Wohnen in Deutschland 1990 und heute - Verband der ...

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Wohnen in Deutschland 1990 und heute - Verband der ...
Wohnen in Deutschland
                                          1990 und heute
                                          Erinnerung an die Einführung der Währungs-,
Verband der Privaten Bausparkassen e.V.
  Klingelhöferstraße 4 · 10785 Berlin     Wirtschafts- und Sozialunion vor 30 Jahren
      Telefon (030) 59 00 91 500
      Telefax (030) 59 00 91 501
info@vdpb.de · www.bausparkassen.de
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Inhalt

 Seite 4   Wir brauchen keine Schlafdörfer und verödete Innenstädte
           Interview mit Volkmar Vogel MdB
           Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern,
           für Bau und Heimat

 Seite 8   Gemeinsinn und Gemeinwohl wieder in der Gesellschaft platzieren
           Interview mit Dr. Axel Viehweger
           Minister für Bauwesen, Städtebau und Wohnungswirtschaft der DDR
           im Kabinett von Lothar de Maizière

Seite 11   Kulturgut Wohnen aus der Zeit heraus verstehen
           Wiltrud Anne Kathrein Zweigler
           Freie Journalistin

Seite 18   Urbanität aus dem Baukasten
           Interview mit Dr. Harald Engler
           Stellvertretender Abteilungsleiter der historischen Forschungsstelle am
           Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung Erkner bei Berlin

Seite 20   Die Hierarchie der Räume ist vorbei
           Interview mit Dipl.-Ing. Christine Edmaier
           Präsidentin der Architektenkammer Berlin

Seite 22   Der ostdeutsche Wohnungsmarkt
           Dr. Reiner Braun
           Vorstandsvorsitzender der empirica AG Forschung und Beratung (Berlin)

Seite 27   „Aufbausparen Ost“ –
           30 Jahre Bausparen in der DDR und den neuen Ländern
           Dr. Juri Schudrowitz
           Leiter Grundsatzfragen, Verband der Privaten Bausparkassen e.V.
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Vorwort

„Kommt die D-Mark nicht nach hier, gehen wir zu ihr“. Was zur Jahreswende 1989/1990
tausendfach in den Straßen skandiert wird, ist mehr als ernst gemeint. Allein im Januar
1990 ziehen mehr als 70.000 DDR-Bürger in die Bundesrepublik. Beide Staaten sind sich
einig, dass den Bürgern der DDR möglichst schnell eine Perspektive in ihrem Land gebo-
ten werden muss. Die Bundesregierung schlägt der DDR eine Währungs-, Wirtschafts- und
Sozialunion vor. Kanzler Kohl drückt bei den Verhandlungen aufs Tempo. Bereits am 18. Mai
unterzeichnen die beiden Finanzminister Walter Romberg und Theo Waigel den Staatsver-
trag. Am 1. Juli 1990 tritt die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft. Ab diesem
Tag gilt die D-Mark als alleiniges Zahlungsmittel.

Kern des Vertrags ist es, in der DDR die Soziale Marktwirtschaft einzuführen. Gekennzeich-
net durch Privateigentum, Wettbewerb und Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Waren und
Dienstleistungen ist sie das Gegenmodell zur sozialistischen Planwirtschaft. Mit den Ver-
einbarungen im Staatsvertrag beginnt vor 30 Jahren ein umfassender Transformations-
prozess. Quasi über Nacht verändern sich für die Bürger der DDR sämt­liche Alltagskoordi-
naten. Lebensleistung, Lebensumstände, Wohnverhältnisse und soziales Miteinander wer-
den nun mit westdeutschen Maßstäben gemessen. Damit tun sich viele ostdeutsche
Bürger bis heute zu recht schwer.
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In der Broschüre kommen in Interviews der Parlamentarische Staatssekretär im Bundes-
ministerium des Innern, für Bau und Heimat, Volkmar Vogel MdB aus Thüringen, und der
letzte Bauminister der DDR, Dr. Axel Viehweger, zu Wort.

Es folgt ein Aufsatz zum Wohnungsbestand der DDR und dessen Überführung in markt-
wirtschaftliche Strukturen. Dieser wird ergänzt durch Interviews mit Dr. Harald Engler vom
Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung Erkner bei Berlin und mit der Präsiden-
tin der Architektenkammer Berlin, Dipl.-Ing. Christine Edmaier.

Ein weiterer Beitrag befasst sich mit der aktuellen Situation auf den Wohnungsmärkten der
neuen Bundesländer. Beleuchtet wird schließlich die Entwicklung des Bausparens, das in
der DDR mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion eingeführt wurde.

Bernd Hertweck                            Christian König
Vorstandsvorsitzender                     Hauptgeschäftsführer
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4 | Wohnen in Deutschland 1990 und heute

         Interview mit dem Parl. Staatssekretär Volkmar Vogel MdB

         Wir brauchen keine Schlafdörfer und
         verödete Innenstädte

                                           Volkmar Vogel, 61, gehört seit 2002 dem Deutschen Bundestag an. Der Wahl-
                                           kreis, den er seit 2005 als direkt gewählter Abgeordneter vertreten darf, um-
                                           fasst die Landkreise Altenburger Land und Greiz sowie seit 2017 auch die
                                           kreisfreie Stadt Gera. Der bei Carl Zeiss Jena ausgebildete Industriemecha-
                                           niker und studierte Diplom-Ingenieur (FH) für Gerätetechnik war zuvor als
                                           Geschäftsleiter im Abfallwirtschaftszweckverband Ostthüringen tätig. Seit Feb-
                                           ruar 2020 ist er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des
                                           Innern, für Bau und Heimat.

         Am 1. Juli 1990 trat in Deutschland die Wäh-                   Diese Zeit war auch für mich und meine Familie sehr
         rungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft.                 turbulent. Einerseits Freude über die Wiedervereini-
         Zu den zentralen Vertragsinhalten zählten die                  gung. Andererseits mischten sich in die damit ver-
         Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, die                   knüpften Hoffnungen aber auch Ängste und Sorgen
         Umstellung der DDR-Währung auf die Deutsche                    in Bezug auf die Zukunft. Ich arbeitete damals als
         Mark und die Einführung des westdeutschen                      Technischer Leiter beim Schlachthof Gera, einem Be-
         Sozial- und Rentensystems in der DDR. Einge-                   trieb, wo abzusehen war, dass er keine Zukunft ha-
         führt wurde damals auch das Bausparen. Herr                    ben würde. Deshalb freute ich mich über die Heraus-
         Vogel, 30 Jahre ist das jetzt her. Wie haben Sie               forderung, einen Abfallwirtschaftszweckverband mit
         diese Zeit in Erinnerung?                                      aufzubauen, wo ich ab 1992 als Geschäftsleiter für
                                                                        die Abfallentsorgung in der Region Verantwortung
         Es war eine sehr bewegte Zeit. Jeden Tag was Neues             trug.
         – und vor allem zum ersten Mal freie, demokratische
         Wahlen. Ich wünsche mir manchmal, das wäre den                 Zudem engagierte ich mich in dieser Zeit des Auf-
         Leuten heute noch so wichtig wie damals, als 93,4              bruchs kommunalpolitisch in der CDU auf Gemeinde-
         Prozent von diesem bürgerlichen Grundrecht Ge-                 und Kreisebene. Aber ich kann mich auch gut daran
         brauch machten. 48 Prozent stimmten für die „Allianz           erinnern, wie ich damals meinen ersten Bausparver-
         für Deutschland“ – ein klares Votum für eine schnelle          trag abschloss. So bin ich seit nunmehr über 30 Jah-
         Wiedervereinigung, und dann ging alles Schlag auf              ren treuer Bausparer. Die Bausparverträge über die
         Schlag.                                                        ganzen Jahre haben mir geholfen, eigene Projekte zu
                                                                        verwirklichen. Zudem war es für mich selbstverständ-
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                                                                                        18. Mai 1990: Im Palais
                                                                                        Schaumburg setzen die
                                                                                        Finanzminister Theo Waigel
                                                                                        und Walter Romberg ihre
                                                                                        Unterschriften unter den
                                                                                        Vertrag zur Währungs-,
                                                                                        Wirtschafts- und Sozialunion.

                                                                                        Foto: Bundesregierung/
                                                                                        Schambeck

lich, den einen oder anderen an meine Kinder abzu-       2002 wurden Sie das erste Mal in den Deut-
geben.                                                   schen Bundestag gewählt. Neben der Arbeit
                                                         für Ihren Wahlkreis im „schönen Ostthüringen“,
In welcher Umgebung sind Sie groß geworden?              wie Sie selbst schreiben, galt Ihre Leidenschaft
Wie haben Sie damals gewohnt?                            schon bald der Wohnungspolitik. Warum ha-
                                                         ben Sie sich gerade dafür entschieden?
Auf dem Lande. Eine meiner ersten Erinnerungen ist
die, wie ich meinen Eltern beim Hausbau helfe und        Bauen heißt Fortschritt. Wo nicht gebaut wird, ist Still-
danach meinem Bruder. Später und über die Wende          stand. Ich bin gerne Bau- und Wohnungspolitiker, weil
lebten meine Frau und ich im fast 100 Jahre alten        man bei diesem Thema mit Augen sehen und Hän-
Haus meiner Schwiegereltern, das wir mit den be-         den greifen kann, wie das Beschlossene dann um-
schränkten Möglichkeiten der DDR-Zeiten immer mo­        gesetzt wird.
dernisiert und in Schuss gehalten hatten. In den Jah-
ren nach der Wiedervereinigung kam das Vertrauen         Wohnen ist aber auch eine soziale Frage. Wohnen ist
in die Zukunft zurück. Meine Frau und ich fassten den    genauso Teil eines funktionierenden Sozialsystems,
Entschluss, unser eigenes Haus zu bauen. Das be-         wie zum Beispiel das Renten- oder Gesundheitssys-
deutete viel Arbeit. Denn wie es auf dem Dorf üblich     tem. Deshalb ist für mich ein ausgeglichener Woh-
ist, erbrachten wir viel Eigenleistung. Doch neben al-   nungsmarkt, wie wir ihn in Deutschland haben, un-
lem Stress hatten wir große Freude daran. Das ermu­      heimlich wichtig. Knapp 50 Prozent Wohneigentum
tigte uns, über die Jahre immer wieder eigene Pro-       haben wir in Deutschland. Das ist ein guter Anfang,
jekte in Angriff zu nehmen.                              aber zugleich noch ausbaufähig – vor allem im euro-
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6 | Wohnen in Deutschland 1990 und heute

         päischen Vergleich. Aber zusammen mit dem Miet-           verein – ist für mich ebenso Teil des Programms. Wir
         wohnungsmarkt, getragen von kommunalen Woh-               brauchen keine Schlafdörfer und verödete Innen-
         nungsunternehmen und Genossenschaften, großen             städte. Deswegen liegt mir die Novelle des Bau­ge­
         gewerblichen Vermietern und vor allem vielen priva-       setzbuches so am Herzen. So wie auf dem Dorf Hand-
         ten Kleinvermietern, die zwei Drittel aller Mietwoh-      werk und Landwirtschaft wichtig für das Sozialgefüge
         nungen stellen, haben wir eine solide Basis, die sich     sind, so braucht es in den Städten attraktive Industrie-
         international sehen lassen kann. Diese breitgefächer-     ansiedlungen.
         te Struktur müssen wir erhalten – sowohl im Miet-
         wohnungs- als auch im Wohneigentumsbereich.               Auch als Bundespolitiker haben Sie immer bei-
                                                                   des im Auge gehabt: die Lage der Mieter und
         Die heutige Wohnsituation in den neuen Bun-               die derjenigen, die Wohneigentümer werden
         desländern, wie sie immer noch genannt wer-               wollen oder schon sind. Was war Ihnen in den
         den, ist sehr bunt, wie das empirica Institut             letzten Jahren hier besonders wichtig?
         Berlin in einem Beitrag für diese Publikation
         schreibt. Wenn Sie einen Blick auf Ihren Wahl-            Die eigene Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Woh-
         kreis werfen: Wie verhält es sich dort?                   nungsbauprämie ein geeignetes Instrument ist für
                                                                   Mieter, Wohneigentümer und Bauwillige. Deshalb
         In einem überwiegend ländlich geprägten Wahlkreis         freue ich mich sehr, dass mein jahrelanges Bemühen
         ist es für die Menschen wichtig, ihr Eigentum zu er-      um eine attraktivere Gestaltung dieser Prämie ge-
         halten, weiterzuentwickeln, zu sanieren, zu moder­        fruchtet hat. Die Förderhöchstgrenze steigt zum Spar-
         nisieren, es fit zu machen für die Zukunft und die        jahr 2021 um mehr als 35 Prozent und der Prämien-
         folgenden Generationen. Das funktioniert auf dem          satz wächst auf zehn Prozent. Die Einkommensgren-
         Land oftmals noch im Familienverbund. Die Leute           zen werden auf 35.000 Euro für Alleinstehende be-
         auf dem Dorf wissen sich auch in schwierigen Zeiten       ziehungsweise 70.000 Euro für Paare erhöht. Damit
         gut zu helfen. Das muss die Politik unterstützen.         motivieren wir vor allem auch junge Leute, frühzeitig
                                                                   Geld für die eigenen vier Wände anzusparen. Denn
         Neben den Dörfern im ländlichen Raum liegen mir           fehlendes Eigenkapital ist einer der Hauptgründe,
         aber auch die Belange der Städte am Herzen – von          warum sich junge Familien kein Wohneigentum leis-
         klein bis groß, wie ich sie auch in meinem Wahlkreis      ten können.
         vorfinde. Hier liegen die Probleme anders. Es kommt
         darauf an, preiswerten Wohnraum zur Verfügung zu          Die Verbesserung der Wohnungsbauprämie ist eine
         stellen und ein sozial ansprechendes Umfeld zu schaf-     gute Ergänzung zum Baukindergeld, das wir 2018 be-
         fen, mit belebten Quartieren, in denen man auch           schlossen haben. Diesen Zuschuss erhalten Familien,
         arbeiten kann und in denen der soziale Zusammen-          die zwischen dem 1. Januar 2018 und dem 31. De-
         halt funktioniert.                                        zember 2020 einen Kaufvertrag unterzeichnet oder
                                                                   eine Baugenehmigung erhalten haben. Mit der Dis-
         Neben bezahlbarem Wohnraum für alle Generatio-            kussion zu einem Konjunkturprogramm in Folge der
         nen müssen wir jungen Leuten in der Stadt und auf         Pandemie und nach den Wahlen wird sich zeigen, ob
         dem Land gute Perspektiven bieten. Dazu gehört Ar-        es eine Fortsetzung dieser Erfolgsstory gibt.
         beiten und Wohnen in der Stadt genauso wie auf
         dem Dorf. Denn außer der Kirche gehört auch die           Ebenfalls ein Schritt in die richtige Richtung war die
         Kneipe ins Dorf und ins Quartier. Eine gute Infrastruk-   Anpassung des Wohngeldes zum Jahresanfang durch
         tur für Vereine – ob Feuerwehr, Sport- oder Musik-        das Wohngeldstärkungsgesetz. Wohngeld ist sozial-
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politisch treffsicher, da es nach den individuellen Le-   sen wir Anreize für zusätzlichen Wohnraum schaffen,
bensbedingungen und den regional unterschiedlichen        insbesondere in den preiswerten Segmenten.
Miet- bzw. Belastungshöhen differenziert. Zudem gilt,
was viele nicht wissen: Während Mieter Wohngeld           Mein Wunschzettel, wie das gelingen kann, ist lang.
in Form eines Mietzuschusses erhalten, bekommen           Er reicht von einer Erhöhung der linearen Abschrei-
Wohneigentümer und Eigenheimbesitzer dieses als           bungsmöglichkeit bis hin zur Befreiung von der Grund-
Lastenzuschuss.                                           erwerbsteuer für Ersterwerber von Wohneigentum.
                                                          Jeder, der in ein eigenes Haus oder eine eigene Woh­
Wenn Sie sich in diesem Bereich etwas wün-                nung zieht, gibt eine Mietwohnung frei. Auch deshalb
schen dürften für die nächste Legislaturperio-            gilt für mich: Wohneigentum ist sozial. Die Bundes-
de: Was wäre das?                                         regierung unterstützt neben zahlreichen Maßnahmen
                                                          für den Mietwohnungsmarkt auch die Bildung von
Trotz aller Erfolge gibt es Handlungsbedarf. Objektive    Wohneigentum, egal ob es hierbei um den Kauf einer
Fehlentwicklungen, insbesondere am Mietmarkt, mil-        Eigentumswohnung oder eines Einfamilienhauses
dern wir kurzfristig durch ordnungsrechtliche Maß-        geht. Auch Genossenschaftsanteile sind ein Stück
nahmen ab, so zum Beispiel durch eine örtlich und         weit Wohneigentum.
zeitlich begrenzte Mietpreisbremse oder durch örtlich
und zeitlich begrenzte Einschränkungen bei der Um-        Wichtig für mich ist die Erkenntnis: Mehr als 75 Pro-
wandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Doch            zent der jungen Leute möchten gerne im eigenen
das hilft auf Dauer nicht. Das hat uns die DDR ge-        Haus oder der eigenen Wohnung leben.
zeigt. Für einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt müs-
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8 | Wohnen in Deutschland 1990 und heute

         Interview mit Minister a. D. Dr. Axel Viehweger

         Gemeinsinn und Gemeinwohl wieder
         in der Gesellschaft platzieren

                                           Dr. Axel Viehweger, 67, studierte an der TU Dresden Kernphysik und war da-
                                           nach Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Energetik. 1985 promovierte
                                           er zum Dr.-Ing., zwischen 1985 und 1990 arbeitete Viehweger als Dezernent
                                           für Energie der Stadt Dresden. Von April bis September 1990 war er Minister für
                                           Bauwesen, Städtebau und Wohnungswesen im Kabinett von Lothar de Maizière.
                                           Ab 1990 bis 1994 gehörte er, der zuvor Spitzenkandidat der FDP Sachsen war,
                                           als Abgeordneter dem Sächsischen Landtag an. 2002 wechselte ist er in den
                                           Vorstand des Verbandes Sächsischer Wohnungsgenossenschaften. Sein Amt
                                           als Verbandsdirektor übte Viehweger bis zu seinem altersbedingten Ausschei-
                                           den Ende 2019 aus.

         Wer als Minister antritt, hat ein Erbe zu verwal-              gentum am Gebäude war vom Eigentum am Grund-
         ten und steht in der Verantwortung, Künftiges                  stück getrennt. Die Gebäude gehörten der kommu-
         zu gestalten. Im Rahmen der Währungs-, Wirt-                   nalen Wohnungsverwaltung, den Genossenschaften
         schafts- und Sozialunion wurden Wohnungsbe­                    oder Privateigentümern, Grund und Boden waren
         stand und -politik der DDR transformiert: von                  volkseigen.
         staatlicher Subventionierung der Mieten und
         staatlich gelenkter Wohnungsvergabe hin zum                    Welche Maßnahmen mussten in dieser Um­
         freien Wohnungsmarkt. Wie beschreiben Sie die                  bruch­situation ergriffen werden?
         Wohnsituation in der DDR im Jahr 1990?
                                                                        Wichtig war die schnelle Zusammenführung von Ge-
         Wir sind im Kabinett de Maizière angetreten, mög-              bäude und Grundstück. Die Aktualisierung der Grund-
         lichst schnell die deutsche Einheit zu vollziehen. Es          bücher war Voraussetzung für die Aufnahme von Kre­
         war allen Ministern klar, dass es sich um eine sehr            diten zur Finanzierung der dringend notwendigen
         kurze Amtszeit handelt. Die Wohnsituation der DDR              Sa­nie­rungen und Modernisierungen. Ich bin froh da-
         war geprägt von Mangel an bewohnbarem Wohn-                    rüber und auch ein wenig stolz, dass ich die Privati-
         raum, an Baumaterial, an Sanitäreinrichtungen und              sierung der ostdeutschen Wohnungswirtschaft über
         anderes mehr. Es gab viele baupolizeilich gesperrte            die Treuhand verhindern konnte. Der Weg über kom-
         Altbauwohnungen und zu wenige der begehrten                    munale Gesellschaften und Wohnungsgenossenschaf-
         Neubauwohnungen. Nicht nur die Mieten, sondern                 ten war und ist ein Erfolg. Die notwendige Erhöhung
         auch die Betriebskosten waren symbolhaft niedrig               der Mieten erfolgte über viele Jahre und wurde über
         und damit bei Weitem nicht kostendeckend. Das Ei-              die Einführung des Wohngeldes abgefedert.
Wohnen in Deutschland 1990 und heute - Verband der ...
Wohnen in Deutschland 1990 und heute   |9

Was ist Ihnen besonders schwer gefallen und               len alle gleich zusammen“. Bei den vergleichbaren
warum?                                                    Großwohnsiedlungen in der alten Bundesrepublik ist
                                                          niemand auf diese Idee gekommen. Andererseits trat
Die Auflösung aller DDR-Strukturen, einschließlich der    aufgrund der Differenzierung der Einkommen eine
Bauakademie, und die damit verbundenen Entlas-            Dif­ferenzierung der Ansprüche ein. Der Wunsch nach
sungen sind mir besonders schwer gefallen. Erschro-       mehr Individualität konnte verwirklicht werden. Gleich­
cken war ich, wie schnell das Hohelied, leider nicht      zeitig verließen viele junge Leute den Osten, weil sie
Salomons, sondern des Egoismus gesungen wurde.            hier keine wirtschaftliche Perspektive hatten. So wurde
Es ist wichtig, Gemeinsinn und Gemeinwohl wieder          aus Wohnungsmangel Überangebot, das zu Abriss
in der Gesellschaft zu platzieren.                        und Teilrückbau führte.

Die DDR-Wohnungspolitik war fokussiert auf                Auch in der DDR gab es Eigenheime – sogar
Neubaugebiete. Sie sollten Ausdruck sozialisti-           staatlich gefördert. Wer damals baute, bewäl-
scher Leistungskraft und Orte einer neuen Le-             tigte einen großen Teil der Arbeiten in eigener
bensweise sein. In die Instandhaltung und Mo-             Regie – wenn denn Baumaterial vorhanden war.
dernisierung architektonisch anspruchsvollerer            Gab es für den Eigenheimbau eine Begründung?
Altbausubstanz dagegen wurde kaum investiert.             Privateigentum entsprach ja nicht der herrschen­
Nur weil das Geld fehlte?                                 den Ideologie.

Nein, es ging auch um Schnelligkeit. Der Wohnungs-        Das Wohnungsbauprogramm der DDR, dessen Ziel
mangel, insbesondere aufgrund der Industrialisierung,     1990 nicht erfüllt war, richtete sich auf große Bezirks-
machte schnelles Bauen erforderlich, übrigens nicht       und Kreisstädte. Schon dafür gab es nicht genug Ka-
nur in der DDR. Viele Wohngebiete des bundesdeut-         pazitäten. Der Eigenheimbau auf dem Land war eine
schen sozialen Wohnungsbaus an den Stadträndern           Ergänzung und marginal. Auf dem Land war außer-
unterscheiden sich mitnichten von denen der DDR.          dem das Besorgen von Baumaterial einfacher und die
Das Thema Vorfertigung, das heißt serieller Wohnungs-     gegenseitige Hilfe ausgeprägter als in den Großstäd-
bau, ist übrigens gerade wieder aktuell geworden.         ten.
Heute steht eindeutig das preiswerte Bauen im Fokus.
                                                          Sehen Sie Ansätze aus den Jahren vor 1990,
Eine Neubauwohnung mit Vollkomfort – von                  die helfen könnten, Wohnen bezahlbar zu ma-
„Platte“ sprach damals niemand – war in der               chen beziehungsweise zu halten?
DDR für die allermeisten ein großes Glück. In
den Jahren nach der Wiedervereinigung wuchs               Neben dem Thema Vorfertigung/serieller Wohnungs-
bei vielen die Unzufriedenheit mit ihrer Woh-             bau wären das die deutschen Vorschriften und Bau-
nung. Manche Wohnungsgesellschaften favo­                 ordnungen. Die sind zahlreich und kostentreibend. Die
risierten den Abriss, viele Hochhäuser wurden             letzte DDR-Regierung hatte für eine Übergangs­­zeit
rückgebaut auf weniger Geschosse. War das                 Regelungen für schnelles Bauen und Modernisieren
wirklich unvermeidlich?                                   beschlossen. Diese sind in den neuen Bundeslän-
                                                          dern sehr erfolgreich umgesetzt worden. Auch das
In der Platte zu wohnen war für viele ein Glück, ins-     Denken aus Mietersicht, was kann er sich überhaupt
besondere wenn sie vorher im unsanierten Altbau           leisten, hilft. Klimaschutz findet keine Akzeptanz, wenn
wohnten. Ich weiß, wovon ich rede. Nach der Wende         man sich eine energetisch sanierte Wohnung nicht
wurde einerseits die Platte schlecht geredet: „Die fal-   mehr leisten kann.
10 | Wohnen in Deutschland 1990 und heute

         Alternative Wohnformen wie Mehrgenera­tio­             Vor 30 Jahren haben Sie als Bauminister sym-
         nen-­Häuser und Wohngemeinschaften für Se-             bolisch den ersten Bausparvertrag für die neu-
         nioren oder Singles finden zunehmend Ver-              en Bundesländer unterzeichnet. Was ging Ih-
         breitung. Zum einen ist es die finanzielle Seite,      nen damals durch den Kopf?
         zunehmend aber auch der Wunsch, zu Hause
         nicht einsam zu sein. Zeigt das nicht, dass            Ich wollte ein Zeichen dafür setzen, dass Wohnen,
         Wohnen trotz aller Individualität auch vielfäl­        dass die Wohnung einen Wert hat und es wichtig ist,
         tige soziale Aspekte hat, die heute häufig zu          einen Teil seines Budgets dafür vorzuhalten. Und falls
         kurz kommen?                                           man mehr möchte, dafür auch zu sparen.

         Das ist richtig. Was macht aus einer Wohnung ein       Wenn Sie Bauminister im vereinigten Deutsch-
         Heim? Heimisch fühlt man sich inmitten einer sozia-    land wären, wo würden Sie die Schwerpunkte
         len Gemeinschaft, Familie und/oder Nachbarschaft.      setzen?
         Füreinander da sein, Geborgenheit, ist wichtig, dann
         wird aus Heim auch schnell Heimat. Nicht umsonst       Im ehrlichen, sachlichen Umgang miteinander zum
         haben deshalb Wohnungsgenossenschaften mit ih-         Thema Wohnen. Die Wohnung ist ein soziales Gut
         ren Werten ein so hohes Ansehen. Und ja, Wohnge-       und zum Leben wichtig, aber jedem seine Wunsch-
         meinschaften sind insbesondere im Alter wichtig. Sie   wohnung zu versprechen, ist un­seriös. Man merkt
         füllen die Lücke zwischen Wohnung und Pflegeheim,      leider auch immer wieder, dass sich viele Politiker mit
         insbesondere bei beginnender Demenz.                   Wohnen zur Miete nicht auskennen. Sie denken und
                                                                handeln aus ihrer Erfahrung he­raus, da sie zumeist
                                                                im Einfamilienhaus oder in einer Eigentumswohnung
                                                                leben.
Wohnen in Deutschland 1990 und heute   | 11

Wiltrud Anne Kathrein Zweigler

Kulturgut Wohnen aus
der Zeit heraus verstehen

Ausgangssituation                                          mit 85.000 neu gebauten Wohnungen ein Höhe-
                                                           punkt erreicht. Der DDR gelang eine Steigerung um
Nach dem Zweiten Weltkrieg herrscht in West- wie           22 Prozent. Eine Verbesserung der Versorgungs­situ­a­
Ostdeutschland akute Wohnungsnot. Auf dem Ge-              tion war aber nicht eingetreten und das, obwohl die
biet der späteren DDR sind von rund vier Millionen         Einwohnerzahl von 18,4 auf 17 Millionen zurückge-
Wohnungen 650.000 völlig zerstört und 750.000              gangen war. Die Ursachen dafür sieht Hinrichs in
durch Beschädigungen nur eingeschränkt bewohn-             der ineffizienten Wohnungswirtschaft, dem Zerfall
bar. Zusätzlich verschärft sich die Situation durch Mil-   der Wohngebäude, der Deprivatisierungspolitik und
lionen Flüchtlinge aus dem Osten, die mit Wohnun-          in der Missachtung ökonomischer Gesetze.
gen versorgt werden müssen.1
                                                           Den Beginn der zweiten Etappe markiert der Be-
Eine Studie von Wilhelm Hinrichs vom Wissenschafts-        schluss der Partei- und Staatsführung, „das Woh-
zentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) aus dem           nungsproblem als soziales Problem“ bis 1990 zu
Jahr 1992 sieht die Entwicklung des Wohnungsbe-            lösen. Die Wohnungsversorgung wurde Kernstück
standes in der DDR in drei Etappen. In der ersten          staatlicher Sozialpolitik. Im Fünfjahrplanzeitraum
Etappe von 1949, dem Gründungsjahr der DDR, bis            1971 bis 1975 sollten 400.000 Wohnungen neu ge-
Anfang der 70er Jahre, beschreibt er eine „gebremste       baut und 100.000 Altbauten rekonstruiert werden.
Wohnungsbautätigkeit“. So seien zwar Wohngebäu-            Zwischen 1976 und 1980 war der Neubau von
de repariert und instand gesetzt worden. Wohnraum          560.000 Wohnungen geplant sowie die Rekonstruk-
zur Sicherung der industriellen Entwicklung zu schaf-      tion von 190.000. Der Schwerpunkt wurde auf Neu-
fen, hatte jedoch Vorrang.2                                bau-Großsiedlungen wie Berlin-Marzahn, Leipzig-­
                                                           Grünau, Halle-­Neustadt und Rostock-Lütten Klein
Neue Wohnungen in der bisher üblichen Art und              gelegt. Der Zeitraum zwischen 1971 und 1980 ist
Weise zu errichten, dauerte zu lange. Bereits in den       gekennzeichnet durch extensiven, industriellen Woh-
1950er-Jahren wurde deshalb nach rationelleren             nungsbau an der Peripherie großer Städte. Gleich-
Verfahren gesucht. Eine Lösung schien die Groß­            zeitig wurden alte Wohngebäude in großem Stil ab-
platten-­­Bauweise zu bieten. Dabei bedienten sich die     gerissen.2
Planer vor allem der Ideen der modernen Architektur,
wie sie etwa in den 1920er-Jahren im Bauhaus ent-          Auch wenn üblicherweise von „der Platte“
wickelt worden waren. Einen ersten Versuch gab es          gesprochen wird: D i e  Platte gibt es nicht,
1953 in Johannistal bei Berlin. Vier Jahre später wurde    denn in der DDR entstanden zahlreiche
die Stadt Hoyerswerda zum Experimentierfeld für            Plattenbau-­Typen. Einige davon findet man
den industriellen Wohnungsbau, später die Industrie-       unter www.jeder-­qm-du.de, dem Portal
standorte Eisenhüttenstadt und Schwedt an der Oder.1       der Wohnungsbaugesellschaft Berlin Mitte.

So stieg der Bestand zwischen 1950 bis 1971 von            Die Fokussierung auf den Neubau hatte gravierende
4,9 auf sechs Millionen Wohnungen. 1961 wurde              Konsequenzen für die Stadtentwicklung. Der ökono-
12 | Wohnen in Deutschland 1990 und heute

         mische Kraftaufwand zur Errichtung der Plattenbau-      einzelnen Vorzeigeobjekten hängen. Zwischen 1981
         ten gestattete nicht das erforderliche Tempo der Alt-   und 1985 waren 600.000 neue Wohnungen ge-
         bausanierung, um deren Verfall aufzuhalten.             plant, 340.000 sollten modernisiert werden. Von
                                                                 1986 bis 1990 lag das Neubau-Ziel bei 590.000
         Takt- und Fließfertigung beim Wohnungsneubau hat-       Wohnungen, modernisiert werden sollten 470.000
         ten in den 80er Jahren weiterhin Priorität. Ergänzend   Wohneinheiten.2
         ging es aber auch darum, den Anteil von Rekonstruk-
         tion und Modernisierung im innerstädtischen Bereich     Eigenheime in der DDR
         von 1980 bis 1985 zu verdoppeln. Im Fokus standen
         gleichermaßen Neubau, Modernisierung und Erhal-         Ein- und Zweifamilienhäuser machten zum Zeitpunkt
         tung historischer Bausubstanz. Indes blieb die Re-      der Wende etwa ein Drittel des Wohnungsbestands
         konstruktion historisch wertvoller Altbausubstanz an    der DDR aus. 48 Prozent diese Häuser stammten aus

             Wohnungen wurden in der DDR größtenteils über die Wohnungskommissionen der Betriebe vergeben.
             Beim Um- und Ausbau unsanierter Altbauwohnungen wurden die künftigen Mieter von den Betrieben
             in vielen Fällen materiell und finanziell unterstützt.

             Unter der Überschrift „Zuweisungen von Wohnungen, Um- und Ausbau für Betriebsangehörige“ berich-
             tete die Sächsische Zeitung am 20. Mai 1977:

             So …“muss die Zusammenarbeit der Kommission für Wohnungswirtschaft beim Stadtbezirk mit den
             Betriebswohnungskommissionen bei der Vergabe von personengebundenen Wohnungen z.B. für kin-
             derreiche Familien verbessert werden…. „Dem Stadtbezirk Ost stehen 1977 1.076 Wohnungen zur
             Verfügung, von denen 849 an die 47 Wohnungskommissionen der Betriebe aufgeteilt werden. Die
             restlichen werden vom Rat des Stadtbezirks zur Lösung der Wohnungsprobleme der Rentner, der Be-
             schäftigten in Kleinstbetrieben und anderen Einrichtungen vergeben. Entscheidend für die Wohnungs-
             vergabe sind soziale Dringlichkeit und wirtschaftliche Notwendigkeit.“

             Die Betriebe suchen eigene Möglichkeiten:
             „Es werden mit den Kollegen, besonders mit kinderreichen Familien, Verträge über Um- und Ausbau
             abgeschlossen. Der Betrieb unterstützt sie dabei mit Baugeräten, finanziellen Zuschüssen und der Mög-
             lichkeit, eine Freistellung von der Arbeit bis zu sechs Wochen für die Baumaßnahmen zu bekommen.
             Des Weiteren wird vom Stadtbezirk angeregt, zur Zeit unbewohnbare Bausubstanz Betrieben anzubie-
             ten, die dann gemeinsam mit den zukünftigen Mietern den Um- und Ausbau übernehmen.“
Wohnen in Deutschland 1990 und heute   | 13

 Wohnungsbaukombinate errichteten die Wohnungen in Platten- oder Großtafelbauweise. Finanziert
 wurden die Bauten durch Zuschüsse aus dem Staatshaushalt, Kredite, Mittel der Wohnungsbaugenos-
 senschaften und von Betrieben und Einrichtungen.1

 Steffen Mau wächst in den 70er Jahren im Rostocker Neubau-
 viertel Lütten Klein auf. Heute ist er Professor für Makroso­
 ziologie in Berlin. In seinem Buch „Lütten Klein – Leben in der
 ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ heißt es, die Neubaugebiete „standen
 pars pro toto für das, was die DDR sein wollte.“… Die Neubaugebiete … waren Ausweise sozialistischer
 Leistungskraft sowie des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und Ort der Verwirklichung einer neu-
 artigen Lebensweise. … Die Bauherrin DDR setzte nicht auf Sanierung und Erhalt, sondern plante mit
 den Neubaugebieten den Entwurf einer traditionslosen Zukunft. Hier, in den neuen Großsiedlungen,
 musste nicht auf Bestehendes Rücksicht genommen werden, drängten sich keine Repräsentationen
 des Alten in den Blick, musste man sich nicht wie andernorts zwischen Bewahren oder Zerstören ent-
 scheiden. Wo alle Formen und Funktionen auf dem Reißbrett erschaffen werden konnten, ließen sich
 Vorstellungen des sozialistischen Miteinanders realisieren, welche die gesamten Lebensumstände er-
 fassten.“ 3

der Zeit vor 1918. Zwischen 1960 und 1989 sind 12        einfacher Baukörper, schmucklos, herstellbar in Zie-
Prozent der privaten Häuser errichtet worden.1           gel- oder Hohlblockbauweise. Die wenigen Elemente
                                                         konnten zu Varianten kombiniert werden.10 Bis Ende
Erste Bestrebungen der DDR-Staatsführung, den Bau        der 60er Jahre entstanden ca. 40.000 Einfamilien-
von privaten Häusern zu unterstützen, gab es Anfang      häuser, das meistgebaute war EW 58. Die Wohnfläche
der 50er Jahre. Der Architekt und Stadtplaner Wilfried   betrug um die 70 Quadratmeter, drei bis vier Zim-
Stallknecht (1928-2019), bekannt durch die Entwick-      mer, Küche, Bad und Diele. Trotz des Standards ver-
lung der Plattenbautypen P2 und WBS 70, entwarf          wirklichten die Eigenheimer so weit wie möglich ihre
auch Einfamilienhäuser. Im Rahmen eines Wettbe-          individuellen Wünsche.11
werbs überzeugte sein EW 58 – Einfamilienhaus 58 –,
das 1958 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Es war    In den 1970er Jahren rückte der individuelle Woh-
standardisiert: annähernd quadratischer Grundriss,       nungsbau erneut ins Blickfeld der Partei- und Staats-
14 | Wohnen in Deutschland 1990 und heute

         führung. Sie beschloss die Förderung privater Eigen-     markt etablierte sich, und die Mieten orientieren sich
         heime. Vor allem kinderreiche Familien sollten pro­fi-   seither an Angebot und an der Nachfrage.1
         tieren. Eine Baugenehmigung bekam, wer sich ver-
         pflichtete, 25 Prozent der Arbeiten als Eigenleistung    Altschuldenhilfegesetz
         zu übernehmen. Zinsgünstige Kredite bis zu 50.0000
         Mark der DDR wurden ausgereicht. Darlehen konnten        Die KWV – Kommunale Wohnungsverwaltungen –
         auch für die Modernisierung privater Ein- und Mehr-      waren volkseigene Betriebe (VEB), die Wohnungen
         familienhäuser in Anspruch genommen werden.11            bauen ließen und verwalteten. Außerdem gab es zwei
                                                                  Arten von Wohnungsbau-Genossenschaften: die AWG
         Eigenheime waren als Ergänzung zum extensiven            – Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaften – und
         Geschoss-Wohnungsbau konzipiert – besonders dort,        die GWG – Gemeinnützige Wohnungsbau-Genossen­
         wo keine Großsiedlungen vorgesehen waren: auf dem        schaften. Alle AWG hatten Trägerbetriebe, die den von
         Land und in Klein- und Mittelstädten. Ab Mitte der       ihnen geschaffenen Wohnraum vorzugsweise ihren
         70er Jahre betrug der Anteil der Eigenheime an den       eigenen Beschäftigten zur Verfügung stellten.
         neu gebauten Wohnungen jährlich 11 bis 15 Pro-
         zent. Der Wohnstatus im neuen Eigenheim hatte Vor-       Die GWG existierten teilweise schon seit dem Ende
         teile: Stand privates Bauland nicht zur Verfügung,       des 19. Jahrhunderts – hervorgegangen aus regiona-
         wurde es den Bauwilligen bereitgestellt. Dem Eigen-      len und lokalen Baugenossenschaften und  Bauver-
         heimbauer wurde langfristig das Nutzungsrecht am         einen. Sie sorgten für Instandhaltung und Renovie-
         Grundstück übertragen. Dennoch galt die Immobilie        rung ihrer Wohnungen.
         unabhängig von Grund und Boden als privates Ei-
         gentum und konnte verkauft und vererbt werden.           Der Anteil der Genossenschaftswohnungen am Ge-
         Die Finanzierungsbedingungen waren äußerst güns-         samtbestand lag 1971 bei knapp zehn Prozent und
         tig. Die monatliche Kreditbelastung war etwa so hoch     stieg bis 1989 auf rund 17 Prozent. Der Anteil volks-
         wie eine durchschnittliche Wohnungsmiete.2               eigener Wohnungen erhöhte sich im gleichen Zeit-
                                                                  raum von rund 27 Prozent auf etwas mehr als 40
         Bis 1989 entstanden in der DDR rund 250.000 priva-       Prozent.
         te Einfamilienhäuser. Die DDR-Regierung hatte aller-
         dings noch geplant, bis zum Jahr 2000 den Anteil         Zum Zeitpunkt der Wende hatten die 700 Genossen-
         privaten Wohneigentums auf 20 Prozent zu erhöhen.11      schaften knapp 1,1 Millionen Wohnungen in ihrem
                                                                  Besitz und verwalteten außerdem 100.000 weitere.
         Eine Mischung aus alten und neu gebauten Privat-         Es gab rund 2,8 Millionen volkseigene Wohnungen.
         häusern findet sich in den östlichen Berliner Stadt-
         teilen Biesdorf, Mahlsdorf und Kaulsdorf. Sie gelten     Die im Einigungsvertrag festgelegten Veränderungen
         heute als das größte zusammenhängende Ein- und           bei Eigentumsstrukturen, Mietrecht und Wohnungs-
         Zweifamilienhausgebiet deutschlandweit.                  vergabe waren bereits mit der Währungs-, Wirtschafts-
                                                                  und Sozialunion am 1. Juli 1990 auf den Weg ge-
         Vom Plan zum Markt                                       bracht worden.

         Mit dem Ende der DDR begann eine völlige Neuori-         Artikel 22 des Einigungsvertrages regelte die Ein­
         entierung. Der Eigenheimbau wurde forciert, die Sa-      gliederung der DDR-Wohnungswirtschaft in das bun-
         nierung der Altbausubstanz vorangetrieben. Die Plat-     desdeutsche System. Die Wohnungsbau-Genossen-
         tensiedlungen verloren viele Mieter. Zahlreiche Häuser   schaften traten dem Gesamtverband der Wohnungs-
         wurden abgerissen oder zurückgebaut. Die Ämter für       wirtschaft (GdW) bei. Die KWV-en wurden in der
         Wohnungswesen verschwanden, der freie Wohnungs-          Regel in kommunale Wohnungsbau-Gesellschaften
Wohnen in Deutschland 1990 und heute   | 15

   1990, dem Jahr der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und der Wiedervereinigung, gab es in der
   DDR cirka 7,1 Millionen Wohnungen – 42 Prozent volkseigen, 17 Prozent genossenschaftlich und 41 Pro-
   zent in Privatbesitz. In privatem Besitz waren vor allem Ein- und Zweifamilienhäuser auf dem Land sowie
   Wohngebäude, die vor 1939 errichtet wurden. Eigentumswohnungen gab es praktisch nicht. Cirka jede
   vierte Wohnung war dringend renovierungsbedürftig. Ungefähr eine Million Wohnungen galt als nicht
   mehr sanierungsfähig.4

umgewandelt. Mit dem 1993 in Kraft getretenen Alt-         gen abzureißen und die Innenstädte sowie die vom
schuldenhilfegesetz konnten Gesellschaften und Ge-         Abriss betroffenen Quartiere aufzuwerten. Der Schwer-
nossenschaften von den Verbindlichkeiten, die 150          punkt lag bei den großen Wohnsiedlun­gen aus den
D-Mark pro Quadratmeter überstiegen, entlastet wer-        1950er bis 1980er Jahren – immerhin ein Drittel des
den. Voraussetzung war, dass sie in den kommenden          Gesamtwohnungsbestandes in Ostdeutschland. Spä-
zehn Jahren 15 Prozent ihres Bestandes privatisierten.     testens seit 2005 konzentrierte man sich stärker auf
77,4 Prozent der genossenschaftlichen Wohnungen            die Aufwertung erhaltenswerter Stadtquar­tiere.7
und ca. 90 Prozent der 1991 noch im Besitz der ehe-
maligen KVW befindlichen Wohnungseinheiten fielen          Ursprünglich angelegt bis zum Jahr 2009, wurde das
unter dieses Gesetz.5                                      Programm bis 2016 fortgeführt. Wichtig für das Ge-
                                                           lingen des Programms war die Regelung, dass der
Umgang mit Leerstand                                       Abriss leer stehender Wohnungen mit einer Entlas-
                                                           tung von Altschulden verknüpft werden konnte. Ge-
Die Stilllegung industrieller Zentren und die damit ver-   währt wurde eine Altschuldenhilfe bis zu 70 Euro pro
bundene Abwanderung Arbeit suchender Bürger aus            Quadratmeter abgerissener Wohnung. Ein Großteil
den neuen in die alten Bundesländer führte bis Ende        der Rückbauten erfolgte schon 2008. Insgesamt wur-
der 90er Jahre zu teilweise dramatischen Einwohner-        de für über 80 Prozent der Rückbauten eine Entlas-
verlusten in vielen Kommunen. Auf Anregung des             tung der Altschulden gewährt.6
Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen wurde die Kommission „Wohnungswirtschaft-            Im zweiten Förder-Zeitraum zwischen 2010 und 2016
licher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“          gewann die Erneuerung der Altbausubstanz an Be-
gegründet. 2000 stellte sie einen Leerstand von etwa       deutung. Das Tempo des Rückbaus von Wohnungen
einer Million Wohnungen in Ostdeutschland fest –           wurde vielerorts gedrosselt. Der Stadtumbau wurde
vorwiegend in den Neubauten, aber auch in den Alt-         kleinteiliger.6
bauten der Vorstädte. Die Kommission empfahl, in-
nerhalb von zehn Jahren 300.000 bis 400.000 leer           Stadtumbau in Ost und West
stehende Wohnungen vom Markt zu nehmen.6
                                                           Das Programm „Stadtumbau“ wurde von Bund und
Stadtumbau Ost                                             Ländern im Jahr 2002 in den östlichen und 2004 in
                                                           den westlichen Ländern gestartet. Ziel war es, Städte
So wurde 2001 das Förderprogramm „Stadtumbau               und Gemeinden dabei zu unterstützen, demogra­
Ost“ aufgelegt. Ziel war es, leer stehende Wohnun-         fische und wirtschaftliche Strukturveränderungen und
16 | Wohnen in Deutschland 1990 und heute

         deren städtebauliche Folgen zu bewältigen. Wegen        Auf der anderen Seite gab und gibt es weiterhin
         der unterschiedlichen Ausgangssituation wurden in       Regionen mit Wirtschafts- und Einwohnerwachstum
         Ost und West jeweils spezifische Förderschwerpunk-      und einem teilweise großen Nachfrageüberhang wie
         te gesetzt. Eine Bilanz im Jahr 2016 ergab jedoch,      in München und Hamburg.4
         dass sich Funktionsverlust und städtebauliche Miss-
         stände zunehmend ähneln. Daraufhin wurden beide         Sozialer Wohnungsbau in Verantwortung
         Programme 2017 zusammengeführt.8                        der Länder

         Entwicklung seit Ende der 90er Jahre                    Seit der letzten Föderalismus-Reform im Jahr 2006
                                                                 sind allein die Länder für den sozialen Wohnungsbau
         Bedingt durch die Veränderungen bei Beschäf­tigung      zuständig. Als Ausgleich für den Wegfall der Finanz-
         und Wachstum bildeten sich seit Ende der 1990er         hilfen, die der Bund bis dahin an die Länder geleistet
         Jahre neben großen Teilen Ostdeutschlands auch in       hatte, gewährte der Bund den Ländern seit 2007 bis
         Westdeutschland Regionen mit Stagnation oder Rück-      einschließlich 2019 Kompensationszahlungen. Deren
         gang der Einwohnerzahlen heraus, zum Beispiel das       Umfang belief sich zunächst auf rund 520 Millionen
         Ruhrgebiet. Dies führt zur „Aussortierung“ nicht mehr   Euro pro Jahr. Als Reaktion auf die Flüchtlingswelle
         marktgerechter Bestände. Erstmals entstanden nach       wurden die Mittel zwischen 2015 und 2019 weiter
         dem 2. Weltkrieg auch in Westdeutschland Gebiete        aufgestockt – bis auf 1,5 Milliarden jährlich. Für 2020
         mit hohem Leerstand. Dazu bildeten sich ländliche       und 2021 stellt die Bundesregierung den Ländern
         Regionen, in denen durch stete Abwanderung die          insgesamt jeweils rund zwei Milliarden Euro zur Ver-
         Wohnungsnachfrage zum Erliegen kam und Infrastruk-      fügung.8
         turangebote kaum aufrechterhalten werden konnten.

             Für den Stadtumbau Ost wurden bis einschließlich 2016 mehr als 5,1 Milliarden Euro zur Verfügung ge­
             stellt, davon allein rund 1,7 Milliarden aus dem Haushalt der Bundesregierung. In über 490 ostdeut-
             schen Städten und Gemeinden sind insgesamt 1.200 Stadtumbaumaßnahmen gefördert worden.

             584 westdeutsche Städte und Gemeinden profitierten von mehr als 947 Millionen Euro Bundesfinanz-
             hilfen. Ergänzende Mittel von Ländern und Gemeinden in Höhe von ca. 2,8 Milliarden Euro standen für
             den Stadtumbau West bereit. Rund 60 Prozent der Einwohner in den neuen Ländern (ohne Berlin)
             leben in einer Programmkommune. In den westdeutschen Ländern sind es knapp 40 Prozent.8
Wohnen in Deutschland 1990 und heute   | 17

   Beispiel Brandenburg

   Weil es nach der Wende großen Leerstand in Brandenburg gab, sind viele Wohnungen abgerissen wor-
   den. Bundes- und Landeszuwendungen von insgesamt 225 Millionen Euro seien allein seit 2002 in
   den Rückbau von rund 64.000 Wohnungen geflossen, teilt das Brandenburger Infrastrukturministerium
   mit. Der Wohnungsabbau vor 2002 sei nicht einzeln erfasst worden, hieß es. Die meisten Wohnungen
   wurden mit Mitteln des 2002 in den fünf ostdeutschen Bundesländern und Berlin gestarteten Bund-­
   Länder-Programms „Stadtumbau Ost“ abgerissen. Verbände von Wohnungsunternehmen und Mietern
   lobten den Rückbau und befürworteten dessen Fortsetzung. „Brandenburg hat frühzeitig eine auf aus-
   gewählte Städte fokussierte Strategie gefahren, bei der Leerstandsquoten und demografische Entwick-
   lung sehr zutreffend prognostiziert worden sind“, sagte der Sprecher des Verbands Berlin-Branden-
   burgischer Wohnungsunternehmen (BBU), David Eberhart. Dennoch nehme der Leerstand in vielen
   Städten des weiteren Metropolenraums wieder zu. Geschätzt werde, dass er im vergangenen Jahr bei
   den Mitgliedsunternehmen auf etwa 28.000 Wohnungen gestiegen sei, sagt Eberhart. Ursache des
   vielerorts nach wie vor hohen Leerstands sei in erster Linie der demografische Wandel, nicht mehr der
   Wegzug junger Leute wie nach der Wende. „Die derzeit sehr positive Entwicklung von Berlin-Potsdam
   und seinem Umland strahle zwar zunehmend auch in die Städte des weiteren Metropolenraumes aus,
   könne aber vielerorts die Verluste nicht kompensieren.  

   Der BBU hat in Brandenburg 203 Mitgliedsunternehmen, die über etwa die Hälfte des Wohnungsbe-
   stands im Land verfügen. In Berlin gehören den Verbandsmitgliedern 40 Prozent aller Wohnungen.9

Quellenangaben:
1     Konrad-Adenauer-Stiftung,                                   6  	   Wikipedia, Stadtumbau
      www.kas.de/de/web/ddr-mythos-und-wirklichkeit               7      Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz,
2     Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.                   Bau und Reaktorsicherheit
      Hinrichs, Wilhelm: Wohnungsversorgung in der ehemaligen     8      Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat
      DDR-Verteilungskriterien und Zugangswege, Berlin 1992       9      rbb24, Beitrag vom 16. März 2020
3     Mau, Steffen: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen       10     www.jeder-qm-du.de,
      Transformationsgesellschaft, Suhrkamp Verlag Berlin, 2019          Portal der Wohnungsbaugesellschaft Berlin Mitte
4     Bundeszentrale für politische Bildung                       11     mdr-Zeitreise/Leibniz-Institut für
5     Deutscher Bundestag, wissenschaftliche Dienste.                    Raumbezogene Sozialforschung Erkern bei Berlin
      Geschichte und Bedeutung der Wohnungsbaugesellschaften
      in der DDR, 2007

                               Die freie Journalistin Wiltrud Anne Kathrein Zweigler blickt auf eine typische
                               DDR-Wohn-­Biografie zurück. Ihre Eltern bauten Anfang der 1970er Jahr ein
                               Haus vom Typ EW-58. Mit ihrer eigenen Familie wohnte sie in einem Altbau
                               – das WC auf halber Treppe und in der Küche die selbst eingebaute Dusch-
                               kabine. Wie viele andere wartete sie auf eine Neubauwohnung mit Vollkom-
                               fort, zunächst in Leipzig-Grünau, später in Berlin-Hohenschönhausen. Heute
                               lebt sie in einer sanierten Altbauwohnung in Berlin-­Friedrichshain.
18 | Wohnen in Deutschland 1990 und heute

         Interview mit Dr. Harald Engler

         Urbanität aus dem Baukasten

                                            Dr. Harald Engler, Historiker, arbeitet seit 2007 als Wissenschaftlicher
                                            Mitarbeiter und Projektleiter am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozial­
                                            forschung (IRS) und ist seit Anfang 2012 Stellvertretender Abteilungs-
                                            leiter der Abteilung „Historische Forschungsstelle/Wissenschaftliche
                                            Sammlungen zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR“. Er studierte
                                            Geschichte und Germanistik an der FU Berlin. Seine Forschungsschwer-
                                            punkte sind europäische Stadt- und Urbanisierungsgeschichte des
                                            20. Jahrhunderts sowie DDR-Planungs- und Baugeschichte.

         Welches Verhältnis hatten DDR-Bürger zu ihrer                  Warum war für die meisten DDR-Bürger eine
         Wohnung – unterschied es sich von dem in den                   Neubauwohnung mit Vollkomfort ein großes
         alten Bundesländern?                                           Glück?

         Wohnungsangebot und Wohnungsvergabe waren in                   Weil sich die Altbauten in der DDR häufig in einem
         der DDR staatlich reguliert und gesteuert, während             schlechten Zustand befanden, wollten viele ihrer Be-
         im Westen eher der private Wohnungsbau domi­                   wohner in Neubauwohnungen ziehen. Diese Neu-
         nierte. Wohnen war in der DDR verhältnismäßig                  bauwohnungen, zumeist in Plattenbauweise auf der
         günstig, selbst im modernen Neubau, weil der Staat             grünen Wiese errichtet, waren auf dem neuesten zi-
         die Mieten künstlich niedrig hielt. Deshalb machten            vilisatorischen Stand, verfügten über Müllschlucker,
         die Mieten für DDR-Bürger im Vergleich mit der                 Fernheizung, Balkon, Aufzug. Sie wiesen einen durch-
         Nachwendezeit und mit heute keinen großen Anteil               aus mit westlichen Wohnungen in Großblockbau­
         am verfügbaren Einkommen aus. Und deshalb gab                  weise vergleichbaren Standard auf. Die Wohnungen
         es in der DDR keine Wohnungsnot im Sinne einer                 in der „Platte“ waren also extrem begehrt, auch weil
         existentiellen Bedrohung. Jeder konnte sich eine               es insgesamt und bis zum Ende der DDR zu wenige
         Wohnung leisten – wenn er denn eine bekam. Trotz-              von ihnen gab. Also empfanden es viele DDR-Be-
         dem herrschte auch im Wohnungsbereich, so wie in               wohner wie einen „Sechser im Lotto“, wenn sie eine
         der gesamten Wirtschaft der DDR bis zu deren Ende,             Neubauwohnung beziehen durften. Eine Fernseh­
         ein großer Mangel. Die wenigen verfügbaren Woh-                serie von 1987 mit diesem Thema hieß viel sagend
         nungen waren hart umkämpft. Und den Verantwort-                „Einzug ins Paradies“.
         lichen im Bauwesen der DDR gelang es in den acht-
         ziger Jahren immer weniger, den mangelhaften Zu­-              Nach der Wiedervereinigung wurde den Plat-
         stand vor allem der Altbauten zu verbessern. Viele             tenbauten pauschal ein schlechtes Image ver-
         Altbaubewohner hatten mit erheblichen baulichen                passt. Die Alltagskoordinate „Wohnung“ kam
         und wohnlichen Einschränkungen zu leben.                       ins Wanken und damit ein Stück ostdeutscher
                                                                        Identität. Was macht das mit einem Menschen,
Wohnen in Deutschland 1990 und heute   | 19

einer Teilgesellschaft, wenn an der Identität            mutungen der Nachwende-Zeit, nicht alles negativ
ge­kratzt wird?                                          zu bewerten ist – eine Renaissance. Als Bautyp sind
                                                         sie heute deutlich aufgewertet: sie verfügen über
Plattenbauwohnungen waren als materielle Verkör-         Wärmedämmung, sind farbiger gestaltet und weisen
perung von modernem Wohnen und Leben und we-             eine deutlich verbesserte soziale und kulturelle Infra-
gen ihres großen Mangels zunächst sehr positiv be-       struktur auf. Gerade für jüngere Menschen und mit
setzt. Dazu kam, dass das Zusammenleben in diesen        dem internationalen Blick von außen gilt die Platte
Großsiedlungen im Großen und Ganzen auch sozial          sogar als zunehmend interessant und exotisch. Unter
gut funktionierte: Der Kombinatsdirektor lebte Tür an    wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten sind
Tür mit der einfachen Konsum-Verkäuferin. Eine gro-      Plattenbauwohnungen eher bezahlbar, insbesondere
ße räumliche Trennung zwischen Reich und Arm wie         im Vergleich zu teuren Neubauten oder sanierten
im Westen gab es in dieser Form in der DDR nicht.        Altbauwohnungen. Und die Plattenbauweise gewinnt
Nach 1989 änderte sich das Bild stark: Die Platten-      als rationelle, günstigere und schnellere Bauweise in
bauten gerieten demografisch in eine Krise, weil sich    Zeiten wachsender Wohnungsnot und für viele Men­
ein beträchtlicher Anteil der Einwohner mit dem nö-      schen zunehmend unbezahlbarer Wohnungen zu-
tigen Geld Einfamilienhäuser zumeist im Umland           sätzlich an Attraktivität.
leistete, während in den großen Siedlungen häufig
Einkommensschwächere zurückblieben. Zudem wur-           Die Ansprüche an den Wohnkomfort wachsen.
den die Großsiedlungen, übrigens ähnlich wie ihre        Gleichzeitig mahnen uns Klimaveränderungen
westdeutschen Pendants, in den Medien herunter           zu Sparsamkeit und Nachhaltigkeit. Wohin ent­
diskutiert und herunter geschrieben. Die wachsen-        wickelt sich das Kulturgut Wohnen? Was kön-
den sozialen Probleme der Gesellschaft wurden auf        nen Architekten und Planer von den DDR-Neu-
die „Platte“ projiziert, obwohl die beschriebenen ge-    baugebieten lernen?
sellschaftlichen Schwierigkeiten eher in der allgemei-
nen sozialen Entwicklung begründet lagen. Menschen,      Das System „Platte“ oder, wie sie international als
die in Plattenbauten groß und dort sozialisiert wur-     Fachbegriff auch genannt wird, die Großtafelbau­
den und über großzügige grüne Freiräume verfügten,       weise, ist flexibel, als Baukastensystem gut variierbar,
sahen sich plötzlich mit extrem negativen Assoziatio-    effektiv und schnell. Es bietet insofern einen durch-
nen ihres Wohnens und Lebens konfrontiert. Diese         aus zukunftsweisenden Anknüpfungspunkt für heuti-
Entwicklung sorgte für eine Gefährdung der Identität     ge Bestrebungen, schneller, effektiver und günstiger
vieler Bewohner. Wichtige Teile ihres bisherigen Le-     zu bauen. Auf der anderen Seite benötigen Menschen
bens wurden in Frage gestellt. Das wachsende Un-         immer mehr Wohnraum pro Kopf, eine Entwicklung,
verständnis über vielfach ahnungslose westdeutsche       die nicht unendlich so weiter gehen kann. Und die
Bewertungen sorgte für eine Bitterkeit, die teilweise    durchaus vorhandenen Defizite der DDR-Großsied-
bis heute ausstrahlt und wirkt.                          lungen – fehlende Urbanität und geringe Vielfalt der
                                                         Bauformen, eine auf das Nötigste beschränkte sozia-
Heute sind Plattenbauten wieder erstaunlich              le und kulturelle Infrastruktur, weite Entfernungen in
beliebt. Reine Nostalgie? Ist die „wohnkultu-            die Innenstädte – sollten bei neu zu bauenden Woh-
relle Revolution“ gescheitert? Was ist passiert?         nungen durch eine zentrumsnahe, verdichtete und
                                                         dennoch als Baukästen organisierte Systembauweise
Plattenbauten erfahren im allgemein stattfindenden       ersetzt werden.
Rückbezug auf das Leben in der DDR – in der aus
Sicht vieler, und vor allem im Vergleich zu den Zu-
20 | Wohnen in Deutschland 1990 und heute

         Interview mit Dipl.-Ing. Christine Edmaier

         Die Hierarchie der Räume ist vorbei

                                            Christine Edmaier ist seit 2013
                                            Präsidentin der Architektenkammer
                                            Berlin. Sie hat an der Berliner
                                            Hochschule der Künste Architektur
                                            studiert und ist Partnerin des
                                            Berliner Architekturbüros S.E.K.
                                            Architektinnen.

         Nach der Wiedervereinigung galten für Wohn-                 heutigen Wohnformen entgegen zu kommen. Es ist
         kultur und Wohnungspolitik in der DDR west-                 keineswegs die blanke Wohnungsnot, sondern auch
         deutsche Maßstäbe. Den Plattenbauten wurde                  eine Neubewertung und soziale Aufwertung der
         pauschal ein schlechtes Image verpasst. Heute               Groß-Siedlungen, die derzeit stattfindet. Schließlich
         sind sie wieder erstaunlich beliebt. Reine Nos-             haben sie auch Vorteile, was den Weitblick, die Be-
         talgie? Wurde aus der Not eine Tugend? Was                  lichtung und moderne Ausstattung betrifft.
         hat sich verändert?
                                                                     Mit nüchternem Architekten-Blick: Welche Vor-
         Die Wohnungsbauserie 70 – kurz WBS 70 – ist gera-           teile, welche Nachteile hatten Plattenbauten,
         de 50 Jahre alt geworden. Kurz nach der Wende ist           die es in Ost und West gab und gibt?
         dieser Plattenbau verteufelt worden, aber das Bild
         hat sich mittlerweile gewandelt. Auch heute stehen          Die kurzen Planungs- und Bauzeiten waren sicherlich
         wir wieder vor der Herausforderung, sehr schnell und        ein Vorteil – egal ob in Ost oder West. Die Vorlage
         günstig Wohnungen bauen zu müssen. Plattenbau-              war da und musste nur noch mit den entsprechen-
         ten sind ein sehr aktuelles Thema, deswegen lohnt           den vorgefertigten Segmenten umgesetzt werden.
         es, einen Blick auf die Entstehungsgeschichte zu wer-       Man muss jedoch sehen, dass es damals wie heute,
         fen. Die WBS 70 basiert beispielsweise auf einem            in Ost wie in West, bei vorgefertigten Bauten eine
         gemeinsamen Forschungsprojekt der TU Dresden                sehr enge Zusammenarbeit mit den Herstellern der
         mit der Bauakademie in Berlin und fünf Wohnungs-            Bauwerke geben muss. Das entspricht nicht immer
         baukombinaten. Es wurde getüftelt und entwickelt,           unseren heutigen Vorstellungen von Unabhängigkeit
         bis man serienreif war und die WBS 70 in großen             von Planung und Bauen sowie einer EU-konformen
         Massen herstellen konnte. Es sind alleine davon             Transparenz beziehungsweise Marktöffnung bei der
         650.000 Wohnungen gebaut worden. Für die Be-                Vergabe von Bauleistungen. Wir alle erinnern uns an
         wohnerinnen und Bewohner waren die Grundrisse               die Praktiken der „Neuen Heimat“ im Westen. Es ist
         bereits damals auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten,          auch keineswegs nachweisbar, dass es überhaupt
         haben aber offensichtlich genug Flexibilität, um auch       eine Kostenersparnis gibt. Hinzu kommen städtebau-
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