1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de

Die Seite wird erstellt Yanick Eberhardt
 
WEITER LESEN
1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
1867 - 2017
Ev. Diakonissenmutterhaus in Bremen
          Festschrift zum
150-jährigen Bestehen

Gemeinschaft,
die stärkt...
1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
3
1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
Danke!

Das 150jährige Bestehen unseres Diakonissenmutterhauses würdig zu begehen - diesen Auftrag hatten
wir uns gestellt. Wir wünschten uns eine Votragsreihe, die unsere Themen aufnimmt, einen Workshop mit
Impulsen für die Zukunft, einen Blick zurück und nach vorn. Zur Erinnerung sollte das alles Eingang in diese
Festschrift finden. Dank Ihrer Unterstüzung blicken wir nun auf ein erfolgreiches Jubiläumsjahr zurück:

                                                                                                               1867 - 2017
Wir bedanken uns

        beim Team des Diakonissenmutterhauses, das die zusätzlichen Anforderungen auf sich genommen
        hat - „Ohne Sie wäre das nicht möglich gewesen“

        bei allen Referentinnen und Referenten - „Ihre Impulse rüsten uns für die Zukunft“                     Ev. Diakonissenmutterhaus in Bremen
        bei unseren Kooperationspartnerinnen und -partnern DIAKO Ev. Diakonie-Krankenhaus gGmbH,                         Festschrift zum
        Diakonisches Werk Bremen e.V., Bremische Evangelische Kirche,
        Evangelische Frauen in Bremen e. V., Fachstelle Alter                                                  150-jährigen Bestehen
        bei allen, die mit ihren kleinen und großen Spenden zur Realisierung beigetragen haben und ebenso
        bei der Bremischen Evangelische Kirche, den Evangelischen Frauen in Bremen e: V. und der
        Schwester Dorothea-Geweke-Stiftung, Hannover, für ihre Unterstützung

        bei Antje Büsing, die mit großem Engagement, Geduld und Zuneigung zum Mutterhaus
        diese Festschrift erstellt hat

Klaus von Hahn 		               Constantin Frick         Sr. Sigrid Pfäfflin         Thomas Rothe
Vorstand				                    Vors. Verwaltungsrat     Oberin			                   Pastor
1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
Inhaltsverzeichnis

Grußworte                                                                         Impulse

„Tradition aber, ist gegenwärtige Zeit“                                           Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde
Bestehen angesichts 150 Jahre deutscher Sozial- und Diakoniegeschichte       8    Von Bleibeverhandlungen mit dem Leben und seinem Abschied 		 27

„Segen stiften und Segen erfahren                                                 Tee, Zwieback und die Losung
- im Zusammenspiel mit kirchlichen und diakonischen Akteuren 		              10   Diakonie geschieht im Alltag - zwischen Tradition und Transformation    41

„Binde Deinen Karren an einen Stern“                                              „Was eine diakonische Einrichtung diakonisch macht
- eine tägliche Ermutigung für patientenorientiertes Handeln			              12   - und wo diakonische Identität sichtbar wird				                        77

„Nur wer Veränderungen akzeptiert, kann auch wachsen“                             Diakonische Unternehmenskultur -
Das Ev. Diakonissenmutterhaus in Bremen verbindet Tradition und Innovation   14   im Spannungsfeld von Auftrag und Markt					                             87

Lebt Euern Traum                                                                  Gepflegt in Bremen - ambulant oder stationär?
- einen Traum für morgen und den Mut, ihn heute schon zu leben               16   Das Diakonissenmutterhaus - politisch betrachtet		 		 97

                                                                                  „Eine „Diakonissen-Bildungsanstalt“ für Bremen
Einleitung                                                                        als „Hoffnungszeichen“?
                                                                                  Ein Blick zurück und in die Zukunft					                               109
„Nahrung für die Seele“
Was es braucht, in wechselvollen Zeiten diakonisch zu arbeiten		             19   Heimat verlieren, Heimat suchen, Heimat geben
                                                                                  Der Geist Martha Zöcklers im Diakonissenmutterhaus			                  130

                                                                                  „So war sie, unsere Oberin“
                                                                                  Die Schwestern erinnern sich an Sr. Martha Zöckler			                  144

                                                                                  Was bleibt diakonisch im Wandel der Zeit?
                                                                                  Mitmenschlichkeit – Selbstsorge – Spiritualität					                   151

                                                                                  Impressum									 158
   6                                                                                                                                                           7
1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
„Tradition aber, ist gegenwärtige Zeit“, hat der          Das Diakonissenmutterhaus war und ist ein Ort mit
                                                                         Philosoph Theodor W. Adorno geschrieben. Das              eigenem Anspruch. Nicht selbstbezogen, aber mit
                                                                         Diakonissenmutterhaus blickt auf 150 Jahre seines         „Marke“. Das Altenpflegeheim, die Emmauskirche,
                                                                         Bestehens zurück. Damit ist es ein Traditions-            Ausbildungszentrum, Wohnhaus für syrische Flüchtlings-
                                                                         unternehmen und darf sich selbstgewiss und dankbar        familien – in unseren Tagen sehen wir ein „Dorf“ mit
                                                                         auf seine Geschichte beziehen. In 150 Jahren deutscher    innovativem Wachstumspotenzial, das darauf achtet,
                                                                         Sozial- und Diakoniegeschichte zu bestehen, trotz aller   keine Seele zu verlieren, die sich ihm anvertraut. „Die
                                                                         Krisen- und Umbruchszeiten dabei geblieben zu sein, ist   Zeiten sind nicht eben leicht“, haben alle immer schon
                                                                         eine Leistung, die der Würdigung bedarf.                  zu allen Zeiten gesagt. „Seid getrost und unverzagt,
                                                                                                                                   fürchtet euch nicht“ (5. Mose,31) hat die Bibel allen
                                                                         Das Gegenwärtige im Blick zu haben, die Bedarfe mit       Entmutigten zur Seite gestellt.
                                                                         den reformerischen Notwendigkeiten in Einklang zu
                                                                         bringen, ohne die Tragkraft der geistlichen Dimension     Das Diakonissenmutterhaus wird auch zukünftig
                                                                         abzuschwächen, das hat das Diakonissenmutterhaus          Menschen brauchen und finden, die gelassen und klug,
                                                                         geprägt und nie aufgegeben. Vielleicht hat ein Satz aus   phantasievoll und durch Gemeinschaft gestärkt, die
                                                                         Psalm 32 Stütze und Ausrichtung gegeben: „Ich will dir    Zukunft in den Blick nehmen. An Menschen, die bereit
„Tradition aber, ist gegenwärtige Zeit“                                  den Weg zeigen, den du gehen sollst. Ich will dir raten   sind, an den Berührungspunkten zwischen Himmel und
                                                                         und dich behüten.“                                        Erde zu arbeiten und segensreich zu wirken, haben wir
Bestehen angesichts 150 Jahre deutscher Sozial- und Diakoniegeschichte                                                             in unserer Gesellschaft großen Bedarf. Dafür steht das
                                                                         Haube und Schürze sind abgelegt, die Schwestern-          Diakonissenmutterhaus – seit 150 Jahren und hoffent-
                                                                         gemeinschaft, die allen anderen Beziehungsmög-            lich noch lange.
                                                                         lichkeiten adé gesagt hat, ist klein geworden.

                                                                         Aber das Projekt ist weder gescheitert noch zu Ende.
                                                                         Diakonie geschieht im Alltag. Menschen bedürfen der
                                                                         Zuwendung und Pflege, des Seelentrostes und der
                                                                         praktischen Unterstützung. Damals wie Heute. Und          Edda Bosse
                                                                         Gemeinschaft wird immer noch gepflegt – anders, aber      Präsidentin des Kirchenausschusses
                                                                         nicht weniger herzlich und verbindlich.                   der Bremischen Evangelischen Kirche

  8                                                                                                                                                                                  9
1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
Liebe Diakonissen, Schwestern und Freunde
                                                               des Bremer Diakonissenmutterhauses,

                                                               wir blicken auf 150 Jahre zurück, in denen die Schwestern   Formen diakonischer Praxis und Reflexion, in der
                                                               unseres Hauses im Krankenhaus, in Kirchengemeinden,         Zusammenarbeit mit der Bremischen Evangelischen
                                                               in Haushalten und im siebenbürgischen Waisenhaus            Kirche, dem DIAKO-Krankenhaus, der Evangelischen
                                                               in Schäßburg Hand angelegt, gepflegt, mitgelitten und       Frauenarbeit in Bremen und den diakonischen
                                                               getröstet haben. Seit die Zahl der Diakonissen zurück-      Einrichtungen anderer Träger.
                                                               geht, pflegen wir alte Menschen in unserer Mitte im
                                                               Mutterhaus und sehen darin heute den Kern unserer           Möge unser Haus weiterhin viele Jahre Segen stiften
                                                               Aufgabe im Bremer Westen.                                   und Segen erfahren!

                                                               In der Pflege wird unsere tägliche Arbeit geprägt von
                                                               einem schwer zu ertragenden Zwiespalt: diejenigen
Segen stiften und Segen erfahren                               von uns, die von der Arbeit im Pflegeheim leben
                                                               müssen, werden unter dem wirtschaftlichen Druck der
- im Zusammenspiel mit kirchlichen und diakonischen Akteuren   Versorgungsträger zu oftmals unwürdiger Hetze bei
                                                               sparsamstem Entgelt gezwungen - aber gemeinsam
                                                               wollen wir nicht nur die notwendigsten Handgriffe tun,
                                                               sondern die erfahrene Liebe Christi in Wort und Tat
                                                               weitergeben und untereinander teilen.                       Constantin Frick
                                                                                                                           scheidender Vorsitzender des Verwaltungsrates
                                                               Dieses eigentliche Ziel wird gewiss auch in Zukunft das
                                                               Mutterhaus mit seiner Emmaus-Kirche als einen Ort
                                                               der Sammlung und Sendung für diakonische Praxis
                                                               tragen und prägen. Es ist lebendig in den regelmäßigen
                                                               Zusammenkünften der Schwesternschaft, im Aufbruch
                                                               der Diakonischen Weggemeinschaft Emmaus zu neuen

 10                                                                                                                                                                        11
1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
Zum 150. Geburtstag des Vereins „Evangelische             Die in den jüngsten zurückliegenden Jahrzehnten
                                                               Diakonissenanstalt Bremen“, aus dem das Evangelische      mit hohem Engagement aller Mitarbeiterinnen und
                                                               Diakonissenmutterhaus und die DIAKO Ev. Diakonie-         Mitarbeiter immer weiterentwickelten Leistungs-
                                                               Krankenhaus     gemeinnützige     GmbH      hervorge-     angebote des Ev. Diakonissenmutterhauses und die des
                                                               gangen sind, übermittle ich den Diakonissen, allen        Krankenhauses verschaffen der Bevölkerung im Bremer
                                                               Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beider Institutionen    Westen eine der einzelnen Persönlichkeit zugewandte
                                                               sowie den Verantwortlichen auf Trägerseite im DIAKO-      erstklassige Versorgung, Betreuung, Geborgenheit und
                                                               Namen die herzlichsten Glückwünsche.                      damit eine individuelle Sicherheit, die gerade hier in
                                                                                                                         Gröpelingen ─ insbesondere auch perspektivisch ─ nicht
                                                               „Binde Deinen Karren an einen Stern“ - dieser Rat von     hoch genug bewertet werden kann.
                                                               Leonardo Da Vinci ist nach meiner festen Überzeugung
                                                               eine tägliche Ermutigung für patientenorientiertes        Als direkter Nachbar danke ich Ihnen für die gute
                                                               Handeln im Sinne des Selbstverständnisses von             Zusammenarbeit in all den Jahren. Ich wünsche allen
                                                               Diakonie, damit sich immer wieder mitten im Alltag der    Mitarbeitenden des Evangelischen Diakonissenmutter-
                                                               Himmel für den Einzelnen öffnen kann.                     hauses weiterhin viel Kraft, Mut, Zuversicht und für
                                                                                                                         die tägliche Arbeit Gottes Segen. Ihr Einsatz demon-
„Binde Deinen Karren an einen Stern“                           Beide Institutionen gäbe es heute nicht, wenn es nicht    striert Tag für Tag, wie unsere zu materiell ausgestaltete
                                                               die engagierten Aufbauleistungen der in früheren Jahren   Gesellschaft mit Achtsamkeit, Respekt, persönlichem
- eine tägliche Ermutigung für patientenorientiertes Handeln   so zahlreich für den Verein „Ev. Diakonissenanstalt       Engagement und Hingabe positiv verändert werden
                                                               Bremen“ und damit für unsere beiden Institutionen         kann. Danke, dass es Sie gibt. Danke, dass Sie sich für
                                                               tätigen Diakonissen gegeben hätte. Dieses Engagement      die hier lebenden Menschen so besonders engagieren.
                                                               der Diakonissen verdient allergrößten Respekt. Unter
                                                               den Diakonissen gab es auch echte Strategen, die
                                                               genau wussten, was sie wollten. Gern erinnere ich
                                                               mich in diesem Zusammenhang an die sehr vertraute
                                                               Zusammenarbeit mit der langjährigen Oberin des            Walter Eggers
                                                               Evangelischen Diakonissenmutterhauses, Schwester          Geschäftsführer
                                                               Else Yzer, zurück.                                        DIAKO Ev. Diakonie-Krankenhaus gGmbH

  12                                                                                                                                                                         13
1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
„Nur wer Veränderungen akzeptiert, kann auch              durch Wohnräume für ein Leben im Alter. Eine leben-
                                                                             wachsen“ – in diesem Zitat von dem amerikanischen         dige diakonische Gemeinschaft ist ebenso ein beredtes
                                                                             Autor Francis Paul Wilson steckt viel Wahrheit. Unser     Zeugnis evangelischen Profils wie die vielen Fort- und
                                                                             Leben ist geprägt von Veränderung – vom Kindesalter       Weiterbildungen weit über das Diakonissenmutterhaus
                                                                             über die Jugend und das Erwachsensein bis hin zum         hinaus.
                                                                             Älterwerden. In den vergangenen 150 Jahren hat sich
                                                                             auch das Diakonissenmutterhaus immer wieder verän-        Das Ev. Diakonissenmutterhaus in Bremen verbindet
                                                                             dert – und ist daran gewachsen.                           Tradition und Innovation miteinander und ist so ein Ort,
                                                                                                                                       an dem Dienstgemeinschaft gelebt und praktiziert wird.
                                                                             1867 gegründet war das Diakonissenmutterhaus ein
                                                                             wichtiger Ausgangspunkt für gleich zwei Diakonische       Ich danke allen, die zum Segen anderer Menschen im
                                                                             Einrichtungen, die es bis heute gibt. Das DIAKO und       Diakonissenmutterhaus ihren Dienst geleistet haben und
                                                                             das Diakonissenmutterhaus tragen beide lebendig           dies auch zukünftig tun. Denn so wird die Verkündigung
                                                                             zur diakonischen Profilgestaltung bei. Die Tradition      der Liebe Gottes in Wort und Tat lebendig.
                                                                             der Diakonissen und des Diakonissenmutterhauses           Gott segne Sie und ihr Tun.
                                                                             in Bremen prägen das Bild der Diakonie dabei in ganz
„Nur wer Veränderungen akzeptiert, kann auch wachsen“                        besonderer Weise. Das Diakonissenmutterhaus ist ein
                                                                             Zentrum der christlichen Gemeinschaft – es ist ein Ort,
Das Ev. Diakonissenmutterhaus in Bremen verbindet Tradition und Innovation   an dem Diakonie mit dem Dienst für den Nächsten
                                                                             gelebt wird – und das jeden Tag seit 150 Jahren.

                                                                             Der Wandel in der Altenhilfe und die so engagierte        Manfred Meyer
                                                                             Pflege und Begleitung älterer Menschen ist ebenso         Diakonisches Werk Bremen e.V.
                                                                             gelungen, wie die Schaffung zusätzlicher Angebote         Vorstand und Landespastor für Diakonie

  14                                                                                                                                                                                     15
1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
Wahrt eure Freiheit - Jede Gemeinschaft braucht frischen Wind und die
                                                                                                                     Mitglieder Freiraum, ihre Ansichten einzubringen. Im Hören aufeinander können           Luft zum Atmen und den Duft
Lebt Euern Traum                                                                                                     wir voneinander lernen. Toleranz auf dem sicheren Fundament der Botschaft Jesu          des Frühlings, die Geduld,
                                                                                                                     wird die Gemeinschaft stärken und beleben. Ich wünsche deshalb genug Luft zum           den Winter zu ertragen,
- einen Traum für morgen                                                                                             Atmen und Genießen.

und den Mut, ihn heute schon zu leben                                                                                Streitet konstruktiv - Unterschiedliche Meinungen gehören in die                        Platz im Herzen,
                                                                                                                     Gemeinschaft. Durch die Auseinandersetzung mit ihnen üben wir, Verschiedenheit          einen Kreis von Menschen
                                                                                                                     auszuhalten, Unrecht zu benennen oder uns für die Anliegen der Schwachen                und den Mut, auch
Das Diakonissenmutterhaus Bremen feiert                                                                              einzusetzen. Ich wünsche deshalb eine faire Streitkultur.                               Widerspruch zu wagen,
150. Geburtstag. Dazu gratuliere ich im Namen
des Kaiserswerther Verbandes deutscher                                                                               Dankt für Arbeit, Freunde und Brot - Vieles halten wir für
Diakonissenmutterhäuser sehr herzlich.                                                                               selbstverständlich und vergessen, Gott und Menschen an unserer Seite zu danken.         Grund zum Danken, einen
Das Jubiläum lädt zum Nachdenken ein, welche                                                                         Ein 150. Jahresfest ist ein Grund zum Danken. Deshalb wünsche ich ein fröhliches        Freund für’s Leben, eine
Wünsche den weiteren Weg begleiten sollen.                                                                           Dankfest zum Jubiläum – und alle Jahre wieder.                                          Arbeit, täglich Brot zu essen,
Ein Lied von Martin Buchholz hat mir
Anregungen gegeben:                                                                                                  Nehmt euch Zeit für Gott - Die Verbindung von Gebet und Dienst war
                                                                                                                     und ist typisch für Diakonissenhäuser. Deshalb sehe ich eine wesentliche Aufgabe        Zeit zu schweigen und auf
                                                                                                                     Diakonischer Gemeinschaften darin, Zeiten der Besinnung zu planen, zu gestalten         Gott zu hören, einen Ort,
Lebt euern Traum - Begeisterte Menschen haben es 1867 vorgelebt und                                                  und im Unternehmen einzufordern. Ich wünsche deshalb Kreativität und Lust,              den Alltag zu vergessen.“
eine Diakonissenbildungsanstalt in Bremen gegründet. Unzählige Frauen konnten         „Raum zum Träumen, einen       zeitgemäße Alltagsrituale zum Innehalten zu entwickeln und auszuprobieren.
seitdem ihrer Liebe zu Gott im Dienst an hilfebedürftigen Menschen Ausdruck           Traum für morgen und den
geben. Inzwischen gab es viele Aufbrüche, die den Kaiserswerther Verband heute        Mut, ihn heute schon zu
bunt erscheinen lassen. Eins verbindet alle Gemeinschaften: Der christliche Glaube,   leben,
der sich im Dienst der Diakonie zeigt. (Gal. 5,6) Ich wünsche allen Geschwistern in
Bremen den Mut, ihre Träume zu leben.                                                                                                                      Ich schließe mit dem Refrain des Liedes:

Nehmt einander an - Das ist eine Herausforderung, aber auch ein Glücksfall                                                                                 		                 „Das wünsch ich dir, das wünsch ich dir von Herzen.
für jede Gemeinschaft. Wenn gegenseitige Unterstützung und die Bereitschaft           Raum für Tränen, echten                                              		                 Gott behüte deine Schritte! Niemals gehst du ganz allein.
zur Versöhnung im Alltag Markenzeichen des Miteinanders sind, werden                  Trost im Leiden und den Mut,                                         		                 Gott begleite deine Reise! Er wird immer bei dir sein.“
Gemeinschaften überzeugend, glaubwürdig und einladend für andere Menschen             dem andern zu vergeben,
wirken. Ich wünsche deshalb Raum für Tränen, Trost und Vergebungsbereitschaft.                                                                             Sr. Esther Selle

   16                                                                                                                                                                                                                                 17
1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
„Nahrung für die Seele“
     Was es braucht, in wechselvollen Zeiten diakonisch zu arbeiten

     Liebe Schwestern und Brüder,                              heute – im 150. Jahr – beschäftigen. In dieser Festschrift
     liebe Mitarbeitende,                                      haben wir sie dokumentiert. Wir laden Sie ein, unsere
     liebe Freundinnen und Freunde,                            Denkprozesse mitzudenken, unseren Workshop
                                                               nachzuerleben, Einblick in den aktuellen Wandel zu
     Sie halten die Festschrift zum 150jährigen Bestehen       bekommen. Sie betreten sozusagen eine Baustelle –
     des Ev. Diakonissenmutterhauses in Bremen in Händen.      herzlich willkommen!
     Unsere Geschichte begann 1867, damals wurde dem
     damaligen Pastor von Stephani eine Gabe von 100
     Talern gespendet, die zunächst für die Anstellung einer      Abschied und Neubeginn
     dritten Gemeindeschwester dort gedacht war. Sie sollte       Dr. Annelie Keils Vortrag „Wohlan denn Herz, nimm
     dann aber der Grundstein werden für eine „Diakonissen-       Abschied und gesunde“ - Vom Leben im Abschied
     Bildungsanstalt“, die auf eine wechselvolle Geschichte
     zurückblicken kann.
                                                               Betrachten wir 150 Jahre, so sind sie gekennzeichnet von
     Sie werden jedoch kaum Rückschau lesen, dafür ist         Abschieden und Neubeginn. Das ist nicht außergewöhn-
     die Zeitspanne viel zu lang. Wir haben in diesem Jahr     lich, unser Leben ist geprägt vom Abschied nehmen. In
     Veranstaltungen durchgeführt mit Themen, die uns          seinem Gedicht „Stufen“ spricht Hermann Hesse von

18                                                                                                                 19
Lebensstufen, von Räumen, die durchschritten werden.     Dabei stellt sich die Frage von Tradition und
Er spricht auch vom Neubeginn, vom Anfang, dem ein       Transformation, die Mitglieder der Gemeinschaften
Zauber inne wohnt. Doch wie ist das im Älterwerden,      und Mitarbeitende in einem Workshop mit Cornelia
wenn der letzte große Abschied bevorsteht? Abschied      Coenen-Marx, Oberkirchenrätin a. D., Pastorin, Autorin,
vom Leben als biografische Herausforderung, so das       Beraterin bearbeitet haben.
Thema des Vortrags von Dr. Anneli Keil mit dem Titel:
„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde“, mit
dem wir in unser Jubiläumsjahr gestartet sind.              Tradition und Transformation
                                                            Cornelia Coenen-Marx´ Workshop
In vielfältiger Weise begegnet uns das Thema Abschied:      „Diakonie geschieht im Alltag“
Auf dem Gelände sind 36 barrierefreie Wohnungen
entstanden. Dort wohnen Menschen, die sich von ihrer     „Man spürt hier noch so einen christlichen Geist.“ - „Ich
großen Wohnung oder von ihrem Haus verabschiedet         erlebe eine christlich zugewandte Stimmung.“ So wird
haben. Da sind die Menschen im Pflegeheim, die dem       umschrieben, was manche als den „alten Geist der
letzten großen Abschied entgegengehen. Und dann          Diakonissen“ bezeichnen. Gibt es diesen „alten Geist“?         Diakonisch – aber wie?                               Wie können Professionalität, Wirtschaftlichkeit und
sind da die, die diesen Abschied begleiten und auch      Wie drückt er sich aus, und wo steht er in Spannung            Beate Hofmann: „Was eine diakonische                 Spiritualität im Gleichgewicht bleiben oder gebracht
immer wieder Abschied nehmen müssen von den              zur modernen Pflegebranche oder auch zu unserem                Einrichtung diakonisch macht“                        werden?
Bewohnerinnen und Bewohnern.                             privaten Alltag? Oder geht es in Wahrheit um eine
                                                         Haltung, die über die Generationen hinweg in unter-         Prof. Dr. Beate Hofmann vom Institut für
Die Schwesternschaft wird kleiner, die traditionelle     schiedlichen Alltagswirklichkeiten gelebt werden kann?      Diakoniewissenschaft und DiakonieManagement der            Im Spannungsfeld
Form der Diakonissen und auch der Diakonischen                                                                       Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel geht in ihrem       Cornelia Coenen-Marx: „Diakonische
Schwestern geht zu Ende. Mit dankbarem Blick zurück      In diesem Workshop wollten wir dem „Erbe“ der               Forschungsschwerpunkt dieser Frage nach und hat in         Unternehmenskultur zwischen Auftrag und Markt“
auf vielfältige diakonische Arbeit gestaltet sie heute   Diakonissen auf die Spur kommen, die Schätze sichten        ihrem Vortrag erste Erkenntnisse vorgestellt.
das geistliche Leben im Mutterhaus. Daneben entwi-       und uns darüber klar werden, was auch heute und in                                                                  Die Frage nach der diakonischen Unternehmenskultur
ckelt sich neue Gemeinschaft in der „Diakonischen        Zukunft wesentlich für unsere Arbeit ist. Denn - Diakonie   Die Frage nach einer Diakonischen Unternehmenskultur    im Spannungsfeld von Auftrag und Markt beschäf-
Weggemeinschaft Emmaus“. Frauen und Männer, die          geschieht im Alltag.                                        fordert diakonische Einrichtungen seit Jahren heraus.   tigte uns bereits im Jahr 2010 beim Fachtag Diakonie.
sich als neue Gemeinschaft aus den Wurzeln der alten                                                                 Was charakterisiert und prägt Diakonie in besonderer    Cornelia Coenen-Marx hat ihren damaligen Vortrag für
Tradition verstehen. Sie gestalten den diakonischen                                                                  Weise?                                                  unsere Festschrift aktualisiert, so dass er für Sie die
Alltag heute im Miteinander der Mitarbeiterinnen und                                                                                                                         Fragen nach Diakonischer Arbeit zum einen die Frage
Mitarbeiter in den Einrichtungen.                                                                                                                                            nach der Wirtschaftlichkeit im Folgenden verknüpft.

   20                                                                                                                                                                                                                         21
Wirtschaftlich – aber wie?                           Ausrichtung auf die Schwerpunkte Gemeinschaft und
   Interview: Anja Stahmann und Klaus von Hahn          Bildung (und Internationalität) gesetzt.

Die Rahmenbedingungen für die Aufgaben im Sozial-       Im ersten Aufruf 1867 für die „Diakonissen-
und Gesundheitswesen haben sich grundlegend geän-       Bildungsanstalt“ in Bremen wird von einem „Hoffnungs-
dert. Im Gespräch mit Bremens Sozialsenatorin Anja      zeichen“ gesprochen. Die Arbeit der Diakonissen
Stahmann wurde dies thematisiert. Für eine kleine       in Kirchengemeinden als Gemeindeschwestern                     Heimat verlieren, Heimat suchen, Heimat geben -             Was bleibt diakonisch im Wandel der Zeit
Einrichtung, wie wir es sind, bedeutet das eine große   und Krankenhäusern – nicht nur allein im eigenen               Erinnerungen an Oberin Diakonisse Martha Zöckler            Mitmenschlichkeit – Selbstsorge – Spiritualität
Herausforderung – was müssen wir leisten, was wollen    „Krankenhaus am Hafen“ – stand von Beginn an im
und können wir uns (noch) leisten.                      Mittelpunkt. Dr. Norbert Friedrich, Historiker und Leiter   Im Blick zurück erinnern wir uns an die Zeit nach dem       „Der Not der Zeit begegnen“, das war ein Leitgedanke in
                                                        der Fliedner-Kulturstiftung in Düsseldorf Kaiserswerth      zweiten Weltkrieg. In der Bombennacht am 17. August         der Gründungszeit der Mutterhausdiakonie in der Mitte
                                                        ging der Frage nach, wie sich die Geschichte des Bremer     1944 über dem Bremer Westen waren Mutterhaus,               des 19. Jahrhunderts. Soziale Nöte, die ungesicherte
   150 Jahre Diakonissenmutterhaus Bremen               Diakonissenhauses von den kleinen Anfängen über alle        Krankenhaus, Kirche an der Nordstraße völlig zerstört       Situation unverheirateter Frauen und das verantwort-
   Eine „Diakonissen-Bildungsanstalt“ für Bremen als    politischen, sozialen und kirchlichen Veränderungen         worden. Mit dem Wiederaufbau am heutigen Standort           liche Engagement der Christen und Christinnen in dieser
   „Hoffnungszeichen?“ fragte Norbert Friedrich         entwickelt hat. In einem Ausblick wurde gefragt, wie        in Gröpelingen ist der Name der Oberin Diakonisse           Zeit waren die Grundpfeiler einer großen Bewegung.
                                                        sich der Auftrag, der aus dem gemeinsamen Erbe nach         Martha Zöckler eng verbunden. Ihrer wurde gedacht, als      „Neue große Nöte bedürfen neuer mutiger Gedanken“
Diakonissenmutterhäuser waren und sind Einrich-         150 Jahre erwachsen ist, zukunftsfähig bewahren lässt.      wir das Wohnzimmer im Mutterhaus nach ihr benennen          - Friedrich von Bodelschwingh erkannte das bereits vor
tungen, in denen Bildung einen Schwerpunkt darstellt.                                                               wollten. Zeitgleich waren die Wohnungen im sanierten        120 Jahren.
Auch aktuell hat der Kaiserswerther Verband seine                                                                   Jugendwohnheim, dem jetzigen Haus Hirschfeld bezugs-
                                                                                                                    fertig. Und es wurde dringend Wohnraum für geflüch-         Welches sind die Nöte unserer Zeit? Hier denken wir
                                                                                                                    tete Menschen benötigt. Die Schwestern verließen            an viele Randgruppen und debattieren, wo die Not am
                                                                                                                    das Mutterhaus. Der Wohnbereich des Mutterhauses            größten ist. Wir können auch sagen, die gegenwärtige
                                                                                                                    wurde an die Stadt vermietet, und jetzt wohnen dort         Hauptnot sei die Finanzierung der sozialen Arbeit, die
                                                                                                                    zehn syrische Familien.                                     Tatsache, dass zu wenig Geld für die Nöte dieser Zeit
                                                                                                                                                                                vorhanden ist. Mehr Geld ist Not-wendig.
                                                                                                                    Im Prozess dieser Entscheidung riefen wir uns die ergrei-
                                                                                                                    fende Biographie von Sr. Martha Zöckler ins Gedächtnis.     Wir sehen die Not der Pflegenden. Das ist eine neue
                                                                                                                    Sie, deren Leben gekennzeichnet war, Heimat zu suchen       große Not, die neue mutige Gedanken erfordert!
                                                                                                                    und Heimat zu geben, wäre mit dieser Entscheidung           Pflegenotstand wird meistens als quantitatives Problem
                                                                                                                    sicher einverstanden gewesen. Und so schließen sich         betrachtet: Statistisch werden immer mehr Menschen
                                                                                                                    an die Biographie der Oberin die Erinnerungen einiger       der Pflege bedürfen, und angesichts des demographi-
                                                                                                                    Diakonissen an sie an, die letzte Zeitzeugen sind.          schen Wandels gibt es viel zu wenig Pflegende. Aber
                                                                                                                                                                                es gibt auch einen Notstand der Pflegenden. Schon
                                                                                                                    Lesen Sie, welche Begebenheiten mit Sr. Martha Zöckler      während der Ausbildung sind junge Pflegende desillusi-
                                                                                                                    bis heute ihre Herzen bewegen.                              oniert und haben Gedanken des Abwanderns.

   22                                                                                                                                                                                                                            23
Wer pflegt, bewegt sich oft an Grenzsituationen des        fremden religiösen Ansichten konfrontiert werde? Und
Lebens, ist mit existentiellen Fragen konfrontiert:        wenn ich selber nicht religiös bin? Wie kann eine exis-
Schmerzen, Leiden, Sterben und Tod von Patientinnen        tentielle Begegnung gelingen, ohne mich oder mein
und Patienten, von Bewohnerinnen und Bewohnern.            Gegenüber zu überfordern?
All dies hinterlässt Spuren. Es gilt, einen „gesunden“
Umgang damit zu finden.                                    Wir nehmen wahr, dass Pflegende ausgehungert
                                                           sind nach Nahrung für ihre Seele, sie suchen nach
Menschen in sozialen Berufen leisten Beziehungsarbeit.     Kraftquellen für die Arbeit.
Sie versuchen, Menschen mit Wertschätzung zu
begegnen. Das kostet Kraft. Zugleich können sie nicht -    So schließt diese Festschrift mit einem Bericht von Pastor
anders als beispielsweise ein Tischler - am Abend anhand   Thomas Rothe, wie wir im Ev. Diakonissenmutterhaus
ihrer Werkstücke den Ertrag ihrer Arbeit ablesen. Als      Bremen der Not unserer Zeit begegnen. In drei Richtungen
Folge davon verlangen sie immer mehr von sich selbst,      geht die Betrachtung: zu den Gemeinschaften, in unser
um das Gefühl zu bekommen, den Ansprüchen anderer          Hauptaufgabenfeld, die Altenpflege, und zu unserem
oder den eigenen Ansprüchen zu genügen. Was heißt          Fortbildungsangebot „diakonisch arbeiten“.
da: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst?

Jeder Mensch hat seine individuellen Grenzen: Grenzen      „Dienet dem Herrn mit Freuden“ - so lautet der zweite
der Kraft, der Geduld, der Belastbarkeit. An Grenzen zu    Vers des 100. Psalms. Das ist der Hausspruch des
kommen, ob von außen gesetzte oder persönliche, ist        Diakonissenmutterhauses Bremen. Ein altes Wort,
oft schmerzlich. Im sozialen Bereich zu arbeiten, wirft    das immer wieder herausfordert, neu in die aktuellen
verstärkt die Frage nach einer gesunden Abgrenzung         Fragestellungen hinein ausgelegt zu werden.
auf, um mit den Belastungen auf Dauer umgehen
zu können. Wie können Pflegende die persönlichen           Es ist auch der Predigttext im Jubiläumsgottesdienst,
Grenzen erkennen, um sich innerhalb der Grenzen            theologisch in der Festpredigt betrachtet von Pastor
entfalten oder auch über sie hinauswachsen zu können?      Renke Brahms, dem Schriftführer der Bremischen
Was bedeutet da: Du stellst meine Füße auf weiten          Evangelischen Kirche, nachzulesen unter www.diako-
Raum?                                                      nissenmutterhaus-bremen.de.

Zeiten der Krankheit und Krise werfen Fragen auf nach
dem Sinn, dem Warum und nach Gott. Pflegende
werden oft sehr unvermittelt damit konfrontiert. Wie                                               Sr. Sigrid Pfäfflin
gehe ich mit diesen Fragen um? Was, wenn ich mit                                                              Oberin

   24                                                                                                                    25
Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde
     Von Bleibeverhandlungen mit dem Leben und seinem Abschied
     Festvortrag von Prof. Dr. Annelie Keil im Februar 2017

     Kein Ort nirgends? Aber nie ohne Ort!                     das Erwachen der Fragen mitten in all dem Leben,
     Anwesenheit als leibhaftige Provokation des Lebens        das schon da ist und das der individuellen Sehnsucht
                                                               nach „Verortung“ und der Not, einen eigenen und
     Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir             geschützten Ort zum Leben und Überleben zu finden,
     hin? Warum werden wir ungefragt in eine fremde Welt       als Grenze und Begrenzung gegenübersteht.
     hineingeboren? Wohin gehören wir? Wie beheimaten
     wir uns im Innen wie im Außen? Welcher Ort gibt uns       Im alten Griechenland, wo vor 2500 Jahren eine
     Halt, macht den Boden unter den Füßen sicher? Welche      unvergleichliche Kultur erblühte, war man der festen
     Ortswechsel und Abschiede fördern das Leben, welche       Überzeugung, dass alles Leben Grenzen braucht und
     gefährden es? Diese Fragen beunruhigen Menschen,          dass im menschlichen Leben und Zusammenleben
     seit sie die Erde bevölkern, und ihr Wohlbefinden hängt   Grenzenlosigkeit und Grenzen nicht zu trennen sind.
     maßgeblich davon ab, ob sie je einzeln, als Generation,   Sie bedürfen einander! Die grenzenlose Energie des
     als Familie, als ethnische oder religiöse Gemeinschaft    Lebens braucht die Form, die ihr die Grenze gibt,
     immer wieder neu eine befriedigende Antwort auf           erklärte Platon. Alles hat einen Anfang und auch ein
     diese Fragen finden. Leben ist so gesehen immer eine      Ende- zwischen Geburt und Tod lebt der Mensch ein
     Art Bleibeverhandlung, von Abschieden und Grenzen         spannungsreiches, aber begrenztes Leben. Bedenke,
     umstellt. Es ist nicht sicher. Unsere Geburt ist also     dass Du sterblich bist, auf dass Du klug werdest! Die

26                                                                                                             27
Schönheit gibt. „Der Wunsch nach Grenzenlosigkeit           sich im Schöpfungszusammenhang zu verorten, gibt es
                                                                                                                         ist - recht betrachtet - gar nichts anderes als ein ins     zunächst nicht. Als leibhaftige Existenz lebt Leben von
                                                                                                                         Grenzenlose aufgeblähter Egoismus“ (Quarch). Nicht          der Anwesenheit vor Ort, vertraut auf seine Potentiale
                                                                                                                         grenzenloses Einerlei ist es, was das Leben lebendig        und materialisiert die Idee vom Leben mit jedem
                                                                                                                         macht. Sondern Leben braucht den Respekt vor jenen          Atemzug und jedem Herzschlag. Mit dem Geschenk
                                                                                                                         Grenzen, die das schöne, vielfältige, fremdartige, bezau-   der nackten Geburt bekommen wir Leben nur als eine
                                                                                                                         bernde Konzert des Kosmos überhaupt erst möglich            Möglichkeit, leben müssen wir es selbst. Das gilt auch
                                                                                                                         machen. Grenzenlos muss der Geist der Liebe sein,           für die Liebe, den Glauben und die Hoffnung, für die
                                                                                                                         der alles umspannt und nicht anderes im Sinn hat, als       Aufnahme oder Beendigung von Beziehungen, gilt auch
                                                                                                                         das Leben möglichst aller Menschen zu fördern und zu        für die Frage, wie wir Orte des Lebens schaffen, verlieren
                                                                                                                         behüten!                                                    oder zerstören, und ob das Leben nach der Geburt und
                                                                                                                                                                                     bis zum Tod Sinn macht. Wir bekommen die Möglichkeit
                                                                                                                         Schöpfungsgeschichten wie die biblische erzählen vom        zu erkennen, zu denken, zu wissen, zu handeln, uns
                                                                                                                         Zauber der ersten „Verortung“. In sieben Tagen formt        zu wundern und transparent für den universellen
                                                                                                                         Gott einen großen Lebenszusammenhang, schafft               Zusammenhang zu werden, der als Geheimnis der
                                                                                                                         Pflanzen, Tiere und das Menschenpaar, gibt ihnen            Schöpfung die Geburt eines jeden Menschen zu einem
                                                                                                                         Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne. Mehr als           einzigartigen Augenblick von Dauer macht. Aber lieben,
                                                                                                                         die Aufforderung, sich zu mehren, mit dem Leben als         fühlen, denken und handeln müssen wir selbst.
Grenze, die der Tod setzt, ist die Verankerung der            grenzenlose Umweltkatastrophe, um nur ein Beispiel zu      einem umfassenden Stoffwechsel zu beginnen und
Abschiedlichkeit des Lebens in jedem von uns. Dass der        nennen.
Mensch sich im Fortschrittswahn der Moderne oder
entlang der Allmachtsphantasien der Medizin immer             Wir brauchen Grenzen, um das Leben zu schützen
weniger als ein Sterblicher begreift, sich vielfach wie ein   (Quarch). Wir müssen jene Grenzen annehmen, die uns
Unsterblicher aufführt, der in die Grenzenlosigkeit des       das Leben selbst setzt. Dazu gehören die biologischen
„Ich kann alles!“ verliebt ist, raubt ihm Wert und Würde.     Grenzen, die wir trotz aller Fortschritte der Medizin
                                                              über einen demografischen Wandel hinaus nicht ins
Werden die Fragen und Nöte verdrängt, bleiben sie unbe-       „ewige Leben“ hinausführen können. Die soziale Grenze
antwortet und die Suche nach einem „Entwicklungs-             ist eine andere, die uns Begrenzung abverlangt. „Ich bin
und Handlungsort“ unerfüllt, dann legt sich der dunkle        Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben
Schatten der existenziellen Not, nämlich keinen Ort           will“ (Schweitzer). Wir sind nicht allein, neben uns
nirgends zu haben, auf Körper, Geist und Seele des            leben andere Menschen, Tiere, Pflanzen! Wir teilen
Menschen. Schwäche, Gebrechlichkeit, Verletzlichkeit          die Erde, sind Teil eines Kosmos, der uns das Leben
und Endlichkeit sind als bedeutungsvolle Prinzipien           möglich macht, aber auch Grenzen setzt. Grenzen des
menschlicher Existenz zu verleugneten geworden,               Wachstums, der Entfaltung. Wir müssen sterben, damit
derer man sich schämt. Die grenzenlose Wirtschaft und         andere leben können. Begrenztheit ist der Preis, den wir
ihr Traum vom grenzenlosen Fortschritt schaffen eine          dafür zu zahlen haben, dass es Vielfalt und damit auch

   28                                                                                                                                                                                                                                    29
und Plastizität, Gestaltungswille, „Liebe, Arbeit und      brauchte: ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Halt und
                                                                                                                        Wissen“ (Wilhelm Reich) sind gefragt, wenn es um           einen liebenden Schutz. Wir beginnen unser Leben mit
                                                                                                                        die Entwicklung und Entfaltung eines jeweils einzigar-     einer „Hausbesetzung“, kämpfen uns ins Leben hinein,
                                                                                                                        tigen Lebens geht. Leben entwickelt sich nicht aus dem     bewältigen Widerstände, klammern uns fest und fühlen
                                                                                                                        Stillstand heraus, das konnte das kleine befruchtete Ei    immer wieder die Bedrohung für unser Leben, wenn
                                                                                                                        schon früh registrieren, sondern verlangt ganz offen-      das nicht gelingt und Lebensorte uns nicht tragen.
Jeder Mensch trägt diesen Zauber des Anfangs der           Nach der Befruchtung stellt sich das kleine Ei in            sichtlich Anpassung und Widerstand im Durchleben von
Gattungsgeschichte wie seiner Lebensgeschichte in          Kooperation mit dem mütterlichen Organismus der              Krisen. Unruhestand, Ortswechsel und Umzüge aller          Aber während das kleine Ei seinen Einzug in die neue
sich und muss ihn „austragen“, bis er stirbt. Leben ist    Herausforderung, die in der angelegten Aufgabe               Art sind konstitutiv für die Entwicklung von Leben. Das    Wohnung mit aller Kraft vorantrieb, machte es eine
so gesehen eine lebenslange „Schwangerschaft“, bedarf      steckt, sich selbst unter spezifischen Voraussetzungen       gilt auch für den Prozess des Sterbens, dessen Ergebnis    wunderbare Erfahrung: es war gar nicht so schwierig,
der Zeugung, einer Art Urknall, Achtsamkeit und nach-      zu entwickeln, die eigene örtliche Lebensumwelt im           dann der Tod ist.                                          zum Leben zugelassen zu werden, auf jeden Fall nicht
haltiger Geduld, um zu zeigen, was in ihm steckt, um       mütterlichen Organismus mitzugestalten und jene                                                                         unmöglich. Da gab es ein anderes Lebewesen, das sich
zu dem Leben zu werden, das unseren eigenen Namen          einzigartige biografische Melodie zu improvisieren, die      Das kleine Ei kletterte den Eileiter hinauf und nistete    besetzen ließ und darauf vorbereitet war, dem kleinen
trägt. Und vor allem braucht es den Mut, Etappe für        es später mit seiner Gattung verbindet und gleichzeitig      sich kurz darauf in der Gebärmutter ein. Man muss in       hilflosen Winzling im eigenen Leib bedingungslos Asyl
Etappe Abschied zu nehmen, muss wachsen, aufbauen          einmalig und unverwechselbar macht. Man muss sich            die Puschen kommen, bevor man Füße hat. Und später         zu gewähren. Aus der Drohung „ Kein Ort. Nirgends“
und abschließen, Nahrung aufnehmen, verarbeiten und        selbst vor Ort einrichten, seiner selbst mächtig werden.     wieder raus, was auch nicht leicht ist, wenn die Füße      war eine andere Erfahrung geworden: „ Wir sind Leben,
wieder abgeben.                                            Eigenverantwortung ist die Antwort, die das Leben auf die    nicht mehr gehen wollen! Mit aller Kraft grub es sich in   das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
                                                           spezifischen Fragen verlangt, die es jedem von uns stellt.   die Plazenta ein, musste diese stören und verletzen, um    (Albert Schweitzer)
Und so beginnt es: Es war einmal eine weibliche Eizelle,                                                                zu bekommen, was es am „Ort des Lebens“ so dringend
die ungeduldig darauf wartete, aus ihrem flüchtigen        Nichts im Lebendigen ist mechanisch, nur Reflex, nichts
Leben herauszukommen und einen festen Ort zu               springt automatisch nur auf Knopfdruck von außen an.
finden, um zu zeigen, was in ihr steckt, um Leben zu       Auch die Gene funktionieren nicht wie Autopiloten,
gestalten. Gespannt hielt sie zusammen mit anderen         sondern brauchen ein Milieu. Auch Materie braucht ein
Eizellen nach einer männlichen Samenzelle Ausschau         Motiv, ist vom „objektiven Faktor Subjektivität“ ange-
und war voller Hoffnung, das sich eines Tages einer von    trieben. Körper, Geist und Seele sind die Werkzeuge,
den Millionen Spermienfäden auf eine Begegnung und         mit denen das „Lebenshaus“ gebaut wird. Sie inter-
Vereinigung einlassen würde, damit sie in gemeinsamer      agieren im Kontext von Anregung, Störung und
Entwicklungsarbeit den Wunsch eines Menschenpaares         Herausforderung, entwickeln sich nicht tatenlos auf
nach einem Kind erfüllen könnten. Leben ist Kontakt,       eine ferne Zukunft hin, sondern nur dadurch, dass
Begegnung, Mut und Lust auf Zukunft und vor allem          sie in jedem Augenblick eine bestimmte Aufgabe und
erwartungsvolle Suche nach einem Lebensort - und wenn      Funktion übernehmen, die sich ihrerseits im Rahmen
dies alles fehlt, ist Leben unmöglich oder gefährdet.      der Gesamtentwicklung verändert. Kein festgelegter
Leben braucht einen Anstoß zum Leben, eine Störung,        Ort nirgends. Leben lebt jeden Augenblick von Wandel,
um sich auf den Weg zu machen und erfährt dabei, dass      Transformation und Vergegenwärtigung. Nicht mecha-
Verortung ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess ist.    nistische Reaktion, unverletzbare Robustheit und
                                                           technische Funktionsfähigkeit, sondern Störbarkeit

   30                                                                                                                                                                                                                              31
Neun Monate bedingungsloses Asyl, ein Mietvertrag mit     Kein Ort. Nirgends
Ausbildungsgarantie fürs Leben. Das kleine Ei kuschelte   Die Verweigerung von Ankunft
sich ein, schaukelte faul im warmen Wasser und nuckelte
an der Pipeline, aus der Milch und Honig flossen. Eine    Meine erste Erfahrung mit der grundsätzlichen
erste Vorstellung vom Paradies entstand und mit ihr die   Bedeutung der Ortssuche für das menschliche Leben
Angst, einen solchen Ort wieder zu verlieren und auf      war die Erfahrung jener Ohnmacht, die ein Mensch
der Straße zu landen. Und schneller als gedacht kam die   erlebt, wenn er der Herrschaft des Faktischen ausgelie-    Geschlechterbeziehung in der Partnerschaft, für die
fristlose Kündigung. Nach neun Monaten müssen wir         fert wird, ohne irgendetwas aus sich heraus bewirken       Macht, die aus Geld, Eigentum und Wissen resultiert.
Haus und Hof verlassen und sollen das Licht der Welt      oder verändern zu können. Als „Unfall“ einer miss-         Liebe, Mitgefühl und Solidarität heben Macht nicht
erblicken, ohne zu wissen, ob es einen neuen verläss-     glückten Beziehung deklariert verweigerte meine            auf, aber durch sie gewinnt der andere Mensch eine
lichen Ort für uns geben wird, ob wir wirklich freudig    Mutter zunächst die freundliche Annahme und gab            Bedeutung und eine Verortung, die sein Unterwegssein
erwartet werden und ob die notwendigen Ressourcen         mich in ein Heim. Auch jenseits dieser individuellen       in der Fremde der Welt erleichtert.
vorhanden sind, um die nächsten Lebensabschnitte und      Erfahrung umstellen Hilflosigkeit und Abhängigkeit
Lebensorte zu meistern und zu gestalten.                  grundsätzlich die menschliche Geburt. Im ersten Schrei     Die Begegnung mit der Macht der Ohnmacht fällt in
                                                          des kleinen Menschen macht sich die Not Luft, die mit      den frühen Tagen unseres Lebens, wie ich zu zeigen
Leben ist Koexistenz und soziale Existenz, wird vom       dem Kampf ins Leben und der Ungewissheit verbunden         versucht habe, auf fruchtbaren Boden, denn schon als
Menschen entschieden und erlitten, bedeutet immer         ist, das Licht der Welt zu erblicken. Nackt geboren sind   Embryo ist der Mensch darauf angelegt, sein Leben
wieder Suche und teilen. Bindung und Entbindung,          wir zunächst allem ausgeliefert. Für nichts gibt es eine   mitzugestalten und seiner mächtig zu werden. Mit
Lebensorte finden, gestalten und sie wieder verlassen     Wahlmöglichkeit. Wesentliches ist entschieden: das         dem Verlassen jener ersten Lebenswelt im Mutterleib
sind die Voraussetzung dafür, ein selbständiges Leben     Geburtsjahr, das Land, die Hautfarbe, vor allem die        beginnt unmittelbar nach der Geburt der lebensnot-
zu entwickeln und irgendwann auf eigenen Füßen            Eltern und die soziale Lage, in die man hineingeboren      wendige Versuch, die Verhandlungen mit der neuen
stehen zu können - wie weit diese auch immer tragen       wird. „Friss, kleiner Vogel, oder stirb“ ist die erste     Welt aufzunehmen, sich ihr langsam und unter stän-
mögen. Das Grundprinzip menschlicher Entwicklung          Lebenslektion. Wir werden existierend gemacht, lange       diger Kontrolle derer, die für die Sorge zuständig sind,
und damit die zentrale Voraussetzung allen Lebens         bevor wir „Ich“ sagen können. Von Macht auf der Seite      anzunähern, Spielräume zu entdecken, Eigensinn zu
sind Unsicherheit und Überraschung, relative              des kleinen Menschen kann keine Rede sein.                 entwickeln, Übergriffe abzuwehren, Schritt für Schritt
Unvorhersagbarkeit und gleichzeitig eine ungeheure                                                                   auf die eigenen Füßen zu kommen und zu lernen, wie
Potentialität und Kreativität. Leben ist ein Weg durch    Umso größer ist die Macht auf der Seite derer, die         man das Leben in die eigenen Hände nehmen kann. Mit
die Fremde, und jeder Schritt wagt den Fall. Nur indem    schon „erwachsen“ sind: Angehörige, Zugehörige,            jedem Entwicklungsschritt nehmen wir das Risiko des
wir leben, lernen wir uns und das uns zugemutete wie      Verwandte, Kollegen, Nachbarn. Mit ihnen muss              Fallens in Kauf, denn um leben zu können, müssen wir
frei entschiedene Leben kennen.                           der Aushandlungsprozess um das Leben geführt               uns vom ersten bis zum letzten Atemzug in eine Welt
                                                          werden, das gerade begonnen hat. Menschen leben            schon bestehender Beziehungen und Machtverhältnisse
                                                          in Sorge um sich, und um zu überleben, müssen sie          einmischen, die uns willkommen heißen, aber auch
                                                          ihr Leben unter Einsatz verfügbarer Machtpotentiale        ablehnen, fördern, aber auch behindern können. Der
                                                          zu gestalten suchen. In allen sozialen Beziehungen         aufrechte Gang des Menschen ist keine genetisch
                                                          ist Macht ein konstitutives Moment, das gilt auch für      gesicherte, orthopädisch betreute Garantieleistung
                                                          die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern wie für die      des Lebens, sondern muss lebenslang in all seinen

   32                                                                                                                                                                           33
Sich seines Lebens bemächtigt zu haben, über             Gene und den Krieg der Geschlechter setzen die herr-
                                                                                                                    Ressourcen zu verfügen, beteiligt und anerkannt zu       schenden Kräfte auf das Prinzip der Konkurrenz und die
                                                                                                                    sein, sind Grundlagen des Gefühls von Autonomie, von     Macht der Akkumulation und vergessen zu erklären,
                                                                                                                    wachsendem Selbstbewusstsein und Ausdruck von            welche Rolle das Prinzip der Liebe, des Mitgefühls, der
                                                                                                                    Selbstwirksamkeit, jener Erfahrung, die kleinen und      Bescheidenheit und des Teilens für den Zusammenhalt
                                                                                                                    die großen Welten zusammen mit anderen im eigenen        der Menschheit spielt.
                                                                                                                    wie im gemeinsamen Interesse beeinflussen zu können.
                                                                                                                    Selbstbestimmtes Leben ist uns nicht einfach in die      Es lohnt sich, die Macht der Liebe in all ihren Variationen
                                                                                                                    Wiege gelegt und keinem Gen geschuldet, sondern          nicht nur zu besingen, sondern auch denkerisch und
                                                                                                                    Ergebnis von Liebe, Arbeit und Wissen, den Quellen des   praktisch in einen mächtigen Strom zu verwandeln, der
                                                                                                                    Lebens.                                                  immer wieder neu jene Turbulenzen im Gegenstrom
                                                                                                                                                                             von Konkurrenz und Ausgrenzung erzeugt, die zu
Dimensionen körperlich, seelisch, geistig, sozial und     der Mensch von der Hoffnung, dass er als Bürger und       Die Melodie unserer Zeit wird in Banknoten,              Richtungsänderungen im Umgang mit der Macht führen.
spirituell inmitten der Herausforderungen der gesell-     Bürgerin dieser Erde gebraucht wird und dass keine        Gewinnanteilen       und    Produktionsverlagerungen,    Die Sammler und Jäger, die, ohne nach links oder rechts
schaftlichen Wirklichkeiten von jedem Menschen erst       Macht der Welt ihn willkürlich vom Koexistenzminimum      in gegenseitiger Beschuldigung, Machthunger und          zu schauen, mit allen Mitteln anhäufen, was über Macht
erworben und erlernt werden.                              abschneidet.                                              Rechthaberei, durch Enteignung von Bildung und           und Geld erreichbar ist, wären zwischendurch daran
                                                                                                                    Gesundheit (Illich) und anderem mehr geschrieben. Der    zu erinnern, dass dem Geschenk der nackten Geburt
Menschen kommen als Mängelwesen und Bittsteller zur       Lebenskämpfe sind deshalb immer Machtkämpfe um            „große Gesang über die Evolution der menschlichen        am Ende des Lebens der Abschied im letzten Hemd
Welt, und das bleiben sie bis zum Ende ihrer Tage. Kein   Liebe und materielle Ressourcen, um Anerkennung und       Koexistenz“ und die „Biologie der Liebe“ (Maturana,      folgt, das keine Taschen hat. Die eigentliche Macht der
Ort, der nicht erst geschaffen werden müsste, um zu       Bedeutung, gegen Bevormundung und Unterdrückung.          Hüther) wurden noch gar nicht angestimmt. Weil           Ohnmacht besteht in der Tatsache, dass Leben grund-
überleben. Jede Generation ist darauf angewiesen, dass    Das menschliche Verhältnis zur Macht strukturiert und     manche Leute sich nicht beherrschen können, versu-       sätzlich nichts versprochen hat und nur das hält, was
die Generationen, die schon da sind und das Terrain       organisiert sich in einem kontinuierlichen Prozess von    chen sie es mit anderen, auf welche Weise auch immer.    wir selbst im Rahmen der historisch - gesellschaftlichen
unter sich aufgeteilt haben, das Vorhandene teilen:       Bindung und Entbindung, teilen und zuteilen und nimmt     Das bestimmt den Machtkampf zwischen Männern             Bedingungen durch Gestaltung und Mitgestaltung in die
das Dach über dem Kopf, die Nahrung, die Sprache,         die ewige Spannungsbeziehung des Lebens zwischen          und Frauen, zwischen Eltern und Kindern, Ärzten          Hand nehmen. Leben ist eine Art soziales Waisenkind,
das Wissen, die Kultur, die Macht und die Liebe. Jeder    Geburt und Tod in sich auf. Leben lebt vom Teilen, auch   und Patienten, Lehrern und Schülern, Inländern und       das jeden Tag von uns adoptiert werden muss und auf
Mensch ist darauf angewiesen, dass er erwartet wird,      von der Teilung der Macht und vor allem vom Teilen der    Ausländern beiderlei Geschlechts. Gestützt durch         die Kraft und den Mut hofft, dass Menschen dies unter
dass man sich ihm sorgend zuwendet, ihm Schutz            Orte, die es dem Menschen ermöglichen, anwesend           naturwissenschaftliche und andere Theorien über die      allen Umständen und mit allen ihnen zur Verfügung
gewährt und Vertrauen schenkt, dass seine Würde           zu sein. „Kein Ort. Nirgends!“ ist eine Art Todesurteil   Bedeutung der natürlichen Auslese und das Überleben      stehenden Machtmitteln auch tun.
unantastbar bleibt, was immer in seiner Entwicklung       sowohl für einen einzelnen Menschen wie für Gruppen,      der Besten im Kampf ums Dasein, über angeborene
auch geschieht. Wenn die Nabelschnur zerreißt, lebt       Religionen oder ganze Völker.                             Verhaltensweisen und Instinkte, über egoistische

   34                                                                                                                                                                                                                             35
Unterwegs und doch zu Hause                                  Innen und Außen wird, erfahren wir im Laufe des Lebens
Leben, ohne festen Wohnsitz, aber vor Ort                    oft nur für einen Augenblick. Ankunft und Abschied
                                                             geben sich im Unterwegssein des Lebens ständig die
Unser erstes Haus ist der Mutterleib, und wir beginnen       Hand. Leben ist ohne festen Wohnsitz und mit uns im
das Unterwegssein im Inneren eines anderen Menschen-         Rahmen unserer Biografie unterwegs.
Hauses, das wir mit unserer Einnistung wie Einmietung        „Kein Ort. Nirgends.“ Immer ist der Mensch auf
verändern. Einen Ort finden und bewohnen ist immer           „Wohnungssuche“, um anwesend zu sein. Das innere           Angesicht der Unendlichkeit des Universums auf unser       lösen Wohlbefinden oder Befindlichkeitsstörungen
gemeinsame Sache mit der Umwelt machen: binden,              wie das äußere Haus ist der angehaltene Atem des           Maß beschränken. Und als leibliches Haus, das wir nie      aus. Jeder weiß, wie schwer es ist, einem hartnäckigen
einbinden und wieder entbinden. Unser Leben beginnt          Menschen, der angehaltene Wind. An ihm prallt der          verlassen können, hütet es das biografische Geheimnis      Gefühl wie Eifersucht, Neid oder Geiz einfach die Tür zu
bei der Geburt mit einer „Entbindung“, dem größten           Regen ab, und in ihm kann der Mensch sich abschirmen,      unseres Lebens. In der Biografie eines Menschen            weisen. Wohnen und Bauen sind besondere Weisen des
Ortswechsel bis zum Tod. Wir ziehen von einer ersten         im Sicht- und Windschatten der eigenen und fremden         findet sich die Ansammlung aller Orte, an denen er         Seins, heißt es bei Heidegger.
Welt, die uns mit jedem Entwicklungsschritt zur Heimat       Mauern unabhängig vom Wetter und den Jahreszeiten          Anwesenheit geübt hat. Sie erzählt die Geschichte seiner
geworden ist, in die nächste Welt, die uns erst zur Heimat   ein „gemäßigtes“, „glückliches“, „eingekerkertes“          Behausung und verweist auf die Konstruktionsprinzipien     „Kein Ort. Nirgends!“ verbindet sich für den Menschen
werden muss. Durch sein Haus spricht der Mensch zur          oder „ängstliches“ Leben führen. Wer mit sich selbst       und Muster seines Lebens. Auch Leerstellen tun sich auf,   mit Heimatlosigkeit und dem Verlust von Orientierung.
Welt, wie die Erde durch den Baum oder der Himmel            vertraut ist, sich seelisch, geistig und sozial zu Hause   wo kein Ort gefunden werden konnte. Das erlebte „Kein      Einen Ort zu haben, ein Haus zu bewohnen, sich selbst
mit seinen Sternen zu uns spricht. Jede Behausung kann       fühlt, wer weiß, wo Fenster und Türen sind, um mit         Ort. Nirgends“ hinterlässt ebenfalls Spuren, unsichtbare   verorten zu können, gibt orientierende Sicherheit. Man
zum Erlebnis des Glücks von Ankunft, aber auch zum           sich selbst und der Welt im Austausch zu sein, kann        zwar, aber dafür oft traumatischer Art!                    kann sich dem Außen entziehen. Umgekehrt scheint
Erleben von Fremdheit und Entfremdung werden. Was            sich besser gegen Stürme und Wetterlagen des Lebens                                                                   die wirkliche Freiheit über den Wolken zu sein, im
wirklich zur Heimat im Sinne eines Einklangs zwischen        schützen. Das Haus ist ein Gefäß, in dem wir uns im        Der Mensch ist bei der Schaffung seiner Lebensorte im      unendlichen Raum gibt es keinen festgelegten Ort.
                                                                                                                        Innen wie im Außen sein eigener Architekt, Bauherr,        Immer wieder will der Mensch den scheinbar sicheren
                                                                                                                        Eigentümer, sein Gärtner und sein Wächter. Was der         Raum verlassen, will unterwegs sein, sich dem Wind
                                                                                                                        Mensch baut und wie er sich im Stoffwechsel mit der        entgegenstemmen, dem Fremden begegnen, sich der
                                                                                                                        Welt einbringt, hat mit seinem Denken, Fühlen, Wollen,     unverhofften Bedrohung stellen. In seinem Buch über
                                                                                                                        seiner leiblichen Verfasstheit und seinem Handeln zu       die „Grundformen der Angst“ hat Fritz Riemann die
                                                                                                                        tun. Der Geist ist unterwegs und baut sich aus seinen      Naturgesetze der Schwerkraft und der Fliehkraft als ein
                                                                                                                        Erfahrungen ein Nest, Nicht zufällig wird das Gehirn ein   Beispiel für die beiden Grundbedürfnisse des Menschen
                                                                                                                        Sozialorgan genannt. (Roth, Hüther) Auch die Seele ist     gewählt, sich einerseits zu verorten und festen Boden
                                                                                                                        unterwegs und genetisch darauf angelegt, Erfahrungen       unter die Füße zu bekommen und gleichzeitig vor der
                                                                                                                        in Gefühle umzusetzen und mit Botenstoffen zu              Aufgabe zu stehen, die Sicherheit eines festen Bodens
                                                                                                                        versehen, die uns fühlen lassen, was Liebe, Wut, Angst     wieder aufzugeben zu müssen, um neue Orte zu errei-
                                                                                                                        oder Heimatlosigkeit ist. Soziale Bedrohung und die        chen und Veränderung zuzulassen.
                                                                                                                        Angst vor Arbeitslosigkeit, Wohnungsverlust oder
                                                                                                                        Krankheit brauchen ein Zuhause und suchen viel-            Lebensorte der Behausung sind Ausdruck der
                                                                                                                        leicht Herz, Leber und Magen auf, binden das Denken,       Sesshaftigkeit. Feste Wohnsitze sind gewollt,
                                                                                                                        blockieren das Handeln. Denken, Fühlen und Handeln         Nebenwohnsitze verlangen nach Rechtfertigung. Wer
                                                                                                                        schaffen sich ihre Orte im Menschen, beheimaten sich,      wohnungslos unterwegs ist, ist ein Ausgesetzter, ein

   36                                                                                                                                                                                                                                37
Illegaler, dem die Bürgerrechte zur Not verweigert        aber nach einem Ort im „Nirgends“ und nach Ankunft
werden, dem man nichts schuldig ist, nicht einmal         ist endlos – sie dauern lebenslang. Die frohe Botschaft
die Unantastbarkeit seiner Würde. Die Unruhe des          dabei ist, dass der Mensch nicht nur genetisch gesehen
Menschen soll domestiziert, die Liebe zum fernen          ein „Überraschungsei“ ist, sondern bis zum letzten
Horizont reduziert werden. Leben aber lebt von            Atemzug für sich selbst und Andere eine Überraschung
der Grenzüberschreitung. Im lebensnotwendigen             bleiben kann. Der Mensch ist ein Original, und wie der
Stoffwechsel überschreiten wir in jedem Augenblick        Arzt Viktor von Weizsäcker schreibt, kein logisches,
unsere Grenzen: körperlich, seelisch, geistig, sozial     sondern ein lebendiges Beispiel des Lebens.
und spirituell. Nur indem wir ständig über uns hinaus-
schreiten, können wir überhaupt leben. Aber ohne                                            Prof. Dr. Annelie Keil
„Selbstintegration im tätigen Vollzug“ (Hans Jonas)
wäre Leben auch nicht möglich. Wer nur voranschreitet,
verliert sich. Wer immer bleibt, verliert sich auch.
Innere und äußere Häuser sind wie Häute, die verdek-
ken, verhüllen, begrenzen und zusammenhalten. In der
Häutung, im Abschied von einer bisherigen „ Behausung
und Beheimatung“ geht es um Wandel, um das Wandern        Literatur
von einem Ort zum anderen. Notwendige wie freiwil-        Annelie Keil (2011) Auf brüchigem Boden Land gewinnen.
lige Umzüge zeigen uns, dass wir vieles, mit dem wir      Biografische Antworten auf Krankheit und Krisen, Kösel
uns eingerichtet haben, gar nicht brauchen. Das einge-    Verlag München
richtete Haus einer Partnerschaft, einer Familie, einer
Arbeit, einer Profession birgt auch die Gefahr, zum Ort   Annelie Keil ( 2014) Wenn die Organe ihr Schweigen
für Entfremdung, Gewalt und innerer Heimatlosigkeit       brechen und die Seele streikt. Krankheit und Gesundheit
zu werden. Ob der Mensch da, wo er ist, wirklich          neu denken. Scorpio Verlag München
seinen Ort hat und zu Hause ist, steht immer wieder
in Frage. Die Fesseln, die in den eigenen Systemen der    Annelie Keil, Henning Scherf ( 2016) Das letzte Tabu.
Behausung stecken, sind die Wegweiser auf der Suche       Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen.
nach dem eigenen Weg. Die Sehnsucht wie die Suche         Herder Verlag, Freiburg

   38                                                                                                                39
Sie können auch lesen