu leben, dass es
so anders. Zunächst wenige Fälle, Bre-       viele Fragen und wenige Antworten gibt.
                                                                                               Wir 40 - 2020 | 3
Wir Älteren in den Gewerkschaften in Bremen und Bremerhaven - verdi Bremen
Was ist
                             wirklich wichtig?
                             Waren alle die Maßnahmen nötig, die in      Landwirtschaft, Geschäfte und Märkte für
 Traudel Kassel              Deutschland zur Bewältigung der Pande-      die Versorgung der Bevölkerung – auch
                             mie getroffen wurden? Wie lange waren       sie sind unverzichtbar. Aber dient die
                             sie nötig – hat es Fehlentscheidungen ge-   landwirtschaftliche Produktion in
                             geben? Sind die zuweilen sehr unüber-       Deutschland wirklich vorrangig der Le-
                             sichtlichen Lockerungen übereilt oder zu    bensmitelversorgung hier? Nur 1% der
                             spät? Wem nützten sie, wem schadeten        Flächen dienen dem Obst- und Gemüse-
                             sie? Aufgrund welcher Interessen wurde      anbau. Export von Fleisch und Milch in
                             entschieden?                                alle Welt nimmt einen Großteil der land-
                                                                         wirtschaftlichen Produktion und der Flä-
                             Lassen sich Anforderungen des Gesund-       chen ein.
                             heitsschutzes mit Wirtschaftsinteressen
                             zusammenbringen?                            Ohne die öffentichen Ver- und Entsor-
                                                                         gungsdienste geht auch nichts. Strom,
                             Wer ist überhaupt „die Wirtschaft“? Die     Heizung, Wasser und Müllentsorgung
                             Autoindustrie mit ihrem Netz an Zuliefe-    müssen ebenso funktionieren wie Polizei
                             rern, Händlern und Werkstätten, die         und Feuerwehr oder öffentlicher Verkehr.
                             immer den Anspruch erhebt, dass ohne        Auch Soziales muss geregelt werden,
                             sie gar nichts geht? Dabei ging zu den      damit Menschen nicht mit ihren existen-
                             Zeiten des Lockdown eigentlich sehr viel    ziellen Problemen allein dastehen.
                             ohne Autos, auch ohne Kreuzfahrten und
                             mit sehr wenigen Flügen.                   Lkw-Fahrten und Waren-Zustellung jeder
                                                                        Art sind unverzichtbar, wenn Geschäfte
                            Ist Wirtschaft überhaupt nur die Industrie geschlossen sind und der Internethandel
                            – und welche? Ist die Pharmaindustrie vor regelrecht aufblüht. Aber sind alle bestell-
                            Ort wichtiger als gedacht, die Lebensmi-    ten Produkte wirklich notwendig? Müssen
                            telindustrie, was ist mit den ungezählten   Tiere quer durch Europa gefahren wer-
                            Dienstleistungen wie Gesundheitswesen, den, nur um das Fleisch ein paar Cents
                            Handel, Kultur, Tourismus, Gastronomie billiger zu machen?
                            und viele mehr?
                                                                        Neue und immer gößere Autos sind nicht
                            Es wurden Debatten geführt, was „sys-       lebensnotwendig. Sie könnten viel länger
                            temrelevant“ sei. Was heißt das eigentlich: gefahren werden als heute, z.B. bei Miet-
                            systemrelevant? Müsste es nicht heißen:     und Firmenwagen. Falls ein Auto nicht
                            unverzichtbar für das Zusammenleben         mehr zu reparieren ist, stehen reichlich
                            der Gesellschaft – oder wie manche etwas gebrauchte Autos zur Verfügung.
                            flapsig sagen: „...damit der Laden läuft“?
                                                                        Anlass zum Nachdenken, was wirklich

 WIR
                            Dass Krankenhäuser, Pflege- und Ge-         unverzichtbar ist und wo die Gesellschaft
                            sundheitseinrichtungen unverzichtbar        umsteuern muss – im Gesundheitswesen
                            sind, war schnell klar.                     weg vom ökonomischen Zwang profitabel
                                                                        zu sein. In der Industrie: welche Produkte
   Ich bin vom Anfang an beim WIR-Projekt
                                                                        werden wirklich gebraucht. Hier sind

 40
   gewesen. Die letzten Jahre habe ich
                                                                        auch die Gewerkschaften gefordert, nicht
   mich aus gesundheitlichen Gründen
                                                                        nur Arbeitsplätze zu sichern, sondern sich
   zurückgezogen. Ich verteile weiterhin
                                                                        auch für umwelt- und klimagerechte Pro-
   20 Exemplare pro Ausgabe in meiner
                                                                        duktion und damit zukunftsfähige Ar-
   Umgebung. Die Senioren, die von mir
                                                                        beitsplätze einzusetzen.
   die WIR bekommen, interessieren sich                                  Bloße Tarifpolitik reicht nicht mehr aus.
   mehr für lokale Themen, Bremen und                                    Wegducken aufgrund der Krise hilft nicht.
   Umgebung. Politische Texte besonders                                  Gesellschaftliche Fragen müssen in den
   über das Ausland interessieren sie weniger. Und die Texte             Vordergrund treten und dafür mobilisiert
   sollten seniorengerecht sein, d.h. besser kürzere Texte. -            werden: Aktionen mit Maske – aber ohne
   Inge Markowsky                                                        Maulkorb.
4 | Wir 40 - 2020
Wir Älteren in den Gewerkschaften in Bremen und Bremerhaven - verdi Bremen
O \ R \ O \ N \ A
     C\

  Die „illegal“ aufgestellte Skulptur eines unbekannten Künstlers wurde zum Symbol für
  die Verelendung armer Menschen und Obdachloser während des Lockdowns.

Wer entscheidet?
Schlimme Nachrichten über Ausbrüche in       Viele Menschen in dieser Situation sagen,
Pflegeheimen – wohlgemerkt bei Bewoh-        sie fürchten eigentlich nicht den Tod, der   Traudel Kassel
ner*innen und Pfleger*innen kursierten –     unausweichlich auf sie zukommt. Was sie
im April. Kein Besuch mehr. Muttertag        fürchten, ist großes Leiden im Sterbepro-
wurde im Pflegeheim gefeiert – mit Blu-      zess. Noch schlimmer, wenn sie dabei
men in der Kaffeerunde – ermöglicht          ohne die Nähe lieber Menschen bleiben.
durch das Personal, das selbst wenig ge-     Inzwischen werden Besuchsregeln gelo-
schützt und immer schon überlastet war.      ckert, immer in Abwägung: Was muss
Eine schöne Geste.                           möglich sein, ohne Bewohner*innen und
                                             Pflegekräfte zu gefährden?
Anders die Situation in Pflegeheimen, in
denen das Virus grassierte und Bewoh-        Aber es gibt Menschen, die sich heraus-
ner*innen über Wochen nicht aus ihren        nehmen über das Recht dieser Menschen
Zimmern durften. Für Kranke und be-          auf Leben zu entscheiden. Wolfgang
sonders für Menschen mit Demenz eine         Schäuble und Tübingens OB Boris Palmer
unerträgliche Situation.                     fragten, was wichtiger sei: das Recht auf
                                             Leben oder das Recht auf ungehinderte
Wer entscheidet über Rechte und Bedürf-      Entfaltung weniger betroffener Bevölke-
nisse schwer kranker oder sehr alter Men-    rungsteile und der Interessen der Wirt-
schen, die sich dem Tod nahe fühlen?         schaft. Da maßen sich politische
Dürfen sie selbst bestimmen, was ihnen       Persönlichkeiten an, über „lebenswertes
am wichtigsten ist – liebevolle Zuwen-       und lebensunwertes“ Leben zu entschei-
dung oder „geschützt sein“ und einsam?       den. Solchen Politikern (einer davon
                                                                                            Wir 40 - 2020 | 5
Wir Älteren in den Gewerkschaften in Bremen und Bremerhaven - verdi Bremen
O \ R \ O \ N \ A
                                      C\

   Protest- und Solidaritäts-
 Aktion der Partei Die Linke
    (Kreisverband Links der
    Weser) am 1. Mai vorm
  Rotes-Kreuz Krankenhaus
             in der Neustadt.
                                sogar christlich orientiert!) darf die Ent-   Eltern werden krank. Unterstützung
                                scheidung über Menschenleben nicht            durch Großeltern ist unverzichtbar. Kon-
                                überlassen werden.                            flikte zwischen den Generationen anzu-
                                                                              stacheln statt den Zusammenhalt in der
                                Wer maßt sich an zu fordern, „Risiko-         Gesellschaft zu fördern ist unverantwort-
                                gruppen“ sollten halt zurückstecken, um       lich.
                                der „Normal“bevölkerung bei der Aus-
                                übung ihres Lebens nicht im Weg zu ste-       Es gilt, die Einschränkungen in ihrer zeit-
                                hen? Einfach mal allein zu Hause bleiben      lichen Dimension und Verhältnismäßig-
                                – ohne leibhaftige Kontakte zur Familie       keit überzeugend deutlich zu machen.
                                oder anderen wichtigen Menschen – über        Und es muss Gerechtigkeit herrschen bei
                                Monate, ein Jahr – oder noch länger?          der Verteilung der unvermeidlichen Be-
                                                                              lastungen.
                                Wie sieht das Leben der „normalen“ Be-
                                völkerung oft aus? (Sind gefährdete Men-
                                schen nicht normal?) Erwerbstätige Eltern
                                rackern sich ab, um ihren Alltag zu meis-
                                tern. Kita-Betreuung und Schule sind un-
                                glaublich wichtig für die Entwicklung der
                                Kinder, können aber längst nicht die
                                ganze Betreuung abdecken. Kinder oder

                                Krise?
                                Was bedeutet das eigentlich?
 Wolfgang                       Das Jahr 2020 wird im Rückblick sicher-    Wenn man diese Frage richtig beantwor-
                                lich als Zeitraum der weltweiten „Corona-  ten will, dann sollte man zuerst einmal ins
 Schröder                       Krise“ in die Geschichte eingehen, der     Lexikon oder in die Internet-Suchmaschi-
                                Virus-Pandemie, die sehr wahrscheinlich    nen schauen. Da steht, dass es vom grie-
                                in Südchina ihren Anfang nahm und sich     chischen Wort „krisis“ kommt (lat.
                                mit fatalen Folgen in unserem ‚globalen    „crisis“), was als „scheiden, trennen“ defi-
                                Dorf‘ ausbreitete.                         niert wird. Jedoch schon seit dem 16.
                                                                           Jahrhundert bezeugt das Wort, zunächst
                                Wenn man sich die bis zum heutigen Tage in der medizinischen Fachsprache, eine
                                aufgelaufenen Todeszahlen in der Welt      „entscheidende Wendung im Verlauf von
                                ansieht, könnte man leider auch mit voller fieberhaften Erkrankungen“.
                                Berechtigung vom „Corona-Massenster-
                                ben“ sprechen! Aber was bedeutet denn      Die Bedeutung fiel aber, ab dem 18. Jahr-
                                nun das oben genannte Wort „Krise“         hundert, der Verallgemeinerung anheim.
                                überhaupt?                                 Nun sprach man öfter bei einer schwieri-
6 | Wir 40 - 2020
Wir Älteren in den Gewerkschaften in Bremen und Bremerhaven - verdi Bremen
gen Lage, Situation oder Zeit, die den                                                    Klatschen macht nicht satt.
Höhe- und Wendepunkt einer gefährli-                                                      Beschäftige im Klinikum
chen Entwicklung darstellte, von einer                                                    Bremen-Mitte hängten eine
„Krise“. Jeder Mensch hat bestimmt schon
einmal Zeiten mit bedeutsamen Schwie-                                                     klare Botschaft aus dem
rigkeiten, mit temporären, kritischen Si-                                                 Fenster.
tuationen oder mit einer problematischen
Gefährdung in seinem Leben durchge-
macht, nicht nur im seelischen bzw. allge-
mein-medizinischen Sinne.
Viele Gewerkschafts-Kolleginnen und
-Kollegen etwas älteren Semesters werden
sich nun gewiss auch – was zum Beispiel
die Gebiete ‚Politik‘ und ‚Weltgeschichte‘
angeht – an so einige Krisen erinnern, die
sie mittlerweile schon miterlebt haben.
Ich denke da zum Beispiel zunächst an die
„Suez-Krise“ und die Krise namens „Un-
garn-Aufstand“, die ja fast zeitgleich im
Oktober 1956 stattfanden und die beinahe
zu einer Weltkrise geführt hätten.
Das war das erste Mal, dass ich als Kind
das Wort „Krise“ aus unserem Radioemp-
fänger vernahm, jedenfalls habe ich das
noch in Erinnerung als eine sehr bedroh-
liche Zeit.
Vorher gab‘s ja schon die „Kohlen-Krise“,
den Versorgungsengpass beim Brennstoff
nach dem Zweiten Weltkrieg und den
daraus resultierenden, lebensnotwendigen
„Kohlen-Klau“. Dann natürlich noch die
„Berlin-Krise“ von 1948/49 mit der Blo-
ckade West-Berlins durch die Sowjets, die
mittels Luftbrücke der Westmächte er-
folgreich überwunden wurde.
Ganz besonders in Erinnerung geblieben
ist mir aber die „Kuba-Krise“ vom Okto-
ber 1962, bei der die Welt bekanntlich
ganz unmittelbar vor einem globalen
Atomkrieg stand und in den radioaktiven
Abgrund blickte. Es kam dabei letztend-
lich – Gott sei Dank! – nur ein einziger
Mensch ums Leben: Der Pilot eines ame-
rikanischen Aufklärungsflugzeuges wurde
über Kuba abgeschossen. Auch die soge-
nannte „Öl-Krise“ von 1973 ist unvergess-
lich. Damals gab es ja vier autofreie
Sonntage im Herbst, so dass man in Bre-
men zum Beispiel mitten auf der
Schwachhauser Heerstraße spazieren
gehen konnte.
In der jüngeren Vergangenheit war es eine
Finanzkrise, die mit dem Zusammen-           die „Flüchtlings-Krise“ von 2015, die un-
bruch der US-Bank „Lehman Brothers“          sere Bundeskanzlerin in eine arge Notlage
im Herbst 2008 begann und bei der            brachte.
schließlich diverse Geldinstitute von
Staats wegen gerettet werden mussten.        Und so manches Mal steht auch der ein-
                                             zelne, geistig tätige und schöpferische
Später folgten noch die „Griechenland-       Mensch vor einem großen Dilemma, einer
Krise“ bzw. die „Euro-/Finanz-Krise“, die    geradezu existentiellen Krise. Diese Kala-
„Ukraine-Krise“, die „Diesel-Krise“ und      mität nennt sich „Schreibblockade“!
                                                                                                     Wir 40 - 2020 | 7
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Corona bringt
                                es an den Tag
 Traudel Kassel                 Eigentlich wissen es alle, zumindest die      beit, in der häuslichen Pflege oder ande-
                                Menschen, denen es nicht gleichgültig ist:    ren Dienstleistungen.
                                In vielen Branchen der Wirtschaft gibt es
                                Arbeitsverhältnisse, die es so in einer de-   Nur selten Licht ins Dunkel ...
                                mokratischen Wohlstandsgesellschaft gar
                                nicht geben dürfte. Betriebe ohne Tarif-      Wie viele Millionen Menschen es sind, die
                                bindung gibt es ohnehin immer mehr,           aus Gründen des Elends in ihren Her-
                                hier geht es aber um Menschen, die sozu-      kunftsländern solche (miesen) Bedingun-
                                sagen mitten unter uns unter fragwürdi-       gen und die zeitweise Trennung von
                                gen Bedingungen leben und arbeiten.           Freunden und Familie auf sich nehmen,
                                                                              um sozusagen fast unsichtbar im reichen
                                Schwerpunktmäßig finden sich solche           Deutschland Geld zu verdienen, damit es
                                Fälle bei Werkverträgen auf dem Bau, in       ihnen und der Familie besser gehen soll,
                                der Fleischwirtschaft und im Reinigungs-      weiß niemand genau. Allein in Privat-
                                gewerbe, bei der Leiharbeit in vielen         haushalten für Haushalts- und Pflegetä-
                                Branchen, im Hotel- und Gastronomiege-        tigkeiten rund um die Uhr sollen es
                                werbe, der landwirtschaftlichen Saisonar-     Hunderttausende sein, ebenso in der Sai-
                                                                              sonarbeit und in Werkvertragsverhältnis-
     Ob durch den Corona-                                                     sen. Deren Ausbeutung gelingt vor allem,
     Schleier oder nicht: Die                                                 weil sie kaum Deutsch sprechen und völ-
          Ausbeutung in der                                                   lig von ihren Subunternehmern abhängig
   Fleischindustrie wird im                                                   sind. Es gibt ein Dunkelfeld in unserer
                                                                              Gesellschaft, in das Politik und die großen
   Supermarkt allenfalls an                                                   Medien nur selten hineinleuchten.
 den Preisschildern sichtbar.
                                                                              Corona zerrt diese Verhältnisse nun ins
                                                                              Licht der breiten Öffentlichkeit, so dass
                                                                              sich auch die Politik damit befassen muss.
                                                                              Scheinheilig reagieren Politiker*innen
                                                                              aber, wenn sie vorgeben, vom Ausmaß der
                                                                              Ausbeutung in diesen Bereichen über-
                                                                              rascht zu sein. Das Werksvertrags-Unwe-
                                                                              sen ist ja erst durch politische
                                                                              Entscheidungen möglich geworden. Und
                                                                              schließlich kämpfen Gewerkschaften, un-
                                                                              terstützende Initiativen und Enthüllungs-
                                                                              journalisten seit vielen Jahren gegen diese

 WIR
                                                                              Geschäftsmodelle z.B. in der Fleischin-
                                                                              dustrie, aber auch in der Bauwirtschaft
                                                                              oder im Reinigungsgewerbe. Öffentliche
                                                                              Aufmerksamkeit für die Anliegen der pre-
 Die Entscheidung darüber, dass wir                                           kär Beschäftigten konnten sie aber nur
                                                                              selten erreichen.

 40
 eine Zeitung machen, wurde aufeinem
 Seminar nach langen Diskussionen
 getroffen. Eine Zeitung von uns für alle                                     Die WIR hat z.B. 2016/2017 über die Ar-
 Leute, nicht nur für Senior*innen. Sie                                       beitsverhältnisse im Bremer Schlachthof
 sollte unsere Sicht der Dinge den                                            und das Werkvertragsunwesen berichtet.
 Menschen vermitteln. Wir sind alle                                           2018 sprach die WIR mit Beraterinnen
 politisch und gewerkschaftlich engagierte                                    der MOBA, die sich der Probleme der
 Leute. Es gab eine längere Diskussion                                        sprachunkundigen Mobilen Beschäftigten
 über den Namen der neuen Zeitung. Ich (Hermann) habe dann                    aus dem europäischen Ausland annimmt.
 gesagt, dass wir die Zeitung machen und deshalb soll sie auch
 WIR heißen. Der Vorschlag wurde von den anderen Kolleg*innen                 Zwar hat es in NRW in der Fleischindus-
 angenommen. - Brigitte und Hermann Wilkening                                 trie nach Interventionen der Politik in den
                                                                              vergangenen Jahren Selbstverpflichtungs-
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            C

                                                                                                Die Pandemie hat dem
erklärungen der Unternehmen zur                  der einmalige Bonus für Altenpfle-                    Kampffür mehr
Verbesserung der Lage der Werkvertrags-          ger*innen (für Krankenpflegekräfte gab es
arbeiter*innen gegeben, die aber im Sande        nicht einmal den!) reichen aus. Es braucht      Personal in der Pflege
verliefen. Freiwilligkeit hilft offensichtlich   dauerhafte Besserstellung all der Beschäf-         zusätzlichen Schub
nicht, wenn hohe Gewinne auf dem Spiel           tigten, die „den Laden am Laufen halten“,           gegeben - wie hier
stehen.                                          nicht nur in der Corona-Krise.                 bei einer ver.di-Aktion
Wieder neue Schlupflöcher?                       Wenn Corona untragbare Verhältnisse ins                 am 15.7. vorm
                                                 Scheinwerferlicht gezogen hat, ist es an                 Krankenhaus
Jetzt hat die Bundesregierung aufgrund           uns allen, dass sie dort bleiben, bis die               Bremen-Mitte.
der Massenausbrüche in verschiedenen             Missstände abgestellt sind: Werkverträge
Schlachtbetrieben Ende Mai ein Verbot            in der Fleischindustrie und anderswo, un-
von Werkverträgen mit Subunternehmen             gesicherte Beschäftigung im Einzelhandel
beschlossen, so dass die Arbeitskräfte ab        und in der Gastronomie, Personalnot-
2021 direkt vom Betrieb beschäftigt wer-         stand und Bezahlung in Gesundheits- und
den müssen. Es gilt aber zu verhindern,          Pflegeberufen. Im breit angelegten Kon-
dass wieder Schlupflöcher genutzt wer-           junkturprogramm der Bundesregierung

                                                  WIR
den, wenn die öffentliche Aufmerksam-            vom Juni kommt die Pflege beispielsweise
keit nachlässt. Auch müssen solche               gar nicht vor.
Initiativen auch für Saisonarbeit und an-
dere Bereiche ergriffen werden.
                                                  Als die Idee für eine Zeitung für
Auch in der Pflege oder im Einzelhandel,

                                                  40
                                                  Gewerkschaftssenior*innen im Jahr
wo während der heißen Phase der Pande-            2002 aufeinem Seminar in Wremen
mie die Beschäftigten im Rampenlicht              von IGM und Ver.di Senioren entstand,
standen und ihr Einsatz plötzlich als le-         konnten wir nicht ahnen, dass im Jahre
benswichtig gewürdigt wurde, wird es              2020 die 40. Ausgabe entstehen wird.
darauf ankommen, dass die schon vor               Heute ist die WIR ein wichtiger Bestand-
Corona fehlende Wertschätzung dieser              teil unserer gewerkschaftlichen Senio-
Berufe – ausgedrückt in schlechter Bezah-         renarbeit. Unser Dank gilt IGM, ver.di,
lung und Arbeitsbedingungen und unge-             GEW, NGG, Arbeit und Leben und den ehrenamtlichen
sicherter Beschäftigung – im Bewusstsein          Redakteur*innen. Ich wünsche der WIR weiterhin viel Erfolg. -
der Menschen nicht wieder normal wird.            Gerd Bohling
Weder das Klatschen vom Balkon noch
                                                                                                     Wir 40 - 2020 | 9
Wir Älteren in den Gewerkschaften in Bremen und Bremerhaven - verdi Bremen
Das Corona-Virus - oder wie ich von der„älteren Generation“
                       damit zurechtkommen musste
                                         Eine Glosse von Marita Froese-Sarimun

   In meiner ersten Glosse hatte ich                                             Leute, ich schäme mich, doch
   beschrieben, wie gleich nach der                                              dann habe ich mein Auto genom-
   Schulschließung mein Enkel zu                                                 men und bin neben ihm hergefah-
   mir kam und der festen Meinung                                                ren und habe ihn instruiert ohne
   war, für ihn sind die Ferien ange-                                            atemlos zu werden und für Gefah-
   brochen. Doch die Schule schickte                                             renmomente habe ich meine ver.di
   per Mail an die Eltern einen Auf-                                             Trillerpfeife eingesetzt. Er hat
   gabenkatalog, der es in sich hatte.                                           Straßenregeln wie Ampelüberque-
   Der Enkel war höchst missmutig                                                rungen, "rechts vor links" kapiert
   und desinteressiert an Schularbei-                                            und Abstand zu Lastern bei Ein-
   ten. Tricks, Belohnungen und                                                  biegemanövern verinnerlicht. Und
   schriftliche Vereinbarungen, die                                              er freute sich auf unsere täglichen
   abends lange verhandelt und ver-                                              Ausflüge. Oma im Auto und das
   sprochen wurden, waren am                                                     Kind auf dem Rad! Die anderen
   nächsten Morgen wieder hinfällig                                              Verkehrsteilnehmer haben schon
   und er verweigerte die Einhaltung.                                            ein bisschen sonderbar auf mich
   Letztlich setzte ich Drohungen                                                geschaut. Egal.
   meinerseits ein, keine seiner Lieb-
   lingsspeisen mehr zu kochen! So                                               Wenn ich mich jetzt nach ein paar
   haben wir uns durchgekämpft,                                                  Wochen an diesen Ausnahmezu-
   doch er hatte die besseren Nerven.    Anfänglich hatte ich mich noch          stand erinnere, war vieles im nor-
                                         auf das Homeoffice meines Soh-          malen Alltagleben mit Schlange
   Mathe und Geometrie sind nicht        nes gefreut. Ich erwartete eine         stehen verbunden. Vor dem Bä-
   meine Welt und werden es in die-      Entlastung bei der Enkelbetreu-         cker, Einkaufsmärkten, Garten-
   ser auch nicht mehr werden. Für       ung, aber da war ich sehr auf dem       oder Sperrmüllabgaben. Mit allen
   den Kunstunterricht mussten wir       Irrweg. Zuerst arbeitete er vom         möglichen und unmöglichen(!)
   uns mit Ikonen auseinanderset-        Wohnzimmer aus, doch wir drei           Desinfektionsmitteln kam ich in
   zen. Nach einer erschöpfenden         störten uns nur gegenseitig. So         Berührung, ein besonders
   Diskussion haben wir uns im           bezog er sein Büro in der oberen        ängstlicher Ladeneigner füllte ein
   Shintoismus gefunden und ich          Etage. Nie zuvor war ich in mei-        Chlorgemisch in seine Gebrauchs-
   durfte das Torii Tor zeichnen. Er     nem Leben Hausfrau gewesen,             flasche, was ging nur in diesem
   hat's rot angemalen. Ich weiß im      jetzt war ich es und ausschließlich     Kopf vor?
   nachherein gar nicht, wie meine       mit der Versorgung, Verpflegung
   Zeichnung benotet wurde.              von Sohn und Enkel und einer            Über mehr Zeit für meine persön-
                                         Rundumhausarbeit beschäftigt.           lichen Belange hätte ich mich sehr
   Einer meiner Vorschläge war, dass                                             gefreut. Oft haben mich meine
   Kind gleich am PC arbeiten zu         Nachmittags brauchte mein Enkel         Aufgaben erschöpft. Wenn ich
   lassen. Schließlich spielt er dort    sportlich aktive Beschäftigungen,       beim Einkaufen Bekannte traf und
   gerne Spiele. Also wurden die         sonst hätte er einen Stubenkoller       sie mir von Langeweile erzählten
   Schulaufgaben auf meinem PC           bekommen. Kein Spielplatz und           und nicht wussten, wie sie den Tag
   gespeichert und hätten von ihm        kein Kontakt zu anderen Kindern,        herumkriegen sollten, hielt ich
   dort erledigt werden können.          es war sehr hart für ihn. Doch der      meine Klappe. Natürlich habe ich
   Wenn er denn gewollt hätte! Als       Deich ist nah und abends der Fi-        wie viele Senior*innen darüber
   Verhandlungs- und Druckmasse          schereihafen ruhig genug, damit         nachgedacht: was ist, wenn das
   fand er die Papierform effektiver.    die kleine niedersächsische Land-       Virus mich erwischt, Alter,
                                         pomeranze sich auf dem Fahrrad          Grunderkrankungen, Überge-
   Dem Kindsvater haben wir nach         an den städtischen Verkehr ge-          wicht sind ja vorhanden und
   zwei Wochen müde, aber stolz,         wöhnen konnte. Nach diesen Aus-         meine Chancen sind dann nicht so
   einen Berg von beschriebenem          flügen war ich total fertig. Vom        gut, das unbeschadet zu überste-
   Papier zum Einscannen für die         Schreien, Gestikulieren und der         hen. Habe ich genug Vorsorge
   Schule übergeben. Das wiederum        Sorge, dass der Bursche einen Un-       getroffen und meine Hinterlassen-
   führte zu Überlastung und Stress      fall baut. Die Straße zu überque-       schaft geregelt? Natürlich nicht!
   beim Vater, weil er den ganzen        ren bedeutete für ihn, sich wie ein     Aber bald werde ich mich darum
   Abend damit beschäftigt war.          Hase auf der Flucht zu verhalten.       kümmern. Auch versprochen!
1 0 | Wir 40 - 2020
Das Ende eines Rüstungs-
konversionsprojektes
-In Zeiten von Corona werden individuel-      Drei unterschiedliche Modelle (i-Serie, e-   Udo Hannemann
le Transportmittel immer wichtiger. Umso      Serie, p-Serie) wurden für die Serienpro-
unverständlicher ist, dass ein wirklich       duktion ab 2003 zum Preis von 3.000 Dol-
großartiges, aber leider durch Verordnun-     lar (ca. 2.700 €) in Aussicht gestellt.
gen und Gesetze zu teuer gemachtes Pro-
dukt nun von Markt genommen wurde.            Der neue Personentransporter (Segway-
                                              PT) wurde überall begeistert aufgenom-
In den 70er Jahren geisterte ein Gerücht      men. Aber der Verkauf lief nur schlep-
über ein Projekt durch die Presse, dass       pend an. Besonders in Deutschland tat
dazu führen könnte alle Autos aus den In-     man sich schwer. War doch erst nach
nenstädten zu verbannen.Verkehrsplaner        mehrjähriger Beratung klar, wie dieser
und die Automobilkonzerne waren elek-         Transporter eingestuft werden soll und wo
trisiert.                                     er fahren darf. Dazu kamen Probleme mit
                                              Versicherung, der Kennzeichnung und
Dann kamen immer mehr Fakten an die           der Fahrerlaubnis.
Öffentlichkeit: „Projektname Ginger“.
Dean Kamen, ein Millionär und promi-          Mit der „Verordnung über die Teilnahme
nenter Erfinder aus den USA mit Zugang        elektronischer Mobilitätshilfen am Ver-
zum Präsidenten, hatte für die US-Army        kehr“ (Mobilitätshilfenverordnung
ein Fortbewegungsmittel für Infanteristen     -MobHV) gelang dann im Jahr 2009 der
entwickelt. Damit sollten diese auch mit      große Wurf (... der Automobillobby?). Der
schwerem Gepäck und in schwierigem            Segway wurde ähnlich einem Auto einge-
Gelände, ohne Anstrengung an ihren Ein-       stuft. Serienzulassung, Beleuchtung, Ver-
satzort gelangen.                             sicherung, Fahrerlaubnis, Signalgeber,
                                              genaue Verkehrsflächenzuweisung und
Dieses Transportmittel                        Verbote der Nutzung in Bussen oder Bah-
▶ sollte eine Person befördern,               nen machten ihn (gewollt?) unattraktiv.
▶ sollte robust und in großen Stückzah-       Und die Kosten stiegen auf die Höhe eines
   len billig herstellbar sein,               Kleinwagens. Mittlerweile werden mehr
▶ sollte mit einem Akku elektrisch ange-      als 5.000 € für einen einfachen Segway
   trieben werden, der langzeitlagerfähig     fällig.
   ist,
▶ verfügte, weltweit erstmalig, über eine     Der Segway-PT blieb somit (... wie poli-
   sich selbst stabilisierende Plattform,     tisch gewollt?) auf wenige professionelle
   auf der eine Person stehen kann und in     Anwender und Nutzung auf privaten Ge-
   der Elektronik und Akku integriert         länden beschränkt. Am 15. Juli 2020 ist
   sind,                                      die Produktion des Segway-PT, offiziell
▶ hat auf beiden Seiten die Möglichkeit       wegen zu geringer Verkaufszahlen, einge-
   Taschen für Gepäck zu befestigen,          stellt worden.
▶ hat zwei parallellaufende Ballon-Räder
   mit Radnabenmotor und einen Stab,
   an dem sich die fahrende Person fest-
   halten kann - aber nicht muss,
▶ wird nur durch Gewichtsverlagerung
   des Fahrers gelenkt.
Und dann kam es doch anders:
Die US-Army entschloss sich Soldaten
zukünftig mit Hubschraubern zu trans-
portieren. Damit war das Projekt ab dem
Jahr 2000 für die zivile Nutzung freigege-
ben. Der Projektname änderte sich von
„Ginger“ in „Segway“ und eine Firma
wurde gegründet. Die „US-Post“, der „Na-
tionalpark-Park-Service“ und die Stadt
Atlantis testeten die ersten zivilen Proto-
typen bis zum Jahr 2003.
                                                                                              Wir 40 - 2020 | 1 1
Digitale Patient*innen-Akte
 Marlene Henrici      Das Thema der Digitalisierung wird           halb ist zwingend eine dezentrale Spei-
                      immer wichtiger. Das ist gerade jetzt in     cherung vorzusehen. Die Daten müssen
                      der Corona-Krise deutlich geworden.          jeweils nach Zwecken getrennt verarbeitet
                      Home Office, digitale Videokonferenzen       werden. Es muss gewährleistet werden,
                      und selbst der Kontakt mit Familie und       dass das System stets dem neuesten tech-
                      Freunden wurde durch digitale Medien         nischen Stand entspricht. Eine Sicher-
                      erst ermöglicht.                             heitslücke kann durch die Speicherung
                                                                   auf dem Smartphone oder Tablet entste-
                      In der Industrie wird dieses Thema schon     hen. Das heißt, dass zuerst sichergestellt
                      lange im Zusammenhang mit der Verän-         werden muss, dass aktuelle Sicherheits-
                      derung der Arbeitswelt diskutiert. Zuneh-    standards eingehalten werden, bevor das
                      mend greift die digitale Welt auch in        System eingeführt wird.
                      unser Privatleben ein.
                      So wird zum 1. Januar 2021 eine digitale   Wichitig ist, dass Patient*innen selbst ent-
                      Patient*innenakte eingeführt. Die not-     scheiden, welche Daten dem/der behan-
                      wendigen Daten sollen auf der Gesund-      delnden Arzt/Ärztin zur Verfügung
                      heitskarte gespeichert werden.             stehen. Es ist ja die Frage, ob z.B.: der/die
                                                                 Zahnarzt/ärztin über alle Erkrankungen
                      Gesundheitsleistungen sollen mit Hilfe     informiert sein muss. Diese freie Ent-
                      der Digitalisierung verbessert werden. Die scheidung ist erst in einem zweiten Schritt
                      Daten der Patient*innen sollen allen be-   geplant. Wer also zustimmt, erklärt sich
                      handelnden Ärzt*innen zur Verfügung        einverstanden, dass die Daten von allen
                      stehen. Ab 2022 soll es möglich sein,      Ärzt*innen einsehbar sind. Die Kosten
                      Überweisungen und Rezepte auf dem          von geschätzten etwa 450 Millionen Euro
                      Smartphone oder Tablet zu speichern und sollen die Krankenkassen tragen. Dazu
                      einzulösen.                                kommen noch jährliche Kosten von ca.
                                                                 100.000 Euro. Es sind also noch viel Fra-
                      Eine ganz zentrale Frage spielt aber hier  gen offen. So sehr die Verbesserung im
                      der Datenschutz. Es ist geplant, dass die  Gesundheitssystem zu begrüßen ist, heißt
                      Daten zentral gespeichert werden. Es hat es aber
                      sich gezeigt, dass eine zentrale Speiche-
                      rung einem möglichen Missbrauch Tür        Sicherheit vor Schnelligkeit
                      und Tor öffnet. Die Erfahrung, dass Ha-
                      cker sich Zugang zu Datennetzen von Kli- Auch wenn die Teilnahme freiwillig ist, ist
                      niken verschafft haben, zeigt, dass es     es zu bedauern, dass die offenen Fragen
                      große Interessen gibt, an diese Daten zu   nicht vor Verabschiedung des Patient*in-
                      gelangen. Es ist nie auszuschließen, dass  nendaten-Schutz-Gsetzes geklärt wurden.
                      Gesundheitsdaten zum Nachteil von Be-      Vor diesem Hintergrund hat die Opposi-
                      troffenen genutzt werden können. Des-      tion dem Gesetz auch nicht zugestimmt.
1 2 | Wir 40 - 2020
Friedrich Engels
in Bremen
Vom 11. August 1838 bis Ende März 1841 lebte und wirkte Friedrich Engels in                     Johann-Günther
der Freien Hansestadt Bremen. Hier begann seine welt-bewegende publizisti-                               König
sche und polit-ökonomische Karriere, hier entwickelte sich der 18- bis 20-jäh-
rige Kommis ungewöhnlich rasch zu einem weithin bekannten und
anerkannten Publizisten.
Allerdings nicht unter seinem eigenen
Namen, sondern unter dem Pseudonym
Friedrich Oswald (worauf er zu Lebzeiten
keinen einzigen Hinweis gab). Darüber
hinaus schloss er sich den Junghegelia-
nern an und legte überhaupt den Grund-
stein zu all dem, was ihn später zu einem
weltberühmten Mann und führenden
Kopf der deutschen und internationalen
Arbeiterbewegung machen sollte.
Direkt bevor sich Friedrich Engels in Bre-
men einfand, hatte er seinen als fort-
schrittlichen Unternehmer gerühmten
Vater nach London und Manchester be-
gleitet. Nach der Rückreise erreichte er am
10. August 1838 Bremen und bezog Quar-
tier beim Pastor Georg Gottfried Trevira-          Der spätere Weggefährte von Karl Marx - links in einer
nus und dessen Frau Mathilde im                    Zeichnung von G. W. Feistkorn aus dem Jahr 1840.
geräumigen Pastorenhaus mit der Adresse
St. Martini Kirchhof No. 2. Das Haus steht
nicht mehr. Tagsüber – auch sonntags
musste damals bis zur Mittagszeit gear-
beitet werden – saß er schräg gegenüber       wandererschiffen, in der nicht zuletzt die
des Pastorenhauses in der Martinistraße       Ursachen der Emigration hinterleuchtet
No. 11 im Kontor seines Lehrherrn Hein-       werden. Engels wurde während seiner
rich Leupold, wo er rasch „Fakturabücher      Lehrzeit wohl nicht zu konsularischen Tä-
und Konti“ wie überhaupt alle Besonder-       tigkeiten herangezogen. Allerdings ließ
heiten des Großhandels beherrschen lern-      der Königlich Sächsische Konsul seinen
te. Das imposante Wohn- und Packhaus          Zögling zweifellos an seinen Erkenntnis-
des Königlich-Sächsischen Konsuls und         sen zu Handels-, Wirtschafts- und Aus-
Kaufmanns Heinrich Leupold wurde 1897         wanderungsthemen teilhaben.
abgebrochen. Die durch die Zeiten geret-
tete reizvolle Rokokofassade hält an Nr. 27   Auf seinem Lieblingsplätzchen im Pfarr-
die Erinnerung an Engels‘ Tage in Bremen      garten von St. Martini – mit Blick auf die
wach.                                         Weser und die Hafenanlagen an der
                                              Schlachte –, aber auch in seiner Stube, auf
Um 1838 lebten in der Hansestadt rund         dem Kontor und dem Packhausboden
37.000 Menschen und in der ländlichen         sowie im Lesesaal der Kaufmannsgesell-
Vorstadt zusätzliche 12.000. Der Handel       schaft Union verschlang Engels nachgera-
blühte und die rund 210 bremischen See-       de demokratische Journale, diverse
schiffe fuhren Ziele in aller Welt an.        Zeitungen und Zeitschriften, Goethes
Zudem entwickelte sich Bremen gerade          Werke, Börnes Schriften etc. Insgesamt
zum größten europäischen Auswanderer-         setzte er sich mit Werken von knapp
hafen. Prompt verfasste Engels alias Os-      zweihundert Verfassern schöngeistiger,
wald 1840 mit „Eine Fahrt nach                philosophischer und religiöser Literatur
Bremerhafen“ seine exzellente sozialkriti-    auseinander und entwickelte sich dabei zu
sche Reiseskizze über die Seestadt und die    einem sprachgewaltigen und stilsicheren
katastrophalen Verhältnisse auf den Aus-      Intellektuellen.
                                                                                                     Wir 40 - 2020 | 1 3
Fassadenteile des früheren Hauses No. 11 in der Martinistraße, wo Engels seinen Arbeitsplatz hatte, erinnern noch an
seine Bremer Jahre. Allerdings nicht mehr an der ursprünglichen Stelle.

                               Warum auf dem Leupoldschen Kontor-            borgen. Ein Beispiel: Als im Herbst 1840
                               bock versauern, wo man doch auch als          in England der erste schnelle Schrauben-
                               Kontorist literarisch reüssieren konnte?      dampfer getestet wurde, erkannte Engels
                               Als das „Bremische Conversationsblatt“        umgehend, welche verkehrstechnische
                               am 16. September 1838 sein Gedicht „Die       Revolution bevorstand und skizzierte für
                               Beduinen“ anonym abdruckte, gab es für        die – wie auch immer gebildeten – Leser
                               Engels kein Halten mehr. Erst recht nicht,    des „Morgenblatts“ die bemerkenswerte
                               nachdem ab dem Januar 1839 in Karl            Vision:
                               Gutzkows namhaften „Telegraph für
                               Deutschland“ seine erneut nicht nament-       „Ist dann einmal der Anfang einer
                               lich gekennzeichnete Reiseskizze „Briefe      Dampfpaketfahrt zwischen Deutschland
                               aus dem Wupperthal“ in mehreren Folgen        und dem amerikanischen Kontinente ge-
                               abgedruckt worden war. Die im Stil der        macht, so wird die neue Einrichtung ohne
                               Reisebilder gehaltene Schilderung verbin-     Zweifel bald ausgebildet und von den
                               det politische und soziale Verhältnisse mit   größten Folgen für die Verbindung beider
                               geschichtsphilosophischen Betrachtungen       Länder werden. Die Zeit wird nicht lange
                               und begründete seine Karriere als Essayist    mehr auf sich warten lassen, wo man aus
                               und Korrespondent für führende Zeitun-        jedem Teile Deutschlands in vierzehn
                               gen.                                          Tagen New York erreichen, von dort aus
                                                                             in vierzehn Tagen die Sehenswürdigkeiten
                               Friedrich Engels reifte in Bremen zu          der Vereinigten Staaten beschauen und in
                               einem bedeutenden Publizisten heran.          vierzehn Tagen wieder zu Hause sein
                               Unter dem Pseudonym Friedrich Oswald          kann. Ein paar Eisenbahnen, ein paar
                               lieferte er unermüdlich Essays und Korre-     Dampfschiffe, und die Sache ist fertig …“
                               spondenzen für den „Telegraph“ sowie für
                               die beiden damals einflussreichen Cotta-      Neben seiner Kontorarbeit und der um-
                               schen Zeitungen „Morgenblatt für gebil-       fangreichen schriftstellerischen Produkti-
                               dete Leser“ und „Augsburger Allgemeine        on fand der Fabrikantensohn hinlänglich
                               Zeitung“, für die auch Heinrich Heine und     Zeit für das Zusammensein mit Freunden,
                               Ludwig Börne schrieben. Wie blutjung          Bekannten und Kaufleuten. Als „unläug-
                               dieser Bremer Korrespondent eigentlich        bar das beste Institut in Bremen“ bezeich-
                               noch war, blieb den Lesern jedenfalls ver-    nete er den Bremer Ratskeller, der zuvor
1 4 | Wir 40 - 2020
bereits Heinrich Heine und Wilhelm
Hauff literarisch inspiriert hatte. Engels
kannte sich bestens in den Buchhandlun-
gen aus, besuchte Theateraufführungen
und Konzerte. Zu Beginn des Jahres 1841
vermerkte er in einem Artikel über das
bremische Kulturleben: „Die beste Seite
Bremens ist die Musik. Es wird in wenig
Städten Deutschlands so viel und so gut
musiziert wie hier. Eine verhältnismäßig
sehr große Anzahl von Gesangvereinen
hat sich gebildet, und die häufigen Kon-
zerte sind immer stark besucht.“ Er selbst
wurde nach strenger Prüfung als Mitglied
der 1815 gegründeten Sing-Academie
aufgenommen.
In den Bremer Jahren entwickelte Engels
all die Fähigkeiten, die ihn bald darauf
zum Mitverfasser des „Manifests der
Kommunistischen Partei“ und steten An-
treiber und Berater von Karl Marx werden
ließen, dessen Jahrhundertwerk „Das Ka-
pital“ ohne ihn nicht entstanden wäre. Die
Bilanz der politischen Entwicklung von
Engels‘ alias Friedrich Oswald in Bremen
ist beeindruckend. Unter dem Strich steht
seine Erkenntnis, dass sich die herkömm-
liche Familie überlebt hat und dass Feu-
dalismus, Absolutismus und Pietismus
keine Daseinsberechtigung mehr haben.
Als er 1844 in den von Karl Marx und Ar-
nold Ruge herausgegebenen „Deutsch-
Französischen Jahrbüchern“ seine „Um-
risse zu Einer Kritik der
Nationaloekonomie“ publizierte, stand
darin seine in Bremen erstmals gestellte          Schaukästen am Haus Martinistr. 27 illustrieren Engels' Bremer Jahre,
Frage „nach der Berechtigung des Pri-
vateigentums“ gewiss nicht zufällig im            unter anderem mit einer eigenhändigen Zeichnung: „Hier zu sehen ist
Vordergrund.                                     meine Hängematte, enthaltend mich selbst, wie ich eine Zigarre rauche.’

   Literatur
   Johann-Günther König: Friedrich En-       Lars Bluma (Hg.): Friedrich Engels -
   gels, Bremen: Kellner-Verlag 2008.        Ein Gespenst geht um in Europa,
   (Mit allen überlieferten Briefen,         Wuppertal: Bergischer Verlag 2020
   Schriften und Zeichnungen aus der         (Begleitband zur Engelsausstellung).
   neuen MEGA.)
                     Unser Autor
                     Der Schriftsteller und Publizist Johann-Günther König lebt
                     und arbeitet in Bremen. Neben zahlreichen Bremensien stehen
                     auch wirtschaftspolitische und wirtschaftshistorische Arbeiten
                     auf Königs umfangreicher Veröffentlichungsliste.
                     Siehe www.johann-guenther-koenig.de
                                                                                                    Wir 40 - 2020 | 1 5
P LATT

                            Politisch Afstand hollen un
                            sik avers nich trüchtrecken
 Holger Zantopp             As ik noch so’n lütten Bengel vun acht       De eenzige, de mi direktemang wat över
                            oder negen Johr weer, dor harrn af un an     den Militärdeenst seggen kunn, weer
                            Lüüd seggt, din Fründ Claas is nich goot     Suldaat un Kommunist. Annars as ik harr
                            för di. Se harrn mi wohrschaut, holl Af-     he politisch argumenteert. Vunwegen
                            stand!. Ik schall nich mit en vun de         düsse Saak weer he en poor Mal achter
                            “Smuddeligen Kinner” spelen. Ik heff mi      Trallen bröcht worrn. Dat Snacken mit
                            avers nich dorüm scheert, denn Claas         min Raatgever weer avers för mi keen Na-
                            weer en richtig goden Jung.                  deel. As ik min Tohoopkamen togeven
                                                                         harr, dor weer jümmers wedder to hören:
                            Later harrn Lüüd wedder to mi seggt, holl    Holl Afstand vun em, he is Kommunist!
                            Afstand, dütmal weern Kommunisten            To’n Sluss is min Andrag dörkamen, avers
                            meent. Dat keem so: Mit 21 Johr bün ik       eerst na een Johr harr mi de Bunnswehr
                            teemlich laat na de Bunnswehr kamen. Ik      freelaten.
                            harr allens mitmaakt, ahn mi vörtostellen,
                            wat de Deenst an Wapen to bedüden hett.      Bliev mi vun‘t Lief!
                            Eerst na en poor Maanden weer för mi

 WIR
                            kloor, ik will dor ruut!                     To glieke Tiet heff ik domals avers ok
                                                                         markt, dat gifft gode Grünne, vun be-
                                                                         stimmte Saken aftostahn. To‘n Bispill vun
                                                                         den Vietnam-Krieg, later ok vun‘t Narüs-
 Als wir damals mit einigen, die sich aus                                ten un vun de Atoomenergie, vun Atoom-
                                                                         wapen.

 40
 dem Gewerkschaftshaus kannten, über-
 legten, wie wir unsere Kolleginnen und
 Kollegen erreichen und ermuntern könnten,                               Un vundaag? Konstantin Wecker hett dat
 am gewerkschaftlichen Leben weiter teilzu-                              in en vun sine Willy-Leeder (2020) op’n
 nehmen, kam die Idee auf: Wir schreiben                                 Poeng bröcht: In Corona-Tiden geiht dat
 ihnen. Also machen wir eine Zeitung - aber                              üm dat Prinzip Afstand to hollen, avers
 anders als die offizielle Gewerkschafts-                                nich üm een Verlööf, vun de Grundrech-
 presse. Die war uns meistens ein bisschen                               ten wat wegtonehmen. De Gefohr is to
 zu trocken. Ja, dann haben wir uns im Gewerkschaftshaus                 groot, dat de Utnahmtostand den Weg
 getroffen und über die Themen, die uns am Herzen lagen,                 free maakt för en Diktatur. Afsparrte
 gesprochen ... schön, dass es die WIR immer noch gibt. Aber             Wohnquarteren oder ganze Bunslänner,
 locker bleiben, auch bei ernsten Themen. - Hugo Köser                   de för en Tietlang dichtmaakt worrn sünd,
                                                                         weern klore Teken. Bavento harrn Lanns-
1 6 | Wir 40 - 2020
regerungen Demonstratschoonsrechten          nich geven oder annere Minschen, de de
afboot.                                      Nazi-Tiet lüttsnacken doot. Wenn avers -
                                             dör Tofall oder nich - een vun de AfD vör
De Afstandsregeln hebbt för mi to betü-      di steiht, denn kannst Du mit Afstand
den, dat ik en Reeg vun Minschen seggen      düütlich seggen, wat nich blots du denkst:
mutt: Bliev mi vun’t Lief! To’n Bispill      De AfD is nienich en Alternative för
Lüüd, de annere Minschen utnutzt. In de      Düütschland. Na Terrorakschonen vun
Fleeschindustrie hett de Kapitalismus all    Neonazis hebbt vele Minschen de Partei
dat schafft, wat för Katastrophen as Coro-   vörsmeten, se weer mit ehr Polemik de
na sorgt. Dat Utnutzen vun Arbeiters in      egentliche Füerpüüster för de Anslääg.
Wahnungen, de veel to eng sünd un ok de      Butendem hebbt de Rechtsextremisten
Ümgang mit Deerten sünd heel und deel        jümmers wat scharp to bekritteln, wenn
gräsig un hebbt sin Andeel an de Pande-      dat üm Flüchtlinge un Muslime geiht.
mie.                                         Düsse Minnerheiten warrt vun Parteilüüd
                                             mit Gift un Gall un mit Haat angrepen.
Dat Utnutzen vun de Arbeiterklass in an-
nere Länner, dat Utplünnern vun Roh-         Un se sünd gegen de Aktivistin Greta
stoffen för kapitalistische Ünnernehmen,     Thunberg, denn de Klimawannel is för de
de global dat Seggen hebbt, dat hett mit     Partei keen Problem. AfD-Afordnete
Gerechtigkeit nix to doon. Dat faststellte   strippelt ok de Corona-Gefohr af. Se
Massenelend in de “Drütte Welt” is inkal-    meent, de Bunnsregerung snackt vun en
kuleert, also inrekent. Spennen to sam-      Krise, de gifft dat na de Partei gor nich.
meln is goot, avers to wenig.                De Rassismus höört to de Substanz vun de
                                             AfD. Wat mi trurig maakt: Liddmaten vun
Sik gegen Minschenfienden querstellen        Gewerkschaften hebbt de AfD jümehr
                                             Stimme geven.
De Rüstmafia hannelt mit Panzers, Bom-
ben un Gewehren un geiht över Lieken.        Afstand un Gegenwehr gaht tosamen
Jeedeen Johr kummt de sonöömte Seker-
heitskonferenz in München tosamen. Ok        Ik bün ok gegen Lüüd, de den Klimawan-
Vertreders vun de Rüstindustrie un Mili-     nel nich wohrhebben wüllt, de de Fakten
tärs sünd dorbi. Dat gifft ok den Vörslag,   afstrippelt. De Eer warrt dör Profitgier
Hotels to evakueren, wo Kriegsstrategen      kaputtmaakt. Al nu
tohoopkaamt. De Hotelstuven vun düsse        gifft dat Minschen, de
Mannslüüd schüllt denn för Geflüchtete       sik wegen den Klima-
freemaakt warrn. Free för Minschen, de       wannel op’n Weg na
vör Kanonen vun de Rüstmafia in Kriegs-      en nee’e Steed maakt,
lännern weglopen sünd. Gode Idee! Kon-       üm dor to leven. An-
stantin Wecker hett en Vörslag vun meist     nere Minschen sünd
desülvige Oort maakt.                        wegen Terror un Ge-
                                             walt op de Flucht.
Rassisten, Rechtsextremisten un all Fa-      Jümmers wedder
schisten höört to Minschenfienden, wo        kaamt Minschen bi de
een veel Afstand hollen mutt. Dat gifft ok   Överfahrt in’t Middel-
Lüüd, de seggt, den Holocaust hett dat       meer üms Leven. Butendem gifft dat wie-         Afstandsregeln?
                                             derhen dusende Flüchtlinge op Eilannen
                                             in Grekenland. De Tostänn dor köönt
                                             blots as katastrophal un unminschlich be-
                                             tekent warrn. Stillswiegen vun de Euro-
                                             pääsch Union! Verraden und alleen laten.

                                             Ik holl mi an de Afstandsregeln in Coro-
                                             na-Tieden, för mi hett avers dat Woort
                                             “Afstand” ok wat anners to bedüden. Gah
                                             mi weg mit Lüüd, de bi de Infekschoons-
                                             Debatt vun en Komplott dör “düüstere
                                             Macht-Cliquen” snackt. Afstand to hollen
                                             meent nich, sik nich to Wehr to setten,
                                             meent nich, sik trüchtotrecken. Afstand
                                             un Gegenwehr gaht tosamen! Wenn een
                                             sien oder ehr egen Haltung düütlich
                                             maakt, denn mutt een jümmers mit Wed-
Maskenproblem: 1889 soll sich Vincent van    derpart op de anner Siet reken. Dat lohnt
Gogh ein Ohr abgeschnitten haben.            sik - för de Minschenrechten.
                                                                                          Wir 40 - 2020 | 1 7
BLACK
                      LIVES
 Bernd Krause
                      MATTER
                      Seit dem Mord an George Floyd in Min-
                                                                   Deutsch: Schwarze Leben zählen.
                      neapolis am 25. Mai 2020 wird überall in
                      der Welt gegen Rassismus und für Ge-         BLM ist seit 2013 eine internationale
                      rechtigkeit demonstriert. Gerechtigkeit      Bewegung, die sich gegen Gewalt
                      deshalb, weil für uns kaum oder nicht        gegen Schwarze bzw. People of Color
                      vorstellbar, sich in den USA Polizisten      einsetzt.
                      nicht vor Gericht (Grand Jury) verant-
                      worten müssen. Der Ruf nach einer Justiz-
                      und Polizeireform wird jedoch lauter.       den Südstaaten der USA weit verbreitet.
                      Trotz Corona gingen auch in vielen deut-    Erst jetzt hat der Gouverneur des Staates
                      schen Städten 200.000 Menschen auf die      Mississippi das Konförderierten-Symbol
                      Straße, zum Beispiel in Berlin waren es     aus der Staatsflagge gestrichen, bisher war
                      am 6. Juni über 15.000. Einige knieten 8    sie ein Zeichen der Unterdrückung der
                      Minuten, solange drückte ein weißer Poli-   Schwarzen in den Südstaaten. Gruppie-
                      zist sein Knie in den Nacken. Und riefen    rungen wie der Ku-Klux-Klan, Ableger
                      die letzten Worte von George Floyd oder     davon gibt es auch in Deutschland, oder
                      hatten sie auf Plakate geschrieben: „I      „White Power“ sind weit verbreitet, vom
                      can´t breathe“ (Ich kann nicht atmen).      derzeitigen Präsidenten wird dies auch
                                                                  nicht verurteilt, im Gegenteil, „alles eh-
                      Gerade in Trumps USA fühlen sich Ras-       renwerte Leute“.
                      sisten wohl. Die Denke, dass weiße Men-
                      schen mehr wert sind als Schwarze, ist in   Der Rassismus wurde etabliert, um die
                                                                  Ausbeutung des globalen Südens, vor
                                                                  allem des afrikanischen Kontinents, zu le-
                                                                  gitimieren und das seit über 400 Jahren.
                                                                  Bis heute findet die Ausbeutung statt.
                                                                  Rassismus ist wie eine weltweite Pande-
                                                                  mie. Es ist ein System, um eine bestimmte
                                                                  Weltordnung herzustellen, in ihr wurde
                                                                  die Hierarchie rassifizierter Gruppen fest-
                                                                  geschrieben, etwa so: Weiße ganz oben,
                                                                  Schwarze ganz unten.
                                                                  Auch wir sind nicht frei von Rassismus, er
                                                                  ist bei uns alltäglich. Er ist schon sehr
                                                                  lange und heftig in unserer Geschichte,
                                                                  Kultur und unserer Sprache verwurzelt, er
                                                                  hat unsere Weltsicht geprägt, wir können
                                                                  gar nicht anders, es sind Gewohnheiten.
                                                                  Viele Ausdrücke und Dinge sind salonfä-
                                                                  hig geworden. So haben wir nichts mehr
                                                                  dagegen, wenn nicht-weiße Menschen
                                                                  unter Generalverdacht gestellt werden.
                                                                  Wenn bei Polizeikontrollen „Racial Profi-
                                                                  ling“ vollzogen wird, also verdachtsunab-
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1932 als Ausdruck hansestädtischen Stolzes aufden Erfolg kolonialer
Ausbeutung eingeweiht, ist der Elefant 1990, dem Jahr der Unabhängigkeit
Namibias, zum Antikolonialdenkmal umgewidmet worden. Eingeklinkt
eine von der IG-Metall-Jugend aufgestellte Gedenktafel.

hängige Personenkontrollen vorgenom-         Grund nicht gewährt werden, die auf der
men werden. Ähnliches ist auch in der        Straße das Geräusch von sich schlagartig
Bahn und öffentlichen Verkehrsmitteln        verriegelnden Autotüren vernehmen
oft zu beobachten. Es werden immer noch      müssen – immer und ausschließlich, weil
Bilder propagiert, welche Eigenschaften      sie als Gefahr, als Bedrohung, als mons-
Schwarze haben. Drogendealer, Klein-         tröse Andere wahrgenommen werden.
oder Großkriminelle etc. Auch haben          Joe Biden, der Präsidentschaftskandidat
viele von uns die Befürchtung, Mus-          für die im November diesen Jahres statt-
lim*innen könnten demnächst ein Kalifat      findenden US-Wahlen, sagte kürzlich auf
in Deutschland errichten. Der frühere        einer Veranstaltung, die USA seien ihrem
US-Präsident Barack Obama hat in einer       Grundsatzprinzip „alle Menschen sind
Pressekonferenz im Zusammenhang mit          gleich“ nie gerecht geworden.
der Tötung des schwarzen Jugendlichen
Trayvon Martin von diesen alltäglichen       Unsere Gesellschaft und Politik rücken
Verletzungen berichtet. Obama sprach         immer weiter nach rechts. Am deutlichs-
von sich selbst und zugleich von der Er-     ten wird dies mit Blick rund um Flucht
fahrung aller Afroamerikaner*innen, die      und Migration. So gab es in den Jahren
im Supermarkt regelmäßig und grund-          2015 und 2016 ca. 1000 Anschläge auf
sätzlich wie ein Dieb beobachtet werden,     Unterkünfte von Geflüchteten. Im Mai
denen Geschäftskredite ohne erkennbaren      dieses Jahres stellte der Bundesminister
                                                                                        Wir 40 - 2020 | 1 9
Seit 2009 ergänzt eine
                                                                                                     Bodenskulptur aus
                                                                                                     Steinen aus der
                                                                                                     Omaheke-Wüste das
                                                                                                     Antikolonialdenkmal. In
                                                                                                     dieser Wüste verdurste-
                                                                                                     ten viele Nama und
                                                                                                     Ovaherero, nachdem sie
                                                                                                     1904 bei der Schlacht am
                                                                                                     Waterberg von den
                                                                                                     deutschen Truppen in die
                                                                                                     Flucht geschlagen wor-
                                                                                                     den waren.

                     des Inneren, Horst Seehofer, die neusten               Sie stehen nun mal für „Law and Order“.
                     Zahlen vor. Unter anderem sagte er, „die               Selbst Freunde und Kollegen von mir
                     größte Bedrohung ist nach wie vor die Be-              sehen ein Problem darin, „dass man keine
                     drohung von rechts“. Es gebe allen Grund,              Deutschen mehr auf der Straße sieht“.
                     mit höchster Wachsamkeit vorzugehen. Er
                     sprach von einer „langen Blutspur“ des                 Eine grundlegende Aufgabe von Gewerk-
                     Rechtsextremismus. Die politisch moti-                 schaften sollte es sein, dies kritisch zu be-
                     vierten Straftaten stiegen 2019 um 14 %                obachten und zu diskutieren. Der DGB
                     auf 41.000. Mehr als die Hälfte aller Fälle            Bremen hat im Juni diesen Jahres eine Re-
                     wurden der rechten Szene zugeordnet.                   solution verabschiedet: Demokratie
                     Das BMI hat alle Hände voll zu tun. Auch               schützen - Rassismus bekämpfen - für So-
                     in den eigenen Reihen bei Polizei oder der             lidarität, Respekt und Menschenwürde.
                     Bundeswehr KSK (Kommando Spezial-                      Rassismus darf in unserer Gesellschaft
                     kräfte, eine Eliteeinheit), sowie in einigen           keinen Platz haben. In unserem Grundge-
                     oder gar allen Fußballstadien gibt es Ras-             setz steht im Artikel 1, Absatz 1: Die
                     sismusprobleme. Leider gibt es einige                  Würde des Menschen ist unantastbar. Und
                     Leute, die sich konservativ identifizieren             im Artikel 3, Absatz 1: Alle Menschen
                     und die grundsätzlich dagegen sind, die                sind vor dem Gesetz gleich. Da steht
                     Polizei oder Soldaten infrage zu stellen.              nicht: die Würde des Deutschen.

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                        Die Zeitung wird gefördert durch EVG Bremen, GEW    REDAKTION
                        Bremen, IG Metall Bremen, NGG Bremen und ver.di     Wolfgang Bielenberg (GEW), Gerd Bohling,
                        Bremen. Über weitere Mitarbeiter*innen würden wir   Udo Hannemann, Hugo Köser, Hermann Wilkening
                        uns freuen. Kritik und Anregungen sind uns immer    (IGM), Cornelia Förster-Bonomo, Wolfgang Schröder
                        willkommen.                                         (NGG), Willi Derbogen, Marita Froese-Sarimun,
                                                                            Marlene Henrici, Traudel Kassel, Bernd Krause,
                        HERAUSGEBER & KONTAKT                               Reiner Meissner, Margot Müller, Günther Wesemann,
                        Arbeitskreis DGB-Senior*innen Bremen                Manfred Weule, Brigitte Wilkening, Holger Zantopp
                        c/o Gerd Bohling, DGB-Haus Bremen                   (ver.di)
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