WOZU BILDUNG IN DER FRÜHEN KINDHEIT? - Was wir wissen, wissen sollten und was die Politik damit anfangen kann
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WOZU BILDUNG IN DER FRÜHEN KINDHEIT? Was wir wissen, wissen sollten und was die Politik damit anfangen kann
Seite 2 Prof. Dr. Margrit Stamm Lehrstuhlinhaberin am Departement Erziehungswissenschaften der Universität Fribourg Leiterin des Universitären Zentrums für Frühkindliche Bildung ZeFF Regina Mundi, Rue Faucigny 2 CH‐1700 Fribourg Telefon +41 (0) 26 300 75 60 Fax +41 (0) 26 300 97 11 http://perso.unifr.ch/margrit.stamm/ margrit.stamm@unifr.ch Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 3 Inhalt Wie Sie dieses Dossier verwenden können ........................................................................................... 7 Einleitung: Weshalb ist Bildung in der frühen Kindheit wichtig?.......................................................... 9 Management Summary .......................................................................................................................... 8 Schlüsselbotschaften ............................................................................................................................ 11 Briefing Paper 1: Was ist frühkindliche Bildung und wie ist ihr Status quo? ..................................... 13 Briefing Paper 2: (Wie) Wirkt frühkindliche Bildung? ......................................................................... 15 Briefing Paper 3: Welche Rolle spielt die Qualität?............................................................................. 19 Briefing Paper 4: Wie kann die Wirkung frühkindlicher Bildung gesteigert werden? ....................... 22 Empfehlungen....................................................................................................................................... 28 Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 4 Vorwort Der Vorschulbereich hat sich in den letzten Anteil der Personen mit Migrationshinter‐ Jahren stark entwickelt. Dabei steht der Leit‐ grund in den jüngeren Jahrgängen stetig zu‐ gedanke «Bildung von Anfang an» für diesen nehmen. Da zur Risikogruppe der Leistungs‐ in Gang gesetzten Bewusstseinswandel. Er schwächsten überwiegend Kinder mit Migrati‐ verweist darauf, dass es nicht (nur) um die Er‐ onshintergrund gehören, wird die Frage nach höhung der Zahl der Betreuungsplätze für jun‐ den Folgen des Zusammenhangs von sozialer ge Kinder, sondern um etwas Grundsätzli‐ Herkunft und Bildungserfolg auch zu einer cheres geht: um das Verständnis, dass die Zeit Frage nach der rechtzeitigen Förderung von bis zum Schuleintritt1 eine Bildungszeit mit Kindern mit Migrationshintergrund. grossem Förderpotenzial darstellt. Es ist somit reichlich klar, dass unser Bildungs‐ Weshalb? Viele Untersuchungen belegen, dass system enormen Spannungen ausgesetzt sein die Einschulung keineswegs die Stunde Null wird. Wie und ob es gelingt, positive Entwick‐ der Bildung darstellt. Wichtige Entwicklungs‐ lungen von Kindern zu fördern, welche zu‐ weichen werden bereits in den ersten Le‐ nehmend nach Kultur, Herkunft, Sprache und bensjahren gestellt. Besonders bedeutsam ökonomischem Hintergrund variieren und sie sind die Bindungsqualität zu den primären Be‐ in den ersten Lebensjahren mit den Ressour‐ zugspersonen und der Erwerb von Fähigkei‐ cen auszustatten, welche für ihren späteren ten, welche einen erfolgreichen Schuleintritt Schulerfolg und das Gelingen ihrer zukünftigen ermöglichen. Die Familie hat dabei die Schlüs‐ Lebensführung entscheidend sind, ist eine der selfunktion im Hinblick auf die Erziehung und grossen Herausforderungen. Unsere erste Fra‐ Förderung ihres Kindes. Allerdings erweist sich ge sollte deshalb sein, wie wir das Vor‐ die Erwartung, dass die Familie vorausset‐ schulsystem gestalten sollten, damit ein er‐ zungslos und selbstverständlich solche Leis‐ folgreicher Schulstart für alle Kinder möglich tungen erbringt, immer mehr als Wunschvor‐ wird. stellung. Viele Familien fühlen sich unsicher Zwar sind in den letzten Jahren viele Initiati‐ und überfordert. ven gestartet sowie politische Massnahmen Eine besondere Herausforderung für die diskutiert worden, und es ist auch einiges in Schweiz ergibt sich durch die Tatsache, dass Bewegung geraten. Doch stehen diese Aktivi‐ gerade Kinder aus benachteiligten Familien, täten häufig zu wenig mit dem aktuellen Stand meist aus solchen mit Migrationshintergrund, der Wissenschaft im Einklang. Dies gilt auch häufig in wenig förderlichen Umwelten auf‐ für die politische Diskussion. Was Bildung in wachsen. Gegenüber Kindern aus privilegier‐ der frühen Kindheit ist und was sie soll, wel‐ teren Familien haben sie viele Nachteile. Wer‐ che Wirkungen sie hat oder haben könnte und den diese nicht früh schon auszugleichen ver‐ welche Rolle dabei die Qualität und die Aus‐ sucht, zeigen sie sich bei Schuleintritt beson‐ bildung des pädagogischen Fachpersonals ders deutlich. Institutionalisierte Vorschulan‐ spielt – das sind Fragen, die manchmal falsch gebote2 können deshalb eine wichtige Förder‐ und oft sehr einseitig beantwortet werden. funktion übernehmen. Das Ziel dieses Dossiers besteht darin, solche Angesichts der in den nächsten Jahrzehnten zu Fragen wissenschaftsbasiert zu beantworten erwartenden demographischen Veränderun‐ und aufzuzeigen, wo Bildungs‐ und Sozialpoli‐ gen wird der Druck auf den Vorschulbereich tik, aber auch die Praxis, nicht gut auf diese massiv erhöht werden. Denn bis zum Jahre Erkenntnisse abgestimmt sind und welche 2025 dürfte laut Bundesamt für Statistik der Entwicklungsmöglichkeiten sich anbieten. 1 Unter Schuleintritt wird im Anschluss an HarmoS die Einschulung ab dem vollendeten vierten Lebensjahr in den Kindergarten verstanden. Der frühere Schuleintritt und der dadurch obligatorische Kindergartenbesuch ist keine frühkindliche Bildung. Eine solche setzt viel früher ein, am Prof. Dr. Margrit Stamm besten mit der Geburt. 2 Als Vorschulangebote werden hier Tagesfamilien, Krippen, Fribourg, im Juli 2011 Spielgruppen, Vorschulen etc. bezeichnet. Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 5 Wie Sie dieses Dossier verwenden können Das vorliegende Dossier enthält eine Analyse out kopiert werden. Zum Abschluss sechs der aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Er‐ Empfehlungen: kenntnisse zur frühkindlichen Bildung. Es ver‐ folgt zwei Ziele: Erstens will es Antworten auf 1. Gezielter Ausbau von Vorschulangeboten die aktuellsten Fragen rund um die Thematik für benachteiligte Kinder geben und zweitens aufzeigen, in welchen Be‐ reichen das verfügbare Wissen nicht gut mit 2. An die Wirksamkeit des Angebots gekop‐ der Bildungs‐ und Sozialpolitik sowie der Pra‐ pelte Finanzierung xis abgestimmt ist. 3. Orientierung an der pädagogischen Quali‐ Die Analyse basiert auf folgenden Fragen: tät Was ist frühkindliche Bildung und weshalb ist sie notwendig? 4. Berufliche Handlungskompetenz ist wichti‐ ger als die Forderung nach Akademisie‐ (Wie) Wirkt frühkindliche Bildung? rung Welche Rolle spielt die Qualität? 5. Systematisierung und Intensivierung von Wie kann die Wirkung Frühkindlicher Bil‐ Eltern‐ und Familienbildung dung gesteigert werden? 6. Verpflichtende Kooperation von Kinderta‐ Zunächst werden in einem Management gesstätten und Schule Summary die Erkenntnisse zu den behandel‐ ten Fragen kurz erläutert. Sodann werden sie 7. Kontrolle der Wirksamkeit und Angemes‐ zu einzelnen Schlüsselbotschaften verdichtet. senheit der Angebote Anschliessend wird jede Frage als «Briefing Paper» differenziert beantwortet und mit spezifischen Literaturhinweisen ergänzt. Je‐ des Briefing Paper kann als einzelnes Hand‐ Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 6 Einleitung: Weshalb ist Bildung in der frühen Kindheit wichtig? Bildung in der frühen Kindheit geniesst aktuell nen Sprache, der Literacy (aus den Erfahrun‐ eine hohe Aufmerksamkeit. Diese ist aus vier gen rund um Buch‐, Erzähl‐, Reim‐ und Schrift‐ Gründen sehr zu begrüssen: kultur), der Sozialkompetenzen sowie der ma‐ thematischen Vorläuferfähigkeiten. Meist Erstens verweist Bildung in der frühen handelt es sich um Kinder aus so genannt bil‐ Kindheit auf die Notwendigkeit, Kinder in dungsfernen und/oder zugewanderten Fami‐ den ersten Lebensjahren nicht nur zu hü‐ lien. ten und zu betreuen, zu pflegen und zu erziehen, sondern auch zu bilden. Erzie‐ Bildung in der frühen Kindheit hat somit zum hung und Betreuung müssen deshalb im‐ ersten Ziel, solche Kinder so zu fördern, dass mer mit dem Bildungsgedanken verknüpft sie bei Schuleintritt über die notwendigen werden. Grundlagen für eine erfolgreiche Schullauf‐ bahn verfügen und die Unterschiede zu den Zweitens wissen wir heute aus vielen Stu‐ anderen Kindern minimiert werden. Das zwei‐ dien, dass individuelle Unterschiede sehr te Ziel liegt in der ökonomischen und sozialen früh auftreten. In der Regel bleiben sie im Wohlfahrt unseres Landes. Eine frühe Förde‐ Lebenslauf stabil oder werden gar grösser, rung benachteiligter Kinder bringt enorme wenn sie unbeachtet bleiben. Frühe För‐ ökonomische Effekte. Der Grund liegt darin, derung kann jedoch Unterschiede mini‐ dass in den ersten Lebensjahren die kindlichen mieren. Kapazitäten ausgebildet werden und Investiti‐ Drittens rückt diese Aufmerksamkeit un‐ onen deshalb besonders ertragreich sind. Da‐ ser gesamtes Bildungssystem in den Blick. hinter steckt die Vorstellung der kumulativen So legen die PISA‐Studien den Schluss na‐ Natur der Entwicklung von Fähigkeiten. Unser he, dass eine gute institutionalisierte vor‐ Bildungssystem ist auch so aufgebaut. Aber es schulische Förderung den späteren Schul‐ berücksichtigt die Konsequenzen der Kapazi‐ erfolg insbesondere von Kindern mit tätsbildung in der frühen Kindheit zu wenig. Migrationshintergrund erhöhen kann. Sie Sind Kapazitäten nicht ausreichend, sind spä‐ muss allerdings im Schulalter ihre Fortset‐ tere Investitionen kaum ertragreich. Vor allem zung finden, sonst ist die Wirksamkeit für benachteiligte Kinder, deren Eltern nur un‐ klein und die Effizienz in ökonomischer genügende Investitionen bereitstellen, kann Hinsicht minimal. die Schule dann nicht mehr ausreichend kom‐ pensieren. Schliesslich erhält dadurch die bisher kaum wahrgenommene Berufsgruppe des Es liegt somit der Schluss nahe, dass die ersten pädagogischen Fachpersonals – Kleinkin‐ Lebensjahre als ‚Bildungsjahre‘ in Familie und derzieherinnen, Tageseltern, Krippen‐ und familienergänzender Betreuung wichtig sind Spielgruppenleiterinnen etc. – eine viel und dass gerade der Ausbau letzterer für Kin‐ grössere Bedeutung als bis anhin. Damit der aus benachteiligten Familien besonders verbunden ist die Forderung, die Frage wichtig ist. Institutionalisierte Vorschulange‐ seiner Professionalisierung endlich zu dis‐ bote sind in der Lage, Kinder zusätzlich zu för‐ kutieren. dern, wie dies solchen Familien nicht möglich ist. Frühkindliche Bildung als Schulvorberei‐ tung Soll man alle Kinder vorschulisch fördern? Eines der Hauptargumente, das für frühkindli‐ Vor diesem Hintergrund stellt sich jedoch die che Bildungsförderung spricht, ist das, dass in strittige Frage, ob man alle Kinder vorschulisch der Schweiz zu viele Kinder mit ungenügenden fördern soll oder nur diejenigen, welche be‐ Kompetenzen eingeschult werden. Dies gilt sonders benachteiligt sind. Meine Antwort insbesondere für die Bereiche der gesproche‐ lautet: Selbstverständlich haben alle Kinder Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 7 ein Anrecht auf Frühkindliche Bildung. Aber schulähnlichen Institutionen chinesisch, eng‐ die öffentlich verantwortete Förderung sollte lisch oder schwimmen lernen sollen – Wissen mit besonderem Fokus auf die Letzteren ge‐ und Fähigkeiten, die typischerweise erst auf schehen. Weil wir als demokratische Gesell‐ einem späteren Entwicklungsniveau erworben schaft der Gleichheit verpflichtet sind, müssen werden. Optimale Förderung ist vielmehr die alle Kinder – ob mit einem Schweizer Pass Sammlung von ganzheitlichen Erfahrungen, oder ohne – die gleichen Angebote ungeach‐ etwa zu Hause beim Kochen, in der Kita beim tet ihres Herkunftsmilieus erhalten. Weil je‐ gemeinsamen Spielen oder Musizieren. Der doch gleichzeitig jedes Kind seine Individuali‐ Klassiker ist dabei der Wald: Dort bewegt sich tät entfalten soll, bedeutet dies, dass auch die das Kind, es sieht und hört die unterschied‐ optimalste frühkindliche Förderung Differenz lichsten Dinge, es beschäftigt sich mit räumli‐ erzeugt. Ein langsam lernendes Kind nutzt ein chen Bedingungen und kausalen Zusammen‐ Angebot anders als ein schnell lernendes oder hängen. privilegiert aufwachsendes Kind. Deshalb er‐ So wie frühkindliche Bildungsförderung aktuell zielen sie nicht die gleichen Entwicklungser‐ in der Schweiz praktiziert wird, ist es somit gebnisse. Gleichheit im Ziel und im Ergebnis ist meist ein Zuviel oder ein Zuwenig. Ein Zuviel infolgedessen kein Ziel frühpädagogischer ist es dort, wo junge Kinder in vorschulähnli‐ Förderung. Mit Blick auf benachteiligte Kinder chen Angeboten das lernen müssen, was ihre gilt es vielmehr, sie so zu fördern, dass sie ihr Eltern als wichtig erachten. Solche frühe individuelles Entwicklungspotenzial entfalten Treibhauserfahrungen lohnen sich jedoch und auf diese Weise die negativen Einflüsse kaum, weil sie langfristig negative Konsequen‐ ihrer sozialen Herkunft minimiert werden zen haben dürften. Um ein Zuwenig handelt es können. sich dort, wo Familien nicht in der Lage sind, Dass auch privilegiert aufwachsende Kinder ihren Kindern die notwendigen Anregungen Vorschulangebote nutzen sollen, ist selbstver‐ und Beziehungsgrundlagen zu geben. Wenn ständlich. Aber wir müssen die Unterschied‐ sie auch von keinem öffentlichen Angebot lichkeit ihrer Entwicklungsergebnisse akzeptie‐ Gerbrauch machen, kann frühkindliche Bil‐ ren. Unterschiede zwischen den Kindern sind dungsförderung auch nicht kompensatorisch, erst dann ungerecht und undemokratisch, d.h. ausgleichend, wirken. wenn sie systematisch mit der sozialen oder Frühkindliche Bildung muss somit differenziert kulturellen Herkunft zusammenhängen. betrachtet und diskutiert werden. Sie steht nicht nur im Blickwinkel verschiedenster Inte‐ Frühkindliche Bildung ist aktuell ein Zu‐ ressen der Bildungs‐ und Sozialpolitik, sondern viel oder Zuwenig hat auch nicht für alle Kinder und ihre Fami‐ Trotzdem ist frühkindliche Bildungsförderung lien die gleiche Bedeutung. nicht in jedem Fall zu unterstützen. Dies gilt insbesondere für den aktuellen Frühförder‐ boom, der vor allem Kinder aus privilegierten Elternhäusern betrifft. Wenn die Prämisse sein soll, dass eine Förderung dann optimal ist, wenn sie auf die kindlichen Bedürfnisse, Mög‐ lichkeiten und Potenziale ausgerichtet ist, dann heisst dies nicht, dass Kinder in vor‐ Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 8 Management Summary Was ist Bildung in der frühen Kindheit cen, von institutionalisierten Angeboten Ge‐ und wie ist ihr Status quo? brauch machen zu können. Diese Situation und die Tatsache, dass sich Vorschulkinder in Frühkindliche Bildung ist eine der besten In‐ ihren Kompetenzen und Entwicklungsständen novationen, um allen Kindern, unabhängig stark unterscheiden, tragen dazu bei, dass die von ihrer Herkunft, optimale Entwicklungs‐ Art und Weise, wie die Kinder von der Vor‐ und Fördermöglichkeiten zu bieten. Heute schulzeit profitieren können, sehr unter‐ treten jedoch zu viele Kinder mit zu wenig schiedlich ist. Aufgrund des knappen Angebots Kompetenzen in die Schule ein. sind Kinder aus linguistisch und kulturell un‐ Briefing Paper 1 Seite 16 terschiedlichen Familien im Hinblick auf ihre frühe soziale und sprachliche Integration be‐ Unter «frühkindlicher Bildung» versteht man sonders benachteiligt. die ganzheitliche und bewusste Förderung des Kindes zwischen 0 und 6 Jahren in emotiona‐ Mit Blick auf den frühkindlichen Spracherwerb ler, sozialer, motorischer, physischer, sprachli‐ und eine erfolgreiche Schulvorbereitung fallen cher, mathematischer und kognitiver Hinsicht. zu früh zu viele Kinder mit Migrationshinter‐ Diese Förderung findet in der Familie, genauso grund durch die Maschen. Dies wird oft zu wie in institutionellen Angeboten statt. Nicht spät, d.h. unmittelbar vor dem Schuleintritt, gemeint ist mit frühkindlicher Bildung die Vor‐ zur Kenntnis genommen. Deshalb sollte alles verlegung schulischer Inhalte in den Vorschul‐ daran gesetzt werden, dass sozial benachtei‐ raum. ligte Kinder gleichberechtigt wie privilegierte Kinder von vorschulischen Angeboten Ge‐ Frühkindliche Bildung ist die Grundlage für brauch machen können. den Aufbau von Wissen und Fähigkeiten, aber auch von bestimmten Kompetenzen, die für (Wie) Wirkt Frühkindliche Bildung? den Schuleintritt wichtig sind (Selbstkontrolle, Selbstvertrauen, Durchhaltevermögen, Moti‐ Frühkindliche Bildung kann die Lernentwick‐ vation). Eine Grundbedingung dafür sind stabi‐ lung von jungen Kindern optimieren. Am le Bindungen zu primären Bezugspersonen deutlichsten trifft dies auf benachteiligte und eine anregungsreiche Umgebung. Kinder zu. Erwerben sie früh grundlegende Fähigkeiten, entscheidet dies massgeblich Frühkindliche Bildung dient zumindest zwei In‐ über ihre Bildungsbiografie, ihre Chancen teressen: denjenigen der Eltern, welche die und damit auch über Entwicklungspotenzial Entwicklung ihres Kindes fördern wollen und unserer Gesellschaft. denjenigen der Gesellschaft in Bezug auf die Entwicklung von Humankapital. In vielerlei Briefing Paper 2 Seite 19 Hinsicht überlappen sich die Interessen. Die Die Frage des Einflusses institutioneller Vor‐ Eltern profitieren, wenn der Staat Bildungs‐ schulangebote wird kontrovers diskutiert. und Betreuungsangebote zur Verfügung stellt, Wissenschaftlich gilt jedoch als unbestritten, die Gesellschaft profitiert, wenn die Eltern ihr dass sie die Entwicklung junger Kinder anre‐ Kind in ein Angebot stecken, das sein Lernen gen, unterstützen und optimieren können. In‐ und seine Entwicklung unterstützt. Allerdings wiefern alle Kinder von einem solchen Ange‐ ist die Konvergenz von familiären und gesell‐ bot profitieren, ist jedoch ungesichert. Sicher schaftlichen Interessen dort nicht gegeben, ist hingegen, dass benachteiligte Kinder am wo Angebote qualitativ schwach sind und kein meisten profitieren. Zwar kann frühkindliche Mehrwert sichtbar wird. Bildungsförderung die soziale Benachteiligung Es zeigt sich, dass die Schweiz über ein eher solcher Kinder nicht aufheben, wohl jedoch zufällig entstandenes Angebot an vorschuli‐ abschwächen und ihnen einen besseren schen Bildungs‐, Betreuungs‐ und Erziehungs‐ Schulstart ermöglichen. Die Qualität des An‐ angeboten verfügt. Je nachdem, wo eine Fa‐ gebots, der Zeitpunkt, ab welchem dieses be‐ milie wohnt, hat sie mehr oder weniger Chan‐ sucht wird und die Intensität, mit der dies ge‐ Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 9 schieht, spielen dabei eine nicht zu unter‐ zept «Pädagogische Qualität», das zwischen schätzende Rolle. Angebote, welche auf Be‐ Strukturqualität (Rahmenbedingungen), Pro‐ treuung ausgerichtet sind, sind zudem weni‐ zessqualität (Interaktionen und kindliche Er‐ ger wirksam als solche, welche sich am Bil‐ fahrungen) und Orientierungsqualität (Ein‐ dungsgedanken orientieren. Sind solche As‐ stellungen, Leitbilder) unterscheidet. Der pekte erfüllt, dann sind frühe Bildungsmass‐ zentrale Aspekt ist dabei der, dass die Quali‐ nahmen für die Gesellschaft mit einer sehr tät eines Vorschulangebots in jedem Fall hohen Rendite verbunden. Spätere Interven‐ hochstehend sein sollte, damit nicht nur Kin‐ tionen sind hingegen häufig sehr teuer und der mit suboptimalen, sondern auch solche aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht rentabel. mit guten familiären Bedingungen profitieren. Ist dies nicht durchgehend der Fall – was an‐ Zur hohen Rendite trägt auch die Tatsache bei, zunehmen ist – können negative kindliche Er‐ dass Vorschulangebote auch die Erhöhung der fahrungen durch familienergänzende Ange‐ Erwerbstätigkeit der Familie fördern, welche bote nicht wie erhofft abgepuffert und solche wiederum zur Reduktion der Kinderarmut bei‐ positiver Art verstärkt werden. trägt. Die Familie ist jedoch der primäre und elementare Bildungsort, der über das Wohl Wie die Qualität der Vorschulangebote in der des kindlichen Bildungserfolges entscheidet. Schweiz ist, wissen wir nicht und es gibt hierzu keine Studien. Zwar gibt es Standards für die Aufgrund der aktuellen Forschungslage in der Strukturqualität. Wie gut diese aber umge‐ Schweiz wissen wir kaum, welche Angebote setzt werden, ist weitgehend unbekannt. Es wie wirken. Sicher ist, dass ein nicht kleiner fehlen wirksame Sicherungs‐ und Steuerungs‐ Teil der derzeit angebotenen Programme rela‐ systeme zum Erhalt und zur Entwicklung von tiv wirkungslos ist. Dies dürfte auch für einen Qualität. Deshalb ist es wünschenswert, Stan‐ Teil der in grosser Vielfalt anagebotenen dards zu bestimmen, welche für alle Vorschul‐ Sprachförderprogramme gelten. angebote als verbindlich gelten. Sie sollen auf Aus solchen Gründen sollten nur solche Ver‐ die Struktur‐, Prozess‐ und Orientierungsquali‐ fahren finanziell unterstützt werden, die den tät ausgerichtet sein und die berufliche Hand‐ Nachweis erbringen, dass sie wirksam sind. lungskompetenz in den Mittelpunkt stellen. Sprachförderung darf nicht Selbstzweck sein. Weil die Wirksamkeit frühkindlicher Bildung in erster Linie eine Qualitätsfrage ist, sollte sie in Welche Rolle spielt die Qualität? der Agenda der Strategieplanung prioritär be‐ Die Qualität eines vorschulischen Angebots handelt werden. kann bis zu einem Jahr Entwicklungsunter‐ schied ausmachen. Die drei wichtigsten As‐ Wie kann die Wirkung frühkindlicher Bil‐ pekte sind die qualitativen Wechselwirkun‐ dung gesteigert werden? gen von Familie und Vorschulangebot, die professionelle Entwicklung des Personals Weder der Ausbau noch die Organisation («berufliche Handlungskompetenz») und – von Vorschulangeboten oder Forderung nach damit verbunden – die Festlegung von Quali‐ einem Hochschulabschluss des Personals tätsstandards. können eine Garantie dafür liefern, dass Frühkindliche Bildung wirkt und benachtei‐ Briefing Paper 3 Seite 23 ligte Kinder tatsächlich verbesserte Chancen Wenn immer mehr Kinder in immer früherem bekommen. Die Wirkung frühkindlicher Bil‐ Alter und für eine zunehmend längere Zeit ein dung kann in erster Linie durch die Entwick‐ Vorschulangebot besuchen, dann interessiert lung beruflicher Handlungskompetenz des nicht nur, dass ihnen solche Angebote zur Fachpersonals gesteigert werden. Verfügung gestellt werden, sondern ebenso, Briefing Paper 4 Seite 26 wie diese Angebote beschaffen sind. Aus‐ schlaggebend ist somit die pädagogische Qua‐ Im Feld der Vorschulspezialisten streitet man lität, ihre Feststellung, ihre Entwicklung und sich aktuell darum, welches die ‚richtige’ Stra‐ ihre Sicherung. Wie diese erfasst werden soll, tegie ist, pädagogisches Fachpersonal auszu‐ ist umstritten. Am bekanntesten ist das Kon‐ bilden: die Akademisierung des Personals in‐ Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 10 klusive der Erhöhung der Löhne oder die pro‐ unabdingbar ist: Kinder aus benachteiligten fessionelle Entwicklung beruflicher Hand‐ sozialen Schichten brauchen mehr und andere lungskompetenz. Unter dem Aspekt der Wirk‐ Unterstützung und Anregung in materieller samkeitsoptimierung ist es mit Sicherheit die und emotionaler Hinsicht als Kinder der Mit‐ berufliche Handlungskompetenz. Sie ist jedoch tel‐ und Oberschicht, damit sie ihren Möglich‐ nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist keiten entsprechend auf den Schuleintritt vor‐ die gezieltere Unterstützung und Begleitung bereitet sind und den gleichen Zugang zu Bil‐ von Familien. dungsmöglichkeiten bekommen. Eine solche Haltung wird als «befähigend» bezeichnet. Das erste Ziel von Aus‐ und Weiterbildungen im Vorschulbereich sollte deshalb auf das Ziel Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der der beruflichen Handlungskompetenz ausge‐ familiäre Einfluss in jedem Fall grösser ist als richtet werden und dabei ein doppeltes sein: der Einfluss eines institutionellen Vorschulan‐ (a) Die Vermittlung von forschungsbasiertem gebots, gilt es aber auch, Eltern‐ und Famili‐ Wissen über die kindliche Entwicklung und die enbildung umfassender als Teil frühkindlicher Arbeit mit Familien und (b) die Etablierung Bildungsförderung zu verstehen und weiter‐ von systematisierten Trainingsmöglichkeiten, zuentwickeln sowie die Kooperation zwischen von Beobachtung von Best Practice durch Ana‐ Vorschulangeboten und Schule verbindlich zu lysen und Videos sowie von individuellem gestalten. Feedback. Sie sollen den Auszubildenden er‐ möglichen, bedeutsame und fähigkeitsrele‐ vante Interaktionen mit dem einzelnen Kind einzuüben. Gesamthaft sollte die Aus‐ und Weiterbildung ein wissensbasiertes System der Entwicklung und Unterstützung von be‐ ruflicher Handlungskompetenz sein, das so aufgebaut ist, dass pädagogische Fachkräfte professionell agieren können, die eigene Ar‐ beit zu optimieren, zu reflektieren und selbst‐ kritisch zu analysieren. Zentral ist dabei auch die Arbeit an und die kritische Selbstreflexion der eigenen Haltun‐ gen und Einstellungen. Dieser Aspekt ist des‐ halb wichtig, weil mit Blick auf die Hauptauf‐ gabe der Bildung in der frühen Kindheit – die Förderung benachteiligter Kinder – eine solche Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 11 Schlüsselbotschaften Was ist Bildung in der frühen Kindheit Am bekanntesten ist das Konzept «Päda‐ und wie ist ihr Status quo? gogische Qualität», das zwischen Struk‐ turqualität (Rahmenbedingungen), Pro‐ Frühkindliche Bildung ist eine der besten zessqualität (Interaktionen und kindliche Innovationen, um allen Kindern, unab‐ Erfahrungen) und Orientierungsqualität hängig von ihrer Herkunft, optimale Ent‐ (Einstellungen, Leitbilder) unterscheidet. wicklungs‐ und Fördermöglichkeiten zu bieten. Wie die Qualität der Vorschulangebote in der Schweiz ist, wissen wir nicht. Hierzu Grundbedingung frühkindlicher Bildung gibt es bislang keine breit angelegten Stu‐ sind stabile Bindungen zu primären Be‐ dien. zugspersonen und eine anregungsreiche Umgebung. Ebenso fehlen wirksame Sicherungs‐ und Steuerungssysteme. Deshalb ist es wün‐ Mit Blick auf den frühkindlichen Spracher‐ schenswert, Standards zu bestimmen, werb und eine erfolgreiche Schulvorberei‐ welche für alle Vorschulangebote als ver‐ tung fallen zu früh zu viele Kinder durch bindlich gelten. die Maschen. Dies wird oft zu spät, d.h. unmittelbar vor dem Schuleintritt, zur Wie kann die Wirkung frühkindlicher Bil‐ Kenntnis genommen. dung gesteigert werden? Deshalb sollten sozial benachteiligte Kin‐ Die Wirkung frühkindlicher Bildung kann der gleichberechtigt wie privilegierte Kin‐ in erster Linie durch die Entwicklung be‐ der von vorschulischen Angeboten Ge‐ ruflicher Handlungskompetenz des Fach‐ brauch machen können. personals gesteigert werden. Ein Hoch‐ schulabschluss garantiert noch keine Wir‐ (Wie) Wirkt frühkindliche Bildung? kung. Frühkindliche Bildung kann die Lernent‐ Das erste Ziel von Aus‐ und Weiterbildun‐ wicklung von jungen Kindern optimieren. gen im Vorschulbereich sollte deshalb auf Am deutlichsten trifft dies auf benachtei‐ das Ziel der beruflichen Handlungskompe‐ ligte Kinder zu. Frühkindliche Bildungsför‐ tenz ausgerichtet werden. derung kann ihre soziale Benachteiligung Für das pädagogische Fachpersonal beson‐ jedoch nicht aufheben, wohl jedoch ab‐ ders bedeutsam ist die Arbeit an eigenen schwächen und ihnen einen guten Schul‐ Haltungen: Kinder aus benachteiligten start ermöglichen. Familien brauchen eine andere Förderung Die Qualität des Angebots spielt eine als solche aus gut situierten Familien. wichtige Rolle. Ist diese gut, sind frühe Bil‐ Eltern‐ und Familienbildung sind gezielter dungsmassnahmen für die Gesellschaft weiterzuentwickeln. mit einer hohen Rendite verbunden. Die Kooperation zwischen Vorschulange‐ Es sollten solche Angebote finanziell un‐ boten und Schule ist verbindlich zu gestal‐ terstützt werden, welche den Nachweis ten. erbringen, dass sie wirksam sind. Welche Rolle spielt die Qualität? Die Qualität eines vorschulischen Ange‐ bots kann bis zu einem Jahr Entwicklungs‐ unterschied ausmachen. Deshalb ist ihre Feststellung, Entwicklung und Sicherung ausschlaggebend. Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 12 Wozu Bildung in der frühen Kindheit? Was wir wissen, wissen sollten und was die Politik damit anfangen kann Briefing Papers Jedes der nachfolgenden Briefing Papers behandelt einen der vier Schwerpunkte und liefert Hinweise auf entsprechende wissen‐ schaftliche Grundlagen und Quellen. Jedes Briefing Paper kann als einzelnes Handout kopiert werden. Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 13 Briefing Paper 1: Was ist frühkindliche Bildung und wie ist ihr Status quo? Die Überzeugung, dass frühkindliche Bildung nig, dass ein familienergänzendes, institutio‐ eine der besten Innovationen ist, um allen nalisiertes Bildungs‐, Betreuungs‐ und Erzie‐ Kindern unabhängig von Kultur und sozialer hungsangebot allen Kindern zugute kommt, Herkunft optimale Entwicklungsmöglichkeiten wenn es qualitativ hochstehend ist. und gute Perspektiven für ihre Schullaufbahn zu bieten, basiert auf den Erkenntnissen aus Der Status quo: eine unübersehbare Viel‐ zwanzig Jahren Forschung. falt Die Praxis institutionalisierter vorschulischer Was frühkindliche Bildung (nicht) ist Angebote ist in der Schweiz recht gut entwi‐ Kinder erwerben in den ersten Lebensjahren ckelt. Sie existieren in diverser Anzahl unter elementare Voraussetzungen und Kapazitäten unterschiedlichsten Namen, die sich in Träger‐ für den Aufbau sozialer Beziehungen und für schaft, Führung, Administration, in den Zielen, die kognitive, sprachliche und emotionale pädagogischen Konzepten und der Finanzie‐ Entwicklung. Sie werden unter dem Begriff rung stark voneinander unterscheiden. Diese «frühkindliche Bildung» subsummiert. Darun‐ Fragmentierung behindert allerdings politi‐ ter versteht man die ganzheitliche und be‐ sche Handlungsstrategien, die Kohärenz be‐ wusste Förderung des Kindes zwischen 0 und wirken könnten. 6 Jahren in emotionaler, sozialer, motorischer, Gemeinsam ist den Angeboten hingegen, dass physischer, sprachlicher, mathematischer und sie mehrheitlich – aber mit Ausnahmen – als kognitiver Hinsicht. Diese Förderung findet in Betreuungsangebote konzipiert sind und den der Familie genauso wie in institutionellen An‐ Gedanken frühkindlicher Bildungsförderung geboten statt. eher vernachlässigen. Für auffallend viele pri‐ Nicht gemeint ist mit frühkindlicher Bildung vate Angebote trifft dies allerdings nicht zu. die Umwandlung von Krippen und Kinder‐ Diese Situation erscheint insofern als proble‐ tageseinrichtungen in „Vor‐Schulen“ matisch, als dass sie den Matthäus‐Effekt – wer hat, dem wird gegeben – weiter stärkt. die Vermittlung von „Schulwissen“ Denn Kinder aus gut situierten und anregungs‐ die Vorverlegung des Schuleintritts reichen Familien, besuchen häufig private An‐ Frühkindliche Bildungsförderung bildet die gebote mit früher und intensiver Bildungsför‐ Grundlage für den Aufbau von Wissen und Fä‐ derung. Benachteiligt aufwachsende Kinder higkeiten, ein über den gesamten Lebenslauf jedoch, welche eine bildungsorientierte För‐ hinweg dauernder dynamischer und kumulati‐ derung am nötigsten hätten, wachsen vielfach ver Prozess. Einmal erworbene Kompetenzen ausschliesslich zu Hause in anregungsarmen bilden das Fundament für die Aneignung neu‐ Umgebungen auf. er Kenntnisse. So sind beispielsweise früh ge‐ Nimmt man die zahlreichen Eltern‐ und Fami‐ wonnene Neugier und Motivation die Grund‐ lienbildungsangebote in den Blick, ergibt sich lage für den Aufbau von Fähigkeiten wie ein ähnliches Bild. So existiert eine grosse An‐ Selbstkontrolle zahl von Sonderprogrammen, die neueren Er‐ Selbstvertrauen kenntnissen und Akzentsetzungen in der Fa‐ Durchhaltevermögen milienbildung, vor allem der Suche nach neu‐ Motivation en Zugangswegen zu Familien, zum besseren Durchbruch verhelfen wollen. Wichtige Pro‐ Grundbedingungen dafür sind stabile Bindun‐ jekte so genannter aufsuchender Elternbil‐ gen zu primären Bezugspersonen und eine an‐ dung sind das präventive Spiel‐ und Förder‐ regungsreiche Umgebung. Diese Bedingungen programm «Opstapje‐schritt:weise», das in können innerhalb und ausserhalb der Familie der Schweiz an mehreren Orten zum Einsatz erfüllt werden. Die Forschung ist sich dabei ei‐ gelangt. Dieses Projekt arbeitet mit häuslichen Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 14 Spiel‐ und Lernprogrammen für Kleinkinder, den vor allem diejenigen Familien kein fami‐ angeleitet durch Frauen mit ähnlichem sozia‐ lienergänzendes Angebot erhalten, deren Kin‐ lem Hintergrund wie die benachteiligten Fa‐ der eine Förderung am besten gebrauchen milien. Mit ihm soll es gelingen, sozial benach‐ können. teiligte und bildungsferne Familien für Ange‐ bote der Eltern‐ und Familienbildung zu ge‐ Fazit für die Politik winnen. Auch das Programm HIPPY ist ähnlich Es zeigt sich, dass die Schweiz über ein eher konzipiert, wird aber zurzeit leider in der zufällig entstandenes Angebot an familiener‐ Schweiz nur an einem einzigen Standort ange‐ gänzenden vorschulischen Bildungs‐, Betreu‐ boten. ungs‐ und Erziehungsangeboten verfügt. Je nachdem, wo eine Familie wohnt, hat sie Migrantenkinder als grosse Herausforde‐ mehr oder weniger Chancen, von institutiona‐ rung lisierten Angeboten Gebrauch machen zu Die vielleicht grösste Herausforderung an un‐ können. Diese Situation und die Tatsache, ser Vorschulsystem sind Kinder mit Migrati‐ dass sich Vorschulkinder in ihren Kompeten‐ onshintergrund. Dabei handelt es sich um die zen und Entwicklungsständen stark unter‐ am schnellsten wachsende Kindergruppe mit scheiden, tragen dazu bei, dass die Art und schwierig auszugleichenden Defiziten. Ihre El‐ Weise, wie die Kinder von der Vorschulzeit tern haben oft hohe Bildungserwartungen, profitieren können, sehr unterschiedlich ist. aber geringe Kenntnisse unseres Bildungssys‐ Aufgrund des knappen Angebots sind Kinder tems. Dies trifft vor allem für diejenigen zu, aus linguistisch und kulturell unterschiedli‐ welche selbst über wenige Schuljahre verfü‐ chen Familien im Hinblick auf ihre frühe sozi‐ gen und eingeschränkte Deutschfähigkeiten ale und sprachliche Integration besonders be‐ haben. Diese Kinder haben eine zwei‐ bis nachteiligt. viermal grössere Wahrscheinlichkeit als ein‐ Einige Kinder, die es am nötigsten hätten, be‐ heimische und/oder gut situierte Migranten‐ suchen gar keine Angebote. Andere besuchen kinder, in Armut und Benachteiligung aufzu‐ solche, die keinen Bildungs‐, sondern nur Be‐ wachsen. treuungscharakter haben. Besonderer Anlass zur Sorge geben die unter‐ Mit Blick auf den frühkindlichen Spracherwerb schiedlichen Quoten von Kindern mit und oh‐ und eine erfolgreiche Schulvorbereitung fallen ne Migrationshintergrund, welche ein Vor‐ zu früh zu viele Kinder mit Migrationshinter‐ schulangebot besuchen. Denn die Beteili‐ grund durch die Maschen. Dies wird oft zu gungsquote bei den unter Dreijährigen mit spät, d.h. unmittelbar vor dem Schuleintritt, Migrationshintergrund liegt deutlich unterhalb zur Kenntnis genommen. des Anteils der Kinder ohne Migrationshinter‐ grund. Diese Tatsache wiegt umso mehr, als Es sollte deshalb alles daran gesetzt werden, erstens ein gutes Drittel dieser Kinder zu Hau‐ dass sozial benachteiligte Kinder gleichberech‐ se kein Deutsch spricht und zweitens, als mehr tigt wie privilegierte Kinder von vorschulischen als die Hälfte der Kinder eine Einrichtung be‐ Angeboten Gebrauch machen können. suchen, in der die meisten Kinder zu Hause Empfehlung 1 ebenfalls kein Deutsch sprechen. Aus den Erfahrungen in Deutschland wissen Weiterführende Literatur wir, dass für benachteiligte Familien erst das Angebot die Nachfrage schafft. Solange bei‐ Stamm, M. et al. (2009). Frühkindliche Bildung spielsweise die Angebote knapp sind, profitie‐ in der Schweiz. Eine Grundlagenstudie im Auf‐ ren vor allem eher privilegierte und bildungs‐ trag der UNESCO‐Kommission Schweiz. Fri‐ nahe Familien, währenddem diejenigen Eltern bourg: Departement Erziehungswissenschaf‐ das Nachsehen haben, die das Bildungssystem ten. nicht gut kennen und sich auch nicht speziell um einen Platz bemühen. Infolgedessen wer‐ Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 15 Briefing Paper 2: (Wie) Wirkt frühkindliche Bildung? Die Frage des Einflusses institutioneller Diese Befunde sind in den wenigen deutsch‐ Vorschulangebote wird kontrovers diskutiert. sprachigen Studien (IGLU; SOEP‐Daten3) repli‐ Wissenschaftlich gilt jedoch als unbestritten, ziert worden, sodass sie als allgemein gültig dass sie die Entwicklung junger Kinder gelten können. anregen, unterstützen und optimieren können. Inwiefern alle Kinder von einem Auswirkungen auf die Berufstätigkeit der solchen Angebot profitieren, ist jedoch Eltern ungesichert. Sicher ist hingegen, dass die Vorschulangebote fördern auch die Erhöhung Qualität des Angebots, der Zeitpunkt, ab der Erwerbstätigkeit der Familie. Verschie‐ welchem dieses besucht wird und die dene Studien nehmen an, dass ein ausrei‐ Intensität, mit der dies geschieht, eine nicht zu chendes Betreuungsangebot dazu beitragen unterschätzende Rolle spielen. kann, den Lohnabstand von Frauen gegenüber Männern zu senken, weil dadurch die Er‐ Kurz‐ und langfristige Auswirkungen werbsunterbrechungen kürzer ausfallen. Diese Obwohl die Erwartungen und Hoffnungen an sind bekanntlich ein wichtiger Grund für die frühkindliche Förderung sehr hoch sind, lassen Lohnunterschiede zwischen den Geschlech‐ sich kaum eindeutige Beweise finden, welche tern. Gleichzeitig wird damit auch ein Beitrag ihre Wirksamkeit bestätigen. Dies liegt daran, zur Reduktion der Kinderarmut geleistet, denn dass die empirische Datenlage in der Schweiz die Erwerbstätigkeit der Eltern ist ein guter und auch im deutschsprachigen Raum rudi‐ Schutz dagegen. mentär ist und Nachweise zur Wirksamkeit Andererseits kommen verschiedene Untersu‐ ausstehen. Dies gilt insbesondere auch für chungen zum Schluss, dass das aktuell be‐ Sprachförderprogramme. Bezieht man die zur schränkte Angebot die Nutzung qualitativ un‐ Verfügung stehenden internationalen Ergeb‐ genügender Angebote geradezu fördert und nisse ein, so lässt sich folgendes Fazit ziehen: damit eine gute kindliche Entwicklung gefähr‐ Die als qualitativ hochstehend bezeichneten det wird. Dazu ist allerdings zu vermerken, Modellprogramme aus den USA (wie etwa das dass es bei der Wirkung von nicht‐mütterli‐ Carolina Abecedarian Project, das High/Scope cher Betreuung junger Kinder darauf an‐ Perry Preschool Program sowie das Chicago kommt, in welchem Alter und mit welcher In‐ Child‐Parent Program) zeigen bedeutsame tensität institutionalisierte Betreuung einsetzt, Auswirkungen auf benachteiligte Kinder. Kurz‐ wie die Betreuungsqualität ist, wie die Eltern fristeffekte manifestieren sich in erster Linie in mit dieser Situation umgehen und welche Be‐ besseren Schulleistungen, höherem Schulen‐ ziehung zu der Betreuungsinstitution aufge‐ gagement, geringerem sonderpädagogischem baut werden kann. Förderbedarf und niedrigeren Klas‐ senwiederholungsraten, Langfristeffekte im Wer profitiert am meisten und weshalb? Erwachsenenalter in reduzierter Schuldistanz, vermehrten Bildungsabschlüssen, geringer Wenn die Forschung zwar belegt, dass sich der Drogenkonsum und Kriminalität. Besuch einer vorschulischen Einrichtung auf benachteiligte Kinder besonders positiv aus‐ Andere, eher als qualitativ durchschnittlich wirken kann, dann bedeutet dies nicht, dass geltende Programme haben eher marginale die Bereitstellung eines Angebots allein schon Auswirkungen auf die Lernentwicklung und kompensatorisch wirkt. Wichtig ist der gleich‐ einige auch tendenziell negative Wirkungen wertige Fokus auf bildungsrelevante und die auf die soziale Entwicklung. Solche Negativef‐ Sozialkompetenz unterstützende Prozesse. fekte können über die Jahre hinweg zuneh‐ Dazu gehören gezielte sprachliche Förderung, men oder sich gar nicht manifestieren, je die Unterstützung des Sozialverhaltens nachdem, ob Kinder qualitativ hochstehende Angebote besuchen. 3 IGLU = Internationale Grundschul‐Lese‐Untersuchung; SOEP = Sozioökonomisches Panel) Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 16 (Selbstständigkeit, Konzentration und Koope‐ ungünstigere kognitive Entwicklung als aus‐ ration) sowie die Unterstützung von sprachli‐ schliesslich durch die Familie betreute Kinder. chen und mathematischen Vorläuferfähigkei‐ Einige Studien weisen sogar einen intellektu‐ ten. ellen Gewinn krippenbetreuter Kinder bei Schuleintritt nach, doch scheint er im Verlaufe Ferner spielt die Dauer des Besuchs eines vor‐ der Schulzeit wieder verloren zu gehen. In Be‐ schulischen Angebots eine wichtige Rolle. Für zug auf die soziale Entwicklung, insbesondere benachteiligte Kinder hat sich gezeigt, dass der Aggression, ergeben sich allerdings einige der Besuch einer vorschulischen Einrichtung Hinweise auf tendenzielle Probleme. Insge‐ sich ab drei Jahren positiv auf die kognitive samt scheint eine längere Besuchsdauer mit Entwicklung insofern auswirkt, als dass sie bei erhöhten Verhaltensproblemen einhergehen Schuleintritt eine bessere Schulvorbereitung zu können. Diese Effekte sind aber sehr nied‐ zeigen (in Bezug auf die sprachlichen und ma‐ rig und es dürfte nur eine kleine Gruppe von thematischen Vorläuferfähigkeiten, die Selbst‐ Kindern davon betroffen sein. ständigkeit, die Konzentrationsfähigkeit und das Sozialverhalten). Keinen Unterschied Ökonomische Effekte frühkindlicher Bil‐ macht jedoch die Intensität: Kinder, welche ein Ganztagsangebot besuchen, zeigen keine dung besseren Entwicklungsergebnisse als solche in Die schweizerische Volkswirtschaft wird in den Halbtagsangeboten. nächsten Jahren zunehmend vor der Heraus‐ Zwar können vorschulische Angebote, welche forderung stehen, Wachstum und Gerechtig‐ die kognitive und sozial‐emotionale Entwick‐ keit zu optimieren. Die Forschung geht einhel‐ lung gleichermassen fördern, die soziale Be‐ lig davon aus, dass eine frühkindliche Bil‐ nachteiligung nicht aufheben, wohl jedoch ab‐ dungsförderung dazu einen Beitrag leisten schwächen und Kindern einen besseren Schul‐ kann. start ermöglichen. Entscheidend ist dabei Hierzu liegen inzwischen viele Kosten‐Nutzen‐ nicht der Sozialstatus, sondern das häusliche Analysen vor. Die wichtigsten stammen aus Umfeld. Wie sich Eltern mit dem Kind beschäf‐ dem bereits erwähnten Vorzeigeprojekt tigen und welche emotionale Beziehung sie zu «High/Scope‐Perry Preschool»4. Seit es Anfang ihm haben ist somit wichtiger, als was sie sind. der sechziger Jahre in Michigan lief, wurde Denn das Kleinkind kann nicht unmittelbar von immer wieder analysiert, wie sich die gut 120 besseren materiellen Ressourcen profitieren, afroamerikanischen Teilnehmer bis heute ent‐ sondern in erster Linie von der Verfügbarkeit wickelt haben. Die Ergebnisse sind eindrück‐ höherwertiger emotionaler Ressourcen. lich. Sie verdienen mehr Geld, sind seltener krank, begehen weniger Straftaten und hän‐ Kann frühe familienergänzende gen seltener von staatlichen Sozialleistungen Förderung zu Verhaltensauffälligkeiten ab als eine Vergleichsgruppe. Rund 20 Pro‐ führen? zentpunkte betragen die Unterschiede. Diese Vorteile haben auch die Kinder der Teilneh‐ Ob ein Kind, das ein institutionalisiertes Vor‐ mer. Die Rendite des Geldes, das für das Pro‐ schulangebot besucht eine unsichere Bindung gramm aufgewendet wurde, wird auf rund an seine Eltern entwickelt und sich deshalb 16% geschätzt, 4% für die Teilnehmer und 12% später schlechter als ein ausschliesslich von für die Gesellschaft. Die wichtigsten Quellen der Mutter betreutes Kind in Schule und Ge‐ der ökonomischen Nutzung sind reduzierte sellschaft integrieren kann, muss mit ‚in der Beschulungskosten (als ein Ergebnis reduzier‐ Tendenz: nein’ beantwortet werden. Kleinkin‐ ter Klassenwiederholungen und Sonderbe‐ der entwickeln sich durch zeitlich beschränkte schulungen) und Reduktionen in den Aufwen‐ familienergänzende Betreuungsverhältnisse dungen für die Bekämpfung kriminellen und oder nicht per se nachteiliger als wenn sie vorwiegend von der Mutter, vom Vater oder von einer anderen relevanten Bindungsperson 4 Der High/Scope‐Ansatz fand viele Nachahmer in Form von betreut werden. Solche Kinder zeigen weder Elterninitiativen und Kindergärten. High/Scope ist heute ein zwangsläufig schlechtere Bindungen noch eine eingetragener Verein in den USA. Seine Zielsetzung lautet, Kinder aus allen Schichten zu fördern. Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 17 delinquenten Verhaltens sowie teilweise auch das schulische Lernen entwicklungsförderlich tiefere Gesundheitskosten. seien. Sicher gilt dieser Weg der gezielten Sprachförderung als erfolgversprechend. Lei‐ Für die Schweiz liegen ebenfalls ein paar Stu‐ der sind aktuell die Möglichkeiten zu wenig dien vor (vgl. zusammenfassend Stamm et al., bekannt, wie wirksame kompensatorische 2009). Das Verhältnis zwischen Investition und Sprachförderung aussehen kann. Dies deshalb, Ertrag liegt in allen Studien je nach Berech‐ weil wenig Evaluationen zu deren Wirksamkeit nung zwischen 1:3.5 respektive 1:4.5. Das be‐ vorliegen und somit kaum empirische Beweise deutet, dass jeder Franken, der in eine Kinder‐ zur Wirksamkeitsförderung herangezogen tagesstätte investiert wird, volkswirtschaftlich werden können. gesehen vier Franken an Nutzen abwirft. Welche Ziele mit welchen sprachlichen För‐ Vielfach werden aus dem High/Scope Perry dermassnahmen bei migrationsbenachteilig‐ Preschool Projekt unmittelbare Schlüsse gezo‐ ten Kindern besonders förderlich sind, wissen gen. Das ist nicht ganz richtig, denn: das Pro‐ wir folgedessen kaum. Die – vor allem interna‐ gramm ist für die Erfahrungen heutiger Kinder tional vorliegenden – Ergebnisse sind zumin‐ kaum typisch, war es doch ausschliesslich auf dest sehr gespalten. Anderseits gibt es doch sehr arme und meist schwarze Kinder und ihre ein paar Evaluationen zur Erweiterung des Eltern ausgerichtet. Zudem war das Programm Wortschatzes, der phonologischen Bewusst‐ intensiver und teurer als alle heutigen Ange‐ heit und zur Förderung früher mathematischer bote. Ferner waren die Fachleute sehr gut be‐ Kompetenzen, die erfolgversprechend sind. zahlt, hoch qualifiziert und bekamen eine Während Wortschatzförderung bisher kaum strenge Supervision. Trotz dieser Einschrän‐ Wirksamkeitsnachweise liefern konnte, sind kungen verweist das High/Scope Perry Pre‐ Befunde zur Förderung der phonologischen school‐Programm auf die Standards, welche Bewusstheit (als der Fähigkeit, die Lautstruk‐ den Erfolg der Angebote für benachteiligte tur einer Sprache zu analysieren) und zur För‐ Kinder im Wesentlichen ausmachen dürften. derung mathematischer Kompetenzen zuver‐ lässig. Sprachförderprojekte und ihre Wirkun‐ gen Ferner zeigen verschiedene Untersuchungen, dass sprachfördernde Massnahmen vor allem Überblickt man den Status quo in der Schweiz dann unterstützend sind, wenn sie mit Pro‐ – und auch im deutschsprachigen Raum – so grammen kombiniert werden, die mittels ei‐ fällt auf, dass Sprachprojekte bisher am häu‐ ner aufsuchenden «Geh‐Struktur» die Familie figsten umgesetzt worden sind. Diese Tatsa‐ umfassend einbeziehen. che ist eine Folge der Erkenntnis, dass der Sprachförderung von Kindern mit Migrations‐ Die Problematik des vermessenen und hintergrund eine zentrale Bedeutung in den therapierten Kindes ersten Lebensjahren zukommt. Dies deshalb, weil in vorschulischen Angeboten jene Kinder Grundlage der Sprachförderung bilden sehr erreicht werden können, die zu Hause kaum häufig so genannte Sprachstandsfeststellun‐ oder gar kein Deutsch sprechen. Gemeinden gen. Sie sind grundsätzlich notwendig, will und Kantone tragen hier eine besondere Ver‐ man die Sprachförderung an den jeweiligen antwortung. Entwicklungsstand des einzelnen Kindes adap‐ tieren. Heute gibt es viele solcher Verfahren Schweizer Kinder oder solche mit deutscher mit anschliessender Tiefendiagnostik, die Muttersprache kommen mehrheitlich (d.h. zu dann vorbildlich sind, wenn sie theoretisch mehr als 2/3) mit sprachlichen Kompetenzen begründet, empirisch validiert und normiert zur Schule, welche von den Lehrkräften als sind. Mit relativ hoher Sicherheit lassen sich ausreichend taxiert werden. Kinder aus bil‐ auf diese Weise Kinder identifizieren, die al‐ dungsfernen Familien oder anderen Kulturen tersmässig auffällig schlechte Vorläuferfähig‐ werden jedoch meist als sprachlich unterent‐ keiten zeigen. wickelt bezeichnet. Als Konsequenz wird ge‐ fordert, dass Kompetenzen aufgebaut werden Leider hat diese Entwicklung zu einer Heer‐ müssten, welche schulvorbereitend und für schar an Instrumenten zur Sprachstandsfest‐ Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 18 stellung geführt, die vor allem den Nachweis derprogramme: Notwendig ist auch ein Blick liefern, dass Kinder «Therapiebedarf» haben. auf die beruflichen Handlungskompetenzen So wird beispielsweise kaum unterschieden, des Personals. ob ein Kind lediglich einen Entwicklungsrück‐ stand hat und deshalb einer temporären För‐ Fazit für die Politik derung bedarf oder ob es sich um eine Stö‐ Weil die Forschung nachweist, dass die Wir‐ rung handelt, welche eine Therapie erforder‐ kungen frühkindlicher Angebote sehr unter‐ lich macht. Diese mangelnde Differenzierung schiedlich sind, wir jedoch kaum über Er‐ dürfte zumindest einer der Gründe sein, wes‐ kenntnisse verfügen, welche Angebote wie halb heute so viele Vorschulkinder als «thera‐ wirken, müssen wir annehmen, dass ein nicht piebedürftig» etikettiert werden. In der kleiner Teil der derzeit angebotenen Pro‐ Schweiz werden etwa 15% der Kinder als sol‐ gramme relativ wirkungslos ist. Wir müssen che mit «Sprachentwicklungsauffälligkeiten» somit davon ausgehen, dass zu wenige Kinder und ca. 20% mit «Sprachentwicklungsproble‐ in den Genuss qualitativ hochstehender Ange‐ men» taxiert. Obwohl eigentlich erstere ledig‐ bote kommen. lich einer gezielten Förderung bedürften, wer‐ den auch sie einer Therapie zugeführt, die je‐ Diese Tatsache kann nicht dadurch gelöst doch den eigentlichen kindlichen Bedürfnissen werden, dass mehr öffentliche Mittel gespro‐ nicht entsprechen. Hierin liegt eine ganz be‐ chen werden. Werden Angebote finanziell un‐ sondere Problematik: diejenige des vermesse‐ terstützt, die kaum wirksam sind, dann sind nen und therapierten Kindes. Gemeint ist da‐ nicht nur bedeutsame Verbesserungen un‐ mit, dass zwar berechtigterweise heute mit al‐ wahrscheinlich, sondern die Chance auch len Kindern Sprachstandserhebungen, Sprach‐ gross, dass noch mehr Kinder wenig profitie‐ tests und Screenings durchgeführt werden, je‐ ren. doch zu wenig zwischen Förder‐ und Thera‐ Aus solchen Gründen sollten nur solche Ver‐ piebedarf differenziert wird. fahren finanziell unterstützt werden, die den Ein zweites Phänomen kommt dazu: Trotz des Nachweis erbringen, dass sie wirksam sind. enormen Aufwands an Sprachstandserhebun‐ Verfahren zur Feststellung des Sprachstandes gen und diagnostizierter Therapiebedürftigkeit sollten zudem den Nachweis bringen, dass ihr wissen wir eigentlich kaum etwas darüber, tatsächlich eine angemessene Sprachförde‐ was im Alltag des besuchten Vorschulange‐ rung folgt, die dann auch zu einem Abbau bots tatsächlich läuft, d.h. wie die deutsche sprachlicher Defizite in angemessener Zeit Sprache gebraucht und gelebt wird und – vor führt. Sprachstandsfeststellungen dürfen nie allem auch – wie das pädagogische Fachper‐ Selbstzweck sein. sonal als Vorbild wirkt und die Kinder zur Empfehlung 2 und 7 sprachlichen Aneignung befähigt. Unter diesem Aspekt wird deutlich, dass auch Weiterführende Literatur eine systematische Sprachstandsfeststellung noch keine genügende Antwort auf die Forde‐ Betz, T. (2010). Kompensation ungleicher rung 'Bildung von Anfang an' liefert. Will man Startchancen. In P. Cloos & B. Karner (Hrsg.), junge benachteiligte Kindern so fördern, dass Erziehung und Bildung von Kindern als ge‐ ihre Nachteile bis zum Schuleintritt minimiert meinsames Projekt (S. 113‐136). Hohengeh‐ werden können, dann braucht es mehr als ren: Schneider. Sprachstandsfeststellungen und Sprachför‐ . Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
Seite 19 Briefing Paper 3: Welche Rolle spielt die Qualität? Wenn immer mehr Kinder vor Schuleintritt in hat zur Folge, dass die Kinder institutionell immer früherem Alter und für eine zuneh‐ weniger gut gefördert werden als zu Hau‐ mend längere Zeit während des Tages ein Vor‐ se. Diese Situation kann sich in Verhal‐ schulangebot besuchen, dann interessiert tens‐ und anderen Problemen äussern. nicht nur, dass ihnen solche Angebote zur Ver‐ Ist sowohl die Qualität des familiären Um‐ fügung gestellt werden, sondern ebenso, wie feldes ungünstig als auch diejenige des diese Angebote beschaffen sind. Aus‐ besuchten Angebots, ergibt sich ein ‚dop‐ schlaggebend ist somit die pädagogische Qua‐ peltes Risiko’. Dies deshalb, weil die nega‐ lität, ihre Feststellung, ihre Entwicklung und tiven Auswirkungen familialer Risikofakto‐ ihre Sicherung. Aus der Forschung in Deutsch‐ ren durch eine nicht adäquate institutio‐ land wissen wir beispielsweise, dass die Quali‐ nelle Qualität verstärkt werden. tät eines Kindergartens bis zu einem Jahr Ent‐ wicklungsunterschied ausmachen kann und Diese drei Beispiele verdeutlichen, dass die dass die Qualität Langzeitauswirkungen hat, Qualität familiärer Betreuung, Bildung und Er‐ die sich in Schulleistungs‐ und Entwicklungs‐ ziehung immer in einer Wechselwirkung mit unterschieden am Ende der zweiten Klasse der institutionellen Förderqualität stehen und zeigt. Wie bereits im vorangehenden Kapitel die Auswirkungen auf das Kind auch nur unter gezeigt worden ist, gehen amerikanische Un‐ diesem Blickwinkel beurteilt werden können. tersuchungen weiter. Sie zeigen, dass qualita‐ Dieses Verhältnis ist entscheidend daran be‐ tiv hochstehende Vorschulangebote, die be‐ teiligt, ob negative kindliche Erfahrungen nachteiligten Kindern und ihren Familien zur durch familienergänzende Angebote abge‐ Verfügung gestellt werden, positive Auswir‐ puffert oder intensiviert und solche positiver kungen bis ins Erwachsenenalter haben. Quali‐ Art abgeschwächt oder verstärkt werden. tät kann somit erhebliche Unterschiede im Entwicklungsstand der Kinder zur Folge haben. Was ist ein gutes Vorschulangebot? Nur: Was ist ein gutes Vorschulangebot? Diese Das Wechselspiel von häuslicher und in‐ Frage ist alles andere als einfach zu beantwor‐ stitutioneller Qualität ten. Ist es eines, das den Kindern hilft, ihre Fä‐ Einleuchtend ist, dass Vorschulangebote dort higkeiten zu entwickeln und sie optimal auf kompensatorisch wirken können, wo subop‐ den Schuleintritt vorzubereiten? Ist es eines, timale familiäre Bedingungen bestehen. Sind welche die Familie unterstützt, damit Mütter diese jedoch optimal oder zumindest ent‐ und Väter ihre Erwerbsarbeit und Familienar‐ wicklungsadäquat, muss dies nicht zwingend beit verbinden können? Oder ist es eines, das der Fall sein. Anzunehmen ist demnach, dass den Sinn für Respekt für andere stärkt und so‐ die Wirksamkeit eines Angebots vom Unter‐ ziale Integration lehrt? Oder ist es eines, wel‐ schied zwischen seiner Qualität und derjeni‐ ches das Humanvermögen mehrt, damit unse‐ gen der häuslichen Umgebung abhängig ist. rer Gesellschaft Steuergelder zurückfliessen? Dieser Unterschied kann positiver oder nega‐ Sicher ist, dass sich diese Ziele gegenseitig tiver Art sein: nicht ausschliessen. Aber wie lassen sie sich miteinander verbinden? Ist die Angebotsqualität besser als die des häuslichen Umfeldes, dann ergibt sich ein Solche Fragen und auch die, wie man denn die positiver Unterschied. Eine hohe Ange‐ Qualität (in) der Frühkindlichen Bildung mes‐ botsqualität kann somit die möglicher‐ sen kann, werden hierzulande noch kaum dis‐ weise negativen Auswirkungen familiärer kutiert und haben keine Basis. Zwar boomt Einflussmerkmale kompensieren. der Begriff, aber insgesamt stehen wir noch am Anfang. Haben Kinder zu Hause förderlichere Ent‐ wicklungsbedingungen als im vorschuli‐ schen Angebot, so ergibt sich ein negativ gefärbter Unterschied. Dieser Unterschied Wozu Bildung in der frühen Kindheit?
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