Wir müssen reden - Die Podcast-Story - Beck eLibrary
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Essay Wir müssen reden – Die Podcast-Story Das immer noch stark wachsende Podcast-Angebot ist ein Indiz dafür, dass die Gattung noch nicht die Phase der Konsolidierung erreicht hat. Erst wenn eine einheitli- Hans Knobloch che Währung geschaffen ist und die Herausforderung der Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK besseren Auffindbarkeit gelöst ist, wird eine Konsolidie- © H. Knobloch Wissenschaftlicher Mitarbeiter rung eintreten. Weniger, dafür größere Produktionsstu- hans.knobloch@zhdk.ch dios produzieren mehr reichweitenstarke Formate, deren wesentliches Kennzeichen starke Protagonisten sind. Auch dürfte sich das Angebot nach Zielgruppen klarer fragmentieren, als das bisher der Fall ist. Vor allem mehr Bernt von zur Mühlen in den Mainstream ausdifferenzieren und den Nimbus als das Medium für die Gebildeten ablegen. Und schließlich © B. v.z. Mühlen Beratung für Medien und Kultur wird den an die Erregungs-Plattformen längst verloren muehlen@mk-medienkultur.com geglaubten jüngeren Mediennutzern mit Podcasts ein www.mk-medienkultur.com „nachhaltiges“ Content-Medium ans Ohr gereicht. War Musik bislang der stärkere Treiber für die Medi- endigitalisierung von Audio, so verhelfen nun Podcasts der Gattung zu ihrem endgültigen Coming of Age. Deren Prof. Dr. Martin Zimper sprachnarrative Inhalte verpassen Audio den entschei- denden Push zur Mündigkeit und schlagen damit gleich Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK © M. Zimper Leiter des Instituts für Designforschung zwei mediendiskursive Fliegen mit einer Klappe: das Hö- martin.zimper@zhdk.ch ren gewinnt an Bedeutung, erlebt gar eine Renaissance. Und es scheint endlich ein Mittel gefunden worden zu sein, dem nicht entrinnbaren Gezerre um die Aufmerk- samkeit zumindest partiell zu entkommen. Schlüsselbegriffe: Podcast | Hörbuch | Audiothek | Storytelling | True Crime Am Anfang war das Wort. Es wurde mit einem 85-Dollar- Times, über das Internet und sollte etwas von der digitalen Mikrophon aufgenommen und über das Internet verbreitet. Aufbruchsstimmung, wie sie hippe Tech-Magazine wie Wi- Die Idee des Podcasts war geboren, auch wenn es den red verbreiteten, auch in das klassische Print tragen. Als Begriff noch nicht gab. „Avant la lettre“ lief die neue Me- Kind des frühen Internets war der Londoner dem iPod, dem diengattung unter der Bezeichnung Audioblogger, gespro- Vorläufer des iPhones, verfallen. Das Tech-Gadget deutete chene Blogs. Ein Nerd-Medium zur Jahrtausendwende, als schon früh das mobile Potential an, das in der Digitalisie- Hobby betrieben von Softwareentwicklern wie dem New rung lag. Konnte man doch auf dem 2001 von Apple auf Yorker Dave Winer oder dem MTV- und Radiomoderator den Markt gebrachten Gerät neben Musik-MP3s auch her- Adam Curry. Der Begriff Podcast kam erst ein paar Jahre untergeladene Audioblogs, später Rundfunkfunksendungen später auf. Der Medienwelt eingebrockt hat ihn – wie sollte – englisch „Broadcast“ – hören. Von hier war’s zum Neolo- es auch anders sein – ein Tech-Journalist. Ben Hammers- gismus „Podcast“ nicht mehr weit. ley schrieb damals für die britische Times, später auch NY https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020 MedienWirtschaft 49
Essay Diesen schrecklich technischen Begriff, den auch heute Das Medium, das sich erst noch noch keiner so recht aus dem Stehgreif definieren will, emanzipieren musste wenn er nicht muss, hat sich trotz seiner Sperrigkeit durch- gesetzt, wohl mangels Alternativen. Zugutehalten könnte Was sich hier positiv und negativ veränderte, war nicht zu- man ihm, dass er zumindest deskriptiv den Wesenskern der letzt die Mediennutzung. Medienmarken, die in regulierten neuen Mediengattung ganz gut erfasst. Es geht um Audio- Biotopen ihre Content-Gärten in der Prä-Smartphone-Ära Sprachinhalte, die man unterwegs, jederzeit auf dem iPod geruhsam hegen und pflegen konnten, mussten jetzt mitan- oder einem anderen MP3-Player hören konnte. iTunes, der sehen, wie die Mediendigitalisierung die Gärten zu einem digitale Bauchladen zur Fütterung der iPods, hat als erste globalen Acker umpflügte. Plötzlich konnte jeder alles an- kommerzielle Abspielplattform sicherlich wesentlich in der bauen und reich ernten, sofern das Ziehen der Früchte den Frühphase zur Verbreitung von Podcasts beigetragen und Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie gehorchte. Dafür auch so etwas wie einen ersten Podcast-Boom ausgelöst. waren Musik und Bewegtbild in einer guten Ausgangspositi- In der Prä-Smartphone-Ära eher noch ein Böömchen, das on. “Early iterations of new media transfer content over from sich auf MP3-Player beschränkte. Denn das nach heuti- another media” formulierte diesen Wandel sinngemäß Bill gen Maßstäben unfassbar aufwendige Herunterladen und Gates 1996 prophetisch in seinem Buch “The Road Ahead”4. Synchronisieren hinderte Podcasts noch am Auswachen zu Denn attraktive Angebote zum „Entbündeln“ gab es reich- einem Breitenphänomen. lich, auf die sich von überall und jederzeit über die Cloud zugreifen ließen. Alte und „wacklige“ Geschäftsmodelle wie „Bin ich schon drin?“ Napster konnten so in neue „stabile“ wie z. B. Spotify über- führt werden. Aus dem Online-Video-Verleih Netflix wurde Die Sperrigkeit des Begriffs kaschiert die Einfachheit des die Blaupause für Film- und Serienstreaming. Doch was soll- Mediums, sowohl in der Herstellung als auch Rezeption der te bei Audio entbündelt werden, wenn es nicht Musik war? Inhalte. Doch bis es richtig einfach werden sollte, musste sich erst eine mediale Revolution ereignen: die Mediendi- Der Sprach-Content war noch nicht in der Breite da, wie gitalisierung. Mit „Bin schon drin“ versuchte Boris Becker das für Musik oder Filmchen galt. Podcast musste sich zu- noch 1999 in einem Werbespot für AOL die Deutschen nächst von Radio emanzipieren. “Understanding podcasting ins Internet zu locken. Der Internet-Zugang war alles an- as distinct from radio initially lies in the technological and dere als selbstverständlich. Das änderte sich erst mit dem distributive from the broadcast signal to the digital dissemi- Smartphone, als das Internet mobil wurde und in die Ho- nation of individual audio files situated on an internet host sen- bzw. Handtasche wanderte. MP3-Player, Kamera und site and sent out to podcast-catcher software such as iTu- Telefon gab’s obendrauf. Doch – und das muss man sich nes or PlayerFM”5. Die Entwicklung der Inhalte ist deshalb eindrücklich in Erinnerung rufen – liegt dies noch nicht bei Podcasts wesentlich enger an die Mediendigitalisierung einmal eine Dekade zurück. Zwar wurde 2006, das erste geknüpft als das bei anderen Inhalten der Fall ist und am „Jesus-Phone“ von Apple1 in Cupertino seinen Jüngern ehesten mit jenen Social-Media-Inhalten vergleichbar, auch gereicht, doch sollte das Smartphone für viele Jahre noch wenn es sich dabei um gänzlich unterschiedliche Inhalte ein Nischenthema bleiben. Massenwirksam wurde seine und Nutzungssituationen handelt. Durchdringung erst Mitte der 2010er Jahre. 2009 nutzen gerade einmal 6,31 Mio. in Deutschland ein Smartphone, Bruderzwist zwischen Klein und Groß innerhalb von nur 6 Jahren versiebenfachte sich die Anzahl 2015 auf über 45 Mio.2. Damit ging die Verbreitung des Das ist der wesentliche Punkt, wo Podcasts definitorisch Übertragungsstandards 4G einher, das erste „schnelle“ In- plötzlich an Schärfe gewinnen und die Abgrenzung zu ande- ternet für unterwegs, zu immer günstigeren Kosten. ren gesprochen Audioinhalten wie Hörbücher oder Hörspiele nachvollziehbar wird. Form und Inhalt der letztgenannten Der mengenmäßig unlimitierte Zugriff auf Inhalte wurde Audiogattungen stammen aus der Prä-Smartphone-Ära. Sie schließlich durch die Cloud-Technologie möglich. Von der werden zwar heute auch über Smartphone genutzt, haben der damalige Microsoft-Technologievorstand Craig Mundie sich aber in ihrer Machart nicht verändert, während Pod- meinte, sie breite sich wie eine “Supernova” über die digita- casts in Form und Inhalten den durch die Mediendigitali- le Sphäre aus und dringe in alle Lebenssphären ein. „Eve- sierung gewandelten Nutzungen folgen. Und wenn sie dem rything is getting changed, and everyone is being impacted nicht folgen, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit by it, in positive and negative ways”3. um Audio-on-Demand, den Zweitverwertungen und Um- wandlungen von linearem Radiocontent. Diesen der Gattung 3 Friedman 2016, S. 90 1 Campbell & La Pastina 2010 4 Gates, B., in: Llinares et al. 2018 2 VuMa 2020 5 Llinares et al. 2018, S. 125 https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 50 MedienWirtschaft 2-3/2020 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb
Essay Podcasts zuzuschlagen ist sicherlich insofern legitim, als mehr „zugemüllt“ werden musste, schnelles mobiles Inter- Radio eine der historischen Ursprungsquellen, als „cultural net und leistbare Datenvolumina, und mittlerweile Podcasts reference point“6 gesehen werden kann. Fürs strukturelle in Hülle und Fülle – alleine in Deutschland waren auf Spotify Verständnis des neuen Genres ist dies aber eher hinderlich. 2019 bereits 12.000 Podcasts in deutscher Sprache ver- fügbar16: Waren mit Mitte der 2010er Jahre nun alle Vor- Hierin liegt der Ursprung vom Bruderzwist zwischen Radio rausetzungen erfüllt, damit diese junge Mediengattung ihren und Podcasting begründet. Für Radio kam Podcasting als Nesthäkchen-Status ablegen konnte? Frischzellenkur gelegen, weil es den Anschluss an die Digita- lisierung verhieß: „Where older media refashions themselves Auf der Suche nach dem Geschäftsmodell to answer the challenges of new media”.7 Anderseits tat Ra- dio Podcast gerne als etwas nervige, „laienhafte Cousine“8 Die Mediengattung Podcast erlebte dann tatsächlich gegen ab. Während umgekehrt Podcaster im Radio den langweili- 2016 einen Boom. Aus der Sicht der Werbeindustrie eher gen Onkel erblicken, der den Anschluss an die Zeit verpasst ein bescheidener Boom. 2019 kamen die Podcasts nach hat. Redaktionskonferenzen, vorgegebene Sendeplätze und einer Schätzung des Bundesverband Digitale Wirtschaft Längen, Freigabe vom Chefredakteur, wozu sollte das noch (BVDW) gerade einmal auf neun Millionen Euro, für 2020 gut sein. Mit der Mediendigitalisierung war doch die Zeit des rechnet man mit einem Zuwachs auf 14 Millionen Euro.17 „Prosumers“ angebrochen. „The podcaster controls their Es fehlte den Podcasts aber immer noch, was für die neue creative space in a manner that the radio broadcaster ne- Medienökonomie längst zur Grundlage geworden ist: aus- ver can.”9 Wenn ein Gespräch drei Stunden dauert, dauert reichend Daten. Wegen der Distribution auf die verschiede- es eben drei Stunden. Der Nutzer entscheidet, ob er sich nen Plattformen via RSS-Feeds gibt es nur unzureichende das antun will. Die Kontrolle des Inhalts geht vom Redakteur Daten über die Podcast-Hörer, ohne die eine skalierbare auf den Nutzer über. Vor- und Zurückspulen, Inhalte über- Vermarktungsstrategie nicht aufgebaut werden kann, so springen, der Nutzer hat’s im Daumen. Denn Podcasts wer- Matt Lieber, Mitgründer von Gimlet Media, einem der füh- den mehrheitlich zu 55 Prozent10 über Smartphone genutzt renden amerikanischen Podcast Produktionsfirmen, in ei- und damit über Kopfhörer gehört, die einen ähnlich hohen nem OMR Interview.18 Durchdringungsgrad haben: 86 Prozent der 16-29jährigen, der „Generation earpod“, und immerhin noch 83 Prozent der Sicherlich ein wichtiger Grund, sein Unternehmen für kol- 30-49jährigen besitzen in Deutschland einen Kopfhörer11. portierte 230 Millionen US-Dollar an Spotify zu verkaufen und es damit im buchstäblichen Sinne zu domestizieren. Dieser Trend bringt zum Ausdruck, was man als Abschot- Domestizieren heißt in der Welt der Datenökonomie, zu wis- tung vom „Weltenlärm“ bezeichnen könnte. Denn Kopfhörer sen wer was nutzt und warum. Letztlich Basis jeder Platt- sorgen für einen „… privatized personal space of securi- form-Ökonomie von Facebook, über YouTube bis zu Netflix. ty as they walk through potentially threating or unpleasant Was nach Ansicht des Harvard Ökonomen Bharat Anand19 conditions.”12 Daher ist die Aufmerksamkeit auf die Inhal- indessen sogar so weit geht, dass die Daten und Pflege der te gerichtet, hat einen Anfang und ein Ende, im Gegensatz Kundenbeziehungen zum eigentlichen Geschäftsziel gewor- zur „Nebenbei-Hörsituation“ beim „flow medium“13 Radio. den sind, für die der Content nur noch Mittel zum Zweck ist. Zudem haben „Podcaster häufig eine deutlich klarere Vor- stellung ihrer Community“14, die im Unterschied zur Radio- Podcasts tummeln sich mittlerweile auf allen möglichen hörerschaft sehr homogen ist. Podcasts können daher auch Plattformen, aber sie verschwinden immer noch in einem intimer und näher sein als Radio dies je sein kann. Folglich „Meer an gratis Audio“20. Inhalte exklusiv an eine Plattform nimmt das einen erheblichen Einfluss auf die Art und Weise zu binden, wie das bei Netflix oder Disney+ die Geschäfts- wie Podcasts produziert werden, „… earbuds allow for a grundlage ist, ist bei Podcasts, abgesehen von singulären hyper-intimacy in which the voice you hear is no way exter- Ausnahmen, nicht möglich, da ihre Nutzung kostenlos ist. nal, but present inside you”15. Auch verfolgen die einzelnen Plattformen unterschiedliche Geschäftsstrategien. Apple war historisch eine der ersten Hohe Marktdurchdringung von Smartphones und Kopfhörer, der Cloud, dank derer der endliche lokale Speicher nicht 16 Beim Pendeln, beim Hausputz, zum Einschlafen – Podcasts sind das neue Begleitmedium. NZZ 13.06.2020: https://www.nzz.ch/feuilleton/podcasts- 6 Berry 2018, S. 15 legten-eine-steile-karriere-hin-was-erklaert-den-erfolg-ld.1559769 7 Berry 2018, S. 23 17 Nachfrage nach Podcasts und Hörbüchern wächst in der Coronazeit 8 Spinelli & Dann 2016, S. 71 rasant. Handelsblatt 29.07.2020: https://www.handelsblatt.com/un- 9 Spinelli & Dann 2016, S. 66 ternehmen/it-medien/audio-markt-nachfrage-nach-podcasts-und-hoer- 10 YouGov 2020 buechern-waechst-in-der-coronazeit-rasant/26047506.html?ticket=ST- 11 Bitkom 2019 2057000-t7KKOEmeTesLVT9spqrd-ap4 12 Spinelli & Dann 2016, S. 84 18 OMR Interview mit Matt Lieber. 15.05.2019: https://omr.com/de/omr-pod- 13 Spinelli & Dann 2016, S. 84 cast-matt-lieber-gimlet-media/ 14 Preger 2019, S. 214 19 Bharat 2016 15 Spinelli & Dann 2016, S. 84 20 „see of free audio“. Spinelli & Dann 2016, S. 12 https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020 MedienWirtschaft 51
Essay Adressen für Podcasts, um iPods anzufüttern, damit Nut- Ihre Info- und Kulturwellen liefern im Gegensatz zu den zer möglichst wenig Anlass geboten werden sollte, dem kommerziellen Anbietern ausreichend Content zur „Ent- geschlossenen Biotop zu entfliehen. Für Google, die sehr bündelung“, mit dem sie als zweitverwertetes Audio-on- spät mit ihrer Podcast-App dazugekommen sind, ist es Demand die Podcasts-Plattformen unentwegt anfüttern nur ein weiterer B-Test, um das Hauptgeschäft „Search“ können. Was nicht unbedingt ein Nachteil für die hiesigen zu optimieren und vor allem den „Search“ für das weitaus privatwirtschaftlich agierenden Produktionsstudios wie attraktivere Geschäft der Sprachsteuerung fit zu machen. Bosepark, Podstars oder Viertausendhertz sein muss. Der Spotify schließlich hat Podcasts als Möglichkeit entdeckt, intensive Wettbewerb stärkt die Innovationskraft und spornt sich von den lästigen Lizenzgebühren der Musiklabels etwa an, die Bedürfnisse des Marktes besser zu verstehen. unabhängiger zu machen. Mit dem Millionen-Einkauf von Joe Rogan, Amerikas bislang erfolgreichstem Podcaster, Podcast das Medium der Gen Z der einer dieser singulären Ausnahmen ist, wird selbstbe- wusst das Fragezeichen hinter dem Geschäftsmodell durch Dort, wo „Public Broadcasting“ nicht so stark ist, wie etwa in ein Ausrufzeichen ersetzt. den USA, wird deutlicher, dass das Phänomen Podcast ein vor allem junges Medium ist, das sich außerhalb der etab- Doch was Spotify für Musik bereits lösen konnte, ist für lierten Medienmarken abspielt. 16 Prozent der Gen Z hören Podcasts noch immer unbeantwortet: Wie findet ein Nutzer täglich Podcasts, in den Alterskohorten über 25 Jahre sind es die Inhalte? „Discovery“ nennt die Branche die Herausfor- nur 9 Prozent.22 Der Podcast-Hit der jungen Zielgruppe heißt derung. Die Auffindbarkeit hat bisher noch keine Plattform „Welcome to Night Vale“ und ist der seit 2012 am längsten richtig im Griff. Die Empfehlungsalgorithmen, wie sie Ama- laufende und erfolgreichste Podcast der USA. Er ist das Werk zon perfektioniert hat, greifen aufgrund der unzureichenden von zwei New Yorker Schauspielern aus der Off-Theater- Datenlage noch nicht. Zwar mag es nur eine Frage der Zeit Szene. Mit Podcasts sahen sie die Möglichkeit, ein größeres sein, bis die Daten verfügbar, und damit auch eine bessere Publikum jenseits der versprengten 100 Theaterbesucher Skalierungs- und Vermarktungssituation gegeben ist. Doch zu erreichen. Bei sehr überschaubaren Produktionskosten: Audio-Inhalte sind nicht ohne weiteres skalierbar wie das für „85$ for a USB microphone, a 5$ hosting subscription, and Bewegtbild oder auch gedrucktes Narrativ, sprich Buch, gilt. a free audio software“23. Diese Investition sollte sich auszah- len. Mehr als 10 Million Abrufe – laut Selbstauskunft – hat Podcasts bleiben in der Regel ihrer Sprachregion verhaf- eine Folge der zweiwöchentlich erscheinenden Mystery- tet, auch wenn es vor allem für die jungen Generationen Geschichte mittlerweile, eine Art „Stranger Things“, das in mittlerweile aufgrund ihrer Mediensozialisation durch Com- dem fiktiven Wüstennest Night Vale im Südwesten der USA puterspiele, Social Media und Netflix gewohnt sind, eng- spielt. Das sind Zahlen, von denen man auf deutschsprachi- lischsprachige Inhalte zu konsumieren. Im Gegensatz zu gem Podcast-Terrain nur träumen kann, nur schon aufgrund Büchern, Filmen und TV-Serien lassen sich Podcasts kaum der geringeren demographischen Skalierungspotentiale. Die oder gar nicht übersetzen. Und wenn man es täte, verlören erfolgreichsten Podcasts wie „Fest & Flauschig“ oder „Ge- sie viel von ihrer Wirkung bzw. es würde sich schlichtweg mischtes Hack“ kratzen bestenfalls an der Halbe-Millionen- ökonomisch nicht lohnen. Auch wenn Medieninhalte schon Marke pro heruntergeladener Folge, so ein Branchen-Insi- vor der Digitalisierung global waren – die Musik kam aus der. Denn überprüfen lassen sich die Zahlen (noch) nicht. Die Memphis oder Liverpool, Filme und Serien aus Hollywood Plattformen behalten ihre Zahlen für sich oder verstecken und NY – änderte die Digitalisierung die Geschäftsmodel- sie hinter Beliebtheits-Rankings. Dem Medium fehlt eine le von Grund auf. Unter der Prämisse „Alles, Überall und gemeinsame Metrik. Die gute Nachricht: die agma (Arbeits- Jederzeit“ lassen sich Medieninhalte weltweit mit zu Null gemeinschaft Media-Analyse) bastelt an einer Währung und hin tendierenden Grenzkosten, wie es der Ökonom Jeremy will Podcasts bereits 2021 in ihrer ma IPAudio erfassen. Rifkin21 aufzeigte, auf den digitalen Plattformen vermarkten. Buddy-Geschichten ziehen immer Exakt diesem Umstand ist es daher zu verdanken, dass sprachregionale Anbieter veritable Nischen besetzten kön- „Labercasts“ wie „Fest & Flauschig“ oder „Gemischtes nen. Im englischsprachigen Raum ist dies in erster Linie der Hack“ – medienwissenschaftlich besser als „Chatcasts“24 BBC und dem amerikanischen NPR, im deutschsprachigen oder „Conversational“ bezeichnet – haben hierzulande we- Raum der ARD mit ihrer Audiothek gelungen. Es ist kein sentlich zur Popularität des Mediums in jungen Zielgruppen Zufall, dass es sich bei den Genannten um Public Broad- beigetragen. Was an ihren Protagonisten liegen dürfte. Das caster handelt. 22 Edison Share of Ear 2020: https://www.edisonresearch.com/share-of-ear- research/ 23 Spinelli & Dann 2016, S.61 21 Rifkin 2014 24 Spinelli & Dann 2016, S. 4 https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 52 MedienWirtschaft 2-3/2020 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb
Essay Stakeholder im deutschen Podcast-Markt Quelle: OMR-PodStars / Website: www.podstars.de, abgerufen am 26.08.2020 sind Jan Böhmermann und Olli Schulz bzw. Felix Lobrecht Bei dieser Art von Podcasts handelt es sich in der Regel um und Tommi Schmitt. Beide Duos zeichnet ein intuitives, jen- ein Duo, das an jene Typen erinnert, die früher in der Pause seits von Marketingkalkülen getriebenes Zielgruppenver- auf dem Schulhof die anderen mit ihren flotten Sprüchen ständnis aus. Ebenso eine bühnenerprobte Schlagfertigkeit unterhalten haben. Der Rest der Klasse stand drum herum, und eine von Comedy geschultes Verständnis für Timing und dachte, so wären wir auch gerne. Und das ist exakt und Pointen, das auch regelmäßig in Live-Shows geprobt einer der Gründe, weshalb „Chatcasts“ so beliebt sind. Zum wird. Losgelöst von etablierten Medienmarken, nutzen sie Duo gesellt sich bestenfalls ein Dritter noch als Gast hin- den Freiraum, den ein „unabhängiges“ Medium bietet. Und zu. Oft spielt im Duo einer den Chef und der andere den spiegeln so wider, was das Medium von Anfang an aus- archetypischen Schelm, im Mediensprech sind das Host zeichnete: eine soft-anarchische, wider den Mainstream und Sidekick. Oft vermischen sich diese Rollen aber auch, stehende Haltung. Auch wenn Fest & Flauschig mit dem um den Host, den Protagonisten, unter der Oberfläche des Wechsel vom öffentlich-rechtlichen RBB zu Spotify sogar in postheroischen Zeitgeists zu verstecken. der Mainstreamliga aufgestiegen ist. Die Stimmen sind bei „Conversational“-Formaten im Ge- Dramaturgisch folgen die „Chatcasts“ der „Buddy-Story“25, gensatz zum Radio nicht das Entscheidende. Man gewöhnt wie sie schon seit Don Quijote erzählt wird und vor allem sich an die Stimme, wenn die Inhalte nur unterhaltend ge- im Kino von „Bluesbrothers“ bis hin zu „Findet Nemo“ nug sind, möglichst einem Geplauder beim Bier ähneln und popularisiert wurden. „Mein-geliebter-Kumpel“ als Story- nahe an der Lebenswirklichkeit der Nutzer sind. Gerne wird Motiv funktioniert, wie Blake Snyder, einer von Hollywoods die Exposition verwendet, um sich „warm“ zu reden, indem Drehbuch Gurus meint, „weil Geschichten über großartige man sich in den Macken seines Gegenüber ausweidet oder Freundschaften in jedem von uns einen Nachhall finden“26. sich über Belanglosigkeiten austauscht. Es folgen szenear- Im Gegensatz zum Film werden die handelnden Charakte- tige „Verhandlungen“ über das, was die Zielgruppe gerade re bei den „Chatcasts“ nicht in der Exposition eingeführt, so bewegt. Wie viele solcher Szenen es braucht, bis ein sondern über die Wiederholung „erlernt“, analog zu Fern- Podcast fertig ist, dafür gibt es keine feste Regel und hängt sehserien. Erst nach mehreren Folgen, d. h. einer Habitu- auch von der Dauer der einzelnen Szenen ab. Die Szenen alisierungsphase, sind die Figuren und ihre Rollen greifbar. sind im Kern „narrative Anekdoten“27 und mit viel drama- 25 Snyder 2015, S.50 26 Snyder 2015, S.50 27 Preger 2019, S. 89 https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020 MedienWirtschaft 53
Essay turgischem Wohlwollen ließe sich ein Ausfechten von These Handwerk. Es wirft aber auch die Frage auf, ob Theater- versus Antithese heraushören, das sich aber weniger der bretter die besseren Sprungbretter zu einer Podcast-Kar- publizistischen Wahrheit verpflichtet sieht, denn vielmehr riere sind als etwa Rundfunkstationen, die Hohepriester dazu dient, möglichst viel Reibungsfläche zu erzeugen, um des Faches Audio. Überall wo es um die „Produktion“ von Pointen zu generieren. Unterhaltung geht, und das ist heute vor allem Erzählen mit Bewegtbild, ist Know-how für Dramaturgie anzutreffen. Das Wir müssen reden gleiche gilt für Unterhaltung im Podcast, sei es rein fiktio- nale oder eben plaudernd wie in den „Labercasts“, deren Der Übergang von Comedy-orientierten Talkformaten zu Archetypus in Deutschland in den 90ern in der Harald- „normalen“ Gesprächen ist bei den „Conversational-Forma- Schmidt-Show entwickelt wurde. ten“ fließend. Was im Fernsehen aufgrund der limitierten Zeit Häppchenkost bleiben muss, kennt im Podcast kaum Nicht von ungefähr suchen Plattformen wie Audible, die zeitliche Grenzen. „Durch die Gegend“ spaziert der Kölner Amazon-Tochter für Audio, für Content-Aufgaben ihre Mit- Journalist Christian Möller Seite an Seite mit einem Promi arbeiter in der TV-Branche. Der Bertelsmann-Konkurrent schon mal eineinhalb Stunden, um beim Spazierengehen Audio Now, von dem man meinen könnte, er verfüge mit über den „Weltenlauf“ zu plaudern. Die Schriftstellerin Char- seinen RTL Radios bereits über umfangreichen Podcast- lotte Roche lehrte bis Juni des Jahres in „Paarideologie“ mit Content, reichert seine Plattform mit Inhalten aus den ihrem Mann Martin das kleine Beziehungseinmaleins be- Bertelsmann-Verlagen und der ARD Audiothek an, weil das vor sie Schluss machten, zumindest mit dem Podcast. Die Radio – abgesehen von launigen wiederverwerteten Come- „Pochers hier!“ haben während des Corona-Lockdown im dy-Rubriken – zu wenig abwirft. Bei ProSiebenSat.1 be- fliegenden Wechsel übernommen. Comedian Oliver Pocher gründete der Zusammenhang von filmischen Erzählen und „verspricht die schonungslose Wahrheit“, den Scherben- Podcasts sogar eine neue Geschäftsidee. Im Frühjahr 2020 haufen darf seine Lebensgefährtin Amira aufkehren.28 wurde die Audio-Plattform „For Your Ears Only“ (FYEO) ins Leben gerufen. Der Markenname, der etwas zu sehr cine- Die notorisch präsente Barbara Schönberger darf in „Waf- philes Insiderwissen strapaziert, verweist zumindest auf den feln einer Frau“ nun endlich das tun, was ihr klassische filmdramaturgischen Ursprung der Geschäftsidee. Benjamin Formate nicht erlauben: so lange reden, wie sie will. Risom von FYEO setzt selbstbewusst auf „serielle Audio- formate die Grundlage schaffen für Formate, die dann fürs Doch ihren wahren Meister dürfte sie jenseits des Atlan- Fernsehen adaptiert werden“.31 Darüber hinaus sollen mit tiks gefunden haben: Amerikas erfolgreichster Podcaster, Reportagen, Fiction und Shows regelrechte „Audio-Block- Joe Rogan, hat sich im Juli mit dem Musikproduzenten buster“ entstehen. Da werbebasierte Geschäftsmodelle das Post Malone sage und schreibe vier Stunden unterhalten. nicht hergeben, wurde in Unterföhring mutig die Marsch- Kann man das noch als Interview im publizistischen Sinne route Bezahl-Abo ausgerufen. bezeichnen? Wohl eher nicht. Im ganz altmodischen Stil be- treibt der Stand-up-Comedian Konversation, als wäre man Know-how für filmisches Erzählen ist auch bei den Öffent- bei ihm zuhause auf der Couch. lich-Rechtlichen vorhanden, und müsste erst gar nicht ins Audio transferiert werden. Der Shortcut hierfür heißt Hör- Whiskey wird gereicht und ein Joint geraucht, als Elon Musk spiel. An keinem anderen Ort gibt es mehr Expertise für zu Gast ist. Kommen darf jeder – der linke Demokrat Bernie das, was im Englischen treffend als Radiodrama bezeichnet Sanders ebenso wie der konservative Philosoph Jordan Pe- wird: die Transformation von bildlich gezeigten und erzähl- terson. Deshalb als der „Larry King des Intellectual Dark ten Geschichten in Worte und Klang.32 Doch das altehr- Web“29 beschimpft zu werden, ist Joe Rogan angesichts würdige Hörspiel ist wie in einer Zeitkapsel aus den 70ern seines Erfolgs egal: „Ich mache, whatever the fuck ich ma- eingeschlossen und sucht etwas hilflos den Anschluss an chen will.“30 die heutige Zeit.33 Das jahrzehntelang gewachsene Know- how fließt nicht in die Podcast-Produktion ein. Der Begriff Filmisches Denken im Podcast Hörspiel verkleistert die Verwandtschaft mit Podcast, der diesem nähersteht als dem herkömmlichen Radio. Doch Da die Herkunft der Macher von Conversational-Formaten sollten Hörspiele überhaupt ins Podcast-Format transfor- oft Fernsehen und Bühne ist, sitzt das dramaturgische miert werden? 28 Die Pochers hier!: https://audionow.de/podcast/die-pochers-hier 29 Joe Rogan’s Galaxy brain. Slate 21.03.2019: https://slate.com/cul- 31 FYEO ist da: Warum ProSieben eine eigene Podcast-App gelauncht hat. Busi- ture/2019/03/joe-rogans-podcast-is-an-essential-platform-for-freethin- ness Punk 23.4.20: https://www.business-punk.com/2020/04/fyeo-ist-da- kers-who-hate-the-left.html warum-prosieben-eine-eigene-podcast-app-gelauncht-hat/ 30 Mit Elon Musk eine rein ziehen, statt ihn ausquetschen. NZZ 30.11.2019: 32 vgl. Crisell 1994, S. 146 https://www.nzz.ch/feuilleton/joe-rogan-ich-mache-whatever-the-fuck-ich- 33 Neuer YouTube Kanal für Hörspiel und Feature. Pressemittelung Deutsch- will-ld.1525003 landradio 6.8.2020. https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 54 MedienWirtschaft 2-3/2020 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb
Essay Podcasts reich an dramaturgischen cher für Podcasts zu entwickeln und diese aufwendig mit Spurenelementen mehreren Stimmen zu produzieren? Am ehesten vorstellbar Möglicherweise beruht es auf einem Missverständnis, dass wäre das nur bei nicht gewinnorientierten Geschäftsmodel- Podcasts sehr stark mit fiktionalen Geschichten in Verbin- len, sprich gebührenfinanzierten Öffentlich-Rechtlichen. dung gebracht werden. Schnell ist von einem „Netflix für die Ohren“ die Rede, wo sich fiktionale Serien auf einer „to- True Crime – das Drehbuch liefert die hear-list“ stapeln, um „binge-gehört“ zu werden, wie das bei Gerichtsakten Filmserien der Fall ist. Die These wäre, Podcasts sind zwar nicht quantitativ der Ort für Fiktionales, doch die Gesetz- So schwer sich das Fiktionale im deutschsprachigen Pod- mäßigkeiten des fiktionalen Erzählens finden sich qualitativ cast tut, so deutlich hat es Spuren hinterlassen bei einem in (fast) allen Podcasts wieder, sind dramaturgisches Spu- seiner derzeit populärsten Genres, nämlich True Crime. renelement. Die Beweisführung für diese These führt noch „Abgründe“, „Mordlust“, „stern Crime“ oder „Verbrechen einmal zurück zu der Frage, was ist ein Podcast. Darüber von nebenan“ lauten gängige Titel. herrscht immer noch eine große Unsicherheit. Die gerne umschifft wird, indem in diese historisch sehr junge Me- Das Genre boomt. Wenn es in dem Tempo weiterwächst diengattung alle Formen von Audio hineingepackt werden. wie derzeit, dürften ihm bald die Fälle ausgehen. Denn True Von Kinderkassetten, über Hörbücher bis hin zu Radiosen- Crime lebt von wahren Kriminalfällen. Mal ausführlich über dungen zum Nachhören. Doch die Unsicherheit fängt schon mehrere Episoden erzählt, mal in einer Episode mehrere beim Verständnis von Audio an. Im Vergleich zu Video ist die kurz abgehandelt. In der simpelsten Variante werden die Analogie zum Gehörten unscharf geblieben und ist wieder- amerikanischen „Serial“-Fälle nacherzählt, in der aufwen- um sehr von dem geprägt, was man unter Radio versteht: digsten die Verbrechen wie ein Hörspiel inszeniert. “Radio still provides a useful cultural shorthand to explain audio content”.34 Was sich hier zwischen journalistischen Grundsätzen und erzählerischen Erfordernissen entspinnt, hat seine Ursprün- Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung von Podcasts, ins- ge nach übereinstimmender Lesart im New Journalism der besondere von fiktionalen, in der Medienbranche, sehr vom späten 60er. Vor allem amerikanische Autoren wie Norman anglo-amerikanischen Markt geprägt ist. Zuallererst natür- Mailer, Tom Wolfe oder Joan Didion verschoben mit ihrem lich von der BBC als Mutter des Radiodramas. Viel beachte- höchst subjektiven, idiosynkratrischen Reportage-Stil die te Serien wie „The Archers“ oder „The Thing of Darkness“ Grenzen zwischen Journalismus und Literatur. Für man- entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als On-Demand che Kritiker etwas zu arg, doch True Crime hat’s gut getan. Audio von Hörspielen der Kulturwelle BBC4. Jenseits des Wie gut, zeigt der Bestseller von Truman Capote „In Cold Atlantiks trug der Erfolg der US-amerikanischen Podcast- Blood“ von 1966. Mit der roman-artigen Reportage eines Reihe „Serial“ zum „Fiktionsmythos“ bei. Jeder der bisher Mehrfachmordes einer Farmerfamilie in Westkansas gelang drei veröffentlichten Staffeln verzeichnete neue Download- dem Autor des „New Yorker“ eine fesselnde psychologische Rekorde, so dass schon von der Ära Podcast vor und nach Studie über Gut und Böse, Schuld und ausgebliebener Süh- „Serial“ gesprochen wurde. Doch „Serial“ ist nicht fiktional, ne. Ein bekanntes Bonmot besagt, Capote sind auf seiner sondern basiert auf publizistischen Recherchen zu rätsel- Suche nach Wahrheit doch tatsächlich Fakten in den Weg haften Kriminalfällen, die von Mitarbeitern der Public-Ra- gekommen.35 diosendung „This American Life“ produziert und von der Journalistin Sarah Koenig präsentiert wird, also kurzum Die Erzählgenauigkeit, die Tiefe der psychologischen Be- True Crime ist. obachtungen, das „Timen“, wann welche Fakten gebracht werden – „withholding information for the sake of a dramtic Der eigentliche Grund für das Ausbleiben der Podcast-Fik- arch”36 – sind allesamt Techniken, die auch einen guten tion-Serien-Schwemme im deutschsprachigen Raum heißt True Crime Podcast auszeichnen und vom Drehbuchschrei- Hörbuch. Solange Konsumenten bereit sind, für fiktive In- ben her bekannt sind. Sie helfen fiktionale Stoffe zu entwi- halte in Form von Hörbüchern zu zahlen, wird es die Fiktion ckeln, aber ebenso reale zu entschlüsseln. True Crime wäre im werbefreien Podcast schwer haben. Zumal der Produk- demnach ein vorhandenes Drehbuch von „hinten her“ zu tionsaufwand für ein Hörbuch um ein Vielfaches unter dem erzählen und die Konflikte der beteiligten Figuren zu ent- eines Fiction-Podcasts liegt, und nur ein weiterer Baustein schlüsseln. Sogenannte Story-Ereignisse,37 in denen sich in einer längeren Verwertungskette ist, die mit dem ge- bedeutsame Veränderung in der Situation der Figur zutra- druckten Buch anfängt und mit der Rechtevergabe für Film gen, lassen sich aus den Gerichtsakten rekonstruieren. aufhört. Wie sollte es sich da noch lohnen, eigene Drehbü- 35 Flis 2010, S. 75 36 Spinelli & Dann 2016, S. 182 34 Berry 2018, S. 29 37 McKee 2001, S. 44 https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020 MedienWirtschaft 55
Essay Kuratierte Wahrheiten kommend wirkt das verstärkte Interesse für regionale Ge- Lebt die Fiktion davon, wie Figuren angelegt werden – ist schichten. der Lehrer ein entlassener Bankräuber, wird daraus „Fack Ju Göhte“, ist er krebserkrankt „Breaking Bad“ – ist bei Das bekannte „Setting“ vor der Haustüre ist trotz Mord noch True Crime das schon alles angelegt. „When a nonfiction vertrauenswürdiger als die nicht greifbaren, über den Glo- writer begins to assemble a narrative, it seems as if most of bus verstreuten Krisenherde. Die Medien versetzen uns in the work of characterization is already done.”38 Keine Figur die Lage, „zur Hauptsendezeit Krieg ‚anzuschauen‘, ohne muss mühsam einer Phantasie entlockt werden, sondern den eigenen Körper einer Gefahr auszusetzen.“46 Von „me- wird plastisch und greifbar alleine durch das genaue Be- dieninduzierten Gefühlen“47 spricht der Philosoph Hans Ul- trachten und Einordnen der Fakten. Was für die Fiktion die rich Gumbrecht. Sie entziehen den sog. evidenzbasierten Figurenentwicklung, ist für True Crime die Charakteranalyse Erfahrungen den Boden unter den Füßen und führen zu auf der Basis von psychologischer Beobachtung. Dahinter Überforderung der kognitiven und emotionalen Ressour- steckt unser „Hunger nach Tiefe und Realitätsgehalt einer cen, die für die Verarbeitung von Sinneseindrücken und Figur“.39 Im tiefsten Inneren wollen wir diese rätselhafte Informationen verbraucht werden. Das dem Augenschein Welt verstehen. Nach dem Literaturnobelpreisträger Jose nach unbezweifelbar Erkennbare, die Evidenz, ist deshalb Saramago „sind wir wohl in irgendeinem Sinne alle fiktive der Rohstoff von True Crime. In dessen Geschichten kommt Figuren, aufgezogen vom Leben und geschrieben von uns einerseits die Sehnsucht nach Begreifen der Welt zum Aus- selbst.“40 druck und sind damit eine Folgeerscheinung der Mediendi- gitalisierung. Sie sind aber anderseits auch Ausdruck, dass Das Figuren-Setting folgt dabei einer inhärenten Logik, die wir in einer „eher gemütlichen Gesellschaft leben“48 Dort bereits im Genre angelegt ist. Kein Kriminalfall, egal ob wahr wo Gewalt und Verbrechen Alltag sind, etwa in Syrien oder oder fiktiv, kommt ohne Täter und Opfer aus, aber ebenso Russland, dürften „True Crime Geschichten nur halb so gut wichtig sind Autoritätspersonen wie Polizisten, Rechtsmedi- ankommen. Weil die Leute selbst genug Erfahrungen auf ziner, Psychologen und Sozialarbeiter. Denn „integral to all diesem Gebiet machen. Insofern ist es natürlich eine Sub- narratives that depict real events is the verification by an limierung, die wir erleben, die wir uns leisten können, weil authority.“41 Diese Autorität kann aber auch das „Setting“ es uns so gut geht.“49 sein, in dem der Fall spielt, also eine Dorfgemeinschaft, ein Krankenhaus ein Stadtviertel. Da die Gatekeeper-Funktion True Crime Podcasts funktionieren anlog den Heimatkrimis von Autoritäten, aber auch Medien, in Zeiten von Social gut vor der eigenen Haustüre, in vertrauten Topoi, wie schon Media sich grundlegend verändert hat, überträgt sich die bei Aristoteles zu erfahren ist: „Wenn man den dargestellten Autorität auf die Dorfgemeinschaft oder das Statdtviertel – Gegenstand noch nie erblickt hat, da bereitet das Werk als „voice of authority (belongs) to a collective: the figures who Nachahmung kein Vergnügen“50. Da der Zuhörer die „Umstän- make up the city or town where the murder has taken place, de“ zu kennen meint, lässt er sich gerne – auch über Social creating the effect that the real authority is not a person, but Media – in den Zeugenstand berufen: „listeners are clearly a setting“.42 framed as coinvestigators”51. Ist die Story gut genug, beteiligt sich das Publikum wie von selbst: „Audiences like to work; it’s Die Wahrheitsfindung wird zum Prozess und beschränkt the working that glues them to the narrative“ 52. Die Spannung sich nicht nur auf den Täter selbst. Journalismus wird zum wird nicht durch die Frage erzeugt, wer war’s, sondern war- „Kurator von Wahrheiten“43, um gesellschaftliche Umfelder um war er’s. Kein Whodunit, sondern ein Whydunit. „Wir im und Milieus nachzuzeichnen, die oft Folie für Verbrechen Publikum sind letztendlich die Ermittler“53 und wollen indem sind. Dem Journalismus bieten sich so Möglichkeiten, jen- wir die Motive des Täters verstehen, uns unserer eigenen mo- seits von Klickraten die Menschen hinter den Geschichten ralischen Integrität versichern, als ausreichend resistent, nicht wieder ernst zu nehmen und so eine Wunde des Autoritäts- auf die dunkle Seite zu geraten, die „uns oftmals kaleidosko- und Bedeutungsverlustes zu heilen „... a wound actually partig, in unser eigenes Inneres führt“.54 widening in a podcast era of declining institutional authority, influence and trust“44. So betrachtet ließe sich Podcasting als neue Ausprägung eines “new human journalism“45 oder 44 Spinelli & Dann 2016, S. 194 „konstruktiven Journalismus“ verstehen. Dem entgegen- 45 Spinelli & Dann 2016, S. 194 46 Gumbrecht 2004, S. 161 47 Gumbrecht 2004, S. 162 48 Wa(h)re Verbrechen: Der True-Crime-Boom. NDR 03.04.2019: www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Wahre-Verbrechen-Der-True- Crime-Boom,truecrime102.html 38 Hibbett 2018, S. 46 49 Sabine Rückert. In: Wa(h)re Verbrechen. a.a.O 39 Wood 2013, S. 112 50 Aristoteles. (1982). Poetik. Stuttgart: Reclam jun. S. 13 40 Wood 2013, S. 105 51 Spinelli & Dann 2016, S. 192 41 Hibbett 2018, S. 62 52 Yorke 2014, S. 117 42 Hibbett 2018, S. 63 53 Snyder 2015, S. 53 43 Spinelli & Dann 2016, S. 193 54 Snyder 2015, S. 53 https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 56 MedienWirtschaft 2-3/2020 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb
Essay Auch ins Innere unserer ureigenen Ängste: ausgeraubt te mit ent- oder aufdeckt. Er ist also ein lernender, nicht- oder Opfer von Gewaltverbrechen zu werden. Dahinter wissender Erzähler“62. verbirgt sich der Wunsch, dass uns Geschichten helfen, die Wirklichkeit zu ertragen. „We watch stories not just to Daher ist es unmöglich, die Rollen zwischen unparteiischen awaken our eyes to reality but to make reality bearable as Journalisten und mitfühlenden Erzählern bei True Crime klar well. Truth without hope is as unbearable as hope without zu trennen, auch wenn in Deutschland der Respekt vor dem truth.”55 Hartnäckig hält sich deshalb die These, dass vor Journalismus immer noch groß und die Tradition für nicht- allem Frauen True Crime Fans sind, aus Angst selbst Opfer fiktionales Erzählen klein ist. Die „Causa Relotius“ kommt zu werden56. Doch für Susanne Rückert, langjährige Ge- einem unweigerlich in den Sinn. Die Balance zwischen richtsreporterin und Herausgeberin des „ZEIT Verbrechen“- Journalismus und Erzählen scheint der „ZEIT Verbrechen“- Podcasts geht die Antwort tiefer und berührt den Kern des Podcast, den die heutige ZEIT-Chefredakteurin Rückert mit Narrativen: „Hinter jeder guten Kriminalgeschichte steckt ihrem Kollegen Andreas Sentker aus dem Wissenschafts- ein Rätsel. Und das ist, glaube ich, das Interessante. Die ressorts 14-tägig veröffentlicht, gut zu treffen. Nicht von Frage: Ist das, was ich sehe, wirklich die Wahrheit? Das ungefähr zählt dieser „Meta-TATORT“ nicht nur zu den ist diese Doppeldeutigkeit, diese Doppelgründigkeit der erfolgreichsten des Genres, sondern auch zu den erfolg- menschlichen Existenz.“57 reichsten Podcasts überhaupt im deutschsprachigen Raum. Erzählung ohne Haltung gibt es Das Gewicht einer 20jährigen Erfahrung als Gerichtsrepor- nur in Deutschland terin bringt Rückert nicht nur den inoffiziellen Titel „Mutter des True Crime“ ein, sondern liefert auch eine Antwort auf Max Frisch meinte daher auch zurecht, die Wahrheit könne die Frage nach dem Verhältnis von Journalismus und Nar- man nicht erzählen. „Die Wahrheit ist keine Geschichte, sie ration, die in einer Weisheit des Erzählens begründet liegt, hat nicht Anfang und Ende, sie ist einfach da oder nicht.“58 die sich eher auf die „Analyse- und Reflektionsfähigkeit, als Was ist wahr und was nicht, eben von dieser Diskrepanz auf das Wissen“63 bezieht. „ZEIT Verbrechen“ ist im Kern lebt Erzählen, erzeugt die Spannung, ohne sie gäbe es keine das Ausleuchten der „conditio humana“ und der Frage, wa- Erzählung. „Where all is known, no narrative is possible“.59 rum Menschen so und nicht anderes geworden und wo im Doch welche Haltung soll der Erzähler von True Crime ein- Leben sie falsch abgebogen sind. Steht am Anfang nur eine nehmen? Boulevard-Schlagzeile, differenziert sich der Fall in 45–60 Minuten aus und am Ende stehen tiefgehende Charakter- Kein Erzähler im True Crime oder auch in anderen Genres analysen, Psychogramme von Täter und Opfer, Milieustudi- kann so tun als würde er wertfrei und objektiv die Geschich- en der Umfelder. Dem Verbrechen wird dadurch der Nimbus te wiedergeben. Der Typus des „German Narrator“,60 der des Trivial-Bösen genommen und an Stelle dessen tritt eine so tut, als gäbe es keinen Erzähler – eine Schöpfung des Offenlegung der „Konfliktschichten“64 des Täters. öffentlich-rechtlichen Rundfunks – ist in True Crime nicht möglich. Sie zwingen einen „inneren Standpunkt“ einzu- Protagonisten knüpfen ein geheimes nehmen. Die Frage, ob der Erzähler die Lebenswelt, die er Band mit dem Publikum wiedergibt, teilt, oder ob er eine ihm eigentlich fremde Welt beobachtet,61 stellt sich erst gar nicht. Wo „ZEIT Verbrechen“ die gebührende Distanz wahrt, ohne dass die Einfühlung für die Charaktere auf der Strecke blie- Der Gegenstand der Geschichte zwingt den Erzähler, mit be, vermischt „Serial“ – der amerikanische Prototyp des seinen Grundüberzeugungen nicht hinterm Berg zu halten. True Crime Podcast – Distanz und Einfühlung. Schilderung Denn eine Identifizierung mit dem Täter ist ausgeschlos- konkreter Szenen wechseln mit reflektierender Debatte, sen. Schließlich noch die Frage nach dem „äußeren Stand- was man als „szenisch reflektierende Narration“65 bezeich- punkt“: steht der Erzähler in der Geschichte oder außerhalb, nen könnte. In der Rolle als Reporterin wird Sarah Koenig ist er Teil der Geschichte oder Beobachter. Die Haltung kann immer wieder selbst zur Figur und damit Teil der Handlung. entweder auktorial sein, wenn er so tut, als wisse er alles. „Rather than claiming authoritative, all-knowing status, Ko- Für die Entwicklung der Geschichte ist dies aber nicht sehr enig admits to her own vexations with the story and her förderlich „Besser ist es, wenn der Erzähler die Geschich- own potential distrust of the facts”66. Was aber auch am Setting liegen dürfte. Die drei bisherigen Staffeln behandeln allesamt Kriminalfälle, an deren Aufklärung Zweifel haften. 55 Yorke 2014, S. 181 56 Vicary & Fraley 2010 57 Sabine Rückert. In: Wa(h)re Verbrechen. a.a.O. 58 Frisch 1976, S. 262 62 Preger 2019, S. 215 59 This story like all story has it’s beginnings in a question … Where all is 63 Preger 2019, S. 216 known, no narrative is possible. McCarthy 1998. 64 McKee 2018, S. 71 60 Preger 2019, S. 208 65 Preger 2019, S. 8 61 Preger 2019, S. 214 66 Hibbett 2018, S. 57 https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020 MedienWirtschaft 57
Essay Die Erzählerin schlüpft in die Rolle des Ermittlers. Sieht man Die Antwort ist so banal wie naheliegend. Weil sie es ihr von diesem Beispiel ab: Welche Rolle nehmen die „Präsen- ganzes oder überwiegende Teile ihres Berufslebens getan tatoren“ von True Crime Podcasts in der Regel ein? Sind sie haben. Als Polizei- oder Gerichtsreporter, als Rechtsmedi- nun Journalisten, Erzähler, Ermittler oder gar die Protago- ziner. nisten selbst? Berufs- und Lebenserfahrung sind deshalb im Genre True Zuallererst sind sie Personen, mit denen wir uns identifizie- Crime Podcast der Goldstandard. Es macht einen Unter- ren können, weil sie empathisch sind. Was nicht heißt, dass schied, wenn jemand 40 Jahre als Rechtsmediziner gear- sie automatisch auch sympathisch sein müssten. Entschei- beitet hat, ein „Mann ist, der die Toten versteht“, wie der dender ist, macht sie das, was wir angesichts der Ungeheu- Hamburger Klaus Püschel und sich mit der langjährigen erlichkeiten empfinden, nachvollziehbar. „Durch Empathie, Gerichtsreporterin vom Hamburger Abendblatt Bettina Mit- der indirekten Verknüpfung unseres Selbst mit einem fikti- telacher, einer Ururenkelin des Dichters Theodor Storm, ven menschlichen Wesen, unterziehen wir unser Mensch- unterhält; oder ob die beiden junge Journalistinnen von sein einer Prüfung und erweitern es“67, sagt die Creative- „Mordlust“ betonen, dass sie keine Expertinnen auf diesem Writing Legende Robert McKee über fiktive Figuren, aber es Gebiet sind.74 trifft genauso auf reale zu. Jeder, der True Crime Podcasts hört, hat sich vermutlich schon einmal die Frage gestellt: Um es auf eine einfache Formel zu bringen, True Crime Wäre ich unter den entsprechenden Umständen auch fähig, lebt von starken Protagonisten, Personen, „the audience solch ein Verbrechen zu begehen? care(s) about most“.75 Je mehr jemand im Thema drin ist und je besser er/sie es erzählen, desto mehr bewahrhei- Da die Präsentatoren die Projektionsfläche für solche Fragen tet sich diese Formel. Nach internen Bewertungskriterien sind, erfüllen sie die Definition des Protagonisten. Nach Aris- von Audible für Podcasts stehen Persönlichkeiten an erster toteles ist er der Erst-Handelnde, gewöhnlich die Figur, die Stelle: „Menschen sind der Kern. Erst durch die Menschen, das Thema der Story transportiert. „Es muss um jemanden ihre Geschichten und ihre Perspektiven wird ein Format gehen“68. Es geht zwar immer um Täter und Opfer, doch die lebendig. Die Essenz jedes Formats ist die Erzählung ei- wechseln in der Regel von Folge zu Folge und laden auch ner Person. Es gibt keine anonymen Sprecher. Wir wollen nicht zur Identifikation ein. Kein Drehbuchautor verlangt, „Fi- Persönlichkeiten mit Wiedererkennungswert.“76 Trifft daher guren zu verstehen, deren Verhalten wir nicht billigen können auf alle Podcasts zu, was auf True Crime zutrifft, brauchen – oder jedenfalls nicht, bevor sie jene nicht entschieden und Podcasts einen oder mehrere Protagonisten? eindeutig verurteilt haben“.69 Positive Identifikationsflächen bieten hingegen Rechtsmediziner, Gerichts- oder Polizeire- Der Antagonist steckt oft in uns selbst porter. Weil sie Kraft ihrer Erfahrung und ihres analytischen Blicks uns durch menschliche Abgründe hindurchbegleiten, Als der Leiter der Virologie in der Berliner Charité zusam- ohne deren Hilfe wir dazu nicht in der Lage wären. Sie lernen men mit einer NDR-Wissenschaftsjournalistin Ende Februar uns mit unseren Ängsten umzugehen und „Zugang zu unse- das Corona-Virus-Update starteten, waren beide über die rem Unterbewussten herzustellen“70. Das ist das Geheimnis Fachwelt hinaus kaum bekannt. 50 Folgen später ist Ko- ihres Bandes, das sie mit dem Publikum knüpfen.71 rinna Hennig ein Aushängeschild des NDR und Christian Drosten neben Angela Merkel Deutschlands bekanntester Duos wie Rückert/Sentker von „ZEIT Verbrechen“ oder Wissenschaftler. Auch wenn er die Verantwortung von sich Klaus Püschel und Bettina Mittelacher in „Dem Tod auf der wies, lastete auf ihm zu einem nicht unerheblichen Teil die Spur“ vom Hamburger Abendblatt werden im Storytelling Frage, wie Deutschland aus medizinischer Sicht mit der als „Plural-Protagonisten“72 bezeichnet. Als Team verfolgen Pandemie umgehen sollte. Sein Ton war alles andere als sie dasselbe Ziel und teilen den Wunsch, der Sache auf den laut und aktionistisch, im Gegenteil zurückhaltend und be- Grund zu gehen. „Innerhalb eines Plural-Protagonisten sind hutsam, als hätte es ihm Werner Herzog persönlich zuge- Motivation, Handeln und Folgen allen gemeinsam.“73 Was flüstert: „the most defensive is the most aggressiv attitude bietet ausreichend Motivation, sich 14-tägig oder monatlich against the virus“.77 Was musste passieren, dass aus einem zu einem Podcast zu verabreden und gemeinsam ein Ver- Wissenschaftler eine Personality wurde, die nicht einem Ro- brechen aufzudröseln? 74 True-Crime-Format mit Schwächen. Stuttgarter Nachrichten,25.4.20: htt- ps://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.podcast-mordlust-true-crime- 67 Mc Kee 2018, S. 161 format-mit-schwaechen.162be93f-bff9-495c-9bf4-59967cfbe7e4.html 68 Snyder 2015, S. 64 75 Yorke 2014, S. 4 69 Wood 2013, S. 98 76 Audible, Bewertungskriterien Podcast: https://callforpapers.audible.de/po- 70 Yorke 2014, S. 5 dcasts/vorgaben 71 vgl. McKee 2018, S. 161 77 Interview mit Werner Herzog. In: Kermode&Mayo’s Filmreview. BBC5 72 McKee 2018, S. 155 3.7.2020: https://www.bbc.co.uk/programmes/articles/1dh3JbkWZ75zM 73 McKee 2018, S. 155 qNBgXdzTrF/the-witterlist-3rd-july-2020 https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 58 MedienWirtschaft 2-3/2020 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb
Essay land Emmerich Film sondern einem Podcast entstiegen ist? erfolgreich als Judoka, Mixed-Martial-Arts-Kämpferin und Er wurde zum Protagonisten, indem er sich als Chefvirologe Sumo-Ringerin, dazu ist sie noch ausgebildete Medienwis- dem Antagonisten stellte. Der war nicht äußerlich das Virus, senschaftlerin und Journalistin. „Women hit harder“ heißt sondern der war unsere Angst vor dem Virus, also kein äu- der Interview Podcast der 30jährigen, in dem kurzweilig ßerlicher Bösewicht, sondern war Teil von uns.78 die Grenzen zwischen Interviewerin und Gast verschwim- men. Die Influencerin Malina Seiler impft in „Happy, holy Der Druck, unter dem der Mediziner Entscheidungen treffen & confident“ jungen Frauen mehr Selbstbewusstsein ein. musste, „enthüllte dabei seinen Tiefencharakter“79, mit dem Die 33jährige wird von der Kritik dafür verrissen – „eine sich das Publikum identifizieren konnte. Nicht nur hat das Mischung aus Pop-Yogastunde und Freikirchen-Predigt“85 Update aus der Charité den Tiefencharakter eines besonne- – und von ihren Fans geliebt und so oft downgeloadet, nen Wissenschaftlers enthüllt – der wir letztlich alle gerne dass er zum meistgehörten Coaching-Podcast der jungen selbst wären –, sondern auch deutlich gemacht, wie sehr Zielgruppe avancierte. Podcasts Protagonisten brauchen. Denn sie leben unsere unerfüllten Wünsche aus und sei es nur etwas mehr über Im Kern folgen Coaching-Podcasts der klassischen „Hel- sich selbst erfahren zu haben. Antrieb, diese Einsichten zu denreise“ bzw. eines Teilabschnitts, wo es um das „Über- erlangen, ist der Individuationsprozess des Menschen, am treten einer Schwelle“86 – etwa Feigheit, Versagensängste, Ende zu wissen, wer er wirklich ist.80 Und als Draufgabe hat Schüchternheit – geht, über die uns ein Mentor hinweghilft. das Corona-Update noch viel zur Popularität der Medien- Sie sind Projektionen eines psychologischen Entwicklungs- gattung Podcast im deutschsprachigen Raum beigetragen. modells87, wie wir sie archetypisch aus den aus der Kindheit vertrauten Märchen kennen. Im Podcast wird Coaching im Nun beschäftigen sich Wissenspodcasts in der Regel nicht buchstäblichen Sinne „Lebens-Philosophie-to-go“. Denn mit Situationen, in denen „die Handlung einer Figur zutiefst bei Coaching-Podcasts geht’s um Persönlichkeitsentwick- wichtig (ist) und etwas Besonderes auf dem Spiel steht“.81 lung, und seine Protagonisten sind Mentoren. Im Kern fun- Aber die Motivation, sich für etwas zu interessieren, was gieren sie als „flight simulators of human social life“.88 ich noch nicht weiß, und sei es Wissensthema, ist die Su- che nach Puzzleteilchen für den Fahrplan, durchs Leben Wie immer gerade das Bedürfnis der jeweiligen Zielgruppe zu kommen. Dienen dem „expectation management” der aussieht, es findet sich irgendwo im „Longtail“ die richtige eigenen Zukunft, wie der kanadische Kognitionswissen- Therapie-Hördosis. Kein mühsames Abklappern von Coa- schaftler Steven Pinker feststellt: „Stories equip us with a ching-Adressen oder Zeitabsitzen in Wochenendseminaren, mental file of dilemmas we might one day face, along with nur hören und ausprobieren, bis man die richtige Helden- workable solutions“82. Erzählungen, und selbst wenn es Pauschalreise beim richtigen „Guru“ gefunden hat. Freilich eben erzähltes Wissen ist, rüsten uns für das, was vor uns sind viele Coaching-Podcasts nur ein weiteres Glied in einer liegt. Podcasts und ihre Geschichten laden dazu ein, unser längst bestehenden Verwertungskette, die bei YouTube- eigenes Handeln durchzuspielen. Man kann „so-Tun-als-ob Tutorials anfangen und bei Büchern aufhören. ... wobei man weiß, dass es zu keinerlei praktischen Fol- gen kommt“.83 Medien allgemein gesprochen ermöglichen Leute lassen sich nichts sagen, „symbolisches Probehandeln“84, Podcasts im Speziellen aber alles erzählen symbolisches Probeverhandeln, wo die „innere Stimme“ die Verhandlung in „eigner“ Sache führt. Mögen die Themen Coaching, Beziehungsgeplauder oder seriöse Wissenschaftsthemen sein, die vorherrschende Helden-Pauschalreisen Form dieser Podcasts ist das Gespräch. Egal ob lockeres Geplauder oder journalistisch eng geführtes Interview, Populäre Beispiele hierfür sind die Coaching-Podcasts. Je- wahrgenommen werden zwei Menschen, die sich unterhal- mand gibt Zeugenschaft von seinem Lebensweg ab, dessen ten, womit der Begriff der Unterhaltung auf seine Ursprünge Bewältigung eben dann Inhalt des Podcasts wird. Das kön- verwiesen wird. Doch wo ist die Trennlinie zwischen „Ge- nen Schicksalsschläge und die Überwindung innerer und blubber“ und Gespräch? Gibt es solch eine Trennlinie über- äußerer Hindernisse sein oder einfach ein beindruckender haupt? Werdegang. Julia Dorny ist als einzige Sportlerin der Welt 78 Antagonism can manifest itself in many different ways – most interestingly when it lies within the protagonist; Yorke 2014, S. 7 79 McKee 2018, S. 162 80 vgl. Berndt 2020 85 Der Coach im Ohr – Helfer oder Humbug? persönlich com. 9.7.2020: ht- 81 Wood 2013, S. 117 tps://www.persoenlich.com/digital/der-coach-im-ohr-helfer-oder-humbug 82 Gottschall 2013, S. 64 86 vgl. Vogler 2018, S.41 ff. 83 Goffman 1980, S. 60 87 vgl. Preger 2019, S. 66 84 Winkler 2008, S. 44 88 Oatly, K., in: Gottschall 2013, S. 58 https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08 Open Access – - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020 MedienWirtschaft 59
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