Wir müssen reden - Die Podcast-Story - Beck eLibrary

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Essay

Wir müssen reden – Die Podcast-Story
Das immer noch stark wachsende Podcast-Angebot ist
ein Indiz dafür, dass die Gattung noch nicht die Phase
der Konsolidierung erreicht hat. Erst wenn eine einheitli-                                                   Hans Knobloch
che Währung geschaffen ist und die Herausforderung der
                                                                                                             Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK
besseren Auffindbarkeit gelöst ist, wird eine Konsolidie-

                                                                          © H. Knobloch
                                                                                                             Wissenschaftlicher Mitarbeiter
rung eintreten. Weniger, dafür größere Produktionsstu-
                                                                                                             hans.knobloch@zhdk.ch
dios produzieren mehr reichweitenstarke Formate, deren
wesentliches Kennzeichen starke Protagonisten sind.
Auch dürfte sich das Angebot nach Zielgruppen klarer
fragmentieren, als das bisher der Fall ist. Vor allem mehr                                                   Bernt von zur Mühlen
in den Mainstream ausdifferenzieren und den Nimbus als
das Medium für die Gebildeten ablegen. Und schließlich
                                                                          © B. v.z. Mühlen

                                                                                                             Beratung für Medien und Kultur
wird den an die Erregungs-Plattformen längst verloren                                                        muehlen@mk-medienkultur.com
geglaubten jüngeren Mediennutzern mit Podcasts ein                                                           www.mk-medienkultur.com
„nachhaltiges“ Content-Medium ans Ohr gereicht.
War Musik bislang der stärkere Treiber für die Medi-
endigitalisierung von Audio, so verhelfen nun Podcasts
der Gattung zu ihrem endgültigen Coming of Age. Deren                                                        Prof. Dr. Martin Zimper
sprachnarrative Inhalte verpassen Audio den entschei-
denden Push zur Mündigkeit und schlagen damit gleich                                                         Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK
                                                                          © M. Zimper

                                                                                                             Leiter des Instituts für Designforschung
zwei mediendiskursive Fliegen mit einer Klappe: das Hö-
                                                                                                             martin.zimper@zhdk.ch
ren gewinnt an Bedeutung, erlebt gar eine Renaissance.
Und es scheint endlich ein Mittel gefunden worden zu
sein, dem nicht entrinnbaren Gezerre um die Aufmerk-
samkeit zumindest partiell zu entkommen.

Schlüsselbegriffe: Podcast | Hörbuch | Audiothek | Storytelling | True Crime

         Am Anfang war das Wort. Es wurde mit einem 85-Dollar-                        Times, über das Internet und sollte etwas von der digitalen
         Mikrophon aufgenommen und über das Internet verbreitet.                      Aufbruchsstimmung, wie sie hippe Tech-Magazine wie Wi-
         Die Idee des Podcasts war geboren, auch wenn es den                          red verbreiteten, auch in das klassische Print tragen. Als
         Begriff noch nicht gab. „Avant la lettre“ lief die neue Me-                  Kind des frühen Internets war der Londoner dem iPod, dem
         diengattung unter der Bezeichnung Audioblogger, gespro-                      Vorläufer des iPhones, verfallen. Das Tech-Gadget deutete
         chene Blogs. Ein Nerd-Medium zur Jahrtausendwende, als                       schon früh das mobile Potential an, das in der Digitalisie-
         Hobby betrieben von Softwareentwicklern wie dem New                          rung lag. Konnte man doch auf dem 2001 von Apple auf
         Yorker Dave Winer oder dem MTV- und Radiomoderator                           den Markt gebrachten Gerät neben Musik-MP3s auch her-
         Adam Curry. Der Begriff Podcast kam erst ein paar Jahre                      untergeladene Audioblogs, später Rundfunkfunksendungen
         später auf. Der Medienwelt eingebrockt hat ihn – wie sollte                  – englisch „Broadcast“ – hören. Von hier war’s zum Neolo-
         es auch anders sein – ein Tech-Journalist. Ben Hammers-                      gismus „Podcast“ nicht mehr weit.
         ley schrieb damals für die britische Times, später auch NY

                                           https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
                                                   Open Access –             - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020    MedienWirtschaft 49
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Essay

      Diesen schrecklich technischen Begriff, den auch heute                    Das Medium, das sich erst noch
      noch keiner so recht aus dem Stehgreif definieren will,                   emanzipieren musste
      wenn er nicht muss, hat sich trotz seiner Sperrigkeit durch-
      gesetzt, wohl mangels Alternativen. Zugutehalten könnte                   Was sich hier positiv und negativ veränderte, war nicht zu-
      man ihm, dass er zumindest deskriptiv den Wesenskern der                  letzt die Mediennutzung. Medienmarken, die in regulierten
      neuen Mediengattung ganz gut erfasst. Es geht um Audio-                   Biotopen ihre Content-Gärten in der Prä-Smartphone-Ära
      Sprachinhalte, die man unterwegs, jederzeit auf dem iPod                  geruhsam hegen und pflegen konnten, mussten jetzt mitan-
      oder einem anderen MP3-Player hören konnte. iTunes, der                   sehen, wie die Mediendigitalisierung die Gärten zu einem
      digitale Bauchladen zur Fütterung der iPods, hat als erste                globalen Acker umpflügte. Plötzlich konnte jeder alles an-
      kommerzielle Abspielplattform sicherlich wesentlich in der                bauen und reich ernten, sofern das Ziehen der Früchte den
      Frühphase zur Verbreitung von Podcasts beigetragen und                    Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie gehorchte. Dafür
      auch so etwas wie einen ersten Podcast-Boom ausgelöst.                    waren Musik und Bewegtbild in einer guten Ausgangspositi-
      In der Prä-Smartphone-Ära eher noch ein Böömchen, das                     on. “Early iterations of new media transfer content over from
      sich auf MP3-Player beschränkte. Denn das nach heuti-                     another media” formulierte diesen Wandel sinngemäß Bill
      gen Maßstäben unfassbar aufwendige Herunterladen und                      Gates 1996 prophetisch in seinem Buch “The Road Ahead”4.
      Synchronisieren hinderte Podcasts noch am Auswachen zu                    Denn attraktive Angebote zum „Entbündeln“ gab es reich-
      einem Breitenphänomen.                                                    lich, auf die sich von überall und jederzeit über die Cloud
                                                                                zugreifen ließen. Alte und „wacklige“ Geschäftsmodelle wie
      „Bin ich schon drin?“                                                     Napster konnten so in neue „stabile“ wie z. B. Spotify über-
                                                                                führt werden. Aus dem Online-Video-Verleih Netflix wurde
      Die Sperrigkeit des Begriffs kaschiert die Einfachheit des                die Blaupause für Film- und Serienstreaming. Doch was soll-
      Mediums, sowohl in der Herstellung als auch Rezeption der                 te bei Audio entbündelt werden, wenn es nicht Musik war?
      Inhalte. Doch bis es richtig einfach werden sollte, musste
      sich erst eine mediale Revolution ereignen: die Mediendi-                 Der Sprach-Content war noch nicht in der Breite da, wie
      gitalisierung. Mit „Bin schon drin“ versuchte Boris Becker                das für Musik oder Filmchen galt. Podcast musste sich zu-
      noch 1999 in einem Werbespot für AOL die Deutschen                        nächst von Radio emanzipieren. “Understanding podcasting
      ins Internet zu locken. Der Internet-Zugang war alles an-                 as distinct from radio initially lies in the technological and
      dere als selbstverständlich. Das änderte sich erst mit dem                distributive from the broadcast signal to the digital dissemi-
      Smartphone, als das Internet mobil wurde und in die Ho-                   nation of individual audio files situated on an internet host
      sen- bzw. Handtasche wanderte. MP3-Player, Kamera und                     site and sent out to podcast-catcher software such as iTu-
      Telefon gab’s obendrauf. Doch – und das muss man sich                     nes or PlayerFM”5. Die Entwicklung der Inhalte ist deshalb
      eindrücklich in Erinnerung rufen – liegt dies noch nicht                  bei Podcasts wesentlich enger an die Mediendigitalisierung
      einmal eine Dekade zurück. Zwar wurde 2006, das erste                     geknüpft als das bei anderen Inhalten der Fall ist und am
      „Jesus-Phone“ von Apple1 in Cupertino seinen Jüngern                      ehesten mit jenen Social-Media-Inhalten vergleichbar, auch
      gereicht, doch sollte das Smartphone für viele Jahre noch                 wenn es sich dabei um gänzlich unterschiedliche Inhalte
      ein Nischenthema bleiben. Massenwirksam wurde seine                       und Nutzungssituationen handelt.
      Durchdringung erst Mitte der 2010er Jahre. 2009 nutzen
      gerade einmal 6,31 Mio. in Deutschland ein Smartphone,                    Bruderzwist zwischen Klein und Groß
      innerhalb von nur 6 Jahren versiebenfachte sich die Anzahl
      2015 auf über 45 Mio.2. Damit ging die Verbreitung des                    Das ist der wesentliche Punkt, wo Podcasts definitorisch
      Übertragungsstandards 4G einher, das erste „schnelle“ In-                 plötzlich an Schärfe gewinnen und die Abgrenzung zu ande-
      ternet für unterwegs, zu immer günstigeren Kosten.                        ren gesprochen Audioinhalten wie Hörbücher oder Hörspiele
                                                                                nachvollziehbar wird. Form und Inhalt der letztgenannten
      Der mengenmäßig unlimitierte Zugriff auf Inhalte wurde                    Audiogattungen stammen aus der Prä-Smartphone-Ära. Sie
      schließlich durch die Cloud-Technologie möglich. Von der                  werden zwar heute auch über Smartphone genutzt, haben
      der damalige Microsoft-Technologievorstand Craig Mundie                   sich aber in ihrer Machart nicht verändert, während Pod-
      meinte, sie breite sich wie eine “Supernova” über die digita-             casts in Form und Inhalten den durch die Mediendigitali-
      le Sphäre aus und dringe in alle Lebenssphären ein. „Eve-                 sierung gewandelten Nutzungen folgen. Und wenn sie dem
      rything is getting changed, and everyone is being impacted                nicht folgen, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit
      by it, in positive and negative ways”3.                                   um Audio-on-Demand, den Zweitverwertungen und Um-
                                                                                wandlungen von linearem Radiocontent. Diesen der Gattung

                                                                                 3 Friedman 2016, S. 90
      1 Campbell & La Pastina 2010                                               4 Gates, B., in: Llinares et al. 2018
      2 VuMa 2020                                                                5 Llinares et al. 2018, S. 125

                                       https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
50 MedienWirtschaft              2-3/2020 Open Access –                  - http://www.beck-elibrary.de/agb
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Essay

Podcasts zuzuschlagen ist sicherlich insofern legitim, als         mehr „zugemüllt“ werden musste, schnelles mobiles Inter-
Radio eine der historischen Ursprungsquellen, als „cultural        net und leistbare Datenvolumina, und mittlerweile Podcasts
reference point“6 gesehen werden kann. Fürs strukturelle           in Hülle und Fülle – alleine in Deutschland waren auf Spotify
Verständnis des neuen Genres ist dies aber eher hinderlich.        2019 bereits 12.000 Podcasts in deutscher Sprache ver-
                                                                   fügbar16: Waren mit Mitte der 2010er Jahre nun alle Vor-
Hierin liegt der Ursprung vom Bruderzwist zwischen Radio           rausetzungen erfüllt, damit diese junge Mediengattung ihren
und Podcasting begründet. Für Radio kam Podcasting als             Nesthäkchen-Status ablegen konnte?
Frischzellenkur gelegen, weil es den Anschluss an die Digita-
lisierung verhieß: „Where older media refashions themselves        Auf der Suche nach dem Geschäftsmodell
to answer the challenges of new media”.7 Anderseits tat Ra-
dio Podcast gerne als etwas nervige, „laienhafte Cousine“8         Die Mediengattung Podcast erlebte dann tatsächlich gegen
ab. Während umgekehrt Podcaster im Radio den langweili-            2016 einen Boom. Aus der Sicht der Werbeindustrie eher
gen Onkel erblicken, der den Anschluss an die Zeit verpasst        ein bescheidener Boom. 2019 kamen die Podcasts nach
hat. Redaktionskonferenzen, vorgegebene Sendeplätze und            einer Schätzung des Bundesverband Digitale Wirtschaft
Längen, Freigabe vom Chefredakteur, wozu sollte das noch           (BVDW) gerade einmal auf neun Millionen Euro, für 2020
gut sein. Mit der Mediendigitalisierung war doch die Zeit des      rechnet man mit einem Zuwachs auf 14 Millionen Euro.17
„Prosumers“ angebrochen. „The podcaster controls their             Es fehlte den Podcasts aber immer noch, was für die neue
creative space in a manner that the radio broadcaster ne-          Medienökonomie längst zur Grundlage geworden ist: aus-
ver can.”9 Wenn ein Gespräch drei Stunden dauert, dauert           reichend Daten. Wegen der Distribution auf die verschiede-
es eben drei Stunden. Der Nutzer entscheidet, ob er sich           nen Plattformen via RSS-Feeds gibt es nur unzureichende
das antun will. Die Kontrolle des Inhalts geht vom Redakteur       Daten über die Podcast-Hörer, ohne die eine skalierbare
auf den Nutzer über. Vor- und Zurückspulen, Inhalte über-          Vermarktungsstrategie nicht aufgebaut werden kann, so
springen, der Nutzer hat’s im Daumen. Denn Podcasts wer-           Matt Lieber, Mitgründer von Gimlet Media, einem der füh-
den mehrheitlich zu 55 Prozent10 über Smartphone genutzt           renden amerikanischen Podcast Produktionsfirmen, in ei-
und damit über Kopfhörer gehört, die einen ähnlich hohen           nem OMR Interview.18
Durchdringungsgrad haben: 86 Prozent der 16-29jährigen,
der „Generation earpod“, und immerhin noch 83 Prozent der          Sicherlich ein wichtiger Grund, sein Unternehmen für kol-
30-49jährigen besitzen in Deutschland einen Kopfhörer11.           portierte 230 Millionen US-Dollar an Spotify zu verkaufen
                                                                   und es damit im buchstäblichen Sinne zu domestizieren.
Dieser Trend bringt zum Ausdruck, was man als Abschot-             Domestizieren heißt in der Welt der Datenökonomie, zu wis-
tung vom „Weltenlärm“ bezeichnen könnte. Denn Kopfhörer            sen wer was nutzt und warum. Letztlich Basis jeder Platt-
sorgen für einen „… privatized personal space of securi-           form-Ökonomie von Facebook, über YouTube bis zu Netflix.
ty as they walk through potentially threating or unpleasant        Was nach Ansicht des Harvard Ökonomen Bharat Anand19
conditions.”12 Daher ist die Aufmerksamkeit auf die Inhal-         indessen sogar so weit geht, dass die Daten und Pflege der
te gerichtet, hat einen Anfang und ein Ende, im Gegensatz          Kundenbeziehungen zum eigentlichen Geschäftsziel gewor-
zur „Nebenbei-Hörsituation“ beim „flow medium“13 Radio.            den sind, für die der Content nur noch Mittel zum Zweck ist.
Zudem haben „Podcaster häufig eine deutlich klarere Vor-
stellung ihrer Community“14, die im Unterschied zur Radio-         Podcasts tummeln sich mittlerweile auf allen möglichen
hörerschaft sehr homogen ist. Podcasts können daher auch           Plattformen, aber sie verschwinden immer noch in einem
intimer und näher sein als Radio dies je sein kann. Folglich       „Meer an gratis Audio“20. Inhalte exklusiv an eine Plattform
nimmt das einen erheblichen Einfluss auf die Art und Weise         zu binden, wie das bei Netflix oder Disney+ die Geschäfts-
wie Podcasts produziert werden, „… earbuds allow for a             grundlage ist, ist bei Podcasts, abgesehen von singulären
hyper-intimacy in which the voice you hear is no way exter-        Ausnahmen, nicht möglich, da ihre Nutzung kostenlos ist.
nal, but present inside you”15.                                    Auch verfolgen die einzelnen Plattformen unterschiedliche
                                                                   Geschäftsstrategien. Apple war historisch eine der ersten
Hohe Marktdurchdringung von Smartphones und Kopfhörer,
der Cloud, dank derer der endliche lokale Speicher nicht
                                                                    16 Beim Pendeln, beim Hausputz, zum Einschlafen – Podcasts sind das neue
                                                                       Begleitmedium. NZZ 13.06.2020: https://www.nzz.ch/feuilleton/podcasts-
6 Berry 2018, S. 15                                                    legten-eine-steile-karriere-hin-was-erklaert-den-erfolg-ld.1559769
7 Berry 2018, S. 23                                                 17 Nachfrage nach Podcasts und Hörbüchern wächst in der Coronazeit
8 Spinelli & Dann 2016, S. 71                                          rasant. Handelsblatt 29.07.2020: https://www.handelsblatt.com/un-
9 Spinelli & Dann 2016, S. 66                                          ternehmen/it-medien/audio-markt-nachfrage-nach-podcasts-und-hoer-
10 YouGov 2020                                                         buechern-waechst-in-der-coronazeit-rasant/26047506.html?ticket=ST-
11 Bitkom 2019                                                         2057000-t7KKOEmeTesLVT9spqrd-ap4
12 Spinelli & Dann 2016, S. 84                                      18 OMR Interview mit Matt Lieber. 15.05.2019: https://omr.com/de/omr-pod-
13 Spinelli & Dann 2016, S. 84                                         cast-matt-lieber-gimlet-media/
14 Preger 2019, S. 214                                              19 Bharat 2016
15 Spinelli & Dann 2016, S. 84                                      20 „see of free audio“. Spinelli & Dann 2016, S. 12

                                   https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
                                           Open Access –             - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020   MedienWirtschaft 51
Wir müssen reden - Die Podcast-Story - Beck eLibrary
Essay

      Adressen für Podcasts, um iPods anzufüttern, damit Nut-               Ihre Info- und Kulturwellen liefern im Gegensatz zu den
      zer möglichst wenig Anlass geboten werden sollte, dem                 kommerziellen Anbietern ausreichend Content zur „Ent-
      geschlossenen Biotop zu entfliehen. Für Google, die sehr              bündelung“, mit dem sie als zweitverwertetes Audio-on-
      spät mit ihrer Podcast-App dazugekommen sind, ist es                  Demand die Podcasts-Plattformen unentwegt anfüttern
      nur ein weiterer B-Test, um das Hauptgeschäft „Search“                können. Was nicht unbedingt ein Nachteil für die hiesigen
      zu optimieren und vor allem den „Search“ für das weitaus              privatwirtschaftlich agierenden Produktionsstudios wie
      attraktivere Geschäft der Sprachsteuerung fit zu machen.              Bosepark, Podstars oder Viertausendhertz sein muss. Der
      Spotify schließlich hat Podcasts als Möglichkeit entdeckt,            intensive Wettbewerb stärkt die Innovationskraft und spornt
      sich von den lästigen Lizenzgebühren der Musiklabels etwa             an, die Bedürfnisse des Marktes besser zu verstehen.
      unabhängiger zu machen. Mit dem Millionen-Einkauf von
      Joe Rogan, Amerikas bislang erfolgreichstem Podcaster,                Podcast das Medium der Gen Z
      der einer dieser singulären Ausnahmen ist, wird selbstbe-
      wusst das Fragezeichen hinter dem Geschäftsmodell durch               Dort, wo „Public Broadcasting“ nicht so stark ist, wie etwa in
      ein Ausrufzeichen ersetzt.                                            den USA, wird deutlicher, dass das Phänomen Podcast ein
                                                                            vor allem junges Medium ist, das sich außerhalb der etab-
      Doch was Spotify für Musik bereits lösen konnte, ist für              lierten Medienmarken abspielt. 16 Prozent der Gen Z hören
      Podcasts noch immer unbeantwortet: Wie findet ein Nutzer              täglich Podcasts, in den Alterskohorten über 25 Jahre sind es
      die Inhalte? „Discovery“ nennt die Branche die Herausfor-             nur 9 Prozent.22 Der Podcast-Hit der jungen Zielgruppe heißt
      derung. Die Auffindbarkeit hat bisher noch keine Plattform            „Welcome to Night Vale“ und ist der seit 2012 am längsten
      richtig im Griff. Die Empfehlungsalgorithmen, wie sie Ama-            laufende und erfolgreichste Podcast der USA. Er ist das Werk
      zon perfektioniert hat, greifen aufgrund der unzureichenden           von zwei New Yorker Schauspielern aus der Off-Theater-
      Datenlage noch nicht. Zwar mag es nur eine Frage der Zeit             Szene. Mit Podcasts sahen sie die Möglichkeit, ein größeres
      sein, bis die Daten verfügbar, und damit auch eine bessere            Publikum jenseits der versprengten 100 Theaterbesucher
      Skalierungs- und Vermarktungssituation gegeben ist. Doch              zu erreichen. Bei sehr überschaubaren Produktionskosten:
      Audio-Inhalte sind nicht ohne weiteres skalierbar wie das für         „85$ for a USB microphone, a 5$ hosting subscription, and
      Bewegtbild oder auch gedrucktes Narrativ, sprich Buch, gilt.          a free audio software“23. Diese Investition sollte sich auszah-
                                                                            len. Mehr als 10 Million Abrufe – laut Selbstauskunft – hat
      Podcasts bleiben in der Regel ihrer Sprachregion verhaf-              eine Folge der zweiwöchentlich erscheinenden Mystery-
      tet, auch wenn es vor allem für die jungen Generationen               Geschichte mittlerweile, eine Art „Stranger Things“, das in
      mittlerweile aufgrund ihrer Mediensozialisation durch Com-            dem fiktiven Wüstennest Night Vale im Südwesten der USA
      puterspiele, Social Media und Netflix gewohnt sind, eng-              spielt. Das sind Zahlen, von denen man auf deutschsprachi-
      lischsprachige Inhalte zu konsumieren. Im Gegensatz zu                gem Podcast-Terrain nur träumen kann, nur schon aufgrund
      Büchern, Filmen und TV-Serien lassen sich Podcasts kaum               der geringeren demographischen Skalierungspotentiale. Die
      oder gar nicht übersetzen. Und wenn man es täte, verlören             erfolgreichsten Podcasts wie „Fest & Flauschig“ oder „Ge-
      sie viel von ihrer Wirkung bzw. es würde sich schlichtweg             mischtes Hack“ kratzen bestenfalls an der Halbe-Millionen-
      ökonomisch nicht lohnen. Auch wenn Medieninhalte schon                Marke pro heruntergeladener Folge, so ein Branchen-Insi-
      vor der Digitalisierung global waren – die Musik kam aus              der. Denn überprüfen lassen sich die Zahlen (noch) nicht. Die
      Memphis oder Liverpool, Filme und Serien aus Hollywood                Plattformen behalten ihre Zahlen für sich oder verstecken
      und NY – änderte die Digitalisierung die Geschäftsmodel-              sie hinter Beliebtheits-Rankings. Dem Medium fehlt eine
      le von Grund auf. Unter der Prämisse „Alles, Überall und              gemeinsame Metrik. Die gute Nachricht: die agma (Arbeits-
      Jederzeit“ lassen sich Medieninhalte weltweit mit zu Null             gemeinschaft Media-Analyse) bastelt an einer Währung und
      hin tendierenden Grenzkosten, wie es der Ökonom Jeremy                will Podcasts bereits 2021 in ihrer ma IPAudio erfassen.
      Rifkin21 aufzeigte, auf den digitalen Plattformen vermarkten.
                                                                            Buddy-Geschichten ziehen immer
      Exakt diesem Umstand ist es daher zu verdanken, dass
      sprachregionale Anbieter veritable Nischen besetzten kön-             „Labercasts“ wie „Fest & Flauschig“ oder „Gemischtes
      nen. Im englischsprachigen Raum ist dies in erster Linie der          Hack“ – medienwissenschaftlich besser als „Chatcasts“24
      BBC und dem amerikanischen NPR, im deutschsprachigen                  oder „Conversational“ bezeichnet – haben hierzulande we-
      Raum der ARD mit ihrer Audiothek gelungen. Es ist kein                sentlich zur Popularität des Mediums in jungen Zielgruppen
      Zufall, dass es sich bei den Genannten um Public Broad-               beigetragen. Was an ihren Protagonisten liegen dürfte. Das
      caster handelt.

                                                                             22 Edison Share of Ear 2020: https://www.edisonresearch.com/share-of-ear-
                                                                                research/
                                                                             23 Spinelli & Dann 2016, S.61
      21 Rifkin 2014                                                         24 Spinelli & Dann 2016, S. 4

                                   https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
52 MedienWirtschaft          2-3/2020 Open Access –                  - http://www.beck-elibrary.de/agb
Essay

Stakeholder im deutschen Podcast-Markt
Quelle: OMR-PodStars / Website: www.podstars.de, abgerufen am 26.08.2020

sind Jan Böhmermann und Olli Schulz bzw. Felix Lobrecht                           Bei dieser Art von Podcasts handelt es sich in der Regel um
und Tommi Schmitt. Beide Duos zeichnet ein intuitives, jen-                       ein Duo, das an jene Typen erinnert, die früher in der Pause
seits von Marketingkalkülen getriebenes Zielgruppenver-                           auf dem Schulhof die anderen mit ihren flotten Sprüchen
ständnis aus. Ebenso eine bühnenerprobte Schlagfertigkeit                         unterhalten haben. Der Rest der Klasse stand drum herum,
und eine von Comedy geschultes Verständnis für Timing                             und dachte, so wären wir auch gerne. Und das ist exakt
und Pointen, das auch regelmäßig in Live-Shows geprobt                            einer der Gründe, weshalb „Chatcasts“ so beliebt sind. Zum
wird. Losgelöst von etablierten Medienmarken, nutzen sie                          Duo gesellt sich bestenfalls ein Dritter noch als Gast hin-
den Freiraum, den ein „unabhängiges“ Medium bietet. Und                           zu. Oft spielt im Duo einer den Chef und der andere den
spiegeln so wider, was das Medium von Anfang an aus-                              archetypischen Schelm, im Mediensprech sind das Host
zeichnete: eine soft-anarchische, wider den Mainstream                            und Sidekick. Oft vermischen sich diese Rollen aber auch,
stehende Haltung. Auch wenn Fest & Flauschig mit dem                              um den Host, den Protagonisten, unter der Oberfläche des
Wechsel vom öffentlich-rechtlichen RBB zu Spotify sogar in                        postheroischen Zeitgeists zu verstecken.
der Mainstreamliga aufgestiegen ist.
                                                                                  Die Stimmen sind bei „Conversational“-Formaten im Ge-
Dramaturgisch folgen die „Chatcasts“ der „Buddy-Story“25,                         gensatz zum Radio nicht das Entscheidende. Man gewöhnt
wie sie schon seit Don Quijote erzählt wird und vor allem                         sich an die Stimme, wenn die Inhalte nur unterhaltend ge-
im Kino von „Bluesbrothers“ bis hin zu „Findet Nemo“                              nug sind, möglichst einem Geplauder beim Bier ähneln und
popularisiert wurden. „Mein-geliebter-Kumpel“ als Story-                          nahe an der Lebenswirklichkeit der Nutzer sind. Gerne wird
Motiv funktioniert, wie Blake Snyder, einer von Hollywoods                        die Exposition verwendet, um sich „warm“ zu reden, indem
Drehbuch Gurus meint, „weil Geschichten über großartige                           man sich in den Macken seines Gegenüber ausweidet oder
Freundschaften in jedem von uns einen Nachhall finden“26.                         sich über Belanglosigkeiten austauscht. Es folgen szenear-
Im Gegensatz zum Film werden die handelnden Charakte-                             tige „Verhandlungen“ über das, was die Zielgruppe gerade
re bei den „Chatcasts“ nicht in der Exposition eingeführt,                        so bewegt. Wie viele solcher Szenen es braucht, bis ein
sondern über die Wiederholung „erlernt“, analog zu Fern-                          Podcast fertig ist, dafür gibt es keine feste Regel und hängt
sehserien. Erst nach mehreren Folgen, d. h. einer Habitu-                         auch von der Dauer der einzelnen Szenen ab. Die Szenen
alisierungsphase, sind die Figuren und ihre Rollen greifbar.                      sind im Kern „narrative Anekdoten“27 und mit viel drama-

25 Snyder 2015, S.50
26 Snyder 2015, S.50                                                               27 Preger 2019, S. 89

                                                  https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
                                                          Open Access –             - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020   MedienWirtschaft 53
Essay

      turgischem Wohlwollen ließe sich ein Ausfechten von These                     Handwerk. Es wirft aber auch die Frage auf, ob Theater-
      versus Antithese heraushören, das sich aber weniger der                       bretter die besseren Sprungbretter zu einer Podcast-Kar-
      publizistischen Wahrheit verpflichtet sieht, denn vielmehr                    riere sind als etwa Rundfunkstationen, die Hohepriester
      dazu dient, möglichst viel Reibungsfläche zu erzeugen, um                     des Faches Audio. Überall wo es um die „Produktion“ von
      Pointen zu generieren.                                                        Unterhaltung geht, und das ist heute vor allem Erzählen mit
                                                                                    Bewegtbild, ist Know-how für Dramaturgie anzutreffen. Das
      Wir müssen reden                                                              gleiche gilt für Unterhaltung im Podcast, sei es rein fiktio-
                                                                                    nale oder eben plaudernd wie in den „Labercasts“, deren
      Der Übergang von Comedy-orientierten Talkformaten zu                          Archetypus in Deutschland in den 90ern in der Harald-
      „normalen“ Gesprächen ist bei den „Conversational-Forma-                      Schmidt-Show entwickelt wurde.
      ten“ fließend. Was im Fernsehen aufgrund der limitierten
      Zeit Häppchenkost bleiben muss, kennt im Podcast kaum                         Nicht von ungefähr suchen Plattformen wie Audible, die
      zeitliche Grenzen. „Durch die Gegend“ spaziert der Kölner                     Amazon-Tochter für Audio, für Content-Aufgaben ihre Mit-
      Journalist Christian Möller Seite an Seite mit einem Promi                    arbeiter in der TV-Branche. Der Bertelsmann-Konkurrent
      schon mal eineinhalb Stunden, um beim Spazierengehen                          Audio Now, von dem man meinen könnte, er verfüge mit
      über den „Weltenlauf“ zu plaudern. Die Schriftstellerin Char-                 seinen RTL Radios bereits über umfangreichen Podcast-
      lotte Roche lehrte bis Juni des Jahres in „Paarideologie“ mit                 Content, reichert seine Plattform mit Inhalten aus den
      ihrem Mann Martin das kleine Beziehungseinmaleins be-                         Bertelsmann-Verlagen und der ARD Audiothek an, weil das
      vor sie Schluss machten, zumindest mit dem Podcast. Die                       Radio – abgesehen von launigen wiederverwerteten Come-
      „Pochers hier!“ haben während des Corona-Lockdown im                          dy-Rubriken – zu wenig abwirft. Bei ProSiebenSat.1 be-
      fliegenden Wechsel übernommen. Comedian Oliver Pocher                         gründete der Zusammenhang von filmischen Erzählen und
      „verspricht die schonungslose Wahrheit“, den Scherben-                        Podcasts sogar eine neue Geschäftsidee. Im Frühjahr 2020
      haufen darf seine Lebensgefährtin Amira aufkehren.28                          wurde die Audio-Plattform „For Your Ears Only“ (FYEO) ins
                                                                                    Leben gerufen. Der Markenname, der etwas zu sehr cine-
      Die notorisch präsente Barbara Schönberger darf in „Waf-                      philes Insiderwissen strapaziert, verweist zumindest auf den
      feln einer Frau“ nun endlich das tun, was ihr klassische                      filmdramaturgischen Ursprung der Geschäftsidee. Benjamin
      Formate nicht erlauben: so lange reden, wie sie will.                         Risom von FYEO setzt selbstbewusst auf „serielle Audio-
                                                                                    formate die Grundlage schaffen für Formate, die dann fürs
      Doch ihren wahren Meister dürfte sie jenseits des Atlan-                      Fernsehen adaptiert werden“.31 Darüber hinaus sollen mit
      tiks gefunden haben: Amerikas erfolgreichster Podcaster,                      Reportagen, Fiction und Shows regelrechte „Audio-Block-
      Joe Rogan, hat sich im Juli mit dem Musikproduzenten                          buster“ entstehen. Da werbebasierte Geschäftsmodelle das
      Post Malone sage und schreibe vier Stunden unterhalten.                       nicht hergeben, wurde in Unterföhring mutig die Marsch-
      Kann man das noch als Interview im publizistischen Sinne                      route Bezahl-Abo ausgerufen.
      bezeichnen? Wohl eher nicht. Im ganz altmodischen Stil be-
      treibt der Stand-up-Comedian Konversation, als wäre man                       Know-how für filmisches Erzählen ist auch bei den Öffent-
      bei ihm zuhause auf der Couch.                                                lich-Rechtlichen vorhanden, und müsste erst gar nicht ins
                                                                                    Audio transferiert werden. Der Shortcut hierfür heißt Hör-
      Whiskey wird gereicht und ein Joint geraucht, als Elon Musk                   spiel. An keinem anderen Ort gibt es mehr Expertise für
      zu Gast ist. Kommen darf jeder – der linke Demokrat Bernie                    das, was im Englischen treffend als Radiodrama bezeichnet
      Sanders ebenso wie der konservative Philosoph Jordan Pe-                      wird: die Transformation von bildlich gezeigten und erzähl-
      terson. Deshalb als der „Larry King des Intellectual Dark                     ten Geschichten in Worte und Klang.32 Doch das altehr-
      Web“29 beschimpft zu werden, ist Joe Rogan angesichts                         würdige Hörspiel ist wie in einer Zeitkapsel aus den 70ern
      seines Erfolgs egal: „Ich mache, whatever the fuck ich ma-                    eingeschlossen und sucht etwas hilflos den Anschluss an
      chen will.“30                                                                 die heutige Zeit.33 Das jahrzehntelang gewachsene Know-
                                                                                    how fließt nicht in die Podcast-Produktion ein. Der Begriff
      Filmisches Denken im Podcast                                                  Hörspiel verkleistert die Verwandtschaft mit Podcast, der
                                                                                    diesem nähersteht als dem herkömmlichen Radio. Doch
      Da die Herkunft der Macher von Conversational-Formaten                        sollten Hörspiele überhaupt ins Podcast-Format transfor-
      oft Fernsehen und Bühne ist, sitzt das dramaturgische                         miert werden?

      28 Die Pochers hier!: https://audionow.de/podcast/die-pochers-hier
      29 Joe Rogan’s Galaxy brain. Slate 21.03.2019: https://slate.com/cul-         31 FYEO ist da: Warum ProSieben eine eigene Podcast-App gelauncht hat. Busi-
         ture/2019/03/joe-rogans-podcast-is-an-essential-platform-for-freethin-        ness Punk 23.4.20: https://www.business-punk.com/2020/04/fyeo-ist-da-
         kers-who-hate-the-left.html                                                   warum-prosieben-eine-eigene-podcast-app-gelauncht-hat/
      30 Mit Elon Musk eine rein ziehen, statt ihn ausquetschen. NZZ 30.11.2019:    32 vgl. Crisell 1994, S. 146
         https://www.nzz.ch/feuilleton/joe-rogan-ich-mache-whatever-the-fuck-ich-   33 Neuer YouTube Kanal für Hörspiel und Feature. Pressemittelung Deutsch-
         will-ld.1525003                                                               landradio 6.8.2020.

                                        https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
54 MedienWirtschaft               2-3/2020 Open Access –                  - http://www.beck-elibrary.de/agb
Essay

Podcasts reich an dramaturgischen                                  cher für Podcasts zu entwickeln und diese aufwendig mit
Spurenelementen                                                    mehreren Stimmen zu produzieren? Am ehesten vorstellbar
Möglicherweise beruht es auf einem Missverständnis, dass           wäre das nur bei nicht gewinnorientierten Geschäftsmodel-
Podcasts sehr stark mit fiktionalen Geschichten in Verbin-         len, sprich gebührenfinanzierten Öffentlich-Rechtlichen.
dung gebracht werden. Schnell ist von einem „Netflix für
die Ohren“ die Rede, wo sich fiktionale Serien auf einer „to-      True Crime – das Drehbuch liefert die
hear-list“ stapeln, um „binge-gehört“ zu werden, wie das bei       Gerichtsakten
Filmserien der Fall ist. Die These wäre, Podcasts sind zwar
nicht quantitativ der Ort für Fiktionales, doch die Gesetz-        So schwer sich das Fiktionale im deutschsprachigen Pod-
mäßigkeiten des fiktionalen Erzählens finden sich qualitativ       cast tut, so deutlich hat es Spuren hinterlassen bei einem
in (fast) allen Podcasts wieder, sind dramaturgisches Spu-         seiner derzeit populärsten Genres, nämlich True Crime.
renelement. Die Beweisführung für diese These führt noch           „Abgründe“, „Mordlust“, „stern Crime“ oder „Verbrechen
einmal zurück zu der Frage, was ist ein Podcast. Darüber           von nebenan“ lauten gängige Titel.
herrscht immer noch eine große Unsicherheit. Die gerne
umschifft wird, indem in diese historisch sehr junge Me-           Das Genre boomt. Wenn es in dem Tempo weiterwächst
diengattung alle Formen von Audio hineingepackt werden.            wie derzeit, dürften ihm bald die Fälle ausgehen. Denn True
Von Kinderkassetten, über Hörbücher bis hin zu Radiosen-           Crime lebt von wahren Kriminalfällen. Mal ausführlich über
dungen zum Nachhören. Doch die Unsicherheit fängt schon            mehrere Episoden erzählt, mal in einer Episode mehrere
beim Verständnis von Audio an. Im Vergleich zu Video ist die       kurz abgehandelt. In der simpelsten Variante werden die
Analogie zum Gehörten unscharf geblieben und ist wieder-           amerikanischen „Serial“-Fälle nacherzählt, in der aufwen-
um sehr von dem geprägt, was man unter Radio versteht:             digsten die Verbrechen wie ein Hörspiel inszeniert.
“Radio still provides a useful cultural shorthand to explain
audio content”.34                                                  Was sich hier zwischen journalistischen Grundsätzen und
                                                                   erzählerischen Erfordernissen entspinnt, hat seine Ursprün-
Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung von Podcasts, ins-               ge nach übereinstimmender Lesart im New Journalism der
besondere von fiktionalen, in der Medienbranche, sehr vom          späten 60er. Vor allem amerikanische Autoren wie Norman
anglo-amerikanischen Markt geprägt ist. Zuallererst natür-         Mailer, Tom Wolfe oder Joan Didion verschoben mit ihrem
lich von der BBC als Mutter des Radiodramas. Viel beachte-         höchst subjektiven, idiosynkratrischen Reportage-Stil die
te Serien wie „The Archers“ oder „The Thing of Darkness“           Grenzen zwischen Journalismus und Literatur. Für man-
entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als On-Demand             che Kritiker etwas zu arg, doch True Crime hat’s gut getan.
Audio von Hörspielen der Kulturwelle BBC4. Jenseits des            Wie gut, zeigt der Bestseller von Truman Capote „In Cold
Atlantiks trug der Erfolg der US-amerikanischen Podcast-           Blood“ von 1966. Mit der roman-artigen Reportage eines
Reihe „Serial“ zum „Fiktionsmythos“ bei. Jeder der bisher          Mehrfachmordes einer Farmerfamilie in Westkansas gelang
drei veröffentlichten Staffeln verzeichnete neue Download-         dem Autor des „New Yorker“ eine fesselnde psychologische
Rekorde, so dass schon von der Ära Podcast vor und nach            Studie über Gut und Böse, Schuld und ausgebliebener Süh-
„Serial“ gesprochen wurde. Doch „Serial“ ist nicht fiktional,      ne. Ein bekanntes Bonmot besagt, Capote sind auf seiner
sondern basiert auf publizistischen Recherchen zu rätsel-          Suche nach Wahrheit doch tatsächlich Fakten in den Weg
haften Kriminalfällen, die von Mitarbeitern der Public-Ra-         gekommen.35
diosendung „This American Life“ produziert und von der
Journalistin Sarah Koenig präsentiert wird, also kurzum            Die Erzählgenauigkeit, die Tiefe der psychologischen Be-
True Crime ist.                                                    obachtungen, das „Timen“, wann welche Fakten gebracht
                                                                   werden – „withholding information for the sake of a dramtic
Der eigentliche Grund für das Ausbleiben der Podcast-Fik-          arch”36 – sind allesamt Techniken, die auch einen guten
tion-Serien-Schwemme im deutschsprachigen Raum heißt               True Crime Podcast auszeichnen und vom Drehbuchschrei-
Hörbuch. Solange Konsumenten bereit sind, für fiktive In-          ben her bekannt sind. Sie helfen fiktionale Stoffe zu entwi-
halte in Form von Hörbüchern zu zahlen, wird es die Fiktion        ckeln, aber ebenso reale zu entschlüsseln. True Crime wäre
im werbefreien Podcast schwer haben. Zumal der Produk-             demnach ein vorhandenes Drehbuch von „hinten her“ zu
tionsaufwand für ein Hörbuch um ein Vielfaches unter dem           erzählen und die Konflikte der beteiligten Figuren zu ent-
eines Fiction-Podcasts liegt, und nur ein weiterer Baustein        schlüsseln. Sogenannte Story-Ereignisse,37 in denen sich
in einer längeren Verwertungskette ist, die mit dem ge-            bedeutsame Veränderung in der Situation der Figur zutra-
druckten Buch anfängt und mit der Rechtevergabe für Film           gen, lassen sich aus den Gerichtsakten rekonstruieren.
aufhört. Wie sollte es sich da noch lohnen, eigene Drehbü-

                                                                    35 Flis 2010, S. 75
                                                                    36 Spinelli & Dann 2016, S. 182
34 Berry 2018, S. 29                                                37 McKee 2001, S. 44

                                   https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
                                           Open Access –             - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020   MedienWirtschaft 55
Essay

      Kuratierte Wahrheiten                                                        kommend wirkt das verstärkte Interesse für regionale Ge-
      Lebt die Fiktion davon, wie Figuren angelegt werden – ist                    schichten.
      der Lehrer ein entlassener Bankräuber, wird daraus „Fack
      Ju Göhte“, ist er krebserkrankt „Breaking Bad“ – ist bei                     Das bekannte „Setting“ vor der Haustüre ist trotz Mord noch
      True Crime das schon alles angelegt. „When a nonfiction                      vertrauenswürdiger als die nicht greifbaren, über den Glo-
      writer begins to assemble a narrative, it seems as if most of                bus verstreuten Krisenherde. Die Medien versetzen uns in
      the work of characterization is already done.”38 Keine Figur                 die Lage, „zur Hauptsendezeit Krieg ‚anzuschauen‘, ohne
      muss mühsam einer Phantasie entlockt werden, sondern                         den eigenen Körper einer Gefahr auszusetzen.“46 Von „me-
      wird plastisch und greifbar alleine durch das genaue Be-                     dieninduzierten Gefühlen“47 spricht der Philosoph Hans Ul-
      trachten und Einordnen der Fakten. Was für die Fiktion die                   rich Gumbrecht. Sie entziehen den sog. evidenzbasierten
      Figurenentwicklung, ist für True Crime die Charakteranalyse                  Erfahrungen den Boden unter den Füßen und führen zu
      auf der Basis von psychologischer Beobachtung. Dahinter                      Überforderung der kognitiven und emotionalen Ressour-
      steckt unser „Hunger nach Tiefe und Realitätsgehalt einer                    cen, die für die Verarbeitung von Sinneseindrücken und
      Figur“.39 Im tiefsten Inneren wollen wir diese rätselhafte                   Informationen verbraucht werden. Das dem Augenschein
      Welt verstehen. Nach dem Literaturnobelpreisträger Jose                      nach unbezweifelbar Erkennbare, die Evidenz, ist deshalb
      Saramago „sind wir wohl in irgendeinem Sinne alle fiktive                    der Rohstoff von True Crime. In dessen Geschichten kommt
      Figuren, aufgezogen vom Leben und geschrieben von uns                        einerseits die Sehnsucht nach Begreifen der Welt zum Aus-
      selbst.“40                                                                   druck und sind damit eine Folgeerscheinung der Mediendi-
                                                                                   gitalisierung. Sie sind aber anderseits auch Ausdruck, dass
      Das Figuren-Setting folgt dabei einer inhärenten Logik, die                  wir in einer „eher gemütlichen Gesellschaft leben“48 Dort
      bereits im Genre angelegt ist. Kein Kriminalfall, egal ob wahr               wo Gewalt und Verbrechen Alltag sind, etwa in Syrien oder
      oder fiktiv, kommt ohne Täter und Opfer aus, aber ebenso                     Russland, dürften „True Crime Geschichten nur halb so gut
      wichtig sind Autoritätspersonen wie Polizisten, Rechtsmedi-                  ankommen. Weil die Leute selbst genug Erfahrungen auf
      ziner, Psychologen und Sozialarbeiter. Denn „integral to all                 diesem Gebiet machen. Insofern ist es natürlich eine Sub-
      narratives that depict real events is the verification by an                 limierung, die wir erleben, die wir uns leisten können, weil
      authority.“41 Diese Autorität kann aber auch das „Setting“                   es uns so gut geht.“49
      sein, in dem der Fall spielt, also eine Dorfgemeinschaft, ein
      Krankenhaus ein Stadtviertel. Da die Gatekeeper-Funktion                     True Crime Podcasts funktionieren anlog den Heimatkrimis
      von Autoritäten, aber auch Medien, in Zeiten von Social                      gut vor der eigenen Haustüre, in vertrauten Topoi, wie schon
      Media sich grundlegend verändert hat, überträgt sich die                     bei Aristoteles zu erfahren ist: „Wenn man den dargestellten
      Autorität auf die Dorfgemeinschaft oder das Statdtviertel –                  Gegenstand noch nie erblickt hat, da bereitet das Werk als
      „voice of authority (belongs) to a collective: the figures who               Nachahmung kein Vergnügen“50. Da der Zuhörer die „Umstän-
      make up the city or town where the murder has taken place,                   de“ zu kennen meint, lässt er sich gerne – auch über Social
      creating the effect that the real authority is not a person, but             Media – in den Zeugenstand berufen: „listeners are clearly
      a setting“.42                                                                framed as coinvestigators”51. Ist die Story gut genug, beteiligt
                                                                                   sich das Publikum wie von selbst: „Audiences like to work; it’s
      Die Wahrheitsfindung wird zum Prozess und beschränkt                         the working that glues them to the narrative“ 52. Die Spannung
      sich nicht nur auf den Täter selbst. Journalismus wird zum                   wird nicht durch die Frage erzeugt, wer war’s, sondern war-
      „Kurator von Wahrheiten“43, um gesellschaftliche Umfelder                    um war er’s. Kein Whodunit, sondern ein Whydunit. „Wir im
      und Milieus nachzuzeichnen, die oft Folie für Verbrechen                     Publikum sind letztendlich die Ermittler“53 und wollen indem
      sind. Dem Journalismus bieten sich so Möglichkeiten, jen-                    wir die Motive des Täters verstehen, uns unserer eigenen mo-
      seits von Klickraten die Menschen hinter den Geschichten                     ralischen Integrität versichern, als ausreichend resistent, nicht
      wieder ernst zu nehmen und so eine Wunde des Autoritäts-                     auf die dunkle Seite zu geraten, die „uns oftmals kaleidosko-
      und Bedeutungsverlustes zu heilen „... a wound actually                      partig, in unser eigenes Inneres führt“.54
      widening in a podcast era of declining institutional authority,
      influence and trust“44. So betrachtet ließe sich Podcasting
      als neue Ausprägung eines “new human journalism“45 oder
                                                                                    44 Spinelli & Dann 2016, S. 194
      „konstruktiven Journalismus“ verstehen. Dem entgegen-                         45 Spinelli & Dann 2016, S. 194
                                                                                    46 Gumbrecht 2004, S. 161
                                                                                    47 Gumbrecht 2004, S. 162
                                                                                    48 Wa(h)re Verbrechen: Der True-Crime-Boom. NDR 03.04.2019:
                                                                                       www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Wahre-Verbrechen-Der-True-
                                                                                       Crime-Boom,truecrime102.html
      38   Hibbett 2018, S. 46                                                      49 Sabine Rückert. In: Wa(h)re Verbrechen. a.a.O
      39   Wood 2013, S. 112                                                        50 Aristoteles. (1982). Poetik. Stuttgart: Reclam jun. S. 13
      40   Wood 2013, S. 105                                                        51 Spinelli & Dann 2016, S. 192
      41   Hibbett 2018, S. 62                                                      52 Yorke 2014, S. 117
      42   Hibbett 2018, S. 63                                                      53 Snyder 2015, S. 53
      43   Spinelli & Dann 2016, S. 193                                             54 Snyder 2015, S. 53

                                          https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
56 MedienWirtschaft                 2-3/2020 Open Access –                  - http://www.beck-elibrary.de/agb
Essay

Auch ins Innere unserer ureigenen Ängste: ausgeraubt                            te mit ent- oder aufdeckt. Er ist also ein lernender, nicht-
oder Opfer von Gewaltverbrechen zu werden. Dahinter                             wissender Erzähler“62.
verbirgt sich der Wunsch, dass uns Geschichten helfen,
die Wirklichkeit zu ertragen. „We watch stories not just to                     Daher ist es unmöglich, die Rollen zwischen unparteiischen
awaken our eyes to reality but to make reality bearable as                      Journalisten und mitfühlenden Erzählern bei True Crime klar
well. Truth without hope is as unbearable as hope without                       zu trennen, auch wenn in Deutschland der Respekt vor dem
truth.”55 Hartnäckig hält sich deshalb die These, dass vor                      Journalismus immer noch groß und die Tradition für nicht-
allem Frauen True Crime Fans sind, aus Angst selbst Opfer                       fiktionales Erzählen klein ist. Die „Causa Relotius“ kommt
zu werden56. Doch für Susanne Rückert, langjährige Ge-                          einem unweigerlich in den Sinn. Die Balance zwischen
richtsreporterin und Herausgeberin des „ZEIT Verbrechen“-                       Journalismus und Erzählen scheint der „ZEIT Verbrechen“-
Podcasts geht die Antwort tiefer und berührt den Kern des                       Podcast, den die heutige ZEIT-Chefredakteurin Rückert mit
Narrativen: „Hinter jeder guten Kriminalgeschichte steckt                       ihrem Kollegen Andreas Sentker aus dem Wissenschafts-
ein Rätsel. Und das ist, glaube ich, das Interessante. Die                      ressorts 14-tägig veröffentlicht, gut zu treffen. Nicht von
Frage: Ist das, was ich sehe, wirklich die Wahrheit? Das                        ungefähr zählt dieser „Meta-TATORT“ nicht nur zu den
ist diese Doppeldeutigkeit, diese Doppelgründigkeit der                         erfolgreichsten des Genres, sondern auch zu den erfolg-
menschlichen Existenz.“57                                                       reichsten Podcasts überhaupt im deutschsprachigen Raum.

Erzählung ohne Haltung gibt es                                                  Das Gewicht einer 20jährigen Erfahrung als Gerichtsrepor-
nur in Deutschland                                                              terin bringt Rückert nicht nur den inoffiziellen Titel „Mutter
                                                                                des True Crime“ ein, sondern liefert auch eine Antwort auf
Max Frisch meinte daher auch zurecht, die Wahrheit könne                        die Frage nach dem Verhältnis von Journalismus und Nar-
man nicht erzählen. „Die Wahrheit ist keine Geschichte, sie                     ration, die in einer Weisheit des Erzählens begründet liegt,
hat nicht Anfang und Ende, sie ist einfach da oder nicht.“58                    die sich eher auf die „Analyse- und Reflektionsfähigkeit, als
Was ist wahr und was nicht, eben von dieser Diskrepanz                          auf das Wissen“63 bezieht. „ZEIT Verbrechen“ ist im Kern
lebt Erzählen, erzeugt die Spannung, ohne sie gäbe es keine                     das Ausleuchten der „conditio humana“ und der Frage, wa-
Erzählung. „Where all is known, no narrative is possible“.59                    rum Menschen so und nicht anderes geworden und wo im
Doch welche Haltung soll der Erzähler von True Crime ein-                       Leben sie falsch abgebogen sind. Steht am Anfang nur eine
nehmen?                                                                         Boulevard-Schlagzeile, differenziert sich der Fall in 45–60
                                                                                Minuten aus und am Ende stehen tiefgehende Charakter-
Kein Erzähler im True Crime oder auch in anderen Genres                         analysen, Psychogramme von Täter und Opfer, Milieustudi-
kann so tun als würde er wertfrei und objektiv die Geschich-                    en der Umfelder. Dem Verbrechen wird dadurch der Nimbus
te wiedergeben. Der Typus des „German Narrator“,60 der                          des Trivial-Bösen genommen und an Stelle dessen tritt eine
so tut, als gäbe es keinen Erzähler – eine Schöpfung des                        Offenlegung der „Konfliktschichten“64 des Täters.
öffentlich-rechtlichen Rundfunks – ist in True Crime nicht
möglich. Sie zwingen einen „inneren Standpunkt“ einzu-                          Protagonisten knüpfen ein geheimes
nehmen. Die Frage, ob der Erzähler die Lebenswelt, die er                       Band mit dem Publikum
wiedergibt, teilt, oder ob er eine ihm eigentlich fremde Welt
beobachtet,61 stellt sich erst gar nicht.                                       Wo „ZEIT Verbrechen“ die gebührende Distanz wahrt, ohne
                                                                                dass die Einfühlung für die Charaktere auf der Strecke blie-
Der Gegenstand der Geschichte zwingt den Erzähler, mit                          be, vermischt „Serial“ – der amerikanische Prototyp des
seinen Grundüberzeugungen nicht hinterm Berg zu halten.                         True Crime Podcast – Distanz und Einfühlung. Schilderung
Denn eine Identifizierung mit dem Täter ist ausgeschlos-                        konkreter Szenen wechseln mit reflektierender Debatte,
sen. Schließlich noch die Frage nach dem „äußeren Stand-                        was man als „szenisch reflektierende Narration“65 bezeich-
punkt“: steht der Erzähler in der Geschichte oder außerhalb,                    nen könnte. In der Rolle als Reporterin wird Sarah Koenig
ist er Teil der Geschichte oder Beobachter. Die Haltung kann                    immer wieder selbst zur Figur und damit Teil der Handlung.
entweder auktorial sein, wenn er so tut, als wisse er alles.                    „Rather than claiming authoritative, all-knowing status, Ko-
Für die Entwicklung der Geschichte ist dies aber nicht sehr                     enig admits to her own vexations with the story and her
förderlich „Besser ist es, wenn der Erzähler die Geschich-                      own potential distrust of the facts”66. Was aber auch am
                                                                                Setting liegen dürfte. Die drei bisherigen Staffeln behandeln
                                                                                allesamt Kriminalfälle, an deren Aufklärung Zweifel haften.
55 Yorke 2014, S. 181
56 Vicary & Fraley 2010
57 Sabine Rückert. In: Wa(h)re Verbrechen. a.a.O.
58 Frisch 1976, S. 262                                                          62   Preger 2019, S. 215
59 This story like all story has it’s beginnings in a question … Where all is   63   Preger 2019, S. 216
    known, no narrative is possible. McCarthy 1998.                             64   McKee 2018, S. 71
60 Preger 2019, S. 208                                                          65   Preger 2019, S. 8
61 Preger 2019, S. 214                                                          66   Hibbett 2018, S. 57

                                             https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
                                                     Open Access –             - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020   MedienWirtschaft 57
Essay

      Die Erzählerin schlüpft in die Rolle des Ermittlers. Sieht man                Die Antwort ist so banal wie naheliegend. Weil sie es ihr
      von diesem Beispiel ab: Welche Rolle nehmen die „Präsen-                      ganzes oder überwiegende Teile ihres Berufslebens getan
      tatoren“ von True Crime Podcasts in der Regel ein? Sind sie                   haben. Als Polizei- oder Gerichtsreporter, als Rechtsmedi-
      nun Journalisten, Erzähler, Ermittler oder gar die Protago-                   ziner.
      nisten selbst?
                                                                                    Berufs- und Lebenserfahrung sind deshalb im Genre True
      Zuallererst sind sie Personen, mit denen wir uns identifizie-                 Crime Podcast der Goldstandard. Es macht einen Unter-
      ren können, weil sie empathisch sind. Was nicht heißt, dass                   schied, wenn jemand 40 Jahre als Rechtsmediziner gear-
      sie automatisch auch sympathisch sein müssten. Entschei-                      beitet hat, ein „Mann ist, der die Toten versteht“, wie der
      dender ist, macht sie das, was wir angesichts der Ungeheu-                    Hamburger Klaus Püschel und sich mit der langjährigen
      erlichkeiten empfinden, nachvollziehbar. „Durch Empathie,                     Gerichtsreporterin vom Hamburger Abendblatt Bettina Mit-
      der indirekten Verknüpfung unseres Selbst mit einem fikti-                    telacher, einer Ururenkelin des Dichters Theodor Storm,
      ven menschlichen Wesen, unterziehen wir unser Mensch-                         unterhält; oder ob die beiden junge Journalistinnen von
      sein einer Prüfung und erweitern es“67, sagt die Creative-                    „Mordlust“ betonen, dass sie keine Expertinnen auf diesem
      Writing Legende Robert McKee über fiktive Figuren, aber es                    Gebiet sind.74
      trifft genauso auf reale zu. Jeder, der True Crime Podcasts
      hört, hat sich vermutlich schon einmal die Frage gestellt:                    Um es auf eine einfache Formel zu bringen, True Crime
      Wäre ich unter den entsprechenden Umständen auch fähig,                       lebt von starken Protagonisten, Personen, „the audience
      solch ein Verbrechen zu begehen?                                              care(s) about most“.75 Je mehr jemand im Thema drin ist
                                                                                    und je besser er/sie es erzählen, desto mehr bewahrhei-
      Da die Präsentatoren die Projektionsfläche für solche Fragen                  tet sich diese Formel. Nach internen Bewertungskriterien
      sind, erfüllen sie die Definition des Protagonisten. Nach Aris-               von Audible für Podcasts stehen Persönlichkeiten an erster
      toteles ist er der Erst-Handelnde, gewöhnlich die Figur, die                  Stelle: „Menschen sind der Kern. Erst durch die Menschen,
      das Thema der Story transportiert. „Es muss um jemanden                       ihre Geschichten und ihre Perspektiven wird ein Format
      gehen“68. Es geht zwar immer um Täter und Opfer, doch die                     lebendig. Die Essenz jedes Formats ist die Erzählung ei-
      wechseln in der Regel von Folge zu Folge und laden auch                       ner Person. Es gibt keine anonymen Sprecher. Wir wollen
      nicht zur Identifikation ein. Kein Drehbuchautor verlangt, „Fi-               Persönlichkeiten mit Wiedererkennungswert.“76 Trifft daher
      guren zu verstehen, deren Verhalten wir nicht billigen können                 auf alle Podcasts zu, was auf True Crime zutrifft, brauchen
      – oder jedenfalls nicht, bevor sie jene nicht entschieden und                 Podcasts einen oder mehrere Protagonisten?
      eindeutig verurteilt haben“.69 Positive Identifikationsflächen
      bieten hingegen Rechtsmediziner, Gerichts- oder Polizeire-                    Der Antagonist steckt oft in uns selbst
      porter. Weil sie Kraft ihrer Erfahrung und ihres analytischen
      Blicks uns durch menschliche Abgründe hindurchbegleiten,                      Als der Leiter der Virologie in der Berliner Charité zusam-
      ohne deren Hilfe wir dazu nicht in der Lage wären. Sie lernen                 men mit einer NDR-Wissenschaftsjournalistin Ende Februar
      uns mit unseren Ängsten umzugehen und „Zugang zu unse-                        das Corona-Virus-Update starteten, waren beide über die
      rem Unterbewussten herzustellen“70. Das ist das Geheimnis                     Fachwelt hinaus kaum bekannt. 50 Folgen später ist Ko-
      ihres Bandes, das sie mit dem Publikum knüpfen.71                             rinna Hennig ein Aushängeschild des NDR und Christian
                                                                                    Drosten neben Angela Merkel Deutschlands bekanntester
      Duos wie Rückert/Sentker von „ZEIT Verbrechen“ oder                           Wissenschaftler. Auch wenn er die Verantwortung von sich
      Klaus Püschel und Bettina Mittelacher in „Dem Tod auf der                     wies, lastete auf ihm zu einem nicht unerheblichen Teil die
      Spur“ vom Hamburger Abendblatt werden im Storytelling                         Frage, wie Deutschland aus medizinischer Sicht mit der
      als „Plural-Protagonisten“72 bezeichnet. Als Team verfolgen                   Pandemie umgehen sollte. Sein Ton war alles andere als
      sie dasselbe Ziel und teilen den Wunsch, der Sache auf den                    laut und aktionistisch, im Gegenteil zurückhaltend und be-
      Grund zu gehen. „Innerhalb eines Plural-Protagonisten sind                    hutsam, als hätte es ihm Werner Herzog persönlich zuge-
      Motivation, Handeln und Folgen allen gemeinsam.“73 Was                        flüstert: „the most defensive is the most aggressiv attitude
      bietet ausreichend Motivation, sich 14-tägig oder monatlich                   against the virus“.77 Was musste passieren, dass aus einem
      zu einem Podcast zu verabreden und gemeinsam ein Ver-                         Wissenschaftler eine Personality wurde, die nicht einem Ro-
      brechen aufzudröseln?

                                                                                     74 True-Crime-Format mit Schwächen. Stuttgarter Nachrichten,25.4.20: htt-
                                                                                         ps://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.podcast-mordlust-true-crime-
      67   Mc Kee 2018, S. 161                                                           format-mit-schwaechen.162be93f-bff9-495c-9bf4-59967cfbe7e4.html
      68   Snyder 2015, S. 64                                                        75 Yorke 2014, S. 4
      69   Wood 2013, S. 98                                                          76 Audible, Bewertungskriterien Podcast: https://callforpapers.audible.de/po-
      70   Yorke 2014, S. 5                                                              dcasts/vorgaben
      71   vgl. McKee 2018, S. 161                                                   77 Interview mit Werner Herzog. In: Kermode&Mayo’s Filmreview. BBC5
      72   McKee 2018, S. 155                                                            3.7.2020: https://www.bbc.co.uk/programmes/articles/1dh3JbkWZ75zM
      73   McKee 2018, S. 155                                                            qNBgXdzTrF/the-witterlist-3rd-july-2020

                                           https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
58 MedienWirtschaft                  2-3/2020 Open Access –                  - http://www.beck-elibrary.de/agb
Essay

land Emmerich Film sondern einem Podcast entstiegen ist?                        erfolgreich als Judoka, Mixed-Martial-Arts-Kämpferin und
Er wurde zum Protagonisten, indem er sich als Chefvirologe                      Sumo-Ringerin, dazu ist sie noch ausgebildete Medienwis-
dem Antagonisten stellte. Der war nicht äußerlich das Virus,                    senschaftlerin und Journalistin. „Women hit harder“ heißt
sondern der war unsere Angst vor dem Virus, also kein äu-                       der Interview Podcast der 30jährigen, in dem kurzweilig
ßerlicher Bösewicht, sondern war Teil von uns.78                                die Grenzen zwischen Interviewerin und Gast verschwim-
                                                                                men. Die Influencerin Malina Seiler impft in „Happy, holy
Der Druck, unter dem der Mediziner Entscheidungen treffen                       & confident“ jungen Frauen mehr Selbstbewusstsein ein.
musste, „enthüllte dabei seinen Tiefencharakter“79, mit dem                     Die 33jährige wird von der Kritik dafür verrissen – „eine
sich das Publikum identifizieren konnte. Nicht nur hat das                      Mischung aus Pop-Yogastunde und Freikirchen-Predigt“85
Update aus der Charité den Tiefencharakter eines besonne-                       – und von ihren Fans geliebt und so oft downgeloadet,
nen Wissenschaftlers enthüllt – der wir letztlich alle gerne                    dass er zum meistgehörten Coaching-Podcast der jungen
selbst wären –, sondern auch deutlich gemacht, wie sehr                         Zielgruppe avancierte.
Podcasts Protagonisten brauchen. Denn sie leben unsere
unerfüllten Wünsche aus und sei es nur etwas mehr über                          Im Kern folgen Coaching-Podcasts der klassischen „Hel-
sich selbst erfahren zu haben. Antrieb, diese Einsichten zu                     denreise“ bzw. eines Teilabschnitts, wo es um das „Über-
erlangen, ist der Individuationsprozess des Menschen, am                        treten einer Schwelle“86 – etwa Feigheit, Versagensängste,
Ende zu wissen, wer er wirklich ist.80 Und als Draufgabe hat                    Schüchternheit – geht, über die uns ein Mentor hinweghilft.
das Corona-Update noch viel zur Popularität der Medien-                         Sie sind Projektionen eines psychologischen Entwicklungs-
gattung Podcast im deutschsprachigen Raum beigetragen.                          modells87, wie wir sie archetypisch aus den aus der Kindheit
                                                                                vertrauten Märchen kennen. Im Podcast wird Coaching im
Nun beschäftigen sich Wissenspodcasts in der Regel nicht                        buchstäblichen Sinne „Lebens-Philosophie-to-go“. Denn
mit Situationen, in denen „die Handlung einer Figur zutiefst                    bei Coaching-Podcasts geht’s um Persönlichkeitsentwick-
wichtig (ist) und etwas Besonderes auf dem Spiel steht“.81                      lung, und seine Protagonisten sind Mentoren. Im Kern fun-
Aber die Motivation, sich für etwas zu interessieren, was                       gieren sie als „flight simulators of human social life“.88
ich noch nicht weiß, und sei es Wissensthema, ist die Su-
che nach Puzzleteilchen für den Fahrplan, durchs Leben                          Wie immer gerade das Bedürfnis der jeweiligen Zielgruppe
zu kommen. Dienen dem „expectation management” der                              aussieht, es findet sich irgendwo im „Longtail“ die richtige
eigenen Zukunft, wie der kanadische Kognitionswissen-                           Therapie-Hördosis. Kein mühsames Abklappern von Coa-
schaftler Steven Pinker feststellt: „Stories equip us with a                    ching-Adressen oder Zeitabsitzen in Wochenendseminaren,
mental file of dilemmas we might one day face, along with                       nur hören und ausprobieren, bis man die richtige Helden-
workable solutions“82. Erzählungen, und selbst wenn es                          Pauschalreise beim richtigen „Guru“ gefunden hat. Freilich
eben erzähltes Wissen ist, rüsten uns für das, was vor uns                      sind viele Coaching-Podcasts nur ein weiteres Glied in einer
liegt. Podcasts und ihre Geschichten laden dazu ein, unser                      längst bestehenden Verwertungskette, die bei YouTube-
eigenes Handeln durchzuspielen. Man kann „so-Tun-als-ob                         Tutorials anfangen und bei Büchern aufhören.
... wobei man weiß, dass es zu keinerlei praktischen Fol-
gen kommt“.83 Medien allgemein gesprochen ermöglichen                           Leute lassen sich nichts sagen,
„symbolisches Probehandeln“84, Podcasts im Speziellen                           aber alles erzählen
symbolisches Probeverhandeln, wo die „innere Stimme“ die
Verhandlung in „eigner“ Sache führt.                                            Mögen die Themen Coaching, Beziehungsgeplauder oder
                                                                                seriöse Wissenschaftsthemen sein, die vorherrschende
Helden-Pauschalreisen                                                           Form dieser Podcasts ist das Gespräch. Egal ob lockeres
                                                                                Geplauder oder journalistisch eng geführtes Interview,
Populäre Beispiele hierfür sind die Coaching-Podcasts. Je-                      wahrgenommen werden zwei Menschen, die sich unterhal-
mand gibt Zeugenschaft von seinem Lebensweg ab, dessen                          ten, womit der Begriff der Unterhaltung auf seine Ursprünge
Bewältigung eben dann Inhalt des Podcasts wird. Das kön-                        verwiesen wird. Doch wo ist die Trennlinie zwischen „Ge-
nen Schicksalsschläge und die Überwindung innerer und                           blubber“ und Gespräch? Gibt es solch eine Trennlinie über-
äußerer Hindernisse sein oder einfach ein beindruckender                        haupt?
Werdegang. Julia Dorny ist als einzige Sportlerin der Welt

78 Antagonism can manifest itself in many different ways – most interestingly
   when it lies within the protagonist; Yorke 2014, S. 7
79 McKee 2018, S. 162
80 vgl. Berndt 2020                                                             85 Der Coach im Ohr – Helfer oder Humbug? persönlich com. 9.7.2020: ht-
81 Wood 2013, S. 117                                                               tps://www.persoenlich.com/digital/der-coach-im-ohr-helfer-oder-humbug
82 Gottschall 2013, S. 64                                                       86 vgl. Vogler 2018, S.41 ff.
83 Goffman 1980, S. 60                                                          87 vgl. Preger 2019, S. 66
84 Winkler 2008, S. 44                                                          88 Oatly, K., in: Gottschall 2013, S. 58

                                             https://doi.org/10.15358/1613-0669-2020-2-3-49, am 05.11.2021, 22:31:08
                                                     Open Access –             - http://www.beck-elibrary.de/agb 2-3/2020    MedienWirtschaft 59
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