Pandemie-Management für Europa
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3. AUSGABE DAS MAGAZIN DER
2020 KASSENÄRZTLICHEN
BUNDESVEREINIGUNG
Pandemie-Management
für Europa
Wege und Lehren aus der Corona-Krise
EU-Ratspräsidentschaft Versichertenbefragung Gesundheit anderswo
Politologe Prof. Roland Großes Vertrauen in Ärzte Spanien: Kollaps durch
Czada im Interview und Psychotherapeuten Sparmaßnahmen?
Editorial
KBV Klartext
Das Magazin der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung
Liebe Leserin, lieber Leser,
Erscheinungsweise:
vierteljährlich
die Zahlen zeigen, dass die Corona-Pandemie die europäischen
Herausgeber:
Kassenärztliche Bundesvereinigung
Staaten ganz unterschiedlich getroffen hat. Die Gründe dafür
Dr. Andreas Gassen (Vorstandsvor- sind vielfältig – die unterschiedlichen Gesundheitssysteme
sitzender der KBV, V.i.S.d.P.)
dürften ein wichtiger Faktor sein. Aus diesem Anlass möchten
Redaktion: wir die Gelegenheit nutzen, mit unseren europäischen Nach-
Birte Christophers, Thomas Schmitt,
Hendrik Schmitz, Sten Beneke, Tom Funke, barn und Freunden ins Gespräch zu kommen, um gemeinsam
Corina Glorius zu erörtern, welche Lehren aus der Krise zu ziehen sind.
Redaktionsbeirat:
Dr. Roland Stahl Als Teil des assoziierten Programms der deutschen EU-Ratspräsidentschaft lädt
Redaktionsanschrift: die KBV daher am 1. Oktober zu einer EU-Tagung nach Berlin ein. Dabei soll es
Kassenärztliche Bundesvereinigung um viele spannende und wichtige Fragen gehen – zum Beispiel: Welche Struk-
Redaktion Klartext
Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin turen und Strategien haben sich in der Pandemie bewährt? Was lässt sich aus
Tel.: 030 4005-22 42 diesen Erfahrungen lernen? Wie wollen wir – national wie international – unsere
Fax: 030 4005-272242
E-Mail: redaktion@kbv.de Gesundheit zukünftig gestalten? Um den Digital-Kongress #healsy20 und das
www.kbv.de Titelthema geht es ab Seite 4.
Gestaltung:
KloseDetering, Hamburg
Warum Grippeschutz-Impfungen in diesem Jahr besonders wichtig sind, lesen
Druck: Sie ab Seite 12. Im Interview steht uns der Politologe Roland Czada Rede und
Druckerei Kohlhammer, Stuttgart
Antwort (ab Seite 14). Die diesjährige Versichertenbefragung macht deutlich:
Fotos: Das Vertrauen in Hausärzte, Fachärzte und Psychotherapeuten ist ungebrochen.
Titel: © KloseDetering/shutterstock > S. 2:
© Lopata/axentis.de > S. 3: © picture
Sorgen bereitet vielen der sich abzeichnende Ärztemangel. Die Meinung der
alliance/dpa/Christophe Gateau; © picture Versicherten zu Gesundheits-Apps, Bereitschaftsdienst und Impfschutz gibt
alliance/dpa/Christoph Soeder > S. 4:
© picture alliance/dpa/Christophe Gateau es ab Seite 18.
> S. 6: © KBV > S. 7: © picture alliance/
Photoshot > S. 8: © picture alliance/dpa/
Wolfgang Kumm > S. 9: © picture alliance/ In der Corona-Pandemie gilt Spanien als eines der am schwersten getroffenen
Fotostand/Fotostand/Reuhl > S. 10: © privat Länder in Europa. Die Sparmaßnahmen im Zuge der Finanzkrise 2008 wirken
> S. 11: © iStock.com/YakobchukOlena;
© iStock.com/teddyandmia > S. 12: noch nach: Vor allem in der jetzigen Situation stößt das Land an seine Grenzen.
© iStock.com/JackF > S. 13: © Lopata/axen- Ausbleibender Tourismus und steigende Arbeitslosenzahlen stellen das Land
tis.de > S. 14: © privat > S. 16: © privat > S.
17: © iStock.com/AlexRaths > S. 18: © KBV/ vor eine Zerreißprobe. Mehr dazu in unserer Rubrik „Gesundheit anderswo“ ab
Hendrik Schmitz; KloseDetering > S. 19: Seite 24.
© KloseDetering > S. 20: © KloseDetering >
S. 21: © iStock.com/TommL > S. 22:
© picture alliance/ASSOCIATED PRESS/ Ich wünsche Ihnen eine informative und anregende Lektüre.
Stephanie Lecocq > S. 24: © iStock.com/
GoranQ > S. 25: © KloseDetering > S. 26:
© picture alliance/dpa/Clara Margais >
S. 27: © KBV; © KV Berlin
Ihr Dr. Andreas Gassen,
Vorstandsvorsitzender
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und downloaden:
www.kbv.de/klartext www.kbv.de/kbv2go
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2 KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020
Inhalt
Titel Themen Gesundheit anderswo
12 Grippeschutz-Impfung: 24 Spanien: Sparmaßnahmen
4 Europas Weg aus Kleiner Pieks, große Wirkung führen zu Kollaps
der Corona-Krise – 18 Versichertenbefragung: Großes
Strategien für die Vertrauen in die Ärzteschaft
Zukunft 20 Zi-Trendreport: Arztpraxen als Kurz gefasst
Schutzwall
11 Meldungen aus dem Bund
21 Stichprobenerhebung:
QM in Praxen gut umgesetzt 17 Meldungen aus den Ländern
22 Bericht aus Brüssel: 27 Angeklickt und Aufgeblättert
Europas Kampf gegen Covid-19
Interview
14 Prof. Roland Czada:
„Die Selbstverwaltung ist
die beste Ordnungsform“
Kroatiens Außenminister Gordan Grlić Radman (links)
und sein deutscher Amtskollege Heiko Maas: Am 1. Juli
übernahm Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft.
KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020 3
TITEL
Europas Weg aus der
Corona-Krise – Strategien
für die Zukunft
Ein Kontinent sucht seine Strategie: Europa steckt im Abwehrkampf gegen die Covid-19-Pandemie.
Wie aus dem Nichts schlug das Corona-Virus weltweit zu. Auf europäischem Terrain bewältigten
einzelne Länder die Umstände der Infektionskrankheit bislang ganz unterschiedlich.
4 KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020
TITEL
N eben der Diskussion neu gewon-
nener Erkenntnisse geht es nun
darum zu erkunden, welche Wege
aus der Krise führen und wie Szenarien für
die künftige Pandemie-Bekämpfung über-
Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
(KBV). „Denn alle zentralistisch geführten
Gesundheitssysteme haben in der Krise
zum Teil eklatant versagt – zum Beispiel
die Bundesrepublik. „Die Erwartungen
an die deutsche Ratspräsidentschaft sind
hoch“, sagt Bundeskanzlerin Angela
Merkel. „Die Corona-Pandemie stellt uns
vor Herausforderungen beispiellosen
haupt aussehen können. So sehr die Bilanz England mit einem seit Jahrzehnten Ausmaßes.“ Die Pandemie und ihre Folgen
zwischen den einzelnen Staaten differiert, zentralisierten und wohl auch kaputtge- seien „die größte Herausforderung in der
wurde doch deutlich, dass Deutschland der sparten National Health Service.“ Auch Geschichte der EU“.
Bedrohung vergleichsweise glimpflich ent- Franzosen, Italiener und Spanier habe
kam und der Pandemie besser als andere es übel getroffen. „Die Länder, die besser
getrotzt hat. Woran lag das? klargekommen sind, sind beispielsweise
die skandinavischen Länder, Holland,
„Deutschland ist nicht so gut durch die Schweiz, Österreich – also die, die alterna- Mehr Kompetenzen
Krise gekommen, weil wir bessere Be- tive Strukturen haben.“ für Brüssel?
handlungen haben oder weniger empfind-
lich gegen Viren sind, sondern weil das Mitten in dieser schwierigen Phase Davon sind gerade auch die deutsche und
Gesundheitssystem einfach viel breiter übernahm Deutschland am 1. Juli für ein europäische Gesundheitspolitik betroffen.
und diversifizierter als in vielen ande- halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Über die Performance der Europäischen
ren Ländern aufgestellt ist“, erklärt Dr. Europa blickt mit großen Hoffnungen auf Union (EU) in der Covid-19-Pandemie lässt
sich streiten. KBV-Chef Gassen: „Ich hätte
mir gewünscht, dass die EU noch aktiver
agiert hätte – meines Erachtens war dies
etwas zu wenig. Das mag daran liegen,
Eröffnung & Podium (9:00 Uhr-10:00 Uhr) dass ähnlich wie die einzelnen Länder
Globale Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auch die EU nicht wirklich auf so ein
Szenario vorbereitet war. Und die Abstim-
Die Auswirkungen des Corona-Virus sind auf der ganzen Welt zu spüren. mungswege sind halt in der EU endlos
Die Pandemie wirft unter anderem Fragen zur fairen Verteilung eines künf- lange.“
tigen Corona-Impfstoffes auf, die nicht nur die EU, sondern den gesamten
Globus einschließt. In dem Fachforum diskutiert die KBV mit Dr. Tankred In Brüssel wird die Corona-Krise nun
Stöbe (Ärzte ohne Grenzen) und weiteren Gästen über das Virus als grenz- auch genutzt, um mehr Kompetenzen
überschreitendes Phänomen. Die Runde wird moderiert von der freien für die eigene Gesundheitsprogrammatik
Journalistin Tanja Samrotzki. zu bekommen. So fordert der spanische
EU-Außenbeauftragte Josep Borell etwa,
dass die EU mehr Befugnisse erhält, um
Keynote (10:00 Uhr-10:30 Uhr) auf Krisen wie Covid-19 zu reagieren:
Der Umgang von Gesundheitssystemen mit Covid-19 „Es ist notwendig, dass die Europäische
Union zentral über mehr Kompetenzen
Die verschiedenen Strukturen und Strategien in den EU-Mitgliedstaaten verfügt, um solche Probleme bewältigen zu
zeigten gegen SARS-CoV-2 unterschiedlich Wirkung. Einen ersten Einblick können. Das wird nicht das letzte Mal sein,
und inhaltlichen Vorgeschmack auf die Fachforen bietet der Vortrag von dass sie uns passieren.“
Prof. Dr. Reinhard Busse. Der Professor für Gesundheitsmanagement an
der Technischen Universität Berlin spricht über die vielfältigen Bewälti- Dabei ist die Einflussnahme der Europä-
gungsstrategien auf dem europäischen Kontinent. ischen Union an der einen oder anderen
Stelle längst greifbar. Dr. Stephan Hofmeis-
ter, stellvertretender Vorstandsvorsitzender
Abschlusspodium (12:30 Uhr-13:15 Uhr) der KBV, konstatiert: „Die EU-Regularien
Lehren aus der Covid-19-Krise für den ambulanten Sektor sagen ja, dass die Gesundheit eigentlich
nationale Aufgabe ist. Aber hier kann
Inwiefern hat sich die ambulante Versorgung in der Pandemie bewährt? man sich gewaltig täuschen: Durch die
Was haben die niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten geleistet? Hintertür kommt aus der EU erhebliches
In einer abschließenden Runde diskutieren der KBV-Vorstandsvorsitzende Ungemach auf unser Gesundheitssystem
Dr. Andreas Gassen, Dr. Doris Pfeiffer (Vorstandsvorsitzende des GKV- zu. Beispiele sind die Datenschutzverord-
Spitzenverbands) und weitere Gäste über den ambulanten Sektor vor, nung, die natürlich zu Kollateralschäden
während und nach Corona. führt, oder die Eingriffe in die Berufsord-
nung der freien Berufe. Es gibt also sehr,
sehr viel Einfluss durch die EU.“ >
KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020 5
TITEL
Kein zentrales Session 1 (10:30 Uhr-12:00 Uhr)
Gesundheitssystem
Ambulante Versorgung in Zeiten von Covid-19
Die EU-Parlamentarierin Petra De Sutter Deutsche und europäische Erfahrungen mit Covid-19 in der ambulanten
fordert eine bessere Koordinierung und Versorgung sind Thema des ersten Fachforums. Welche Gesundheitssys-
Kooperation in der europäischen Gesund- teme haben sich als besonders belastbar bewiesen und welche nicht? Wie
heitspolitik. Die belgische Gynäkologin können Engpässe bei Schutzausrüstungen und Arzneimitteln zukünftig
in der Fraktion Die Grünen/Europäische vermieden werden? Hierüber diskutieren unter anderen Prof. Dr. Reinhard
Freie Allianz wirbt im Europäischen Par- Busse (TU Berlin) und Dr. Maria Cristina Ghiotto (Region Venetien).
lament für ein ganzheitlicheres Verständ-
nis von Gesundheit. Es sei notwendig,
zukünftig eine stärker patientenorientierte Session 2 (10:30 Uhr-12:00 Uhr)
und gleichzeitig nachhaltige Gesund-
heitspolitik zu betreiben, sagte sie auf Digitalisierung und Covid-19
„Klartext“-Anfrage: „Die Bürger sind In einigen EU-Mitgliedstaaten sind digitale Technologien im Gesundheits-
ohnehin schon länger auf den Ausbau wesen längst etabliert. Wir fragen, ob und wie digitale Anwendungen
europäischer Gesundheitskompetenzen und Plattformen bei der Bewältigung der Pandemie helfen konnten. Hat
bedacht.“ Covid-19 die digitale Transformation in den europäischen Mitgliedstaaten
beschleunigt? Dazu äußern sich unter anderen Dr. Thomas Kriedel (Vor-
Zu De Sutters konkreten Forderungen standsmitglied der KBV), Dr. Karsten Neumann (Roland Berger Consulting)
gehören unter anderem der bessere Zu- und Dr. Liisa-Maria Voipio-Pulkki (Finnisches Sozial- und Gesundheits-
gang zu Medikamenten und Impfstoffen, ministerium).
eine gesamteuropäische Krisenvorberei-
tung und der Ausbau des Europäischen
Zentrums für die Prävention und die Session 3 (10:30 Uhr-12:00 Uhr)
Kontrolle von Krankheiten (ECDC). „Na-
türlich bedeutet dies nicht, alle natio- Selbstverwaltung und Governance
nalstaatlichen Systeme in ein zentrales Die ambulante ärztliche Versorgung in Deutschland mit ihrem System der
Gesundheitssystem zu zwingen“, sagt De gemeinsamen Selbstverwaltung sucht international ihresgleichen. Wie
Sutter. Indirekte Auswirkungen auf die haben andere europäische Länder die ambulante Versorgung organisiert?
nationale Versorgung und damit auch Wo besteht Reformbedarf und welche Elemente wären übertragbar?
auf die Hausärzte könne sie aber nicht Prof. Dr. Roland Czada (Universität Osnabrück), Sibylle Reichert (Inter-
ausschließen. national Association of Mutuals) und weitere Gäste sind eingeladen, um
diese Fragen zu diskutieren.
Deutsches Modell
Die Bewältigung der Corona-Pandemie ganz Europa dabei, um Lehren aus der einer digitalen Gesundheitskonferenz ein.
steht auch im Mittelpunkt der digitalen Ta- Krise und deren Bewältigung zu disku- In vielen Ländern kann man ja überhaupt
gung „Starke Gesundheitssysteme 2020 / tieren. „Wir möchten für ein Modell nach nicht nachvollziehen, wie Gesundheit in
Resilient Health Systems 2020“, zu der die deutschem Vorbild werben. Das können Deutschland organisiert wird.“
KBV als Teil des vom Bundesgesundheits- wir jetzt vielleicht im Rahmen der EU-
ministeriums assoziierten Programms Ratspräsidentschaft tun“, erläutert Gas- KBV-Vize Hofmeister ergänzt: „Im Um-
einlädt. Es sind zahlreiche Experten aus sen. „Deshalb laden wir am 1. Oktober zu gang mit der Pandemie ist es – sowohl
6 KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020
TITEL
In anderen Ländern, wie hier in Italien, behandeln Ärzte und Pflegekräfte Corona-Patienten stationär –
eine ambulante Versorgung von Covid-19-Fällen fand nicht statt.
technisch als auch medizinisch – richtig, Testzentren eingerichtet sowie über 500
dass wir uns jetzt mit den ersten Lekti- mobile und stationäre Corona-Behand-
onen, die wir gelernt haben, auseinan- Selbstverwaltung agil und lungseinrichtungen.
dersetzen.“ Dass die Bundesrepublik die einheitlich
Corona-Pandemie bislang vergleichswei- Um das Ansteckungsrisiko in den Praxen
se gut bewältigt hat, liefert auch An- Von Anfang an haben zwei Aspekte zur zu mindern und Infektionsketten zu
schauungsmodelle für andere Länder in Bewältigung der Pandemie in Deutsch- vermeiden, wurden vielfältige Maßnah-
Europa. „Der wichtigste Punkt für mich land eine zentrale Rolle gespielt: einerseits men auf Bundes- und regionaler Ebene
ist, dass das ambulante Gesundheitswe- die Verfügbarkeit von Tests und anderer- ergriffen – beispielsweise die Einrichtung
sen in Deutschland das Bollwerk und der seits die Tatsache, dass die meisten Tests separater Corona-Sprechstunden oder der
Schutzwall ist. Das unterscheidet uns von ambulant stattfanden und die Menschen Ausbau von Telefon- und Videosprech-
vielen anderen europäischen Ländern, dafür nicht gehäuft in die Krankenhäuser stunden. Insgesamt haben die Partner
die anders organisiert sind und die aus mussten. Schnell und frühzeitig hat die der Selbstverwaltung aufgrund der Coro-
verschiedenen Gründen, aber auch aus KBV die Kostenübernahme für Testungen na-Pandemie über 60 Sonderregelungen
diesem Grund sehr viel problematischere mit dem Spitzenverband der gesetzlichen für die ambulante Versorgung geschaffen
Verläufe hatten als wir. Dieses dezen- Krankenkassen geregelt. Die Kassen- – alle mit dem Ziel, den Praxen die Arbeit
trale und über die Vertragsärzte und ärztlichen Vereinigungen (KVen) haben zu erleichtern, Bürokratie abzubauen
Kassenärztlichen Vereinigungen orga- bundesweit, gemeinsam mit den Ver- und die Versorgung sicherzustellen. „Die
nisierte System ist hier ungeheuer stark tragsärzten und teilweise in Kooperation Selbstverwaltung hat agil und trotzdem
aufgestellt gewesen und hat einen ganz mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst überraschend einheitlich reagiert“, resü-
wesentlichen Dienst geleistet.“ (ÖGD), etwa 450 mobile und stationäre miert Hofmeister. „Sie hat sich an ganz >
KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020 7
TITEL
eine regelmäßige Versorgung nicht ver-
Session 4 (10:30 Uhr-12:00 Uhr) zichten können. Deshalb kam dem Aufbau
einer „zweigliedrigen Versorgung“ (spe-
Teststrategie in Pandemiezeiten zielle „Corona-Sprechstunden“ und Ähn-
In den europäischen Mitgliedstaaten existieren verschiedene Strategien, liches) neben der normalen Sprechstunde
wie und in welcher Intensität auf Covid-19 getestet werden sollte. Neben eine besondere Bedeutung zu. Dadurch,
den unterschiedlichen nationalen Ansätzen geht es in diesem Fachforum dass nicht nur Verdachtsfälle, sondern
außerdem um die Frage, ob eine gemeinsame europäische Teststrategie auch Infizierte und weniger schwer Er-
sinnvoll wäre. Geladen sind unter anderen Dr. Andreas Bobrowski vom krankte in Deutschland ambulant versorgt
Berufsverband Deutscher Laborärzte und Dr. Michael Müller von Akkredi- werden konnten, und durch ein engma-
tierte Labore in der Medizin e. V. schiges Monitoring bei der häuslichen
Betreuung von Covid-19-Patienten, das die
KVen in den Regionen organisiert haben,
Session 5 (10:30 Uhr-12:00 Uhr) war es größtenteils möglich, eine Einwei-
sung der Betroffenen ins Krankenhaus
Digitale Ausbildung für digitale Medizin und damit neue Übertragungswege und
Apps, Telemedizin, Big Data und andere digitale Hilfsmittel begleiten Me- die Gefahr einer Überlastung der Kliniken
dizinstudierende schon länger. Ärzte müssen ihre Kompetenzen erweitern, zu vermeiden.
um den Veränderungsprozess zu verstehen und um neue digitale Behand-
lungskonzepte einordnen zu können. Dr. Sebastian Kuhn (Gesellschaft für
Medizinische Ausbildung), Prof. Dr. Jan Ehlers (Universität Witten/Herde-
cke) und weitere Gäste diskutieren, wie in den Ausbildungssystemen der
europäischen Mitgliedstaaten die digitalen Kompetenzen des ärztlichen
Lehren für Europa
Nachwuchses verbessert werden.
Das deutsche Pandemie-Management
hat mit dem KV-System bewiesen, dass
Session 6 (10:30 Uhr-12:00 Uhr) es mit einem abgestimmten Vorgehen,
aber regional flexibel die notwendigen
Weiterbildung: Den Wandel gestalten Kräfte und Ressourcen mobilisieren kann.
Die fachärztliche Weiterbildung wird in den europäischen Staaten sehr Die Praxen haben verhindert, dass zu
unterschiedlich ausgestaltet. In Deutschland war traditionell das Kranken- viele Menschen ins Krankenhaus kamen
haus der Ort der Weiterbildung. Durch die Anforderungen der Allgemein- und das Gesundheitssystem überlastet
medizin wurde ein Wandel angestoßen, der die ambulante Weiterbildung wurde. So konnte verhindert werden, dass
insgesamt stärkt. Wir fragen unter anderen Dr. Annette Rommel (KV die Kapazitäten der Versorgung schwer
Thüringen) und Dr. Johannes Albert Gehle (Ärztekammer Westfalen-Lippe), Erkrankter nicht ausreichen und infolge-
welche Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte es zu anderen europäi- dessen die Versorgung zusammenbricht.
schen Systemen gibt. Möglicherweise ist diese Vorgehensweise
auch ein Vorbild für die EU, die einen eher
zentralistischen Weg in der Gesundheits- >
vielen Stellen sehr kooperativ gegenüber
dem Gesetzgeber, gegenüber dem Öffent-
lichen Gesundheitsdienst gezeigt. Sie hat
ihre Aufgabe gut bewältigt.“
Zweigliedrige Versorgung
Was mit Blick auf die Vertragsärzteschaft
nicht in Vergessenheit geraten sollte: Auch
wenn Corona das beherrschende Thema
war, hatten die Niedergelassenen „neben-
her“ eine Regelversorgung aufrechtzuer-
halten. In normalen Zeiten finden in den
Praxen 3,9 Millionen Patientenkontakte
pro Tag statt. Dazu gehören viele chro-
nisch Kranke und ältere Menschen, die auf Bundeskanzlerin Angela Merkel
8 KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft endet zum Jahreswechsel, anschließend übernimmt Portugal.
Session 7 (10:30 Uhr-12:00 Uhr)
Öffentliche Gesundheit im Lichte einer transnationalen Dimension
Angesichts der Covid-19-Pandemie ist eine gute Zusammenarbeit von öffentlichen Einrichtungen und Gesundheits-
institutionen von großer Bedeutung. Nicht immer lief sie reibungslos, weshalb sowohl auf EU-Ebene als auch in
den Mitgliedstaaten Reformen diskutiert werden. Das Forum fragt Dr. Ute Teichert (bvögd), Caroline Costongs
(EuroHealthNet) und weitere Akteure aus dem öffentlichen Gesundheitswesen nach Best-Practice-Ansätzen und
(digitalen) Kooperationsmöglichkeiten.
Session 8 (10:30 Uhr-12:00 Uhr)
Akut- und Notfallversorgung
In Deutschland wird die medizinische Akutversorgung sowohl durch die Niedergelassenen, die Krankenhäuser und den
Rettungsdienst sichergestellt. Die Verzahnung der einzelnen Bereiche ist komplex. Das Forum dreht sich um innovative
(digitale) Wege der Kooperation und bietet mit Freddy Lippert (Emergency Medical Services Kopenhagen), Jörg Müssig
(Verband der Feuerwehren NRW) und weiteren Gästen aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten Raum für Austausch und
Vernetzung.
Session 9 (10:30 Uhr-12:00 Uhr)
Versorgungsforschung
Erste Befunde aus der Versorgungsforschung legen nahe, dass eine weitgehend ambulante Versorgung der Covid-
19-Patienten dazu beigetragen hat, dass Krankenhäuser und Intensivstationen nicht überlastet worden sind. In dem
Fachforum tauschen Prof. Dr. Jörg Debatin (Health Innovation Hub), Dr. Dominik Graf von Stillfried (Zentralinstitut für die
kassenärztliche Versorgung in Deutschland) und weitere Gäste erste Erfahrungen aus und stellen Studienkonzepte vor.
KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020 9
TITEL
politik einschlagen will. Die Entschließung die Pandemie Auswirkungen auf das Agie- hat sich herausgestellt, dass wir bei den
des Europäischen Parlaments vom 10. Juli ren der EU in der Zukunft hat. Denn es Lieferketten und den On-Demand- oder
2020 zur Strategie der EU im Bereich der gäbe gewisse Dinge, die man europaweit Just-In-Time-Lieferungen, wie wir sie heut-
öffentlichen Gesundheit für die Zeit nach abstimmen könnte, denkt man nur an die zutage kennen, ein hohes Risiko fahren.
der Covid-19-Pandemie lässt größtenteils erneute Verortung von pharmazeutischer Hier ist sicher eine Abstimmung innerhalb
darauf schließen. Industrie oder grundsätzlich an medizini- der EU sinnvoll, wie man das in Zukunft
sche Artikel, dass diese wieder in der EU besser regeln wird.“
„Das Konzept der selbstständigen, produziert werden. Wir haben ja gesehen,
freiberuflich tätigen Ärzte in der EU, das wie sehr wir von Lieferketten in Asien Thomas Schmitt, Hendrik Schmitz
gesamte ambulante System, so wie wir das abhängig sind.“
in Deutschland praktizieren, ist einzigar-
tig. Deswegen gibt es sehr wenig Verständ- Auch KBV-Vize Hofmeister weist darauf
nis für die Logik dieses Systems in der hin, dass es wichtig ist, sich dieser Pro-
EU“, sagt KBV-Vize Hofmeister. Inwieweit blematik europaweit anzunehmen: „Mit
das deutsche System der ambulanten der deutschen Ratspräsidentschaft in der
Versorgung und der Selbstverwaltung Pandemiezeit ist es natürlich wichtig, sich
ein Muster für Europa sein kann, müssen noch einmal neu um die Versorgungswege Weitere Informationen zum
die politisch Verantwortlichen abwägen. zu kümmern. Das gilt für Arzneimittel. Programm und zur Anmeldung unter:
Eine Empfehlung und ein Angebot ist es Das gilt aber auch für Schutzmaterialien, www.healsy20.de
allemal. Gassen: „Es bleibt zu hoffen, dass persönliche Schutzausrüstungen. Da
DREI FRAGEN AN ... PROF. DR. REINHARD BUSSE,
PROFESSOR FÜR MANAGEMENT IM GESUNDHEITSWESEN AN DER TECHNISCHEN UNIVERSITÄT BERLIN
halb von Krankenhäusern zu legen, wie in etwa zur Erstattungsfähigkeit vor Ort je
Dänemark, Finnland oder eben Deutsch- nach Gegebenheiten unterschiedlich
land, war da eindeutig besser. ausfallen kann.
Die EU-Kommission neigt dazu, vieles zu Was empfehlen Sie Europa, um für eine
zentralisieren – gerade auch im Bereich weitere Corona-Welle oder andere Pande-
Die Covid-19-Pandemie hat die europä- der Gesundheitspolitik. Welche Gefahren mien vorbereitet zu sein?
ischen Staaten ganz unterschiedlich lauern hier?
getroffen. Wie erklären Sie sich das? Erste Regel, die eigentlich für alle Politiken
Ich finde, die EU insgesamt beziehungs- gilt: Kein Land macht es perfekt, und alle
Ganz wesentlich war, wie und wo getestet weise die Kommission setzen die Länder sind gut beraten zu gucken, wie
wurde beziehungsweise wo sich Patien- verschiedenen Instrumente sehr gut andere Länder es machen und was man
ten hinwenden mussten. In Frankreich, ein: soweit wie möglich koordinierende von diesen lernen kann. Zweite Regel, die
aber auch in der Lombardei, wurde zum Netzwerke (etwa für Health Technology eng damit verbunden ist: Politik sollte auf
Beispiel initial fast ausschließlich in Kran- Assessment), aber wenn Mitgliedstaaten der Basis bestverfügbarer Evidenz erfol-
kenhäusern getestet, was dazu führte, dennoch ohne gute Gründe zu sehr unter- gen, und nicht auf Glauben oder Ideologie.
dass nicht nur Patienten mit Symptomen, schiedlichen Entscheidungen kommen, Bei Corona heißt „bestverfügbar“, dass
sondern auch nur mit dem Wunsch nach kommen Richtlinien zur Anwendung, die die Basis sich durch den wissenschaftli-
Abklärung dorthin gingen – und sich Ziele harmonisieren, aber den Umset- chen Erkenntniszuwachs laufend ändert.
schlimmstenfalls dann dort tatsächlich zungsweg den Mitgliedstaaten überlas- Das European Observatory on Health
ansteckten. In Frankreich wurden dann sen. Wenn das wie bei den Medizinpro- Systems and Policies hat mit der Weltge-
70 Prozent aller Testpositiven auch statio- dukten immer noch zu Problemen führt, sundheitsorganisation und der Europäi-
när behandelt! Auch die Idee, Covid-Pati- kommen Verordnungen zum Zuge, die die schen Kommission den „Covid-19 Health
enten in leere Pflegeheim-Betten zu legen Entscheidungen harmonisieren, wie etwa System Response Monitor“ aufgebaut, der
wie in Spanien oder der Lombardei, war bei der Arzneimittelzulassung von Or- kontinuierlich für über 50 Länder deren
eine ganz dumme Idee, die die Epidemie phan drugs. Für eine Zentralisierung der Corona-Politik nach Themen aufarbeitet
insbesondere in hohen Altersgruppen Entscheidungskriterien und Evidenzge- und auch länderübergreifende Analysen
angeheizt hat. Den Fokus auf Testen und nerierung (etwa zum Nutzen) gibt es gute anbietet.
Behandeln so lange wie möglich außer- Gründe, auch wenn die Entscheidung
10 KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020MELDUNGEN AUS DEM BUND
Schutz vor Gewalt und
Missbrauch wird Teil des QM
Zur Vorbeugung von Missbrauch und Gewalt an Kin-
dern, Jugendlichen und hilfsbedürftigen Personen wird
die Richtlinie für Qualitätsmanagement (QM) in Praxen
entsprechend ergänzt. Der Beschluss des Gemeinsa-
men Bundesausschusses sieht vor, dass medizinische
Einrichtungen künftig entsprechende Maßnahmen umset-
zen. Je nach Einrichtungsgröße, Leistungsspektrum und
Patientenklientel wird über das spezifische Vorgehen zur
Sensibilisierung des Teams sowie über weitere geeignete
Maßnahmen entschieden. Dies können Informationsma-
terialien, Kontaktadressen, Schulungen/Fortbildungen,
Verhaltenskodizes, Handlungsempfehlungen, Inter-
Zi-Zwischenergebnis zu
ventionspläne oder umfassende Schutzkonzepte sein. Corona: Kostensteigerungen
Betroffene Kinder und Jugendliche sollen zusätzlich
die Möglichkeit haben, in medizinischen Einrichtungen
für die Praxen
Unterstützung und Hilfe zu bekommen. (hes)
Durchschnittlich mehr als 1.000 Euro mussten niederge-
lassene Ärztinnen und Ärzte während der Corona-Pande-
mie bisher für Schutzausrüstung aufwenden. Zusätzlich
fielen wöchentlich im Schnitt zwei bis drei Stunden
Mehrarbeit an, insbesondere aufgrund von Videosprech-
stunden und Änderungen im Terminmanagement. Das ist
das Zwischenergebnis einer Befragung des Zentralinsti-
tuts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland
(Zi) unter rund 1.800 teilnehmenden Arztpraxen. Im
Jahr 2019 schlugen derweil besonders die IT-Kosten zu
Buche: Mehr als 6.000 Euro mussten die Praxen hierfür
durchschnittlich ausgeben – eine Steigerung von fast
30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Zi-Befragung
„Besondere Kosten im Praxismanagement“ sieht vor, die
Folgen von Terminservice- und Versorgungsgesetz sowie
Datenschutzgrundverordnung für die Vertragsärzte und
Vertragspsychotherapeuten zu ergründen. Angesichts
G-BA ermöglicht der besonderen Lage entschied sich das Zi dafür, ein-
zelne Ergebnisse bereits vor Ablauf des Erhebungszeit-
Krankschreibung per Video raums zu veröffentlichen. (hes)
Vertragsärztinnen und -ärzte können ihre Patienten
zukünftig auch per Videosprechstunde krankschreiben.
So sieht es ein Beschluss des Gemeinsamen Bundesaus-
schusses (G-BA) vor. Bislang mussten Patienten zwin-
gend zur Untersuchung in die Praxis kommen, wenn sie
eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) benötigten.
Voraussetzungen für die AU per Video sind, dass der
Patient der Praxis bekannt ist und die Krankheit in einer
Videosprechstunde untersucht werden kann. Eine Krank-
schreibung ausschließlich auf Basis eines Telefonates,
einer Chat-Befragung oder eines Online-Fragebogens ist
explizit ausgenommen. Auch haben Patienten keinen
Anspruch darauf, dass der Arzt ihnen in einer Online-
Visite eine AU-Bescheinigung ausstellt. Zudem kann eine
Krankschreibung per Video bei erstmaliger Feststellung
für maximal sieben Kalendertage ausgestellt werden.
Falls der Patient weiterhin krank sein sollte, muss er die
Praxis aufsuchen. (hes)
KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020 11GRIPPESCHUTZ-IMPFUNG
Kleiner Pieks, große Wirkung
Selten war sie so wichtig wie in diesem Jahr: Die Covid-19-Pandemie macht eine Influenza-Impfung in
der Saison 2020/2021 insbesondere für Risikogruppen geradezu unerlässlich. Die niedergelassenen
Ärztinnen und Ärzte sind jedenfalls bestens vorbereitet.
G erade in Zeiten von Corona ist
es wichtig, dass zusätzlich zum
Pandemiegeschehen nicht auch
noch eine Grippewelle um sich greift
und insbesondere ältere Mitbürger und
allem für Menschen, die ein besonders
hohes Risiko für schwere Verläufe einer
Influenza oder von Covid-19 haben. Laut
STIKO ist eine hohe Impfquote in der
Risikogruppe so wichtig, da sie nicht nur
so zufriedenstellend, dass da nicht noch
Verbesserungsbedarf wäre. Die KBV und
die KVen, die Vertragsärztinnen und -ärzte
bringen daher schon seit Jahren viel Geld
und Mühe auf, um die Bevölkerung immer
chronisch Kranke bedroht“, sagt Dr. individuellen Schutz vor Influenza und wieder ans Impfen zu erinnern. Die Bun-
Stephan Hofmeister, stellvertretender Vor- einer doppelten Infektion bietet. „Vielmehr desregierung tut das auch. Und da dürfen
standsvorsitzender der Kassenärztlichen entlastet sie auch das Gesundheitssystem“, wir einfach nicht nachlassen.“
Bundesvereinigung (KBV). Daher seien heißt es aus der Kommission. Allerdings
die Praxen in diesem Jahr auf eine höhere weist sie darauf hin, dass dafür eine deut-
Nachfrage vorbereitet. „Es ist gelungen, lich höhere Impfquote in der Risikogruppe
25 Millionen Impfdosen für Deutschland nötig sei. Die bisherige Influenza-Impfbe-
zu sichern. Durch das wohnortnahe Netz teiligung sei unzureichend. Durchimpfungsrate meist
von 100.000 Arztpraxen ist sichergestellt, zu niedrig
dass wir alle impfen können, die geimpft Demnach haben sich in der Saison 2018/19
werden müssen.“ nur rund 35 Prozent der Menschen ab 60 Es geht um ein grundsätzliches Problem:
Jahren und zwischen 20 und 50 Prozent Denn die Durchimpfungsraten in der
der chronisch Kranken impfen lassen. Bevölkerung sind bei vielen Impfungen
Eine Untersuchung des Robert Koch- zu niedrig – gerade auch Kinder und
Instituts (RKI) über drei Saisons zeigte, junge Erwachsene sind unzureichend
Entlastung für dass lediglich 36 Prozent der geimpften geschützt. So hat das RKI erstmals Daten
Gesundheitssystem Personen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko zum Impfstatus aus den Schuleingangs-
jedes Jahr eine Influenza-Impfung erhalten untersuchungen und Abrechnungsdaten
Die Ständige Impfkommission (STIKO) haben. KBV-Vize Hofmeister: „Die Impfra- der niedergelassenen Ärzteschaft in einem
empfiehlt die Grippeschutz-Impfung vor ten der vergangenen Jahre sind noch nicht gemeinsamen Bericht ausgewertet und in
12 KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020einer Gesamtschau dargestellt. „Die Ergeb- men, die in der Medizin zur Verfügung
nisse zeigen, dass immer noch wichtige stehen. Das gilt eben gerade auch für die
Infomaterialien für die Praxis
Impfziele verfehlt werden. Entscheidende Grippe-Impfung. Besonders in der Risiko-
Impfquoten bei Kindern und Jugendlichen gruppe sinkt bei Geimpften die Wahr-
Angesichts der Covid-19-Pande-
in Deutschland sind in allen Altersberei- scheinlichkeit schwerer oder tödlicher
mie ist es in dieser Grippesaison
chen zu niedrig“, betont RKI-Präsident Verläufe einer Grippe-Erkrankung. Im Fo-
besonders wichtig, dass sich
Prof. Dr. Lothar Wieler. Zudem würden kus stehen hier vor allem Personen ab 60
möglichst viele Menschen impfen
Impfserien zu oft später begonnen, als von Jahren, bei denen die Abwehrkräfte und
lassen, damit sich die saisonale
der STIKO empfohlen, und nicht zeitge- die Leistungsfähigkeit des Immunsystems
Influenza und das Pandemiege-
recht abgeschlossen. Dadurch bleiben beginnen nachzulassen. Zudem gehören
schehen nach Möglichkeit wenig
Kinder unnötig lange ungeschützt und es auch Kinder, Jugendliche und Erwachsene
überlagern. Die Kassen-
werden wichtige internationale Impfziele mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung
ärztliche Bundesvereinigung
zur Ausrottung von Masern oder Polio infolge eines Grundleidens (zum Beispiel
ruft daher gemeinsam mit den
verfehlt. chronische Herz-Kreislauf-, Leber-, Nieren-
Kassenärztlichen Vereinigungen
oder Stoffwechselkrankheiten), Schwan-
bundesweit zur Grippeschutz-
gere ab dem zweiten Schwangerschafts-
Impfung auf. Ärzte können ihre
drittel sowie Bewohner von Alten- und
Patienten mit einem Plakat, einer
Pflegeheimen zur Risikogruppe. Und durch
Wirksame Prävention den direkten Kontakt mit Influenza-
Infokarte und einem Video für das
Wartezimmer auf die Impfung hin-
Patienten besteht auch für medizinisches
weisen. Die Materialien stellt die
Daher rät die STIKO im Allgemeinen dazu, Personal eine größere Gefahr, sich selbst
KBV kostenlos zur Verfügung.
nicht nur die Grippeschutz-Impfung, son- zu infizieren. Schlussendlich sollten sie
dern alle von ihr empfohlenen Impfungen alle deshalb keinesfalls auf den kleinen
Video zur Grippeschutz-Impfung:
altersentsprechend durchzuführen. Denn Pieks mit großer Wirkung verzichten.
www.kbv.de/438988
Impfungen gehören zu den wichtigsten
und wirksamsten präventiven Maßnah- Thomas Schmitt
DREI FRAGEN AN ... DR. STEPHAN HOFMEISTER,
STELLVERTRETENDER VORSTANDSVORSITZENDER DER KASSENÄRZTLICHEN BUNDESVEREINIGUNG
Warum ist Impfen Sache der Ärzte? ja nach wie vor regressbewehrt – wenn
aktuell auch etwas weniger schwer-
Impfen ist und bleibt eine ärztliche Aufga- wiegend als zuvor. Nach der Regelung
be – und das aus gutem Grund. Das rein für die kommende Impfsaison gilt eine
Technische ist dabei nicht das Schwierige. Überschreitung der bestellten Impfstoff-
Den Pieks kann jeder. Impfen beinhaltet Menge von bis zu 30 Prozent gegenüber
Seit März 2020 dürfen Apotheker im Rah- vor allem die Impfanamnese, die Aufklä- den tatsächlich erfolgten Impfungen
men von Modellvorhaben Versicherte der rung zur Impfung, den Ausschluss von aku- grundsätzlich nicht als unwirtschaftlich.
gesetzlichen Krankenkassen gegen Grippe ten Erkrankungen und Kontraindikationen Damit wurde die von Bundesgesundheits-
impfen. Entsprechende Projekte stehen sowie bei bestehenden Erkrankungen die minister Jens Spahn eingeführte Regelung
in verschiedenen Bundesländern in den Bewertung, ob eine Impfung durchgeführt zur Wirtschaftlichkeit angepasst, wonach
Startlöchern. werden kann. Darüber hinaus können bei Ärzte für zu viel bestellten Impfstoff zahlen
Impfungen seltene, aber schwerwiegende sollen. Aber eine Praxis muss immer eine
Sind die Impfprojekte des Gesetzgebers Komplikationen auftreten, die beispiels- Balance finden in der Bevorratung von
notwendig? weise im Falle eines allergischen Schocks Impfstoffen. Auch das hat die Kolleginnen
sofortiger Notfallmaßnahmen bedürfen. und Kollegen an den Impfprojekten in
Die KBV hat von Anfang an gesagt, dass sie All dies kann definitiv nur ein Arzt machen. Apotheken so verärgert: Der Apotheker,
das nicht für erforderlich hält. Apotheken der uns Impfstoffe liefern soll, darf nun
sind kein Ort zum Impfen. Diese wichtige Wie hinderlich ist der Regress für selbst impfen und unterliegt dabei kei-
präventive Aufgabe muss in ärztlicher Hand Impfstoffe? nem Regressrisiko.
bleiben. Und dafür gibt es gute und schwer-
wiegende Gründe. Nun steht es zwar so im Der Regress für Impfstoffe muss weg.
Gesetz, sinnvoll wird es aber dadurch nicht. Insbesondere die Grippe-Impfstoffe sind
KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020 13INTERVIEW
„Die Selbstverwaltung ist die
beste Ordnungsform“
Professor Roland Czada ist Politikwissenschaftler und beschäftigt sich unter anderem mit Staats-
theorie und Verwaltungsforschung. Im Klartext-Interview spricht er über die „Intelligenz der Demo-
kratie“, die Vorteile des deutschen Gesundheitssystems und Europas Handeln in der Krise.
Die Corona-Krise sorgt seit Anfang des Deutschland. Corona beschert der Politik Welche Lehren kann Deutschland und
Jahres für eine weltweite Ausnahmesitu- neben Problemen eben auch Möglichkei- welche Lehren kann Europa aus dem
ation. Wie schwierig ist es, ausgerechnet ten. Wie immer steigen in Krisenlagen bisherigen Verlauf der Krise ziehen?
in dieser Zeit die EU-Ratspräsidentschaft mit der Herausforderung die Zustim-
zu übernehmen? mungswerte von Regierungen, und damit Eine umfassende Schadensbilanz können
öffnen sich politische Gelegenheitsfens- wir erst im nächsten Jahr aufstellen. Dann
Krisen bieten immer auch Chancen, ter. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft erst lassen sich auch die Pandemiefolgen
etwas zu tun, was in normalen Zeiten erscheint vor diesem Hintergrund fast im Licht der Corona-Politik beurteilen. Die
scheitern müsste. In der Hinsicht schrieb wie ein Geschenk des Himmels. Sie Art und Intensität der Maßnahmen unter-
die Corona-Krise schon jetzt Geschichte. ermöglicht eine große gestalterische scheiden sich im internationalen Vergleich
Ein Gemeinschaftskredit der EU über Weichenstellung. Wie die Langfristfolgen erheblich. Anfangserfolge taugen oft wenig,
750 Milliarden Euro zur Bewältigung der für einzelne Politikfelder – Energie- und den Ausgang komplexer, teils unverstan-
Pandemiefolgen erschien zuvor unmög- Klimapolitik, Arbeit, Gesundheit, Trans- dener Krisenverläufe vorherzusagen.
lich, ebenso die 180-Grad-Wende vom port und Verkehr – aussehen, kann aber Gleichwohl sind erste politische Lehren
Sparhaushalt zum Schuldenhaushalt in letztlich nur die Geschichte lehren. aus dem bisherigen Verlauf gezogen
14 KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020„Die Corona-Pandemie hat die
Leistungsfähigkeit des politischen Systems bestätigt.“
worden. Sie sind aber nicht einheitlich: system zum Ort massenhafter Ansteckung Krise auf die Legitimität des deutschen
Nationale oder europäische Krisenlö- werden konnte. Die medizinische Bewäl- Ansatzes ausgewirkt beziehungsweise
sungen stehen im Spannungsverhältnis tigung der SARS-CoV-2-Pandemie gilt wird sie dies in Zukunft tun?
zu dezentralen Maßnahmen, die vor Ort weltweit als Beweis für die Leistungsfä-
getroffen werden. Grundsätzlich entstehen higkeit des deutschen Gesundheitswesens. Akzeptanz beruht überwiegend auf Leis-
und zeigen sich Gefahrenlagen, selbst In dem vom Johns-Hopkins-Center for tung und Zweckerfüllung. Das gilt für das
wenn sie global auftreten, in örtlichen Health Security erhobenen „Global-Health- Gesundheitssystem mehr als für andere
Zusammenhängen. Seuchenvorbeugung Security“-Index belegte es einen respekta- Politikfelder. Ein Autobahnstau oder eine
durch allgemeingültige Regelwerke und blen Rangplatz 14 von 195, der sich infolge Zugverspätung sind lästig. Staus und
Seuchenbekämpfung je nach akuter Ge- relativ geringer Covid-19-Sterberaten noch Verspätungen im Gesundheitssystem
fahrenlage vor Ort! Das ist eine Lehre, die einmal deutlich verbessert hat. Die vor der tangieren das Recht und den Wunsch auf
seit biblischen Zeiten gilt und auch auf die Pandemie ermittelte GHS-Rangfolge mit Leben. Ich bin sicher, dass die Pandemie
Corona-Pandemie zutrifft. den USA, Großbritannien, den Niederlan- den Stellenwert von Gesundheitsdiensten
den und Schweden an der Spitze geriet in und deren Ordnungsform verstärkt ins
Wie gut hat die Zusammenarbeit inner- Kritik, weil sie mit der tatsächlichen Perfor- Bewusstsein gerückt hat. Die verglei-
halb Europas funktioniert? manz dieser Länder im Verlauf der Pande- chende Gesundheitssystemforschung
mie nicht übereinstimmt. Der neu erhobene hat schon jetzt darauf reagiert und eine
Erstaunlich gut. Wer hätte gedacht, dass „Covid-19 Safety Index“ benennt nun das Neubewertung von Erfolgsparametern
es zur europaweiten Vergemeinschaftung deutsche Gesundheitssystem erstrangig als erkennen lassen. Der leichte Zugang zu
von Schulden und deren Haftungsrisiken „Top Performer“. ambulanten Versorgungsleistungen in
kommen würde, etwas wogegen sich die der Fläche genießt dabei höchste Wert-
deutsche Regierung seit Jahren vehement Ein anderer Baustein der medizinischen schätzung.
gewehrt hatte. Die europäische Verhand- Versorgung in Deutschland ist die Selbst-
lungsdemokratie hat erneut eine Krise verwaltung – welchen Nutzen bringt Inwiefern haben diese vorhandenen
genutzt und in vertiefte Zusammenarbeit diese Ärzten und Patienten? Strukturen Deutschland in der Corona-
umgemünzt. Das lässt sich nicht rückgän- Krise geholfen?
gig machen und wird einer Anpassung Die Medizin sieht ihre Aufgabe darin,
der EU-Vertragsgrundlagen den Weg Kranke zu heilen und ihnen ein le- Was den Zugang und die Medikation
ebnen. Insofern ist es ein Vorgang von benswertes Dasein zu ermöglichen. Die betrifft, ist das deutsche GKV-System
historischer Tragweite. Ermöglicht wurde Ärzteschaft war immer Fürsprecher der nahezu unschlagbar – auch wegen seiner
er durch den Wechsel der Bundesregie- Patienten, während Krankenkassen und Flexibilität und Fähigkeit zur Spontanre-
rung aus dem Lager der Sparländer in das Regierungen über die Ausgaben des aktion, die es in der Pandemie erkennen
der ausgabefreudigen Defizitländer. Der Gesundheitssystems zu wachen haben. ließ. Autonomiespielräume im vertrags-
Sinneswandel rührt auch daher, dass 2021 Die daraus entstehende Konfliktlinie tritt ärztlichen Versorgungssystem haben
mit der Bundestagswahl, sechs Landtags- in der Selbstverwaltung der gesetzlichen dazu beigetragen. Hinzu traten Maß-
wahlen und zwei Kommunalwahlen ein Krankenversicherung (GKV) klar zutage. nahmen staatlicher Gefahrenvorsorge.
Superwahljahr bevorsteht. Corona befeu- Sie dient dem friedlichen Interessenaus- Da war meines Erachtens der föderative
erte einen auch wahlpolitisch motivierten gleich ebenso wie einer evidenzbasierten Staatsaufbau von Vorteil. Vereinheitli-
Etat- und Konjunkturzyklus, den sich die Qualitätssicherung. Es ist keine perfekte, chung führt oft zu inadäquater Verein-
amtierende Regierung nicht besser wün- aber im internationalen Vergleich meines fachung. Damit werden Probleme nicht
schen konnte. Dass europäische Solidari- Erachtens die beste Ordnungsform. In gelöst, sondern sogar verschlimmert. Es
tätsbekundungen die Wiederwahlchancen Selbstverwaltung erlassene Therapienor- erwies sich als nützlich, dass Länder,
regierender Parteien stärken, kommt nicht men werden im Kreis sachverständiger Kreise und Städte in der Pandemie relativ
alle Tage vor. Leistungsträger beschlossen und nach autonom reagieren konnten. Die deutsche
deren professionellen Qualitätskriterien Corona-Politik ist so zu einem Lehrstück
Deutschland ist bisher verhältnismäßig umgesetzt. Wer wollte stattdessen nach in Subsidiarität geworden. Sie eröffnete
gut durch die Krise gekommen. Welchen Vorgaben politischer Parteifunktionäre Möglichkeiten, die im zentralisierten
Anteil hat daran die ambulante Versor- oder gemäß der Fülle seines Geldbeutels Einheitsstaat nicht einmal denkbar sind.
gung – auch im Vergleich mit anderen medizinisch behandelt werden? Das in Dazu zählen auch Fähigkeiten der Selbst-
europäischen Gesundheitssystemen? relativer Autonomie vom Staat funkti- organisation und Selbstkoordination, wie
onierende Solidarsystem erweist sich sie etwa in den Kassenärztlichen Vereini-
Weltweit einmalig wurden sechs von sieben gerade aus Patientensicht weltweit als gungen und dem von der Vereinigung für
Infizierten ambulant behandelt. Der Grund vorbildlich. Intensiv- und Notfallmedizin geführten
liegt im freien Zugang zu mehr als 100.000 DIVI-Intensivregister zur Erfassung der
deutschen Arztpraxen. Damit wurden nicht Politische und insbesondere auch Ge- Bettenkapazität auf Intensivstationen
nur Krankenhäuser entlastet. Der ambulan- sundheitssysteme leben von der Akzep- zum Ausdruck kommen. Es zeigte sich:
te Zugang vermied, dass das Gesundheits- tanz ihrer Teilhaber. Hat sich die Corona- Gesellschaftliche Verbände können >
KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020 15über die im Staatsaufbau angelegten können. Und wir haben Spielräume der Deutschland noch Monate später vor dem
föderalen Kompetenzschranken hinweg Selbstverwaltung, nicht nur in der Ge- Gebrauch von Masken warnten. Mehr
bundesweite Koordinationsleistungen sundheitsversorgung, sondern ebenso im Eigenverantwortung und ein offener Ex-
und Dienste anbieten. Bildungs- und Ausbildungssystem, in den pertendiskurs würden uns guttun, meine
öffentlich-rechtlichen Medien, auf dem Ar- ich. Das könnte auch Pseudoexperten
Rund um die Lockdown-Phase muss- beitsmarkt, in der Technikregulierung und und „Wunderheilern“ entgegenwirken.
ten Kanzlerin und Ministerpräsidenten im Kammerwesen. Die Corona-Pandemie Pfiffig fand ich die Umfunktionierung
schnell tiefgreifende Entscheidungen hat daran nichts geändert, sondern – man leerstehender japanischer Hotels in
treffen. Was bedeutet das für die Gewal- denke an das sozialpartnerschaftliche Quarantäne- und Krankenstationen,
tenteilung in Deutschland? Instrument der Kurzarbeit – eher noch jedenfalls angemessener als für fast 50
die Leistungsfähigkeit des politischen Millionen Euro eine Corona-Notklinik auf
Das deutsche politische System ist ein fein Systems bestätigt. dem Berliner Messegelände einzurichten.
austariertes Gebilde politischer Machttei- Neben dem, was ich aus Japan höre, sind
lung, das in der Politikwissenschaft als Was müssen wir künftig in ähnlichen Aus- mir Empfehlungen der WHO bekannt, die
Verhandlungsdemokratie bezeichnet wird. nahmesituationen besser machen – so- zum Beispiel den in Schweden einge-
Politische Problembearbeitung basiert auf wohl in Deutschland als auch in Europa? setzten Corona-Untersuchungsausschuss
Verhandlungslösungen. Darin kommt die gelobt hat. Dessen Ergebnisse werden
„Intelligenz der Demokratie“ besser zum Bereits vorhandene Vorschläge zielen we- Anfang 2021 erwartet. Früher kann man
Ausdruck als im zentralistischen Einheits- niger auf Neuerung als auf Optimierung. von politischen Gesamtstrategien wenig
staat. Wir haben keine einzig und allein Das Zehn-Punkte-Papier der Bundesärz- lernen, eher von einzelnen Schutzmaß-
verantwortliche nationale Mehrheitsre- tekammer ist dafür ein gutes Beispiel. Es nahmen und Therapieansätzen. Insge-
gierung, sondern 17 Regierungen, die enthält die Forderung nach einem künf- samt werden wohl andere Länder mehr
sich zusammenraufen müssen und auch tigen „interdisziplinären Expertenpool“, von Deutschland lernen als umgekehrt.
abweichende Entscheidungen präferieren der die Breite fachmedizinischer, virolo-
gischer, epidemiologischer Erkenntnisse Was halten sie von Reformbemühungen,
zum Ausdruck bringt und meinetwegen die EU-Gesundheitspolitik zukünftig
auch der historischen Seuchenforschung zentralistischer auszurichten und der
einen Platz geben sollte. Weiterhin werden EU-Kommission mehr Kompetenzen zu
angemahnt: ein Vorrat an Schutzmateria- übertragen?
lien, pandemiegerechte Kapazitätsplanun-
gen, schnellere Meldewege, Bevorratung Das ist ein Versuch, die Pandemie zur
von Testreagenzien und die Erhöhung von Kompetenzausweitung der Europäischen
Laborkapazitäten, die Ausbildung von Union zu nutzen. Vor Jahren schon wollte
Fachkräften und die Nutzung der Krise als sie die deutsche Selbstverwaltung über
Treiber für eine kosteneffiziente Digitali- ihre Binnenmarktrichtlinie aushebeln.
sierung. Dies sind Forderungen einer sach- Kaum erschien deren Bestand als Ins-
verständigen Ärztekammer, nicht einer titution der Daseinsvorsorge gesichert,
politischen Partei oder einer Regierung folgte ein neuer Versuch, diesmal über
wohlgemerkt. Eine Strukturreform oder die geplante Gesundheitstechnologie-
gar Neuordnung des Gesundheitswesens Bewertungsrichtlinie 2011/24/EU. Auch
zählen nicht dazu. Solche Forderungen sie würde die Kompetenz der Selbstver-
finden wir in anderen Ländern und auf waltungsorgane schmälern. Schade,
der europäischen Ebene, auf der schon dass EU-Akteure, die sich auf das Sub-
lange um einen Kompetenzzuwachs in der sidiaritätsprinzip berufen, es in ihren
Professor Roland Czada ist emeri- Gesundheitspolitik gerungen wird. Plänen immer wieder vernachlässigen.
tierter Politikwissenschaftler an der Möglicherweise blieb das Konzept in den
Universität Osnabrück. Dort war er Was kann Deutschland hier von anderen meisten Mitgliedsländern unverstanden,
von 2002 bis 2019 Professor für Staat Ländern lernen? da es aus Erfahrungen des Alten Reiches
und Innenpolitik am Fachbereich und seiner Vordenker, etwa des Erfinders
Sozialwissenschaften. Er wurde 1952 Schon Anfang Februar, als die „Diamond der Subsidiaritätsidee, Johannes Althusi-
in Stuttgart geboren. 1979 legte er Princess“ vor Yokohama unter Quarantäne us, und der Genossenschaftstheorie eines
sein Magisterexamen in Politikwissen- lag und hierzulande noch Entwarnung Otto von Gierke hervorging. Subsidiari-
schaft, empirischer Kulturwissenschaft verkündet wurde, erklärte mir mein japa- tät ist ein Konzept, das den politischen
und Psychologie an der Universität nischer Kollege Hiroshi Murakami von der Denktraditionen einiger unserer zent-
Tübingen ab. Nach mehreren Stationen Ritsumeikan Universität Kyoto, wie man ralistisch organisierten Nachbarländer
als wissenschaftlicher Mitarbeiter Schutzmasken zur Mehrfachverwendung diametral entgegensteht. Die Aufgabe
in Konstanz und Berlin folgte 1986 aufbereitet. Er meinte, das Virus misst 130 der EU sehe ich weniger im medizinisch-
die Promotion, 1992 die Habilitation Nanometer und tritt in noch deutlich grö- therapeutischen Bereich als etwa in der
an der Universität Konstanz. Seine ßeren Klumpen auf. Eine Feinstaubmaske grenzüberschreitenden Normierung von
Forschungsschwerpunkte sind die aus dem Baumarkt könne es wirksam Telematikanwendungen und Kommunika-
politische Systemlehre, Sozialpolitik, zurückhalten: „Also kauf Dir eine und tionsschnittstellen.
Wohlfahrtsstaatsreform und politische behandle sie nach meinen Anweisun-
Ökonomie. gen!“, der Rat eines japanischen Politolo- Die Fragen stellten Birte Christophers,
gen wohlgemerkt, während Mediziner in Thomas Schmitt und Hendrik Schmitz
16 KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020MELDUNGEN AUS DEN LÄNDERN
BADEN-WÜRTTEMBERG
KVBW setzt
docdirekt fort NORDRHEIN
Das Telemedizin-Projekt docdirekt wird nach Beendigung Strukturfonds mit über
der zweijährigen Modellprojektphase mit neuem techni-
schen Partner weitergeführt. Statt wie bisher mit der Tele-
60 Förderungen für die
Clinic GmbH kooperiert die KV Baden-Württemberg (KVBW) ambulante Versorgung
beim Regelbetrieb der Plattform mit dem Unternehmen
Minxli. Per App können sich Versicherte der gesetzlichen Der Strukturfonds der KV Nordrhein zur Förderung haus-
Krankenkassen aus ganz Baden-Württemberg bei docdi- und fachärztlicher Niederlassungen unterstützte im ersten
rekt telemedizinisch beraten und behandeln lassen. Die Halbjahr 2020 bereits mehr als 60 Fördermaßnahmen.
KVBW konnte zeigen, „dass es viele Fälle gibt, in denen die Damit wurden im Zeitraum von Januar bis Juni 2020 Förder-
Telemedizin helfen kann. Sie ist eine gute Ergänzung zum mittel in Höhe von 2,6 Millionen Euro bewilligt und ausge-
normalen Praxisbetrieb“, so der stellvertretende Vorstands- zahlt. Zu den Empfängern zählen unter anderem Ärztinnen
vorsitzende der KVBW, Dr. Johannes Fechner. Ungefähr 80 und Ärzte mit Praxisneugründungen, Quereinsteiger in die
Prozent der Anfragen per Videoanruf konnten nach Angaben Allgemeinmedizin sowie Hospitanten und Famulanten im
Fechners abschließend geklärt werden. Der Dienst wurde Rheinland. Die Kreise Kleve und Rhein-Sieg profitierten
2019 als Beispiel für „Ausgezeichnete Gesundheit“ vom Zen- besonders vom Strukturfonds – hier wurden in Summe
tralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutsch- mehrere hunderttausend Euro ausgezahlt. Der Struktur-
land mit dem ersten Preis in der Rubrik „Versorgung digital“ fonds der KV Nordrhein wurde 2018 ins Leben gerufen,
prämiert. (fun) um Versorgungsengpässen entgegenzutreten. Durch die
gezielte finanzielle Bezuschussung sollen Anreize geschaf-
fen werden, sich auch in schlechter versorgten Gebieten
niederzulassen. Seit dem Start wurden bereits mehr als
150 Anträge auf Förderung bewilligt. (hes)
NIEDERSACHSEN
Arztauskunft mit
neuer Suchmöglichkeit HESSEN
zur Barrierefreiheit
Hessen startet
Barrierefreiheit in Praxen ist sowohl für körperlich und
geistig behinderte Menschen als auch für Ältere, Eltern
Modellprojekt
mit kleinen Kindern und Personen mit vorübergehenden
Einschränkungen ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl Zur besseren Ressourcennutzung in der Notfallversorgung
eines Arztes. Die KV Niedersachsen nimmt deswegen die startet die Kassenärztliche Vereinigung Hessen gemein-
Barrierefreiheit als zusätzliches Suchkriterium in ihre sam mit dem Hessischen Ministerium für Soziales, der
Arztsuche (www.arztauskunft-niedersachsen.de) auf. Hessischen Krankenhausgesellschaft, der Hessischen Lan-
Dort lässt sich ab sofort etwa nach Praxen mit induktiver desärztekammer, dem Hessischen Städtetag sowie dem
Höranlage, barrierefreiem WC oder Behindertenparkplatz Hessischen Landkreistag und den teilnehmenden Landkrei-
suchen. Auch die rund 3.600 uneingeschränkt barriere- sen ab Herbst ein sektorenübergreifendes Modellprojekt.
freien Praxen sind dort aufgeführt. „Jeder Mensch, unge- In den Landkreisen Gießen, Main-Kinzig und Main-Taunus
achtet körperlicher Einschränkungen, muss sich sicher sollen ab Oktober die ambulante und stationäre Versorgung
sein können, eine Arztpraxis ungehindert erreichen zu sowie der Rettungsdienst besser koordiniert und aufeinan-
können. Das Onlineportal der Arztauskunft Niedersach- der abgestimmt werden. Damit wird ein bekanntes Problem
sen bietet gute Möglichkeiten, sich bereits im Vorfeld adressiert: Patienten mit weniger schweren Erkrankungen
des Arztbesuches über die Zugangsmöglichkeiten zu suchen Notfallaufnahmen in Kliniken auf und binden dort
informieren“, bewertet die niedersächsische Sozial- und Ressourcen, die eigentlich für schwerwiegendere Fälle
Gesundheitsministerin, Dr. Carola Reimann, das zusätzli- gedacht sind. Durch digitale Systeme wie SmED und IVENA
che Angebot für Patienten. (hes) können sowohl Gesundheitsdaten an den nötigen Stellen
ausgetauscht als auch die Patienten nach Bedarf ans
Krankenhaus oder die Praxis weitergeleitet werden. (hes)
KBV KLARTEXT > 3. AUSGABE 2020 17Sie können auch lesen
