www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin

Die Seite wird erstellt Hauke Erdmann
 
WEITER LESEN
www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin
Herausgegeben von der IG Kultur Aargau   Sept 20 Aargauer Kulturmagazin

                                                                               www.aaku.ch
                                                                              September 2020
                                                                                   Nr. 38

                                                                             ANIMATIONSFILM

                                                                            Mutig, gerecht, be­
                                                                          son­nen: Das Fantoche
                                                                           lädt auf ein Treffen
                                                                            mit Heldinnen ein

                                                                            KREATIVER FREIRAUM

                                                                          Brachen sind wichtig
                                                                           fürs Kunst­schaffen.
                                                                             Eine Kritik am
                                                                             Renditedenken

                                                                           AARGAUER KUNSTHAUS

                                                                           Die neue Direktorin
                                                                           Katharina Ammann
                                                                          über die künftige Aus-
                                                                           richtung des Hauses
www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin
ODEON BRUGG
das Kulturhaus beim Bahnhof
                                                                                                    Heidi    Widmer
                                                                                                       Bilder und Zeichnungen
                                                             BAR
                                                             Montag 14 – 23 Uhr                     aus einem halben Jahrhundert.
CINEMA                          BÜHNE                        Di – Do 11.30 – 23 Uhr
Info 056 450 35 65              Vorverkauf                   Freitag 11.30 – 24 Uhr
Tickets                         Mo – Fr ab 14 Uhr            Samstag 17.30 – 24 Uhr
odeon-brugg.ch                  Sa/So ab 10 Uhr              Sonntag 17.30 – 22 Uhr

CINEMA                                                       BÜHNE
FREITAG 4. SEPT. 19 UHR                                      FREITAG 11. SEPT. 20.15 UHR
CH 2019 90 Min. Dialekt/d ab 6 J. Regie: Thomas Horat        DIENER & BACHMANN
DIE RÜCKKEHR DER WÖLFE                                       DIE ABENTEUER DES DON
Der Wolf erobert nach längerer                               CHILISCHOTE
Abwesenheit durch Ausrottung seine                           Der Slam Poet und der Cellist
alte Heimat Schweiz zurück.                                  erzählen vom Abenteuer des Lebens,
                                                             vom heldenhaften Kampf für eine
                                                             bessere Welt und gegen die bösen
                                                             Geister der Quarter-Life-Krise, von
                                                             der Suche nach dem Sinn des Lebens
                                                             und der wahren Liebe

                                                             DONNERSTAG 17. SEPT. 20.15 UHR
                                                             MARIE UND ROBERT
                                                             Zum 100-jährigen Todestag des
SONNTAG 13. SEPT. 11 UHR                                     Aargauer Autors Paul Haller aus Rein
PAUL NIZON: DER NAGEL IM KOPF                                bei Brugg gastiert das Theater Marie
CH 2020 90 Min. O/df ab 12 J. Regie: Christoph Kühn          mit seinem Live-Hörspiel im Salzhaus
Wortgewandt und voller Humor                                 Brugg.
gewährt Paul Nizon einen Einblick in
seine Biografie und in sein Schaffen.

MITTWOCH 16. SEPT. 17 UHR
      ODEONKINOREIF?                                                                                     Ausstellung
GENTLEMEN PREFER BLONDES                                                                                 im ehemaligen Werkhofgebäude
USA 1953 91 Min. E/d ab 12 J. Regie: Howard Hawks
Marilyn Monroes Glanzauftritt mit                                                                        Bleichi Wohlen
«Diamonds are a Girl’s Best Friend»                                                                      30. August bis 27. September 2020
bleibt unvergessen.                                          FREITAG 18. SEPT. 20.15 UHR
                                                             KIERAN GOSS & ANNIE KINSELLA                           Öffnungszeiten
                                                             Die Musik des irischen Singer-Song-                    Mi bis Fr 17.00 bis 20.00 Uhr
                                                             writers Kieran Goss und der Sängerin                   Sa und So 11.00 bis 18.00 Uhr
                                                             Annie Kinsella kommt direkt aus dem
                                                             Herzen und geht direkt ins Herz. Ein              Vernissage
                                                             Konzert, das Sie zum Lachen und                   Sonntag 30. August 2020, 11.00 Uhr
                                                             zum Weinen bringen wird.
                                                                                                    Anlässe    06.09. 11.00 Uhr
                                                             SONNTAG 20. SEPT. 11 UHR                          Ernst Halter, Schriftsteller,
MITTWOCH 22. SEPT. 18 UHR                                                    KINDER                            spricht zum zeichnerischen Werk
      CAMPUSCINEMA                                           DIE CHLY HÄX
CONTRADICT                                                   Die Tösstaler Marionetten präsen-
                                                                                                                    10.09. 19.00 Uhr
                                                             tieren ein heiteres Figurentheater
CH 2019 90 Min. O/df ab 12 J.
                                                                                                                    Ulrike Büchs, Seelsorgerin in
Regie: Peter Guyer und Thomas Burkhalter                     nach dem gleichnamigen Kinder-
Zwei Jungs sammeln in Ghanas                                 buchklassiker von Otfried Preussler.                   der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich
Hauptstadt Accra Spenden für das                                                                                    führt durch die Ausstellung
arme Amerika. Ist das ein blosser
Spass oder eine Vision über umge-                                                                        13.09. 14.00 Uhr
kehrte Kräfteverhältnisse?                                                                               Regula Gerber, Lehrperson für Bildnerisches Gestalten,
                                                                                                         begleitet auf einem Kunstspaziergang durch
MITTWOCH 30. SEPT. 20.15 UHR                                                                             die Ausstellung, ins Stille Museum und ins Atelier
       CAMPUSCINEMA                                                                                      der Künstlerin
THE EMPIRE OF RED GOLD
F 2018 54 Min. O/d ab 12 Jahren Regie: Jean-Baptiste Malet                                                          16.09. 19.00 Uhr
Entdecken Sie vom ersten Ketchup                             FREITAG 25. SEPT. 20.15 UHR                            Mona Hasler liest aus den Tagebüchern
1897 an die verrückte Geschichte                             CLAIRE ALLEENE                                         von Heidi Widmer,
der Tomate, Ikone der heutigen                               AUS LAUTER LEBENSLUST                                  musikalisch ergänzt durch Lissa Prim
Globalisierung.                                              Sturmfrei für Claire! Sie singt und
                                                             schnabuliert frei nach Berliner                              20.09. 11.00 Uhr
                                                             Schnauze, purzelt von Augenblick zu                          Dr. phil. Heike Scheel, Kunsthistorikerin
                                                             Augenblick, verliert den Faden, aber                         führt durch die Ausstellung
                                                             nie sich selbst.
                                                                                                         Alle Anlässe sind öffentlich und ohne Eintritt.

                                                                                                                          www.heidiwidmer.ch
www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin
Herausgegeben von der IG Kultur Aargau                             Sept 20 Aargauer Kulturmagazin                     Editorial

                                         Ins Alltags­
                                         abenteuer, ihr
               Michael Hunziker
                                         Held*innen!
                   Redaktionsleiter
         michael.hunziker@aaku.ch        Das diesjährige Animationsfilmfestival Fantoche lädt uns mit seinem Thema «Held­in-
                                         nen» ein, über eine bessere Welt nachzudenken. Schliesslich arbeiten Heldinnen an
                                         nichts Geringerem als an der Veränderung des Status quo, und zwar Richtung Glück,
                                         Frieden und Gerechtigkeit – NIE in die Gegenrichtung (Eigennutz, Leid und Ungleich-
                                         heit)!

                                         Die animierten, bunten Welten mit den offenen Möglichkeiten erinnern uns an die
                                         eigene Kindheit mit ihren Tag- und Nachtträumen. An Abenteuerspiele und Mut­
                                         proben, die wir beinahe täglich durchlebten. Die Normalität mit ihren Regeln war da-
                                         mals ja zwar da, fix in der Erwachsenenwelt, für uns – sind wir ehrlich – war diese aber
                                         häufig bloss Aushandlungssache und mit Tricks, kindlicher Schlauheit und Fantasie
                                         war es möglich, sie auszuhebeln oder gar mitzuprägen.

                                         Als Erwachsener darf man sich ruhig eingestehen, in diese offene und fluide Welt
                                         einzutauchen – gerade das Fantoche mahnt mit freundlicher Kontinuität daran – und
                                         etwas von den versunkenen Schätzen der Kindheit wieder hervorzuholen. Denn
                                         schnell und bequem ist vergessen, dass wir auch heute held*innenhaft etwas bewir-
                                         ken können. Am Prinzip hat sich ja nichts geändert, die gesellschaftliche Wirklichkeit
                                         ist damals wie heute Resultat von … ach hochkomplexen Zusammenhängen und ein
                                         paar Schwergewichten mit teilweise zweifelhaften Intentionen. Mit ein wenig List und
                                         Courage können wir ihnen im Alltag aber etwas entgegenhalten. Genau hinhören;
                                         sagen, wenn etwas nicht stimmt; solidarisch mit Schwächeren sein; Gerechtigkeit
                                         fordern und sich selbst in die Rechnung mit einbeziehen. Diese Held*innentugenden
                                         sind ja kein Witz, hierbei dürfen wir die Comics ruhig ernst nehmen. Probieren wir es
                                         aus. Es schaut mindestens ein Abenteuer heraus.

                                         Thematisch lässt sich an dieser Stelle einen Bogen zu unserem Hauptartikel schlagen.
                                         Wo entstehen diese Utopien? Einfache Antwort: im Kopf, klar. Da ist aber bestenfalls
                                         noch nicht Endstation. Wo realisieren sie sich? Einfache Antwort: im Atelier. Logische
                                         Folgerung: Kunst braucht Raum. Und dieser ist aber bei den Gentrifizierungsdyna­
                                         miken und Renditeinteressen von Immobilienbesitzer*innen gefährdet, vergessen
                                         zu gehen, wenn jeder Kubikmeter zum Zahnrad einer Wertschöpfungsmaschine wer-
                                         den muss. In den Freiräumen, in den Nischen entstehen Innovation und Identität,
                                         sie tragen zur Lebensqualität eines Ortes bei. Und eben: Hier materialisieren sich die
                                         Ideen, werden Wirklichkeit. Held*innen würden zweifellos für den Erhalt solcher
                                         «Off­spaces» einstehen und gegen eine profitorientierte Raumnutzung ankämpfen –
                                         denn sie wissen ja, woher sie kommen.

                                                                                                                                3
www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin
Freitag, 4. September 2020, 19.15h
                                                                                                      VERNISSAGE
                                                                                                     SCHWELLENZEIT
                                                                                           MIT MONICA CANTIENI,
                                                                                              STEPHAN PÖRTNER,
                                                                                                  JAN KONEFFKE
                                                                                                          U.A.M.
                                                                      Während des Lockdowns haben für uns Schweizer Autor/in-
                                                                       nen und Schriftsteller/innen aus der ganzen Welt Tagebuch,
                                                                     Essays, literarische Texte geschrieben. Nun erscheint das Buch
                                                                       Schwellenzeit, und am 4. September feiern wir bei uns im
                                                                                 Literaturhaus eine multimediale Buchvernissage.
                                                                       Es lesen und diskutieren mit uns und Ihnen über die letzten
                                                                        Corona-Monate aus künstlerischer Sicht: Monica Cantieni
                                                                         (Bild), Jan Koneffke, Stephan Pörtner und andere mehr.
      Aargauer Literaturhaus, Müllerhaus, Bleicherain 7, 5600 Lenzburg; wir bitten um schriftliche Voranmeldung: www.aargauer-literaturhaus.ch/tickets

                                                                                                          PAUL
                                                                                                          NIZON
                                                                                                           Der Nagel im Kopf

       Literatur
  zwischen Aare, Limmat,
            Reuss und Rhein

                                                                                             Ein Film von

  4. September 2020 bis                                                                      Christoph Kühn
10. Januar 2021

  www.forumschlossplatz.ch                                               Ab 10.September im Kino

                                                              *PaulNizon_InsD_102x1425_aaku.indd 1                                                   04.08.20 14:36
www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin
Herausgegeben von der IG Kultur Aargau                              Sept 20 Aargauer Kulturmagazin                       Inhalt

                                                         VORSCHAU

                                                         Fantoche 6
                                                                              MAGAZIN
  Das Animationsfilmfestival legt einen Schwerpunkt auf Heldinnen –
weibliche Hauptfiguren in starken Rollen, vor und hinter den Kulissen.        24 Kultureller Freiraum
                                                                                 Welche Bedeutung hat der Raum auf das künstlerische Schaffen?
                                                                                 Wie können Freiräume vor der Gentrifizierung gerettet werden?
                                                                                 AAKU spricht mit Künstler*innen über ihre kreativen Kosmen und
                                                                                 fragt bei den Städten Aarau und Baden nach, welche Instrumente
                                                                                 sie für kulturelle Zwischennutzungen kennen.

                                                    Freilichttheater 9
      In Reinach spielt das Tab-Ensemble Tschechows Kirschgarten
                                                   Kunst in Aarau 10
                     Das Aargauer Kunsthaus zeigt gleich drei junge           29 Neue Kunsthausdirektorin
                                        Schweizer Künstler*innen                 Katharina Ammann spricht im Interview über ihre Schwerpunkte,
                                            Verborgene Räume 11                  Drittmittelakquise und ihre erste Ausstellung.
                     «hausaus hausein» ist ein Kulturparcours durch
                                                                              32 Bühne Aarau
                                      unbekannte Orte von Brugg
                                                                                 Die Reithalle, Spielort der neu gegründeten Bühne Aarau, ist noch
                                   Theaterfestival Fanfaluca 12                  nicht fertig, und doch starten die Verantwortlichen unter diesem
              In Aarau setzen sich Jugendliche mit digitalen Formen      		      Namen in die aktuelle Theatersaison. Der künstlerische Leiter Peter
                                                        auseinander              Kelting gibt Einblick in das Vorhaben.
                                                      Albumtaufe 13           35 Das Bild
          Die Badener Band Al Pride feiert im Royal ihr neues Album              Aus dem Ringier Bildarchiv
                                Entschleunigtes Fotofestival 14
                                                                              36 Sadas Welt
                   In Lenzburg sind Bilder zum Thema «Zeiten unter
                                                                                 Kolumne
                                                  Druck» zu sehen
                                             Neuer Chefdirigent 16            36 Das Objekt
                Das Argovia Philharmonic erhält mit Rune Bergmann			             Sammlerstücke von Rudolf Velhagen
                                            einen neuen Dirigenten
                                                                              37 Jens Nielsen
                                        Improvisationsmeister 17                 Kolumne
                       Musig im Pflegidach Muri hat zwei Jazzgrössen
                                                                              37 Ausschnitte
                            eingeladen: Lionel Loueke und Ziv Ravitz
                                                                                 Von Anna Sommer
                                                        Indie-Pop 18          38 Unterwegs mit Julia Haenni
               Die Band Tim Freitag beschwört im Kiff ein Monster –
                                                                                 Von Benjamin von Wyl
                                   oder eher eine verspielte Kreatur

                                                     Familienseite 19
                                                    Kultursplitter 20
                                                         Filmtipps 21
                                                                              AGENDA
                                                         Hörtipps 22
                                                         Lesetipps 23         40	Kultur im Aargau auf einen Blick
                                                                                 Veranstaltungen im September

                                                                              Cover: Culottées, Mai Nguyen, Charlotte Cambon, FR 2019. Videostill

                                                                                                                                         5
www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin
VORSCHAU            Sept 20 Aargauer Kulturmagazin

                         TEXT PHILIPPE NEIDHART l FOTOS FILMSTILLS / ZVG

        Heldinnen der
         Leinwand
     FILM Die Kinoleinwände dieser Welt werden noch immer von Männern beherrscht,
doch das Fantoche stellt sich diesem Trend entgegen. An der 18. Ausgabe des Internationalen
           Animationsfilmfestivals in Baden stehen Heldinnen im Vordergrund.

    6
www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin
Sept 20 Aargauer Kulturmagazin                     VORSCHAU

Hollywood versteht sich selbst als Traumfabrik – bei            und Gewaltfreiheit. Und ein Blick in die Filmgeschichte zeigt,
genauer Betrachtung vieler Filme muss jedoch festge-            dass Frauen eine prägende Rolle in der Entwicklung des
stellt werden, dass es sich vornehmlich um Männerträume         Kinos gespielt haben und noch immer spielen – auch im
handelt. Wenn Frauen in Filmen erscheinen, dann meist in        Animationsfilm. Deshalb werden im Fantoche-Edit-a-thon für
stereotypisierten Rollen – als Prinzessinnen beispielsweise,    wichtige Animationsfilmemacherinnen Einträge auf Wikipe-
die vom männlichen Helden gerettet werden. Und viel zu          dia erstellt, um dem nach wie vor ungleichen Verhältnis der
oft werden weibliche Charaktere in einem sexualisierten         dort repräsentierten Geschlechter entgegenzuwirken.
Kontext dargestellt. Hierbei wird vom sogenannten «male
gaze» gesprochen, dem bestimmenden männlichen Blick
im Film. Dieser projiziert seine Fantasie auf die weibliche
Gestalt, die dementsprechend geformt wird. Der Frau wird
die Rolle als sexualisiertes Objekt zugeschrieben, sie wird
zur Schau gestellt, ihre Erscheinung erotisiert. Dies äussert
sich mitunter in der überproportionalen Darstellung der
Frau in freizügiger Kleidung oder Nacktheit. Demgegenüber
sind Männer laut diversen Studien noch immer doppelt so
häufig auf der Leinwand zu sehen wie Frauen und besitzen
einen erheblich höheren Redeanteil. Um festzustellen, wie
Frauen in Filmen dargestellt werden, existiert der sogenann-
te «Bechdel-Test». Dieser geht zurück auf die US-amerikani-
sche Cartoonzeichnerin und Autorin Alison Bechdel und ihr
queerer Comicstrip «Dykes to Watch Out For». Um den Test
zu bestehen, müssen folgende drei Fragen positiv beantwor-
tet werden können: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen?
Sprechen diese miteinander? Und unterhalten sie sich über
                                                                 The «Armpit Hair Girl» (KR 2017), Da-Hee Jeong / Young-Seo Kwon.
etwas anderes als einen Mann? Auch wenn der Test aus
wissenschaftlicher Perspektive umstritten ist, bildet er ein
simples Mittel, zumindest oberflächliche Stereotypisierun-
gen weiblicher Figuren aufzudecken und zu beurteilen.

Fantoche gehört den Frauen
    Auch das Fantoche hat es sich in diesem Jahr zum Ziel
gemacht, die partriarchalisch geprägten Machtstrukturen
zu hinterfragen und mit gängigen Verhaltensmustern zu
brechen. Dies beginnt bereits hinter der Kulisse: Das Festi-
valkernteam ist weiblich, ebenso werden der Schweizer und
Internationale Wettbewerb von einer Frauenjury bewertet.
Und inhaltlich widmet sich das Fantoche dem Schwerpunkt-
thema «Heldinnen»: Mit Hayao Miyazakis «Kiki’s Delivery
Service» (JP 1989) kommt ein Anime-Klassiker aus dem Stu-
dio Ghibli auf die Badener Leinwände, der sich einfühlsam
                                                                 «Tout en haut du monde» (FR/DK 2015), Rémi Chayé.
mit dem Prozess des Erwachsen- und Selbstständigwerdens
auseinandersetzt. «Tout en haut du monde» (FR/DK 2015)
von Rémi Chayé hingegen nimmt die Zuschauer*innen mit
auf die Reise der 15-jährigen Adligen Sasha, die von St. Pe-
tersburg zum Nordpol reisen will, um ihren verschollenen
Grossvater zu suchen; ein bildgewaltiges Abenteuer für die
ganze Familie. Der dritte Langfilm im Rahmen des Schwer-
punktthemas «Heldinnen» spielt in einer dampfbetriebenen
Parallelwelt. Christian Desmares’ «Avril et le monde truqué»
(FR/BE/CA 2015) basiert dabei auf dem grafischen Univer-
sum des Comiczeichners Jaques Tardi. Für Abwechslung sor-
gen zudem drei von Eliška Děcká und den Frauen vom Wie-
ner Tricky Women Festival kuratierte Kurzfilmprogramme.
«Young Role Models for Girls at Heart» zeigt auf, was wir von
jungen Frauen lernen können, «Unsung Heroines» beschäf-
tigt sich mit kleinen Heldentaten, «Alltagsheldinnen» erzählt
Geschichten über Selbstbestimmung, Chancengleichheit

                                                                                                                               7
www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin
VORSCHAU                     Sept 20 Aargauer Kulturmagazin

Pionierin des Animationsfilms
Ein Schwerpunkt des Festivals widmet sich zudem der deut-
schen Scherenschneiderin und Silhouetten-Animationsfil-
merin Lotte Reiniger (1899–1981). Bereits in ihrer Schulzeit
begann Reiniger mit Schattentheater, ebenso war sie
beeindruckt von der Arbeit des französischen Illusionisten
und Filmpioniers Georges Méliès. Bald schon wurden Sche-
renschnitt und Silhouette zu Reinigers selbstverständlichen
künstlerischen Ausdrucksmitteln: «Meine Hände gehen
schon so lange mit der Schere um, dass sie von ganz allein
wissen, was sie tun müssen», gab sie einst zu verstehen.
Mit jungen zwanzig Jahren schuf Reiniger so ihren ersten
eigenen und erst kürzlich wiederentdeckten Kurzfilm «Das
Ornament des verliebten Herzens». In den folgenden Jahren
sollten diverse Auftragsarbeiten und Werbefilme folgen,
ihr Hauptinteresse jedoch galt über die ganze Zeit hinweg
den Märchen und Mythen. Ihre poetisch gehaltenen Filme
zeichnen sich dabei nicht nur durch handwerkliches Können
aus, ebenso beinhalten sie oftmals eine hintergründige
Komik und viel Liebe zum Detail. Bis zuletzt reiste sie um
die Welt, hielt Vorträge und arbeitete an neuen Werken und
wurde so noch zu Lebzeiten zu einem Teil der lebendigen
Filmgeschichte. Ihr wohl bekanntestes Werk «Die Abenteuer
des Prinzen Achmed» (DE 1926) ist der erste noch erhaltene
abendfüllende Trickfilm und erschien ganze zehn Jahre vor
Disneys erstem Langfilm «Schneewittchen» (USA 1937). Im
filmwissenschaftlichen Diskurs ist Reinigers Werk zwar
präsent, dem zeitgenössischen Publikum jedoch weitestge-
                                                               Lotte Reiniger, Pionierin des Animationsfilms. zvg
hend unbekannt. Nun bietet sich am Fantoche die Chance,
den einstündigen Film samt Livevertonung zu erleben
und sich in Lotte Reinigers Interpretation von Tausend­
undeiner Nacht entführen zu lassen. In der «Retrospektive»
wird zudem eine Auswahl an ihren Kurzfilmen gezeigt, und
eine Ausstellung im Kunstraum Baden widmet sich dem
Schaffen Reinigers mit Materialien aus ihrer Werkstatt.

BADEN diverse Orte, Di, 1. bis So, 6. September
Informationen und Programm:
www.fantoche.ch

                                                               «Under Your Fingers» (FR 2014), Marie-Christine Courtès.

8
www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin
Sept 20 Aargauer Kulturmagazin                     VORSCHAU

Frische Kirschen von der Brache
BÜHNE Mit der Freilichtinszenierung des bekann­                      die Städter zu überbauen, findet Ljuba geistlos. Der aufs Gut
ten Tschechow-Stücks versetzt das Tab-Ensemble                       zurückgekehrte ehemalige Lehrer und ewige Student kriti-
unter der Regie von Gunhild Hamel den Kirsch­                        siert Kapitalisten und Intellektuelle – eine Vision, den Kirsch-
garten und dessen ratlose Bewohner*innen in die                      garten zu erhalten, ohne bankrottzugehen, hat niemand. Es
grosse Industriebrache mitten in Reinach.                            kommt wie es muss. Das Gut wird verkauft.
                                                                     Schon lange wollte Gunhild Hamel ein Stück von Tschechow
Die russische Gutsbesitzerin Ljuba kehrt hochverschuldet             inszenieren – und neben dem Theater am Bahnhof lockte
aus Paris auf ihr Anwesen mit dem geliebten Kirschgarten             die verwilderte Ebene als Bühne. Der tiefgründige «Kirsch-
zurück. Die Bäume blühen – als Einziges noch auf dem                 garten» passt bestens in die Ungewissheit unserer eigenen
Gelände, Ertrag werfen sie keinen mehr ab. Die Gutsbewoh-            Zeit und zum Ort, der die heutige Ratlosigkeit spiegelt: Die
ner*innen haben sich darauf verlegt, anstelle der Kirschen           Fabrik, die neben dem Tab stand, hat ihr Geschäft zwecks
für Verzehr und Verkauf die alten Zeiten zu konservieren.            besserer Rendite nicht gerade nach Paris, aber dennoch
Ljubas Bruder, der auf dem Gut geblieben war, hat keinen             nach Frankreich verlegt.
Finger für dessen Erhalt gerührt, bei den Dienstboten sind               Die Personen und die Handlung des Stücks sind von
Landstreicher untergekommen, und der Buchhalter spielt               Tschechow mehr oder weniger frei erfunden. Etwaige Ähn-
lieber Gitarre, als sich um die roten Zahlen zu kümmern.             lichkeiten der Inszenierung mit aktuellen Begebenheiten

 Die neue Zeit macht sich bemerkbar – was tun mit dem Kirschgarten? Foto: Peter Siegrist

Wie den Kirschgarten erhalten?                                       sind natürlich beabsichtigt. Man darf sich auf die Früchte der
    Familie und Anhang schwelgen in Erinnerungen, tändeln            lebhaften Auseinandersetzung mit dem eigentlich zeitlosen
und diskutieren, derweil erscheint die neue Zeit vage am             Text freuen. Von Kristin T. Schnider
Horizont in Gestalt von Pleite, naher Stadt und Eisenbahn.
Was tun? Für Ljuba oder ihre Töchter einen reichen Mann
finden? Auf ein Darlehen einer alten Tante hoffen? Der Ein-          REINACH Theater am Bahnhof
zige, der eine Lösung anbietet, ist Lopachin, der Kaufmann,          28. August, 20 Uhr (Premiere).
dessen Eltern sich noch in Leibeigenschaft auf dem Gut               Diverse Vorstellungen im September:
abgerackert hatten. Dass er vorschlägt, den Garten abzuhol-          www.tab.ch
zen, das Land zu parzellieren und mit Sommerhäusern für

                                                                                                                                   9
www.aaku.ch September 2020 Nr. 38 - Aargauer Kulturmagazin
VORSCHAU                          Sept 20 Aargauer Kulturmagazin

Gletscherschmelze und
radio­aktive Kokosnüsse
AUSSTELLUNG Im September sind im Aargauer Kunsthaus Werke von drei jungen Schweizer
Künstler*innen zu sehen. In der Einzelausstellung thematisiert Julian Charrière die ambivalente
Verbindung zwischen Mensch und Natur.

In der grossen Einzelausstellung mit dem bezeichnenden               «So setzt sich Martina Mächler mit Fragen auseinander,
Titel «Towards No Earthly Pole» führt Julian Charrière (33)          in denen das Verhältnis zwischen Psyche und Körper im
die destruktive Kraft menschlichen Handelns ad absurdum.             Zentrum steht.»
In der gleichnamigen raumgreifenden Filminstallation sind
schimmernde Eisberge, Gletscherspalten und Eismeere                  Mit Haut und Farbe
zusehen, die aus der Dunkelheit erscheinen und von ihr                   Rachele Monti lotet in der zweiten Caravan-Ausstellung
wieder verschluckt werden. Vereinen sich hier die Eisland-           die Möglichkeiten des fotografischen Mediums aus und
schaften zu einem sinnlich-­poetischen Kosmos, erhalten              erweitert ihre Ergebnisse mit dem manuellen Einsatz von
die Eisberge (andere freilich) in
einer weiteren Arbeit Charrières
einen unheilvollen Besuch: Der
Künstler besteigt sie mit einem
Flammen­werfer, mit dem er sie
zum Schmelzen bringen will.
    «Julian Charrière ist als bilden-
der Künstler ebenso Forscher und
Entdecker», sagt Gastkura­to­r in
Katrin Weilenmann. «Er ver­bindet
mit Leichtigkeit disparate Werke
und unterschiedliche Diszipli-
nen.» Beispielhaft dafür steht
«The Purchase of the South Pole»
(2017). Unter einer Schutzhülle,
die auch gegen Gletscherschmel-
ze zum Einsatz kommt, verbirgt
er eine Kanone – umgeben von
bleiummantelten Kokosnüssen.
Die Kokosnüsse sind «Souvenirs»
                                         Julian Charrière, «The Blue Fossil Entropic Stories I», 2013 Courtesy the artist. Pro Litteris, Zürich.
von Charrières Expedition zu den
radioaktiv verstrahlten Inseln des
Bikini-Atolls.                                                       Licht, Farbe und transparenten Materialien. So kombiniert
    «Julian Charrières Neugier und sein Interesse, die               sie bearbeitete, farbenprächtige Fotografien mit kantigen,
Umwelt zu begreifen, führen ihn an globale Brennpunkte.              spitzigen Objekten und setzt sie im Raum in ein Spannungs-
Gleichzeitig konfrontiert uns der Künstler mit den direk-            verhältnis. Monti konzentriert sich bei ihren Aufnahmen fast
ten Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Natur»,               ausschliesslich auf den menschlichen Körper – insbeson-
erklärt Weilenmann.                                                  dere die Haut – und bearbeitet ihre Materialien und Bilder
                                                                     meist so, dass sie an hautähnliche Oberflächen erinnern.
Stimmen eines fragmentierten Ichs                                        «Mit ihrer Arbeit lädt uns Monti in eine bunte, intime, von
    In den zwei Caravan-Ausstellungen zeigen Martina                 Sinneseindrücken dominierte Welt ein», sagt Anouchka Pan-
Mächler und Rachele Monti je ihre Werke. Mächlers (29) Ar-           chard, Wissenschaftliche Mitarbeiterin. Bei Montis Arbeiten
beiten basieren auf Text und Ton. Ihre Geräuschcollage be-           schwingt die Verletzlichkeit menschlicher Existenz stets mit.
gleitet die Besucher*innen durch die Ausstellungsräume der           Klima, psychische Brüche, Vulnerabilität – die thematischen
Sammlung im Obergeschoss. Wir hören ein Summen und                   Setzungen dieser Ausstellungen könnten aktueller nicht
Murmeln und lesen dazu im Raum platzierte Textfragmente.             sein. Von Michael Hunziker
Es wird erzählt, argumentiert oder gescherzt, geschrien,
geflüstert, getuschelt. «In den Texten geht es um ein
fragmen­tiertes Selbst, als bestünde es aus verschiedenen            AARAU Aargauer Kunsthaus
Persönlichkeiten», erklärt Kuratorin Yasmin Afschar.                 ab 6. September

10
Sept 20 Aargauer Kulturmagazin                   VORSCHAU

            Entdeckungen in verborgenen
            Räumen
            AUSSTELLUNG «hausaus hausein» – ein Kulturparcours durch Brugg: Musik, Kunst und Literatur
            können von der Schaltzentrale im Kupperhaus aus an unerwarteten Orten entdeckt werden.

            Für «Kupper, Salz und Zimmermann» verlassen das Zimmer-            Die eingeladenen Kunstschaffenden gehen der Frage
            mannhaus wie auch das Salzhaus temporär ihre gewohnten         nach den Grenzen zwischen öffentlichem und privatem
            Räumlichkeiten. Ein Versuch, auf den Leerstand von Räumen      Raum nach und antworten mit ortsspezifischen Installatio-
            und Gebäuden in Brugg zu reagieren und das Kupperhaus          nen. So zum Beispiel die Künstlerin Maria Bänziger und der
            wiederzubeleben. Das ehemalige Steueramt verwandelt            Theaterschaffende Andreas Bächli im Effingerhof. In ihrer
            sich im September zum Check-in für Kunstinteressierte. Wer     begehbaren Arbeit spielen sie mit der gegebenen Archi-
            vom Warteraum aufgerufen wird oder das Getränk an der          tektur und der Ausstattung der ehemaligen Druckerei und
            Bar ausgetrunken hat, bekommt an der Rezeption Schlüssel,      bauen einen Raum aus Vorhangstoff, durch den man als
            Codes und Karten zu verborgenen privaten und halbprivaten      Besucher*in schlüpfen kann.
            Räumen in der Brugger Altstadt. Insgesamt neun künstle­            Aber nicht nur Kunst, sondern auch Musik und Literatur
            rische Interventionen können auf diesem Parcours entdeckt      werden berücksichtigt. Durch die Kollaboration mit den
            werden – ob in einer leer stehenden Wohnung oder den           36. Brugger Literaturtagen und anderen Kulturakteur*innen
            ehemaligen Gefängniszellen des Schwarzen Turms.                werden auch hier Synergien geschaffen: Zum Beispiel mit den
                                                                           Pop-up-Konzerten der Zürcher Band Silent Neighbour in den
                                                                           Ausstellungsräumen oder der Performance der Zeichnerin
                                                                           Karoline Schreiber. Sie wird im Dachstock des Salzhauses
                                                                           zeichnend die Lesungen im Untergeschoss mitverfolgen und
                                                                           mehrere Stunden ihre Assoziationen auf ein langes Papierband
                                                                           übertragen. Dieses wandert als Fluss des Erzählens langsam
                                                                           durch einen Schacht nach unten und mündet zeitverzögert
                                                                           und bildhaft zu einem immer grösser werdenden Papierhaufen.
                                                                           Von Gianna Rovere

                                                                           BRUGG Zimmermannhaus, diverse Orte und
                                                                           Veranstaltungen, Vernissage: Fr, 4. September, 19 Uhr.
                                                                           Bis 20. September.
 Andreas Bächli und Maria Bänziger, «backstaging Welt». Fotomontage.
                                                                           36. Brugger Literaturtage, 18. bis 20. September

Grosssiedlungen im Pressebild                                               Sicht auf die Wohnsiedlung
                                                                            Onex bei Genf, 1969.
                                                                            Foto: Donald Stampfli
AUSSTELLUNG Das Stadtmuseum Aarau eröffnet während der Euro­                StAAG/RBA1-1-15592_3
päischen Denkmaltage eine neue Bilderschau aus dem Ringier Bild­archiv
zum Thema Grosssiedlungen. Während die «Wohnbauten für die Masse»
in den 1950er- und 60er-Jahren als Garant für Fortschritt, tech­nische
Neuerungen und Wirtschaftswachstum standen und als Mittel der Stun-
de gegen den akuten Wohnungsmangel propagiert wurden, deklarierte
man sie wenige Jahre später als «Betonwüsten» und «anonyme Schlaf-
stätten». Die Bilderschau gibt Einblick in den architektonischen Diskurs
zum Wohnungsbau zwischen 1950 und 1980 und beleuchtet gleichzeitig
die Rolle der Pressefotografie bei der Vermittlung des Wertewandels und
der Kritik an der Nachkriegsmoderne. mh

AARAU Stadtmuseum
ab 12. September

                                                                                                                                    11
VORSCHAU                      Sept 20 Aargauer Kulturmagazin

           So digital kann Theater sein
           BÜHNE Das Jugendtheaterfestival Fanfaluca setzt                  spieler*innen und Organisator*innen über die Chancen und
           sich mit den digitalen Formen der Schauspielerei                 Möglichkeiten der Schauspielerei im digitalen Raum spre-
           auseinander und zeigt zwei Produktionen von                      chen. Zudem präsentieren die Jugendlichen die Ergebnisse
           Jugendlichen.                                                    aus den Workshops, die während der Festivalwoche erarbei-
                                                                            tet werden.
           Zu Hause arbeiten und Freunde online treffen: Die Coro-              Aufgrund der Pandemie werden erstmals nur zwei
           na-Krise hat die Schweiz digitalisiert. Auch vor dem Theater     Produktionen am Festival gezeigt: «Es gab auch weniger
           hat die virtuelle Welt keinen Halt gemacht. Damit beschäf-       Eingaben, da die Ensembles nicht proben konnten», erklärt
           tigt sich das diesjährige Fanfaluca: Das Jugendtheaterfestival   Lukas Renckly, Mediensprecher des Festivals. Eröffnet wird
           thematisiert in seiner siebten Ausgabe die Möglichkeiten         das Fanfaluca vom Verein Fokus im Leben aus Basel-Stadt
           und Formen des digitalen Theaters.                               mit seiner Produktion «Liebes-Spiel – ein Theaterstück von
               In einem öffentlichen Gespräch zu Digitalisierung und        und mit Jugendlichen mit einer unheilbaren Krankheit». Das
           Theater können Interessierte gemeinsam mit den Schau-            Stück basiert auf den Erfahrungen und Gedanken schwer-
                                                                            kranker Jugendlicher und ist eine künstlerische Auseinan-
                                                                            dersetzung mit Leben, Lieben und Sterben.
                                                                                Die Schultheatergruppe der Kantonsschule Enge zeigt
                                                                            das zweite Stück: «Kleider machen Leute oder Sallys Fall».
                                                                            Thematischer Ausgangspunkt ist hierbei Gottfried Kellers
                                                                            Novelle «Kleider machen Leute». In zwei Geschichten
                                                                            befassen sich die zehn Schauspieler*innen mit Fremd- und
                                                                            Selbstwahrnehmung. Dabei setzen sich die Nachwuchsdar-
                                                                            steller*innen mit der Frage auseinander, ob junge Menschen
                                                                            in der heutigen Gesellschaft ohne mediale Selbstdarstellung
                                                                            bestehen können.
                                                                                Aufgrund der Massnahmen zur Bekämpfung von
                                                                            Covid-19 finden die Vorstellungen nur im Theater Tuchlaube
                                                                            statt. Dort werden sich auch das Festivalzentrum und der
                                                                            Ort der Begegnung und des Austausches befinden.
                                                                            Von Barbara Scherer

                                                                            AARAU Tuchlaube, Do, 8., bis So, 11. September
Fremd- und Selbstwahrnehmung – Kleider machen Leute. zvg

           Urbaner Wahnsinn
           AUSSTELLUNG Im September lohnt es sich gleich mehrmals das Gluri
           Suter Huus in Wettingen zu besuchen. Als Satellitenausstellung zum
           Fantoche zeigt das Haus vier Künstler*innen, die zeichnerisch Welten er-
           schaffen, die für die Hilfe von Heldinnen zumindest offen wären. Es sind
           dystopische Visionen: Cornelia Hesse-Honegger zeichnet nuklearbeding-
           te Deformationen von Insekten, Ingo Giezendanner aka GRRRR bannt
           den urbanen Wahnsinn von Grossstädten auf Papier, Lika Nüssli berichtet
           in ihren comicartigen Malereien von der gesellschaftlichen Schattenseite,
           und Thomas Otts Werke evozieren albtraumhafte Erinnerungen.
               In der zweiten Ausstellung versammeln sich die Urban Sketchers mit
           ihren Eindrücken, die sie während der Krise festgehalten haben. Es sind
           Bilder, die vor Kurzem wohl ebenso als dystopisch verstanden worden
           wären. Heute sind sie hoffentlich bald nur noch geteilte Erinnerungen. mh

           WETTINGEN Gluri Suter Huus, Schöne heile Welt, bis 20. September
                                                                                           Thomas Ott, «Trilogie 3», Lithografie.
           Urban Sketchers, 27. September bis 18. Oktober

           12
Sept 20 Aargauer Kulturmagazin                   VORSCHAU

Al Pride präsentieren ihre demokratisch entstandenen Songs. Foto: Andrin Fretz.

           Keine Pose zum Preis der eigenen Haltung
            SOUNDS Musikalische Demokratie auf Hoch­                                  In ihrer elfjährigen Geschichte hat sie viele Verände-
            touren: Die Badener Band Al Pride tauft ihr                           rungen durchgemacht, personelle wie musikalische. Die
            neues Album im Royal Baden.                                           kleinen Schritte zurück auf dem Weg nach vorne seien quasi
                                                                                  integraler Bestandteil der «Idee» Al Pride, sagt Sänger Nico
            Ein kurzes Zaudern, ein Moment des Innehaltens, dann ist              Schulthess. Nachzeichnen lässt sich das etwa am Songwri-
            die Gewissheit da: Ich bin an dich gebunden, ich bedinge              tingprozess, den die mittlerweile achtköpfige Band ab 2016
            dich, und wenn du untergehst, dann gehe ich mit dir. Die              radikal demokratisiert und damit geöffnet hat für unter-
            Bläser setzen zur Fanfare an, Bass und Schlagzeug stehen              schiedlichste Perspektiven. Damals stiessen mit den Bläsern
            noch näher zusammen, die Stimmen verlieren an Schwer-                 nochmals neue Instrumente und Musiker zur Band.
            kraft, aber die Stimmung gewinnt an Dringlichkeit. «If You                Vergleicht man die Songs des 2016 erschienenen Al-
            Go Down» entfaltet jetzt seine ganze epische Wirkung.                 bums «Hallavara» mit der neuen EP «Spruce», wird deutlich,
            Der Song ist ein Dialog mit dem versehrten Planeten über              wie dieser Demokratisierungsprozess auf die Musik einge-
            unsere Abhängigkeit von ihm, und die Schwierigkeit, diese             wirkt hat. Sprang die dreiköpfige Bläsersektion auf Hallavara
            anzuerkennen. Und er ist ein Popsong, wie er typisch ist für          stellenweise noch aus dem Mix heraus, sind nun alle Instru-
            die Badener Band Al Pride: Die eine Hand ausgestreckt zur             mente eng verwoben zu einem satten Klangbild. Sie haben
            grossen Geste, die andere Hand auf dem Herz. Posen sind               zu einem Konsens gefunden.
            erlaubt, aber nie zum Preis der eigenen Haltung.                          Ob es denn nicht anstrengend sei, acht unterschiedliche
                                                                                  Stimmen zu einer verständlichen Sprache zu verdichten?
            Schritte zurück, nach vorn                                            «Es braucht natürlich viel Ausdauer und Kritikfähigkeit», sagt
               «If You Go Down» ist die letzte Vorankündigung ihres               Schulthess. Aber: «Wenn es dann klappt und acht Personen
            neuen Albums «Sweet Roller», das Ende August erscheint                kompromisslos in eine Richtung ziehen, wird es unaufhalt-
            und am 11. September im Royal Baden getauft wird. Bereits             sam». Von Donat Kaufmann
            im April erschien die EP «Spruce», deren Songs auch Teil
            des Albums sind. Und eigentlich wären Al Pride zu die-
            sem Zeitpunkt bereits einmal quer durch die Schweiz und               BADEN Royal
            Deutschland getourt mit den Songs – aber eben, der Virus.             Fr, 11. September, 20 Uhr
            Doch Al Pride ist nicht die Band, die sich davon die Stim-
            mung verderben lässt.

                                                                                                                                             13
VORSCHAU                      Sept 20 Aargauer Kulturmagazin

Momentaufnahmen
aus der rennenden Zeit
AUSSTELLUNG Das Fotofestival findet dieses Jahr zum dritten Mal an verschiedenen Orten in Lenz­burg
statt. In den Ausstellungen, Workshops und Talks dreht sich alles um die Entschleunigung der Zeit.

Die Frau im gemusterten Pullover reckt ihre
Arme in die Höhe und lehnt sich mit den
Händen an die Wand: Der Berliner Fotograf
Nils Stelte hat sie auf der Suche nach geistiger
Regeneration mit seiner Kamera eingefangen.
Sein Projekt «Renaissance» trifft den Nerv der
Zeit und ist eines von vier Port­folios, die von
der Jury für den Fotowettbewerb des Foto-
festival Lenzburg ausgewählt wurden. «Seine
Fotografien und vor allem seine Bildauswahl
stachen aus über 250 Einsendungen heraus.
Die Serie erzählt vom Kampf mit Stress und
von der Flucht von Städter*innen in esoteri-
sche Selbstfindung. Das passt wunderbar zu
unserem diesjährigen Thema des Festivals:
‹Zeiten unter Druck›», sagt die Festivalleiterin
Margherita Guerra.

Ein Mittel, um zu verstehen
    2017 wurde das Fotofestival vom Verein
Lenzburger Gesellschaft für Fotografie gegrün-
det, um relevante Fotografieausstellungen mit
dem Fokus auf Vermittlung auch abseits der
grossen Zentren erlebbar zu machen. Denn so-
wohl Bilder wie auch das Fotografieren sind von
unserem Alltag nicht mehr wegzudenken; aber
es herrscht die Gefahr, dass die Bedeutung von
professionellem fotografischem Arbeiten ver-
gessen wird. «Die Fotografie soll ein Mittel sein,
unsere Welt und unsere Gesellschaft besser zu
verstehen. In der heutigen Bilderflut wird es im-
mer schwieriger, diese Talente zu entdecken»,
erklärt Guerra. Mit diesem Ziel werden jedes
Jahr Projekte gesucht, die Brüche zwischen
Alltags- und Highlevelfotografie kreieren und
das Festival zu einem Erlebnis für ein breites
Publikum machen. So auch in der Hauptaus-
stellung «Divided We Stand» im Stapferhaus:
Das renommierte Schweizer Fotografenduo
Monika Fischer und Mathias Braschler ist für
ihre dokumentarische Foto­arbeit 2019 für vier       Aus der Serie «Renaissance» vom Berliner Foto-
Monate durch vierzig US-Staaten gefahren und         grafen Nils Stelte, ausgestellt am Fotofestival
                                                     Lenzburg. Foto: Nils Stelte
wollte herausfinden: Wo stehen die Menschen
in diesem Land? Sie porträtierten Bürger*innen
aus allen Gesellschaftsschichten und versuchten, ihre Ge-
schichten vom Druck politischer, sozialer und persönlicher
Veränderungen in der schnell rennenden Zeit einzufangen           LENZBURG Alte Bleiche, Stapferhaus und andere Orte,
und als Momentaufnahme in Fotografie zu übersetzen.               12. September, 14 Uhr (Eröffnung, Bleiche).
Von Gianna Rovere                                                 Bis 25. Oktober, jeweils Fr/Sa/So

14
Sept 20 Aargauer Kulturmagazin                          VORSCHAU

                                                                                           Durch­
                                                                                           drungen
                                                                                           von Welt
                                                                                           AUSSTELLUNG Ein Blick aus dem Fenster, Men-
                                                                                           schen im Bus, ein Pianist am Flügel – die Malerei
                                                                                           von Milena Seiler ist durchdrungen von der Welt,
                                                                                           in der sie lebt. Auf den grossformatigen Arbeiten
                                                                                           zerfliessen die Konturen, Farbe trifft auf nasse
                                                                                           Leinwände, schwarze Tusche und collagierte
                                                                                           Elemente setzen Akzente. Im Zentrum der ersten
                                                                                           institutionellen Einzelausstellung der Künstlerin
                                                                                           steht hierbei der titelgebende Werkzyklus «Das
                                                                                           japanische Zimmer». Gleichzeitig zu Seilers Bilder
                                                                                           wird in Kooperation mit dem Animationsfilmfestival
                                                                                           Fantoche das Schaffen der Silhouetten-Animati-
                                                                                           onsfilmerin Lotte Reiniger (1899–1981) gezeigt. phn

                                                                                           BADEN Kunstraum
                                                                                           29. August bis 25. Oktober

               «Zimmer» von Milena Seiler. zvg

Anzeigen

  STERNENSAAL                                      Das Theater in Wohlen
                                                                                                        AU F TA K T V E R A N S TA LT U N G
                                                                                                        Dienstag 8. September
                                                                                                        19.00-21.00
   Saisoneröffnung                                                Samstag                               im Stapferhaus Lenzburg
  19:00 Apéro und Znacht                                          19. Sep. 2020
  20:30 6 Handful of Blues - Shuffle, Slow Blues, Blues Rock      19:00 Uhr                             Kultur sichtbar machen, ihre Anliegen gegenüber Gesellschaft,
  Einweihung des Schaukastens gestaltet von Heidi Widmer                                                Politik und Wirtschaft vertreten und Kulturschaffende und
                                                                                                        Kulturveranstaltende überregional und spartenübergreifend
                                                                                                        vernetzen. Das will der neu gegründete AGKV.

   From Basin Street to Broadway                                                                        Mit welchen konkreten Zielen und Massnahmen?
                                                                  Samstag
   Morgenthaler/ Breinschmid Sextett                                                                    Wie war der AGKV schon aktiv und welche Schritte sind geplant?
                                                                  17. Okt. 2020                         Was brauchen die Kulturschaffenden und Kulturveranstaltenden
   Grosse Hits der Jazzgeschichte
                                                                  20:30 Uhr                             im Kanton?
                                                                                                        Darüber möchte sich der AKGV mit den Kulturakteur*innen
                                                                                                        austauschen.

                                                                                                        Mit Anmeldung bis am 1. September:
   Mundartprojekt Hunziker 2020                                                                         agkv.ch/auftaktveranstaltung-agkv/
   Eine Matinée ganz im Zeichen der Aargauer Mundart
                                                                  Sonntag
                                                                  18. Okt. 2020
                                                                  10:30 Uhr

   Poscriptum
  Les Diptik sortieren Erinnerungspakete                          Samstag
  Theaterkunst und Clownerie - poetisch, tiefgründig, witzig      24. Okt. 2020
                                                                  20:30 Uhr

                                                                                      Atelierstipendium
   Das dritte Leben
   Vorstadttheater Basel
   Ein poetischer Reigen über den letzten Lebensabschnitt
                                                                  Samstag
                                                                  31. Okt. 2020
                                                                                      Belgrad 2021
                                                                  20:30 Uhr
                                                                                      für den Zeitraum August bis November 2021
                                                                                      Bewerbungen digital bis zum 5.10.2020.
   Eine Annäherung an Erik Satie
  „Ich bin sehr jung auf eine sehr alte Welt gekommen“            Samstag             www.baden.ch/atelierstipendien
    von Rahel Sohn-Achermann und Werner Bodinek                   14. Nov. 2020
                                                                  20:30 Uhr

                                                                                                                                                      15
VORSCHAU                      Sept 20 Aargauer Kulturmagazin

Magie entstehen lassen
KLASSIK Am 6. September geht es im Trafo Baden los: Dann gibt der Norweger Rune Bergmann
seinen Einstand als neuer Chefdirigent des Argovia Philharmonic. Im Interview blickt er dem Auftakt
entgegen.

Rune Bergmann, Sie dirigieren das Argovia Philhar­              Sie gelten als Multiinstrumentalist, denn Sie spielen
monic am 6. September gleich zweimal – weil Sie sich            Trompete, Klavier, Violine und Viola. Kann man Sie
so auf das Konzert freuen?                                      künftig nicht nur als Dirigent, sondern auch als Solist
    Rune Bergmann: Nun, seit wir wissen, dass wir auf die       erleben?
Eröffnung der Alten Reithalle in Aarau noch warten müs-             Absolut! Natürlich möchte ich keinem unserer wunder-
sen, haben wir etwas Spektakuläres für das Trafo geplant.       baren Musiker*Innen eine Gelegenheit wegnehmen, aber in
Wir hatten ein tolles Programm mit einem tollen Solisten        einigen speziellen Situationen werde ich spielen. Das dürfte
vorgesehen, aber in der derzeitigen Situation, in der wir       bereits im Dezember der Fall sein.
uns befinden, müssen wir ebenso
wie die ganze Welt, Anpassungen
vornehmen.

Das heisst?
    Das Corona-Virus hat die Or-
chester und das Kulturleben sehr
beeinträchtigt. Für uns stand aber
fest: Wir wollen unbedingt, gleich
wie, für unser Publikum spielen.
Selbst wenn dies bedeuten würde,
dass wir das Konzert in verkürz-
ter Form und mit angepasstem
Programm zweimal durchführen
müssten, damit es jeder hören
kann. Genau das machen wir
jetzt. Ich bin überzeugt, dass das
Zusammentreffen von Orchester
und Publikum am 6. September            Der neue Chefdirigent Rune Bergmann.
                                        Foto: Kaupo Kikkas
ein schöner Moment sein wird.

«Mit dem ersten Ton, den wir zusammen gespielt                  Sie sind Chefdirigent des Argovia Philharmonic
haben, habe ich mich in dieses Orchester verliebt»,             sowie des Calgary Philharmonic Orchestra und
sagen Sie über Ihre Begegnung mit dem Argovia                   der Phil­­har­monie im polnischen Szczecin (Stettin).
Philharmonic. In was haben Sie sich verliebt?                   Die beiden Letztgenannten spielen in akustisch vor­
    Jedes Orchester verfügt über eine ganz eigene Energie –     züg­lichen Konzerträumen. In einem Jahr wird das
in einigen Fällen lässt es eine solche vermissen. Die Musike-   Argovia Phil­harmonic in die Alte Reithalle Aarau
rinnen und Musiker im Argovia Philharmonic sind in dreierlei    einziehen. Welche Hoffnungen verbinden Sie mit
Hinsicht aussergewöhnlich: Sie spielen im Orchester, haben      diesem spe­ziellen Ort?
aber auch Zeit für Kammermusik; zudem unterrichten einige           Ich glaube, dass sich ganz viele Konzertbesucher*in-
von ihnen auch. Diese Kombination macht sie sehr aufge-         nen auf den besonderen Tag freuen, wenn wir den neuen
schlossen für musikalische Ideen; das ist das Erste, was mir    Konzertsaal eröffnen können. Ich bin schon in der Alten
sofort aufgefallen ist. Diese spezifische Energie macht das     Reithalle ge­wesen – dort herrscht wirklich eine sehr speziel-
Potenzial für dieses Orchester sehr speziell.                   le Atmosphäre. Die Kombination eines historischen Ortes
                                                                mit schöner Musik – das wird perfekt sein.
Wer von einem Orchester spricht, spricht von seiner             Interview Elisabeth Feller
Unverwechselbarkeit. Wie erreicht man diese?
    Die Kombination der Menschen ist entscheidend für den
Erfolg. Ich kann mit Programmen arbeiten und das Orches-        BADEN Trafo
ter künstlerisch, technisch und musikalisch entwickeln.         So, 6. September, 11 Uhr und 17 Uhr (ausverkauft)
Aber nur die Kombination all dessen sowie die Persönlich-       Programm: www.argoviaphil.ch
keit aller Musiker*innen vermögen Magie entstehen
zu lassen.

16
Sept 20 Aargauer Kulturmagazin                  VORSCHAU

           Zwei Schwergewichte
           im Improvisieren
           SOUNDS Die beiden Jazzgrössen, der Gitarrist Lionel Loueke und der
           Schlagzeuger Ziv Ravitz, gastieren als Duo im Pflegidach Muri.

           Die Veranstaltungsreihe «Musig im Pflegidach» in Muri ist        engagieren, den Gitar-
           nicht dafür bekannt, bescheiden in ihren Ansprüchen zu           risten Lionel Loueke
           sein. Stephan Diethelm, der sie erfunden hat und seit Jahren     und den Schlagzeu-
           kuratiert, gibt sich nur mit dem Besten zufrieden. Mit dem       ger Ziv Ravitz. Möglich
           natürlich, was ihm persönlich am besten gefällt, was ihn         wurde es deshalb, weil
           berührt und was die Qualität hat, die er gerne hört. Ein gutes   die beiden Weltbürger
           Rezept, um Konzerte zu organisieren, Claude Nobs in Mon-         im Moment in Europa
                                                                                                         Lionel Loueke. zvg
           treux, und Niklaus und Arno Troxler in Willisau mach(t)en es     leben.
           genauso. Der Kurator ist Mittler zwischen Musizierenden und          Der Gitarrist
           Pu­blikum, man kann sich auf ihn verlassen, Stil und Qualität    Lionel Loueke stammt ursprünglich aus Benin in Westafrika,
           sind gesetzt – Zuhörende müssen allerdings mit der Ausrich-      aus der Musik seiner Heimat und tausend anderen Ein­
           tung glücklich sein. Bei Stephan Diethelm ist diese klar:        flüssen hat er seinen ganz persönlichen Sound kreiert, den
           Er liebt Musiker*innen aus Israel und solche aus der jüdi-       Jazzgiganten wie Herbie Hancock oder Wayne Shorter gern
           schen Diaspora in New York. Die ist überreich gesegnet mit       in ihr musikalisches Universum inte­grierten. Ziv Ravitz ist
           wunderbaren Künstler*innen, und natürlich hat auch diese         Israeli und heute einer der angesagten Drummer in
           Szene ihrerseits eine musikalische Diaspora – eine fast unbe-    New York, der kürzlich verstorbene Saxofonist Lee Konitz
           grenzte Auswahl Musiker*innen zum Engagieren also.               war einer seiner Arbeitgeber.
                                                                                Überflüssig zu sagen, dass beide langjährige Freunde
           Weltbürger zu Gast                                               von Stephan Diethelm sind und mit Vergnügen im Pflegi-
                Für Veranstalter wie Diethelm allerdings ist die jetzi-     dach gastieren! Von Beat Blaser
           ge Zeit sehr schwierig, «seine» Leute können im Moment
           kaum reisen, ein Wunschprogramm zusammenzustellen ist
           ziemlich herausfordernd. Umso schöner, dass es gelungen          MURI Musig im Pflegidach
           ist, zwei Schwergewichte der improvisierten Musik im Duo zu      So, 6. September, 20.30 Uhr

           Choreografierte Industriegeschichte
                                                                                        BÜHNE Die Betonwände von der Zeit gezeich-
                                                                                        net, rostige Überbleibsel von der einstigen
                                                                                        Metallgiesserei – so präsentiert sich die Szene-
                                                                                        rie von «Fallen». Unter der Leitung von Sarah
                                                                                        Keusch und Jeanine Reutemann entstand eine
                                                                                        künstlerisch-kulturelle Auseinandersetzung mit
                                                                                        der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im
                                                                                        Zusammenspiel von Tänzer*innen der Com-
                                                                                        pagnie Quilla und einer Videoinstallation. Die
                                                                                        gleichsam performative und installative Bespie-
                                                                                        lung der alten Metallgiesserei findet im Rahmen
                                                                                        des Projektes #ZeitsprungIndustrie statt. phn

                                                                                        OBERSIGGENTHAL Oederlin Areal,
                                                                                        Do, 3. September, 17. 30 Uhr,
                                                                                        Fr, 4. September, 11 / 17.30 Uhr

Tänzer*innen der Compagnie Quilla. zvg

                                                                                                                                      17
VORSCHAU                         Sept 20 Aargauer Kulturmagazin

           Ein zahmes Monster
           SOUNDS Was lange währt, wird endlich
           gut – diese zwar etwas abgedroschene
           Phrase umschreibt doch allzu treffend das
           kürzlich erschienene Erstlingswerk der
           Zürcher Indie-Popper Tim Freitag. Bereits
           seit dem Jahr 2011 produziert das Quintett
           Musik, wurde dann aber zwischenzeitlich
           auf Eis gelegt. Dass sie nun die Auftau­
           phase mehr als überstanden haben, zeigt
           der Langspieler «Monsters Forever» in
           eindrücklicher Weise: Auch wenn der
           Albumtitel etwas Ungetümes verspricht,
           handelt es sich bei dem vermeintlichen
           Monster vielmehr um eine verspielte
           Kreatur zwischen tanzbarem Pop und
           melodiegetränktem Indie mit viel Liebe
           zum Detail. Die Texte über Sehnsucht
           und gebrochene Herzen unterstreichen
           zwar den melancholischen Grundton
           des Werks, gleichsam lässt die Musik
           Hoffnung auf bessere Zeiten aufkeimen.
           Wenn diese Kompositionen – so, wie
           von Tim Freitag gewohnt – live mit einer
           unglaublichen Energie vorgetragen
           werden, ist ein einmaliges Konzerterlebnis
           garantiert. Von Philippe Neidhart

           AARAU Kiff
                                                                  Das Zürcher Quintett Tim Freitag. Foto: Nadja Stäubli
           Fr, 4. September, 20.30 Uhr

           Amalgam aus Antike und Moderne
                                                                                    SOUNDS Ein psychedelisch-musikalisches Erlebnis an einer
                                                                                    einzigartigen Location – wenn Dub Spencer & Trance Hill im
                                                                                    Römerlager Vin­donissa aufspielen, verschmelzen Welten.
                                                                                    Hier der von Trance und Rock geprägte Dub-Reggae, da die
                                                                                    römischen Legionäre, Gladiatoren und antike Kulisse, lassen
                                                                                    sie das Publikum zusammen mit Umberto Echo am Misch-
                                                                                    pult in psychedelische Sphären eintauchen. Das im Rahmen
                                                                                    der Soundwerkstatt «Tumultus» stattfindende Konzert ist
                                                                                    zudem die Plattentaufe des neusten Albums, «Tumultus II»,
                                                                                    der kreativen Luzerner Musiktüftler. Dabei dürfen wir uns auf
                                                                                    eine Hommage an das Windischer Legionslager freuen. phn

                                                                                    WINDISCH Römerlager Vindonissa
                                                                                    Fr, 18. September, 21 Uhr

Die Luzerner Dub-Reggae-Künstler Dub Spencer & Trance Hill. zvg

           18
Sept 20 Aargauer Kulturmagazin                      VORSCHAU

            Bei Vollmond ins Museum                                                            Idealer Ort für ein Hexenmuseum: Schloss Liebegg. zvg

            DIES & DAS Nachts ins Museum? In der magischen Nacht des Vollmon-
            des ist dies im Hexenmuseum Gränichen möglich. Bis Mitternacht haben
            die Besucher*innen Zeit, sich vom mystischen Ort und vom Thema ver-
            oder besser entzaubern zulassen. Denn das Hexenmuseum versteht sich
            als Ort der Information und Aufklärung und hinterfragt kritisch Volks-
                    und Aberglauben, hilft falsche Vorurteile und Vorstellungen zu
                         Hexen abzubauen und liefert einen profunden Einblick in den
                            Forschungsstand über die Hexenprozesse in der Schweiz.
                             Ab 11 Jahren. mh

                               GRÄNICHEN Hexenmuseum Schloss Liebegg
                               Di, 1. September (Vollmond), ab 20 Uhr

Rahel Wohlgensinger. Foto: Ilja Mess
                                                                                Bunte Fantasiewelten
                                                                                FILM Das Fantoche bietet eine ganze Reihe von Filmen
                                                                                für ein jüngeres Publikum. Neben Wettbewerbsblöcken
                                                                                mit Kinder- und Jugendkurzfilmen werden neue Lang­filme
                                                                                («Fritzi – Eine Wendewundergeschichte»), aber auch Klas­
                                                                                siker wie «Die Abenteuer des Prinzen Achmed», einer
                                                                                der ersten animierten Langfilme (Scherenschnitt-Technik),
                                                                                der musikalisch live vertont wird, oder «Ernest and Céles-
                                                                                tine» gezeigt. Auch junge Manga-Fans kommen auf ihre
                                                                                Rechnung: «Kiki’s Delivery Service», der japanische Kultfilm
                                                                                aus dem Jahre 1989 läuft gleich dreimal im Programm. mh

                                                                                BADEN Fantoche
                                                                                1. bis 6. September

            Lauschen und horchen
            BÜHNE In ihrem Stück «Klank» für die jüngsten Zuschau-
            er*­innen begeben sich die Puppenspielerin Rahel Wohl­
            gensinger und die Musikerin Andrea Zuzak auf eine Reise
            in den Klang der Dinge.
                 Was tönt denn da? Es kreiselt, es reibt, es schlägt, wischt,
            bricht und klopft. Durch einfache Animation werden die
            Dinge lebendig und zum Klingen gebracht. Wie klingt Stein,
                                                                                 Videostill aus dem Film «School of Development» von Anastasiya Sokolova
            wie tönt Holz, Laub oder Tannenzapfen und wie Knäckebrot?
            Eine Klangreise, die die Ohren weckt, die überrascht und
            verblüfft. Ab 2 Jahren. mh

            AARAU Tuchlaube
            So, 20. September, 11 Uhr

                                                                                                                                               19
VORSCHAU                     Sept 20 Aargauer Kulturmagazin

Jazz und Pizza                       Klangverschiebungen                      Kinokonzert                            «Anna Göldi»
In Kriens werden Gaumen- und         Verschiebungen in der Gesell-            Für einmal musst du dich nicht         Seit Jahren begeistert die Freilicht-
Ohrenfreuden kombiniert: Die         schaft, seismografische Schwin-          entscheiden, ob du ins Kino oder       bühne Rüthi das Publikum mit
neue Konzertreihe «Jazz & Pizza»     gungen, Bewegungen in der                an ein Konzert gehen möchtest,         ihren aufwendigen Inszenierun-
bietet, was der Name verspricht.     Erdkruste: «Tektonik» lautet das         denn du kannst beides gleichzeitig     gen. Dieses Jahr inszeniert sie das
Manuel Kaufmann, Patrick Müller      Thema des diesjährigen Musik­            haben. Das Kino Cameo und das          Stück «Anna Göldi», geschrieben
und Luca Sisera wollen auf dem       festivals Bern. Ein Festival für         Salzhaus kollaborieren mit Sound       und aktualisiert von Theater-
Areal der Krienser Teiggi einen      zeitgenössische, improvisierte,          und Film. Emilie Zoé und Christian     und Filmautor Kuno Bont. Damit
«hyperoffenen» Ort schaffen. Eine    experimentelle und elektronische         Garcia-Gaucher vertonen mit ihrer      erzählt das Stück wiederum eine
Initiative mit Musik und italieni-   Musik mit über 40 Veranstaltun-          imperfekten und sanft störenden        regionale Geschichte und bringt
scher Spezialität gegen Unsicher-    gen. Verschiebungen erleben:             Musik den schwedischen Film «A         ein lebendiges Gesellschaftsbild
heit und Misstrauen, für Mut und     Etwa am Konzert des Ensembles            Pigeon Sat on a Branch Reflecting      des 18. Jahrhunderts auf die Büh-
Neugier.                             Mothertongue um den Komponis-            on Existence». Regisseur Roy An-       ne. Das Stück wird vom 4. bis zum
                                     ten Charles Uzor, das sich mit der       derson philosophiert darin kritisch    20. September 13 Mal aufgeführt.
KRIENS Teiggi Areal, jeweils So,     Wandlung unserer Muttersprache           über das menschliche Dasein.           Zwei Zusatzvorstellungen gibt es
30. August, 6./13./20./27. Septem-   auseinandersetzt.                                                               am 10. und 17. September.
ber, 17 Uhr                                                                   WINTERTHUR Mi, 16. Sep­tember,
                                     BERN Diverse Orte                        Kino Cameo                             RÜTHI Festspielareal Werben,
                                     2. bis 6. September                                                             4. bis 20. September

                                     Virtuelle Gefühle                        Mut zum Selbstbetrug                   Skurriler Rummelplatz
                                     Wenn sich die emotionale Intelli-        Die Bühne hat ihn wieder. Nach         Buffpapier wurde 2000 von Fran-
                                     genz der Menschen und jene der           dem Ende von «Late Update» auf         ziska Hoby und Stéphane Fratini
                                     Maschinen annähern – wissen wir          SRF tut Michael Elsener das einzig     gegründet und hat sich der Poesie
                                     dann noch, wie wir wirklich fühlen?      Sinnvolle: Er biegt sich und uns die   des Körpers verschrieben. Treibstoff
                                     Das Haus der elektronischen Künste       Welt glücklich. Sein frischgebacke-    ihrer Theaterstücke ist das Grotes-
                                     zeigt, wie Technologie und Medien        nes Bühnenstück «Fake Me Happy»        ke, Absurde, Bizarre. Im September
                                     unsere Gefühle beeinflussen. Die         ist die «ideale Ergänzung zu           feiert die Compagnie Buffpapier
                                     Werke der 20 Kunstschaffenden            un­serem täglichen Selbstbetrug»,      ihr 20-jähriges Bestehen: ein Rum-
                                     reichen von künstlicher Intelligenz,     so der Elsener. «Die beste Schwei-     melplatzfest in Zusammenarbeit
                                     Gaming und interaktiven Installatio-     zer Comedy Show 2023» schreibe         mit dem Theater Café Roulotte
                                     nen über Robotik und Biometrie bis       die «New York Times» dazu, so          und Chocherey. Dazu Rahmenpro-
                                     hin zu Videoinstallationen, virtueller   ebenfalls der Elsener.                 gramm für Gross und Klein, mit
                                     Realität und Fotografie.                                                        Theater, Musik, Essen, Barbetrieb –
                                                                              ZUG Theater Casino, 25. und            und natürlich Zuckerwatte.
                                     MÜNCHENSTEIN Haus der                    26. September, 20 Uhr
                                     elektronischen Künste, bis                                                      ST. GALLEN Kreuzbleiche, 9. bis
                                     15. November                                                                    13. September

            20
Sept 20 Aargauer Kulturmagazin                     VORSCHAU

                                                     Unsterblich verliebt
                                                     «Undine» von Christian Petzold, Deutschland, 2020

                                                     Undine ist ein Wassergeist, die uralte Figur der Nymphe, die eine Seele
                                                     bekommt, wenn sie sich mit einem Menschenwesen vermählt. Scheitert
                                                     ihre Liebe, bringt sie dem Geliebten den Tod. Christian Petzold (Barbara,
                                                     Transit) erzählt die unsterblich tödliche Liebesgeschichte Undines im heutigen
                                                     Berlin und seiner Umgebung und kann dabei auf ein grossartiges Schauspielpaar set-
                                                     zen: Franz Rogowski, der als Industrietaucher in die Seen steigt, und die an der Berlinale
                                                     ausgezeichnete Paula Beer, die die Undine verkörpert und als Historikerin durch Berlins
                                                     Stadtmodelle führt. Einmal mehr schafft Petzold dabei eine distanziert nahe Erzählung,
                                                     in der die Transzendenz des Zusammengehens fassbar wird und gleichzeitig seine Rät-
                                                     selhaftigkeit bewahrt. Das ist ein Tauchgang in den Waldsee der Liebe.

                                                     AB 28. AUGUST im Kino

Zerriebene Jugend zwischen
den Fronten
«Notre-Dame du Nil» von Atiq Rahimi, Ruanda 2019

Ruanda, 1973. Junge Mädchen werden im angesehenen katholischen
Internat Notre-Dame du Nil hoch oben in den Hügeln zur künftigen Elite
Ruandas ausgebildet. Sie teilen den Schlafsaal, dieselben Träume und Teen-
ager-Sorgen, egal ob Hutu oder Tutsi. Doch im Land brodelt ein tiefsitzender
Konflikt, der sich zunehmend in die Schule einschleicht und das Leben
der jungen Mädchen für immer verändern wird. Atiq Rahimi («The Patience
Stone») hat den gleichnamigen autofiktionalen Roman von Scholastique
Mukasonga fesselnd und in traumhaften Bildern umgesetzt, schafft dabei
Zusammenhänge zur europäischen Geschichte und taucht in die mythische
Welt der Tutsi ein.

AB 3. SEPTEMBER im Kino

                                                                  Mitten unter uns
                                                                  «Hexenkinder» von Edwin Beeler, Schweiz, 2020

                                                                  Man kann es kaum glauben, dass sich die Kindheitsgeschichten, die
                                                                  Edwin Beeler zusammengetragen hat, mitten unter uns abgespielt haben
                                                                  und dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es sind Erzählungen
                                                                  von zwangsversorgten Heimkindern, die im Namen der Religion gequält
                                                                  wurden, sich nicht brechen liessen und dank Fantasie überlebt haben.
                                                                  Man lauscht dem, was die Porträtierten erzählen, und schaut, was der
                                                                  Filmemacher mit seinen eigenen Bildern schafft: Das sind bewegende,
                                                                  stille Aufnahmen, die dem Unfassbaren Raum und Ruhe geben.

                                                                  AB 20. SEPTEMBER im Kino

                                                                                                                                            21
Sie können auch lesen