1867 2017 Gemeinschaft, die stärkt - 150-jährigen Bestehen - diakonissenmutterhaus-bremen.de
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1867 - 2017 Ev. Diakonissenmutterhaus in Bremen Festschrift zum 150-jährigen Bestehen Gemeinschaft, die stärkt...
Danke! Das 150jährige Bestehen unseres Diakonissenmutterhauses würdig zu begehen - diesen Auftrag hatten wir uns gestellt. Wir wünschten uns eine Votragsreihe, die unsere Themen aufnimmt, einen Workshop mit Impulsen für die Zukunft, einen Blick zurück und nach vorn. Zur Erinnerung sollte das alles Eingang in diese Festschrift finden. Dank Ihrer Unterstüzung blicken wir nun auf ein erfolgreiches Jubiläumsjahr zurück: 1867 - 2017 Wir bedanken uns beim Team des Diakonissenmutterhauses, das die zusätzlichen Anforderungen auf sich genommen hat - „Ohne Sie wäre das nicht möglich gewesen“ bei allen Referentinnen und Referenten - „Ihre Impulse rüsten uns für die Zukunft“ Ev. Diakonissenmutterhaus in Bremen bei unseren Kooperationspartnerinnen und -partnern DIAKO Ev. Diakonie-Krankenhaus gGmbH, Festschrift zum Diakonisches Werk Bremen e.V., Bremische Evangelische Kirche, Evangelische Frauen in Bremen e. V., Fachstelle Alter 150-jährigen Bestehen bei allen, die mit ihren kleinen und großen Spenden zur Realisierung beigetragen haben und ebenso bei der Bremischen Evangelische Kirche, den Evangelischen Frauen in Bremen e: V. und der Schwester Dorothea-Geweke-Stiftung, Hannover, für ihre Unterstützung bei Antje Büsing, die mit großem Engagement, Geduld und Zuneigung zum Mutterhaus diese Festschrift erstellt hat Klaus von Hahn Constantin Frick Sr. Sigrid Pfäfflin Thomas Rothe Vorstand Vors. Verwaltungsrat Oberin Pastor
Inhaltsverzeichnis Grußworte Impulse „Tradition aber, ist gegenwärtige Zeit“ Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde Bestehen angesichts 150 Jahre deutscher Sozial- und Diakoniegeschichte 8 Von Bleibeverhandlungen mit dem Leben und seinem Abschied 27 „Segen stiften und Segen erfahren Tee, Zwieback und die Losung - im Zusammenspiel mit kirchlichen und diakonischen Akteuren 10 Diakonie geschieht im Alltag - zwischen Tradition und Transformation 41 „Binde Deinen Karren an einen Stern“ „Was eine diakonische Einrichtung diakonisch macht - eine tägliche Ermutigung für patientenorientiertes Handeln 12 - und wo diakonische Identität sichtbar wird 77 „Nur wer Veränderungen akzeptiert, kann auch wachsen“ Diakonische Unternehmenskultur - Das Ev. Diakonissenmutterhaus in Bremen verbindet Tradition und Innovation 14 im Spannungsfeld von Auftrag und Markt 87 Lebt Euern Traum Gepflegt in Bremen - ambulant oder stationär? - einen Traum für morgen und den Mut, ihn heute schon zu leben 16 Das Diakonissenmutterhaus - politisch betrachtet 97 „Eine „Diakonissen-Bildungsanstalt“ für Bremen Einleitung als „Hoffnungszeichen“? Ein Blick zurück und in die Zukunft 109 „Nahrung für die Seele“ Was es braucht, in wechselvollen Zeiten diakonisch zu arbeiten 19 Heimat verlieren, Heimat suchen, Heimat geben Der Geist Martha Zöcklers im Diakonissenmutterhaus 130 „So war sie, unsere Oberin“ Die Schwestern erinnern sich an Sr. Martha Zöckler 144 Was bleibt diakonisch im Wandel der Zeit? Mitmenschlichkeit – Selbstsorge – Spiritualität 151 Impressum 158 6 7
„Tradition aber, ist gegenwärtige Zeit“, hat der Das Diakonissenmutterhaus war und ist ein Ort mit Philosoph Theodor W. Adorno geschrieben. Das eigenem Anspruch. Nicht selbstbezogen, aber mit Diakonissenmutterhaus blickt auf 150 Jahre seines „Marke“. Das Altenpflegeheim, die Emmauskirche, Bestehens zurück. Damit ist es ein Traditions- Ausbildungszentrum, Wohnhaus für syrische Flüchtlings- unternehmen und darf sich selbstgewiss und dankbar familien – in unseren Tagen sehen wir ein „Dorf“ mit auf seine Geschichte beziehen. In 150 Jahren deutscher innovativem Wachstumspotenzial, das darauf achtet, Sozial- und Diakoniegeschichte zu bestehen, trotz aller keine Seele zu verlieren, die sich ihm anvertraut. „Die Krisen- und Umbruchszeiten dabei geblieben zu sein, ist Zeiten sind nicht eben leicht“, haben alle immer schon eine Leistung, die der Würdigung bedarf. zu allen Zeiten gesagt. „Seid getrost und unverzagt, fürchtet euch nicht“ (5. Mose,31) hat die Bibel allen Das Gegenwärtige im Blick zu haben, die Bedarfe mit Entmutigten zur Seite gestellt. den reformerischen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen, ohne die Tragkraft der geistlichen Dimension Das Diakonissenmutterhaus wird auch zukünftig abzuschwächen, das hat das Diakonissenmutterhaus Menschen brauchen und finden, die gelassen und klug, geprägt und nie aufgegeben. Vielleicht hat ein Satz aus phantasievoll und durch Gemeinschaft gestärkt, die Psalm 32 Stütze und Ausrichtung gegeben: „Ich will dir Zukunft in den Blick nehmen. An Menschen, die bereit „Tradition aber, ist gegenwärtige Zeit“ den Weg zeigen, den du gehen sollst. Ich will dir raten sind, an den Berührungspunkten zwischen Himmel und und dich behüten.“ Erde zu arbeiten und segensreich zu wirken, haben wir Bestehen angesichts 150 Jahre deutscher Sozial- und Diakoniegeschichte in unserer Gesellschaft großen Bedarf. Dafür steht das Haube und Schürze sind abgelegt, die Schwestern- Diakonissenmutterhaus – seit 150 Jahren und hoffent- gemeinschaft, die allen anderen Beziehungsmög- lich noch lange. lichkeiten adé gesagt hat, ist klein geworden. Aber das Projekt ist weder gescheitert noch zu Ende. Diakonie geschieht im Alltag. Menschen bedürfen der Zuwendung und Pflege, des Seelentrostes und der praktischen Unterstützung. Damals wie Heute. Und Edda Bosse Gemeinschaft wird immer noch gepflegt – anders, aber Präsidentin des Kirchenausschusses nicht weniger herzlich und verbindlich. der Bremischen Evangelischen Kirche 8 9
Liebe Diakonissen, Schwestern und Freunde des Bremer Diakonissenmutterhauses, wir blicken auf 150 Jahre zurück, in denen die Schwestern Formen diakonischer Praxis und Reflexion, in der unseres Hauses im Krankenhaus, in Kirchengemeinden, Zusammenarbeit mit der Bremischen Evangelischen in Haushalten und im siebenbürgischen Waisenhaus Kirche, dem DIAKO-Krankenhaus, der Evangelischen in Schäßburg Hand angelegt, gepflegt, mitgelitten und Frauenarbeit in Bremen und den diakonischen getröstet haben. Seit die Zahl der Diakonissen zurück- Einrichtungen anderer Träger. geht, pflegen wir alte Menschen in unserer Mitte im Mutterhaus und sehen darin heute den Kern unserer Möge unser Haus weiterhin viele Jahre Segen stiften Aufgabe im Bremer Westen. und Segen erfahren! In der Pflege wird unsere tägliche Arbeit geprägt von einem schwer zu ertragenden Zwiespalt: diejenigen Segen stiften und Segen erfahren von uns, die von der Arbeit im Pflegeheim leben müssen, werden unter dem wirtschaftlichen Druck der - im Zusammenspiel mit kirchlichen und diakonischen Akteuren Versorgungsträger zu oftmals unwürdiger Hetze bei sparsamstem Entgelt gezwungen - aber gemeinsam wollen wir nicht nur die notwendigsten Handgriffe tun, sondern die erfahrene Liebe Christi in Wort und Tat weitergeben und untereinander teilen. Constantin Frick scheidender Vorsitzender des Verwaltungsrates Dieses eigentliche Ziel wird gewiss auch in Zukunft das Mutterhaus mit seiner Emmaus-Kirche als einen Ort der Sammlung und Sendung für diakonische Praxis tragen und prägen. Es ist lebendig in den regelmäßigen Zusammenkünften der Schwesternschaft, im Aufbruch der Diakonischen Weggemeinschaft Emmaus zu neuen 10 11
Zum 150. Geburtstag des Vereins „Evangelische Die in den jüngsten zurückliegenden Jahrzehnten Diakonissenanstalt Bremen“, aus dem das Evangelische mit hohem Engagement aller Mitarbeiterinnen und Diakonissenmutterhaus und die DIAKO Ev. Diakonie- Mitarbeiter immer weiterentwickelten Leistungs- Krankenhaus gemeinnützige GmbH hervorge- angebote des Ev. Diakonissenmutterhauses und die des gangen sind, übermittle ich den Diakonissen, allen Krankenhauses verschaffen der Bevölkerung im Bremer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beider Institutionen Westen eine der einzelnen Persönlichkeit zugewandte sowie den Verantwortlichen auf Trägerseite im DIAKO- erstklassige Versorgung, Betreuung, Geborgenheit und Namen die herzlichsten Glückwünsche. damit eine individuelle Sicherheit, die gerade hier in Gröpelingen ─ insbesondere auch perspektivisch ─ nicht „Binde Deinen Karren an einen Stern“ - dieser Rat von hoch genug bewertet werden kann. Leonardo Da Vinci ist nach meiner festen Überzeugung eine tägliche Ermutigung für patientenorientiertes Als direkter Nachbar danke ich Ihnen für die gute Handeln im Sinne des Selbstverständnisses von Zusammenarbeit in all den Jahren. Ich wünsche allen Diakonie, damit sich immer wieder mitten im Alltag der Mitarbeitenden des Evangelischen Diakonissenmutter- Himmel für den Einzelnen öffnen kann. hauses weiterhin viel Kraft, Mut, Zuversicht und für die tägliche Arbeit Gottes Segen. Ihr Einsatz demon- „Binde Deinen Karren an einen Stern“ Beide Institutionen gäbe es heute nicht, wenn es nicht striert Tag für Tag, wie unsere zu materiell ausgestaltete die engagierten Aufbauleistungen der in früheren Jahren Gesellschaft mit Achtsamkeit, Respekt, persönlichem - eine tägliche Ermutigung für patientenorientiertes Handeln so zahlreich für den Verein „Ev. Diakonissenanstalt Engagement und Hingabe positiv verändert werden Bremen“ und damit für unsere beiden Institutionen kann. Danke, dass es Sie gibt. Danke, dass Sie sich für tätigen Diakonissen gegeben hätte. Dieses Engagement die hier lebenden Menschen so besonders engagieren. der Diakonissen verdient allergrößten Respekt. Unter den Diakonissen gab es auch echte Strategen, die genau wussten, was sie wollten. Gern erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an die sehr vertraute Zusammenarbeit mit der langjährigen Oberin des Walter Eggers Evangelischen Diakonissenmutterhauses, Schwester Geschäftsführer Else Yzer, zurück. DIAKO Ev. Diakonie-Krankenhaus gGmbH 12 13
„Nur wer Veränderungen akzeptiert, kann auch durch Wohnräume für ein Leben im Alter. Eine leben- wachsen“ – in diesem Zitat von dem amerikanischen dige diakonische Gemeinschaft ist ebenso ein beredtes Autor Francis Paul Wilson steckt viel Wahrheit. Unser Zeugnis evangelischen Profils wie die vielen Fort- und Leben ist geprägt von Veränderung – vom Kindesalter Weiterbildungen weit über das Diakonissenmutterhaus über die Jugend und das Erwachsensein bis hin zum hinaus. Älterwerden. In den vergangenen 150 Jahren hat sich auch das Diakonissenmutterhaus immer wieder verän- Das Ev. Diakonissenmutterhaus in Bremen verbindet dert – und ist daran gewachsen. Tradition und Innovation miteinander und ist so ein Ort, an dem Dienstgemeinschaft gelebt und praktiziert wird. 1867 gegründet war das Diakonissenmutterhaus ein wichtiger Ausgangspunkt für gleich zwei Diakonische Ich danke allen, die zum Segen anderer Menschen im Einrichtungen, die es bis heute gibt. Das DIAKO und Diakonissenmutterhaus ihren Dienst geleistet haben und das Diakonissenmutterhaus tragen beide lebendig dies auch zukünftig tun. Denn so wird die Verkündigung zur diakonischen Profilgestaltung bei. Die Tradition der Liebe Gottes in Wort und Tat lebendig. der Diakonissen und des Diakonissenmutterhauses Gott segne Sie und ihr Tun. in Bremen prägen das Bild der Diakonie dabei in ganz „Nur wer Veränderungen akzeptiert, kann auch wachsen“ besonderer Weise. Das Diakonissenmutterhaus ist ein Zentrum der christlichen Gemeinschaft – es ist ein Ort, Das Ev. Diakonissenmutterhaus in Bremen verbindet Tradition und Innovation an dem Diakonie mit dem Dienst für den Nächsten gelebt wird – und das jeden Tag seit 150 Jahren. Der Wandel in der Altenhilfe und die so engagierte Manfred Meyer Pflege und Begleitung älterer Menschen ist ebenso Diakonisches Werk Bremen e.V. gelungen, wie die Schaffung zusätzlicher Angebote Vorstand und Landespastor für Diakonie 14 15
Wahrt eure Freiheit - Jede Gemeinschaft braucht frischen Wind und die Mitglieder Freiraum, ihre Ansichten einzubringen. Im Hören aufeinander können Luft zum Atmen und den Duft Lebt Euern Traum wir voneinander lernen. Toleranz auf dem sicheren Fundament der Botschaft Jesu des Frühlings, die Geduld, wird die Gemeinschaft stärken und beleben. Ich wünsche deshalb genug Luft zum den Winter zu ertragen, - einen Traum für morgen Atmen und Genießen. und den Mut, ihn heute schon zu leben Streitet konstruktiv - Unterschiedliche Meinungen gehören in die Platz im Herzen, Gemeinschaft. Durch die Auseinandersetzung mit ihnen üben wir, Verschiedenheit einen Kreis von Menschen auszuhalten, Unrecht zu benennen oder uns für die Anliegen der Schwachen und den Mut, auch Das Diakonissenmutterhaus Bremen feiert einzusetzen. Ich wünsche deshalb eine faire Streitkultur. Widerspruch zu wagen, 150. Geburtstag. Dazu gratuliere ich im Namen des Kaiserswerther Verbandes deutscher Dankt für Arbeit, Freunde und Brot - Vieles halten wir für Diakonissenmutterhäuser sehr herzlich. selbstverständlich und vergessen, Gott und Menschen an unserer Seite zu danken. Grund zum Danken, einen Das Jubiläum lädt zum Nachdenken ein, welche Ein 150. Jahresfest ist ein Grund zum Danken. Deshalb wünsche ich ein fröhliches Freund für’s Leben, eine Wünsche den weiteren Weg begleiten sollen. Dankfest zum Jubiläum – und alle Jahre wieder. Arbeit, täglich Brot zu essen, Ein Lied von Martin Buchholz hat mir Anregungen gegeben: Nehmt euch Zeit für Gott - Die Verbindung von Gebet und Dienst war und ist typisch für Diakonissenhäuser. Deshalb sehe ich eine wesentliche Aufgabe Zeit zu schweigen und auf Diakonischer Gemeinschaften darin, Zeiten der Besinnung zu planen, zu gestalten Gott zu hören, einen Ort, Lebt euern Traum - Begeisterte Menschen haben es 1867 vorgelebt und und im Unternehmen einzufordern. Ich wünsche deshalb Kreativität und Lust, den Alltag zu vergessen.“ eine Diakonissenbildungsanstalt in Bremen gegründet. Unzählige Frauen konnten „Raum zum Träumen, einen zeitgemäße Alltagsrituale zum Innehalten zu entwickeln und auszuprobieren. seitdem ihrer Liebe zu Gott im Dienst an hilfebedürftigen Menschen Ausdruck Traum für morgen und den geben. Inzwischen gab es viele Aufbrüche, die den Kaiserswerther Verband heute Mut, ihn heute schon zu bunt erscheinen lassen. Eins verbindet alle Gemeinschaften: Der christliche Glaube, leben, der sich im Dienst der Diakonie zeigt. (Gal. 5,6) Ich wünsche allen Geschwistern in Bremen den Mut, ihre Träume zu leben. Ich schließe mit dem Refrain des Liedes: Nehmt einander an - Das ist eine Herausforderung, aber auch ein Glücksfall „Das wünsch ich dir, das wünsch ich dir von Herzen. für jede Gemeinschaft. Wenn gegenseitige Unterstützung und die Bereitschaft Raum für Tränen, echten Gott behüte deine Schritte! Niemals gehst du ganz allein. zur Versöhnung im Alltag Markenzeichen des Miteinanders sind, werden Trost im Leiden und den Mut, Gott begleite deine Reise! Er wird immer bei dir sein.“ Gemeinschaften überzeugend, glaubwürdig und einladend für andere Menschen dem andern zu vergeben, wirken. Ich wünsche deshalb Raum für Tränen, Trost und Vergebungsbereitschaft. Sr. Esther Selle 16 17
„Nahrung für die Seele“ Was es braucht, in wechselvollen Zeiten diakonisch zu arbeiten Liebe Schwestern und Brüder, heute – im 150. Jahr – beschäftigen. In dieser Festschrift liebe Mitarbeitende, haben wir sie dokumentiert. Wir laden Sie ein, unsere liebe Freundinnen und Freunde, Denkprozesse mitzudenken, unseren Workshop nachzuerleben, Einblick in den aktuellen Wandel zu Sie halten die Festschrift zum 150jährigen Bestehen bekommen. Sie betreten sozusagen eine Baustelle – des Ev. Diakonissenmutterhauses in Bremen in Händen. herzlich willkommen! Unsere Geschichte begann 1867, damals wurde dem damaligen Pastor von Stephani eine Gabe von 100 Talern gespendet, die zunächst für die Anstellung einer Abschied und Neubeginn dritten Gemeindeschwester dort gedacht war. Sie sollte Dr. Annelie Keils Vortrag „Wohlan denn Herz, nimm dann aber der Grundstein werden für eine „Diakonissen- Abschied und gesunde“ - Vom Leben im Abschied Bildungsanstalt“, die auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken kann. Betrachten wir 150 Jahre, so sind sie gekennzeichnet von Sie werden jedoch kaum Rückschau lesen, dafür ist Abschieden und Neubeginn. Das ist nicht außergewöhn- die Zeitspanne viel zu lang. Wir haben in diesem Jahr lich, unser Leben ist geprägt vom Abschied nehmen. In Veranstaltungen durchgeführt mit Themen, die uns seinem Gedicht „Stufen“ spricht Hermann Hesse von 18 19
Lebensstufen, von Räumen, die durchschritten werden. Dabei stellt sich die Frage von Tradition und Er spricht auch vom Neubeginn, vom Anfang, dem ein Transformation, die Mitglieder der Gemeinschaften Zauber inne wohnt. Doch wie ist das im Älterwerden, und Mitarbeitende in einem Workshop mit Cornelia wenn der letzte große Abschied bevorsteht? Abschied Coenen-Marx, Oberkirchenrätin a. D., Pastorin, Autorin, vom Leben als biografische Herausforderung, so das Beraterin bearbeitet haben. Thema des Vortrags von Dr. Anneli Keil mit dem Titel: „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde“, mit dem wir in unser Jubiläumsjahr gestartet sind. Tradition und Transformation Cornelia Coenen-Marx´ Workshop In vielfältiger Weise begegnet uns das Thema Abschied: „Diakonie geschieht im Alltag“ Auf dem Gelände sind 36 barrierefreie Wohnungen entstanden. Dort wohnen Menschen, die sich von ihrer „Man spürt hier noch so einen christlichen Geist.“ - „Ich großen Wohnung oder von ihrem Haus verabschiedet erlebe eine christlich zugewandte Stimmung.“ So wird haben. Da sind die Menschen im Pflegeheim, die dem umschrieben, was manche als den „alten Geist der letzten großen Abschied entgegengehen. Und dann Diakonissen“ bezeichnen. Gibt es diesen „alten Geist“? Diakonisch – aber wie? Wie können Professionalität, Wirtschaftlichkeit und sind da die, die diesen Abschied begleiten und auch Wie drückt er sich aus, und wo steht er in Spannung Beate Hofmann: „Was eine diakonische Spiritualität im Gleichgewicht bleiben oder gebracht immer wieder Abschied nehmen müssen von den zur modernen Pflegebranche oder auch zu unserem Einrichtung diakonisch macht“ werden? Bewohnerinnen und Bewohnern. privaten Alltag? Oder geht es in Wahrheit um eine Haltung, die über die Generationen hinweg in unter- Prof. Dr. Beate Hofmann vom Institut für Die Schwesternschaft wird kleiner, die traditionelle schiedlichen Alltagswirklichkeiten gelebt werden kann? Diakoniewissenschaft und DiakonieManagement der Im Spannungsfeld Form der Diakonissen und auch der Diakonischen Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel geht in ihrem Cornelia Coenen-Marx: „Diakonische Schwestern geht zu Ende. Mit dankbarem Blick zurück In diesem Workshop wollten wir dem „Erbe“ der Forschungsschwerpunkt dieser Frage nach und hat in Unternehmenskultur zwischen Auftrag und Markt“ auf vielfältige diakonische Arbeit gestaltet sie heute Diakonissen auf die Spur kommen, die Schätze sichten ihrem Vortrag erste Erkenntnisse vorgestellt. das geistliche Leben im Mutterhaus. Daneben entwi- und uns darüber klar werden, was auch heute und in Die Frage nach der diakonischen Unternehmenskultur ckelt sich neue Gemeinschaft in der „Diakonischen Zukunft wesentlich für unsere Arbeit ist. Denn - Diakonie Die Frage nach einer Diakonischen Unternehmenskultur im Spannungsfeld von Auftrag und Markt beschäf- Weggemeinschaft Emmaus“. Frauen und Männer, die geschieht im Alltag. fordert diakonische Einrichtungen seit Jahren heraus. tigte uns bereits im Jahr 2010 beim Fachtag Diakonie. sich als neue Gemeinschaft aus den Wurzeln der alten Was charakterisiert und prägt Diakonie in besonderer Cornelia Coenen-Marx hat ihren damaligen Vortrag für Tradition verstehen. Sie gestalten den diakonischen Weise? unsere Festschrift aktualisiert, so dass er für Sie die Alltag heute im Miteinander der Mitarbeiterinnen und Fragen nach Diakonischer Arbeit zum einen die Frage Mitarbeiter in den Einrichtungen. nach der Wirtschaftlichkeit im Folgenden verknüpft. 20 21
Wirtschaftlich – aber wie? Ausrichtung auf die Schwerpunkte Gemeinschaft und Interview: Anja Stahmann und Klaus von Hahn Bildung (und Internationalität) gesetzt. Die Rahmenbedingungen für die Aufgaben im Sozial- Im ersten Aufruf 1867 für die „Diakonissen- und Gesundheitswesen haben sich grundlegend geän- Bildungsanstalt“ in Bremen wird von einem „Hoffnungs- dert. Im Gespräch mit Bremens Sozialsenatorin Anja zeichen“ gesprochen. Die Arbeit der Diakonissen Stahmann wurde dies thematisiert. Für eine kleine in Kirchengemeinden als Gemeindeschwestern Heimat verlieren, Heimat suchen, Heimat geben - Was bleibt diakonisch im Wandel der Zeit Einrichtung, wie wir es sind, bedeutet das eine große und Krankenhäusern – nicht nur allein im eigenen Erinnerungen an Oberin Diakonisse Martha Zöckler Mitmenschlichkeit – Selbstsorge – Spiritualität Herausforderung – was müssen wir leisten, was wollen „Krankenhaus am Hafen“ – stand von Beginn an im und können wir uns (noch) leisten. Mittelpunkt. Dr. Norbert Friedrich, Historiker und Leiter Im Blick zurück erinnern wir uns an die Zeit nach dem „Der Not der Zeit begegnen“, das war ein Leitgedanke in der Fliedner-Kulturstiftung in Düsseldorf Kaiserswerth zweiten Weltkrieg. In der Bombennacht am 17. August der Gründungszeit der Mutterhausdiakonie in der Mitte ging der Frage nach, wie sich die Geschichte des Bremer 1944 über dem Bremer Westen waren Mutterhaus, des 19. Jahrhunderts. Soziale Nöte, die ungesicherte 150 Jahre Diakonissenmutterhaus Bremen Diakonissenhauses von den kleinen Anfängen über alle Krankenhaus, Kirche an der Nordstraße völlig zerstört Situation unverheirateter Frauen und das verantwort- Eine „Diakonissen-Bildungsanstalt“ für Bremen als politischen, sozialen und kirchlichen Veränderungen worden. Mit dem Wiederaufbau am heutigen Standort liche Engagement der Christen und Christinnen in dieser „Hoffnungszeichen?“ fragte Norbert Friedrich entwickelt hat. In einem Ausblick wurde gefragt, wie in Gröpelingen ist der Name der Oberin Diakonisse Zeit waren die Grundpfeiler einer großen Bewegung. sich der Auftrag, der aus dem gemeinsamen Erbe nach Martha Zöckler eng verbunden. Ihrer wurde gedacht, als „Neue große Nöte bedürfen neuer mutiger Gedanken“ Diakonissenmutterhäuser waren und sind Einrich- 150 Jahre erwachsen ist, zukunftsfähig bewahren lässt. wir das Wohnzimmer im Mutterhaus nach ihr benennen - Friedrich von Bodelschwingh erkannte das bereits vor tungen, in denen Bildung einen Schwerpunkt darstellt. wollten. Zeitgleich waren die Wohnungen im sanierten 120 Jahren. Auch aktuell hat der Kaiserswerther Verband seine Jugendwohnheim, dem jetzigen Haus Hirschfeld bezugs- fertig. Und es wurde dringend Wohnraum für geflüch- Welches sind die Nöte unserer Zeit? Hier denken wir tete Menschen benötigt. Die Schwestern verließen an viele Randgruppen und debattieren, wo die Not am das Mutterhaus. Der Wohnbereich des Mutterhauses größten ist. Wir können auch sagen, die gegenwärtige wurde an die Stadt vermietet, und jetzt wohnen dort Hauptnot sei die Finanzierung der sozialen Arbeit, die zehn syrische Familien. Tatsache, dass zu wenig Geld für die Nöte dieser Zeit vorhanden ist. Mehr Geld ist Not-wendig. Im Prozess dieser Entscheidung riefen wir uns die ergrei- fende Biographie von Sr. Martha Zöckler ins Gedächtnis. Wir sehen die Not der Pflegenden. Das ist eine neue Sie, deren Leben gekennzeichnet war, Heimat zu suchen große Not, die neue mutige Gedanken erfordert! und Heimat zu geben, wäre mit dieser Entscheidung Pflegenotstand wird meistens als quantitatives Problem sicher einverstanden gewesen. Und so schließen sich betrachtet: Statistisch werden immer mehr Menschen an die Biographie der Oberin die Erinnerungen einiger der Pflege bedürfen, und angesichts des demographi- Diakonissen an sie an, die letzte Zeitzeugen sind. schen Wandels gibt es viel zu wenig Pflegende. Aber es gibt auch einen Notstand der Pflegenden. Schon Lesen Sie, welche Begebenheiten mit Sr. Martha Zöckler während der Ausbildung sind junge Pflegende desillusi- bis heute ihre Herzen bewegen. oniert und haben Gedanken des Abwanderns. 22 23
Wer pflegt, bewegt sich oft an Grenzsituationen des fremden religiösen Ansichten konfrontiert werde? Und Lebens, ist mit existentiellen Fragen konfrontiert: wenn ich selber nicht religiös bin? Wie kann eine exis- Schmerzen, Leiden, Sterben und Tod von Patientinnen tentielle Begegnung gelingen, ohne mich oder mein und Patienten, von Bewohnerinnen und Bewohnern. Gegenüber zu überfordern? All dies hinterlässt Spuren. Es gilt, einen „gesunden“ Umgang damit zu finden. Wir nehmen wahr, dass Pflegende ausgehungert sind nach Nahrung für ihre Seele, sie suchen nach Menschen in sozialen Berufen leisten Beziehungsarbeit. Kraftquellen für die Arbeit. Sie versuchen, Menschen mit Wertschätzung zu begegnen. Das kostet Kraft. Zugleich können sie nicht - So schließt diese Festschrift mit einem Bericht von Pastor anders als beispielsweise ein Tischler - am Abend anhand Thomas Rothe, wie wir im Ev. Diakonissenmutterhaus ihrer Werkstücke den Ertrag ihrer Arbeit ablesen. Als Bremen der Not unserer Zeit begegnen. In drei Richtungen Folge davon verlangen sie immer mehr von sich selbst, geht die Betrachtung: zu den Gemeinschaften, in unser um das Gefühl zu bekommen, den Ansprüchen anderer Hauptaufgabenfeld, die Altenpflege, und zu unserem oder den eigenen Ansprüchen zu genügen. Was heißt Fortbildungsangebot „diakonisch arbeiten“. da: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Jeder Mensch hat seine individuellen Grenzen: Grenzen „Dienet dem Herrn mit Freuden“ - so lautet der zweite der Kraft, der Geduld, der Belastbarkeit. An Grenzen zu Vers des 100. Psalms. Das ist der Hausspruch des kommen, ob von außen gesetzte oder persönliche, ist Diakonissenmutterhauses Bremen. Ein altes Wort, oft schmerzlich. Im sozialen Bereich zu arbeiten, wirft das immer wieder herausfordert, neu in die aktuellen verstärkt die Frage nach einer gesunden Abgrenzung Fragestellungen hinein ausgelegt zu werden. auf, um mit den Belastungen auf Dauer umgehen zu können. Wie können Pflegende die persönlichen Es ist auch der Predigttext im Jubiläumsgottesdienst, Grenzen erkennen, um sich innerhalb der Grenzen theologisch in der Festpredigt betrachtet von Pastor entfalten oder auch über sie hinauswachsen zu können? Renke Brahms, dem Schriftführer der Bremischen Was bedeutet da: Du stellst meine Füße auf weiten Evangelischen Kirche, nachzulesen unter www.diako- Raum? nissenmutterhaus-bremen.de. Zeiten der Krankheit und Krise werfen Fragen auf nach dem Sinn, dem Warum und nach Gott. Pflegende werden oft sehr unvermittelt damit konfrontiert. Wie Sr. Sigrid Pfäfflin gehe ich mit diesen Fragen um? Was, wenn ich mit Oberin 24 25
Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde Von Bleibeverhandlungen mit dem Leben und seinem Abschied Festvortrag von Prof. Dr. Annelie Keil im Februar 2017 Kein Ort nirgends? Aber nie ohne Ort! das Erwachen der Fragen mitten in all dem Leben, Anwesenheit als leibhaftige Provokation des Lebens das schon da ist und das der individuellen Sehnsucht nach „Verortung“ und der Not, einen eigenen und Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir geschützten Ort zum Leben und Überleben zu finden, hin? Warum werden wir ungefragt in eine fremde Welt als Grenze und Begrenzung gegenübersteht. hineingeboren? Wohin gehören wir? Wie beheimaten wir uns im Innen wie im Außen? Welcher Ort gibt uns Im alten Griechenland, wo vor 2500 Jahren eine Halt, macht den Boden unter den Füßen sicher? Welche unvergleichliche Kultur erblühte, war man der festen Ortswechsel und Abschiede fördern das Leben, welche Überzeugung, dass alles Leben Grenzen braucht und gefährden es? Diese Fragen beunruhigen Menschen, dass im menschlichen Leben und Zusammenleben seit sie die Erde bevölkern, und ihr Wohlbefinden hängt Grenzenlosigkeit und Grenzen nicht zu trennen sind. maßgeblich davon ab, ob sie je einzeln, als Generation, Sie bedürfen einander! Die grenzenlose Energie des als Familie, als ethnische oder religiöse Gemeinschaft Lebens braucht die Form, die ihr die Grenze gibt, immer wieder neu eine befriedigende Antwort auf erklärte Platon. Alles hat einen Anfang und auch ein diese Fragen finden. Leben ist so gesehen immer eine Ende- zwischen Geburt und Tod lebt der Mensch ein Art Bleibeverhandlung, von Abschieden und Grenzen spannungsreiches, aber begrenztes Leben. Bedenke, umstellt. Es ist nicht sicher. Unsere Geburt ist also dass Du sterblich bist, auf dass Du klug werdest! Die 26 27
Schönheit gibt. „Der Wunsch nach Grenzenlosigkeit sich im Schöpfungszusammenhang zu verorten, gibt es ist - recht betrachtet - gar nichts anderes als ein ins zunächst nicht. Als leibhaftige Existenz lebt Leben von Grenzenlose aufgeblähter Egoismus“ (Quarch). Nicht der Anwesenheit vor Ort, vertraut auf seine Potentiale grenzenloses Einerlei ist es, was das Leben lebendig und materialisiert die Idee vom Leben mit jedem macht. Sondern Leben braucht den Respekt vor jenen Atemzug und jedem Herzschlag. Mit dem Geschenk Grenzen, die das schöne, vielfältige, fremdartige, bezau- der nackten Geburt bekommen wir Leben nur als eine bernde Konzert des Kosmos überhaupt erst möglich Möglichkeit, leben müssen wir es selbst. Das gilt auch machen. Grenzenlos muss der Geist der Liebe sein, für die Liebe, den Glauben und die Hoffnung, für die der alles umspannt und nicht anderes im Sinn hat, als Aufnahme oder Beendigung von Beziehungen, gilt auch das Leben möglichst aller Menschen zu fördern und zu für die Frage, wie wir Orte des Lebens schaffen, verlieren behüten! oder zerstören, und ob das Leben nach der Geburt und bis zum Tod Sinn macht. Wir bekommen die Möglichkeit Schöpfungsgeschichten wie die biblische erzählen vom zu erkennen, zu denken, zu wissen, zu handeln, uns Zauber der ersten „Verortung“. In sieben Tagen formt zu wundern und transparent für den universellen Gott einen großen Lebenszusammenhang, schafft Zusammenhang zu werden, der als Geheimnis der Pflanzen, Tiere und das Menschenpaar, gibt ihnen Schöpfung die Geburt eines jeden Menschen zu einem Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne. Mehr als einzigartigen Augenblick von Dauer macht. Aber lieben, die Aufforderung, sich zu mehren, mit dem Leben als fühlen, denken und handeln müssen wir selbst. Grenze, die der Tod setzt, ist die Verankerung der grenzenlose Umweltkatastrophe, um nur ein Beispiel zu einem umfassenden Stoffwechsel zu beginnen und Abschiedlichkeit des Lebens in jedem von uns. Dass der nennen. Mensch sich im Fortschrittswahn der Moderne oder entlang der Allmachtsphantasien der Medizin immer Wir brauchen Grenzen, um das Leben zu schützen weniger als ein Sterblicher begreift, sich vielfach wie ein (Quarch). Wir müssen jene Grenzen annehmen, die uns Unsterblicher aufführt, der in die Grenzenlosigkeit des das Leben selbst setzt. Dazu gehören die biologischen „Ich kann alles!“ verliebt ist, raubt ihm Wert und Würde. Grenzen, die wir trotz aller Fortschritte der Medizin über einen demografischen Wandel hinaus nicht ins Werden die Fragen und Nöte verdrängt, bleiben sie unbe- „ewige Leben“ hinausführen können. Die soziale Grenze antwortet und die Suche nach einem „Entwicklungs- ist eine andere, die uns Begrenzung abverlangt. „Ich bin und Handlungsort“ unerfüllt, dann legt sich der dunkle Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben Schatten der existenziellen Not, nämlich keinen Ort will“ (Schweitzer). Wir sind nicht allein, neben uns nirgends zu haben, auf Körper, Geist und Seele des leben andere Menschen, Tiere, Pflanzen! Wir teilen Menschen. Schwäche, Gebrechlichkeit, Verletzlichkeit die Erde, sind Teil eines Kosmos, der uns das Leben und Endlichkeit sind als bedeutungsvolle Prinzipien möglich macht, aber auch Grenzen setzt. Grenzen des menschlicher Existenz zu verleugneten geworden, Wachstums, der Entfaltung. Wir müssen sterben, damit derer man sich schämt. Die grenzenlose Wirtschaft und andere leben können. Begrenztheit ist der Preis, den wir ihr Traum vom grenzenlosen Fortschritt schaffen eine dafür zu zahlen haben, dass es Vielfalt und damit auch 28 29
und Plastizität, Gestaltungswille, „Liebe, Arbeit und brauchte: ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Halt und Wissen“ (Wilhelm Reich) sind gefragt, wenn es um einen liebenden Schutz. Wir beginnen unser Leben mit die Entwicklung und Entfaltung eines jeweils einzigar- einer „Hausbesetzung“, kämpfen uns ins Leben hinein, tigen Lebens geht. Leben entwickelt sich nicht aus dem bewältigen Widerstände, klammern uns fest und fühlen Stillstand heraus, das konnte das kleine befruchtete Ei immer wieder die Bedrohung für unser Leben, wenn schon früh registrieren, sondern verlangt ganz offen- das nicht gelingt und Lebensorte uns nicht tragen. Jeder Mensch trägt diesen Zauber des Anfangs der Nach der Befruchtung stellt sich das kleine Ei in sichtlich Anpassung und Widerstand im Durchleben von Gattungsgeschichte wie seiner Lebensgeschichte in Kooperation mit dem mütterlichen Organismus der Krisen. Unruhestand, Ortswechsel und Umzüge aller Aber während das kleine Ei seinen Einzug in die neue sich und muss ihn „austragen“, bis er stirbt. Leben ist Herausforderung, die in der angelegten Aufgabe Art sind konstitutiv für die Entwicklung von Leben. Das Wohnung mit aller Kraft vorantrieb, machte es eine so gesehen eine lebenslange „Schwangerschaft“, bedarf steckt, sich selbst unter spezifischen Voraussetzungen gilt auch für den Prozess des Sterbens, dessen Ergebnis wunderbare Erfahrung: es war gar nicht so schwierig, der Zeugung, einer Art Urknall, Achtsamkeit und nach- zu entwickeln, die eigene örtliche Lebensumwelt im dann der Tod ist. zum Leben zugelassen zu werden, auf jeden Fall nicht haltiger Geduld, um zu zeigen, was in ihm steckt, um mütterlichen Organismus mitzugestalten und jene unmöglich. Da gab es ein anderes Lebewesen, das sich zu dem Leben zu werden, das unseren eigenen Namen einzigartige biografische Melodie zu improvisieren, die Das kleine Ei kletterte den Eileiter hinauf und nistete besetzen ließ und darauf vorbereitet war, dem kleinen trägt. Und vor allem braucht es den Mut, Etappe für es später mit seiner Gattung verbindet und gleichzeitig sich kurz darauf in der Gebärmutter ein. Man muss in hilflosen Winzling im eigenen Leib bedingungslos Asyl Etappe Abschied zu nehmen, muss wachsen, aufbauen einmalig und unverwechselbar macht. Man muss sich die Puschen kommen, bevor man Füße hat. Und später zu gewähren. Aus der Drohung „ Kein Ort. Nirgends“ und abschließen, Nahrung aufnehmen, verarbeiten und selbst vor Ort einrichten, seiner selbst mächtig werden. wieder raus, was auch nicht leicht ist, wenn die Füße war eine andere Erfahrung geworden: „ Wir sind Leben, wieder abgeben. Eigenverantwortung ist die Antwort, die das Leben auf die nicht mehr gehen wollen! Mit aller Kraft grub es sich in das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ spezifischen Fragen verlangt, die es jedem von uns stellt. die Plazenta ein, musste diese stören und verletzen, um (Albert Schweitzer) Und so beginnt es: Es war einmal eine weibliche Eizelle, zu bekommen, was es am „Ort des Lebens“ so dringend die ungeduldig darauf wartete, aus ihrem flüchtigen Nichts im Lebendigen ist mechanisch, nur Reflex, nichts Leben herauszukommen und einen festen Ort zu springt automatisch nur auf Knopfdruck von außen an. finden, um zu zeigen, was in ihr steckt, um Leben zu Auch die Gene funktionieren nicht wie Autopiloten, gestalten. Gespannt hielt sie zusammen mit anderen sondern brauchen ein Milieu. Auch Materie braucht ein Eizellen nach einer männlichen Samenzelle Ausschau Motiv, ist vom „objektiven Faktor Subjektivität“ ange- und war voller Hoffnung, das sich eines Tages einer von trieben. Körper, Geist und Seele sind die Werkzeuge, den Millionen Spermienfäden auf eine Begegnung und mit denen das „Lebenshaus“ gebaut wird. Sie inter- Vereinigung einlassen würde, damit sie in gemeinsamer agieren im Kontext von Anregung, Störung und Entwicklungsarbeit den Wunsch eines Menschenpaares Herausforderung, entwickeln sich nicht tatenlos auf nach einem Kind erfüllen könnten. Leben ist Kontakt, eine ferne Zukunft hin, sondern nur dadurch, dass Begegnung, Mut und Lust auf Zukunft und vor allem sie in jedem Augenblick eine bestimmte Aufgabe und erwartungsvolle Suche nach einem Lebensort - und wenn Funktion übernehmen, die sich ihrerseits im Rahmen dies alles fehlt, ist Leben unmöglich oder gefährdet. der Gesamtentwicklung verändert. Kein festgelegter Leben braucht einen Anstoß zum Leben, eine Störung, Ort nirgends. Leben lebt jeden Augenblick von Wandel, um sich auf den Weg zu machen und erfährt dabei, dass Transformation und Vergegenwärtigung. Nicht mecha- Verortung ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess ist. nistische Reaktion, unverletzbare Robustheit und technische Funktionsfähigkeit, sondern Störbarkeit 30 31
Neun Monate bedingungsloses Asyl, ein Mietvertrag mit Kein Ort. Nirgends Ausbildungsgarantie fürs Leben. Das kleine Ei kuschelte Die Verweigerung von Ankunft sich ein, schaukelte faul im warmen Wasser und nuckelte an der Pipeline, aus der Milch und Honig flossen. Eine Meine erste Erfahrung mit der grundsätzlichen erste Vorstellung vom Paradies entstand und mit ihr die Bedeutung der Ortssuche für das menschliche Leben Angst, einen solchen Ort wieder zu verlieren und auf war die Erfahrung jener Ohnmacht, die ein Mensch der Straße zu landen. Und schneller als gedacht kam die erlebt, wenn er der Herrschaft des Faktischen ausgelie- Geschlechterbeziehung in der Partnerschaft, für die fristlose Kündigung. Nach neun Monaten müssen wir fert wird, ohne irgendetwas aus sich heraus bewirken Macht, die aus Geld, Eigentum und Wissen resultiert. Haus und Hof verlassen und sollen das Licht der Welt oder verändern zu können. Als „Unfall“ einer miss- Liebe, Mitgefühl und Solidarität heben Macht nicht erblicken, ohne zu wissen, ob es einen neuen verläss- glückten Beziehung deklariert verweigerte meine auf, aber durch sie gewinnt der andere Mensch eine lichen Ort für uns geben wird, ob wir wirklich freudig Mutter zunächst die freundliche Annahme und gab Bedeutung und eine Verortung, die sein Unterwegssein erwartet werden und ob die notwendigen Ressourcen mich in ein Heim. Auch jenseits dieser individuellen in der Fremde der Welt erleichtert. vorhanden sind, um die nächsten Lebensabschnitte und Erfahrung umstellen Hilflosigkeit und Abhängigkeit Lebensorte zu meistern und zu gestalten. grundsätzlich die menschliche Geburt. Im ersten Schrei Die Begegnung mit der Macht der Ohnmacht fällt in des kleinen Menschen macht sich die Not Luft, die mit den frühen Tagen unseres Lebens, wie ich zu zeigen Leben ist Koexistenz und soziale Existenz, wird vom dem Kampf ins Leben und der Ungewissheit verbunden versucht habe, auf fruchtbaren Boden, denn schon als Menschen entschieden und erlitten, bedeutet immer ist, das Licht der Welt zu erblicken. Nackt geboren sind Embryo ist der Mensch darauf angelegt, sein Leben wieder Suche und teilen. Bindung und Entbindung, wir zunächst allem ausgeliefert. Für nichts gibt es eine mitzugestalten und seiner mächtig zu werden. Mit Lebensorte finden, gestalten und sie wieder verlassen Wahlmöglichkeit. Wesentliches ist entschieden: das dem Verlassen jener ersten Lebenswelt im Mutterleib sind die Voraussetzung dafür, ein selbständiges Leben Geburtsjahr, das Land, die Hautfarbe, vor allem die beginnt unmittelbar nach der Geburt der lebensnot- zu entwickeln und irgendwann auf eigenen Füßen Eltern und die soziale Lage, in die man hineingeboren wendige Versuch, die Verhandlungen mit der neuen stehen zu können - wie weit diese auch immer tragen wird. „Friss, kleiner Vogel, oder stirb“ ist die erste Welt aufzunehmen, sich ihr langsam und unter stän- mögen. Das Grundprinzip menschlicher Entwicklung Lebenslektion. Wir werden existierend gemacht, lange diger Kontrolle derer, die für die Sorge zuständig sind, und damit die zentrale Voraussetzung allen Lebens bevor wir „Ich“ sagen können. Von Macht auf der Seite anzunähern, Spielräume zu entdecken, Eigensinn zu sind Unsicherheit und Überraschung, relative des kleinen Menschen kann keine Rede sein. entwickeln, Übergriffe abzuwehren, Schritt für Schritt Unvorhersagbarkeit und gleichzeitig eine ungeheure auf die eigenen Füßen zu kommen und zu lernen, wie Potentialität und Kreativität. Leben ist ein Weg durch Umso größer ist die Macht auf der Seite derer, die man das Leben in die eigenen Hände nehmen kann. Mit die Fremde, und jeder Schritt wagt den Fall. Nur indem schon „erwachsen“ sind: Angehörige, Zugehörige, jedem Entwicklungsschritt nehmen wir das Risiko des wir leben, lernen wir uns und das uns zugemutete wie Verwandte, Kollegen, Nachbarn. Mit ihnen muss Fallens in Kauf, denn um leben zu können, müssen wir frei entschiedene Leben kennen. der Aushandlungsprozess um das Leben geführt uns vom ersten bis zum letzten Atemzug in eine Welt werden, das gerade begonnen hat. Menschen leben schon bestehender Beziehungen und Machtverhältnisse in Sorge um sich, und um zu überleben, müssen sie einmischen, die uns willkommen heißen, aber auch ihr Leben unter Einsatz verfügbarer Machtpotentiale ablehnen, fördern, aber auch behindern können. Der zu gestalten suchen. In allen sozialen Beziehungen aufrechte Gang des Menschen ist keine genetisch ist Macht ein konstitutives Moment, das gilt auch für gesicherte, orthopädisch betreute Garantieleistung die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern wie für die des Lebens, sondern muss lebenslang in all seinen 32 33
Sich seines Lebens bemächtigt zu haben, über Gene und den Krieg der Geschlechter setzen die herr- Ressourcen zu verfügen, beteiligt und anerkannt zu schenden Kräfte auf das Prinzip der Konkurrenz und die sein, sind Grundlagen des Gefühls von Autonomie, von Macht der Akkumulation und vergessen zu erklären, wachsendem Selbstbewusstsein und Ausdruck von welche Rolle das Prinzip der Liebe, des Mitgefühls, der Selbstwirksamkeit, jener Erfahrung, die kleinen und Bescheidenheit und des Teilens für den Zusammenhalt die großen Welten zusammen mit anderen im eigenen der Menschheit spielt. wie im gemeinsamen Interesse beeinflussen zu können. Selbstbestimmtes Leben ist uns nicht einfach in die Es lohnt sich, die Macht der Liebe in all ihren Variationen Wiege gelegt und keinem Gen geschuldet, sondern nicht nur zu besingen, sondern auch denkerisch und Ergebnis von Liebe, Arbeit und Wissen, den Quellen des praktisch in einen mächtigen Strom zu verwandeln, der Lebens. immer wieder neu jene Turbulenzen im Gegenstrom von Konkurrenz und Ausgrenzung erzeugt, die zu Dimensionen körperlich, seelisch, geistig, sozial und der Mensch von der Hoffnung, dass er als Bürger und Die Melodie unserer Zeit wird in Banknoten, Richtungsänderungen im Umgang mit der Macht führen. spirituell inmitten der Herausforderungen der gesell- Bürgerin dieser Erde gebraucht wird und dass keine Gewinnanteilen und Produktionsverlagerungen, Die Sammler und Jäger, die, ohne nach links oder rechts schaftlichen Wirklichkeiten von jedem Menschen erst Macht der Welt ihn willkürlich vom Koexistenzminimum in gegenseitiger Beschuldigung, Machthunger und zu schauen, mit allen Mitteln anhäufen, was über Macht erworben und erlernt werden. abschneidet. Rechthaberei, durch Enteignung von Bildung und und Geld erreichbar ist, wären zwischendurch daran Gesundheit (Illich) und anderem mehr geschrieben. Der zu erinnern, dass dem Geschenk der nackten Geburt Menschen kommen als Mängelwesen und Bittsteller zur Lebenskämpfe sind deshalb immer Machtkämpfe um „große Gesang über die Evolution der menschlichen am Ende des Lebens der Abschied im letzten Hemd Welt, und das bleiben sie bis zum Ende ihrer Tage. Kein Liebe und materielle Ressourcen, um Anerkennung und Koexistenz“ und die „Biologie der Liebe“ (Maturana, folgt, das keine Taschen hat. Die eigentliche Macht der Ort, der nicht erst geschaffen werden müsste, um zu Bedeutung, gegen Bevormundung und Unterdrückung. Hüther) wurden noch gar nicht angestimmt. Weil Ohnmacht besteht in der Tatsache, dass Leben grund- überleben. Jede Generation ist darauf angewiesen, dass Das menschliche Verhältnis zur Macht strukturiert und manche Leute sich nicht beherrschen können, versu- sätzlich nichts versprochen hat und nur das hält, was die Generationen, die schon da sind und das Terrain organisiert sich in einem kontinuierlichen Prozess von chen sie es mit anderen, auf welche Weise auch immer. wir selbst im Rahmen der historisch - gesellschaftlichen unter sich aufgeteilt haben, das Vorhandene teilen: Bindung und Entbindung, teilen und zuteilen und nimmt Das bestimmt den Machtkampf zwischen Männern Bedingungen durch Gestaltung und Mitgestaltung in die das Dach über dem Kopf, die Nahrung, die Sprache, die ewige Spannungsbeziehung des Lebens zwischen und Frauen, zwischen Eltern und Kindern, Ärzten Hand nehmen. Leben ist eine Art soziales Waisenkind, das Wissen, die Kultur, die Macht und die Liebe. Jeder Geburt und Tod in sich auf. Leben lebt vom Teilen, auch und Patienten, Lehrern und Schülern, Inländern und das jeden Tag von uns adoptiert werden muss und auf Mensch ist darauf angewiesen, dass er erwartet wird, von der Teilung der Macht und vor allem vom Teilen der Ausländern beiderlei Geschlechts. Gestützt durch die Kraft und den Mut hofft, dass Menschen dies unter dass man sich ihm sorgend zuwendet, ihm Schutz Orte, die es dem Menschen ermöglichen, anwesend naturwissenschaftliche und andere Theorien über die allen Umständen und mit allen ihnen zur Verfügung gewährt und Vertrauen schenkt, dass seine Würde zu sein. „Kein Ort. Nirgends!“ ist eine Art Todesurteil Bedeutung der natürlichen Auslese und das Überleben stehenden Machtmitteln auch tun. unantastbar bleibt, was immer in seiner Entwicklung sowohl für einen einzelnen Menschen wie für Gruppen, der Besten im Kampf ums Dasein, über angeborene auch geschieht. Wenn die Nabelschnur zerreißt, lebt Religionen oder ganze Völker. Verhaltensweisen und Instinkte, über egoistische 34 35
Unterwegs und doch zu Hause Innen und Außen wird, erfahren wir im Laufe des Lebens Leben, ohne festen Wohnsitz, aber vor Ort oft nur für einen Augenblick. Ankunft und Abschied geben sich im Unterwegssein des Lebens ständig die Unser erstes Haus ist der Mutterleib, und wir beginnen Hand. Leben ist ohne festen Wohnsitz und mit uns im das Unterwegssein im Inneren eines anderen Menschen- Rahmen unserer Biografie unterwegs. Hauses, das wir mit unserer Einnistung wie Einmietung „Kein Ort. Nirgends.“ Immer ist der Mensch auf verändern. Einen Ort finden und bewohnen ist immer „Wohnungssuche“, um anwesend zu sein. Das innere Angesicht der Unendlichkeit des Universums auf unser lösen Wohlbefinden oder Befindlichkeitsstörungen gemeinsame Sache mit der Umwelt machen: binden, wie das äußere Haus ist der angehaltene Atem des Maß beschränken. Und als leibliches Haus, das wir nie aus. Jeder weiß, wie schwer es ist, einem hartnäckigen einbinden und wieder entbinden. Unser Leben beginnt Menschen, der angehaltene Wind. An ihm prallt der verlassen können, hütet es das biografische Geheimnis Gefühl wie Eifersucht, Neid oder Geiz einfach die Tür zu bei der Geburt mit einer „Entbindung“, dem größten Regen ab, und in ihm kann der Mensch sich abschirmen, unseres Lebens. In der Biografie eines Menschen weisen. Wohnen und Bauen sind besondere Weisen des Ortswechsel bis zum Tod. Wir ziehen von einer ersten im Sicht- und Windschatten der eigenen und fremden findet sich die Ansammlung aller Orte, an denen er Seins, heißt es bei Heidegger. Welt, die uns mit jedem Entwicklungsschritt zur Heimat Mauern unabhängig vom Wetter und den Jahreszeiten Anwesenheit geübt hat. Sie erzählt die Geschichte seiner geworden ist, in die nächste Welt, die uns erst zur Heimat ein „gemäßigtes“, „glückliches“, „eingekerkertes“ Behausung und verweist auf die Konstruktionsprinzipien „Kein Ort. Nirgends!“ verbindet sich für den Menschen werden muss. Durch sein Haus spricht der Mensch zur oder „ängstliches“ Leben führen. Wer mit sich selbst und Muster seines Lebens. Auch Leerstellen tun sich auf, mit Heimatlosigkeit und dem Verlust von Orientierung. Welt, wie die Erde durch den Baum oder der Himmel vertraut ist, sich seelisch, geistig und sozial zu Hause wo kein Ort gefunden werden konnte. Das erlebte „Kein Einen Ort zu haben, ein Haus zu bewohnen, sich selbst mit seinen Sternen zu uns spricht. Jede Behausung kann fühlt, wer weiß, wo Fenster und Türen sind, um mit Ort. Nirgends“ hinterlässt ebenfalls Spuren, unsichtbare verorten zu können, gibt orientierende Sicherheit. Man zum Erlebnis des Glücks von Ankunft, aber auch zum sich selbst und der Welt im Austausch zu sein, kann zwar, aber dafür oft traumatischer Art! kann sich dem Außen entziehen. Umgekehrt scheint Erleben von Fremdheit und Entfremdung werden. Was sich besser gegen Stürme und Wetterlagen des Lebens die wirkliche Freiheit über den Wolken zu sein, im wirklich zur Heimat im Sinne eines Einklangs zwischen schützen. Das Haus ist ein Gefäß, in dem wir uns im Der Mensch ist bei der Schaffung seiner Lebensorte im unendlichen Raum gibt es keinen festgelegten Ort. Innen wie im Außen sein eigener Architekt, Bauherr, Immer wieder will der Mensch den scheinbar sicheren Eigentümer, sein Gärtner und sein Wächter. Was der Raum verlassen, will unterwegs sein, sich dem Wind Mensch baut und wie er sich im Stoffwechsel mit der entgegenstemmen, dem Fremden begegnen, sich der Welt einbringt, hat mit seinem Denken, Fühlen, Wollen, unverhofften Bedrohung stellen. In seinem Buch über seiner leiblichen Verfasstheit und seinem Handeln zu die „Grundformen der Angst“ hat Fritz Riemann die tun. Der Geist ist unterwegs und baut sich aus seinen Naturgesetze der Schwerkraft und der Fliehkraft als ein Erfahrungen ein Nest, Nicht zufällig wird das Gehirn ein Beispiel für die beiden Grundbedürfnisse des Menschen Sozialorgan genannt. (Roth, Hüther) Auch die Seele ist gewählt, sich einerseits zu verorten und festen Boden unterwegs und genetisch darauf angelegt, Erfahrungen unter die Füße zu bekommen und gleichzeitig vor der in Gefühle umzusetzen und mit Botenstoffen zu Aufgabe zu stehen, die Sicherheit eines festen Bodens versehen, die uns fühlen lassen, was Liebe, Wut, Angst wieder aufzugeben zu müssen, um neue Orte zu errei- oder Heimatlosigkeit ist. Soziale Bedrohung und die chen und Veränderung zuzulassen. Angst vor Arbeitslosigkeit, Wohnungsverlust oder Krankheit brauchen ein Zuhause und suchen viel- Lebensorte der Behausung sind Ausdruck der leicht Herz, Leber und Magen auf, binden das Denken, Sesshaftigkeit. Feste Wohnsitze sind gewollt, blockieren das Handeln. Denken, Fühlen und Handeln Nebenwohnsitze verlangen nach Rechtfertigung. Wer schaffen sich ihre Orte im Menschen, beheimaten sich, wohnungslos unterwegs ist, ist ein Ausgesetzter, ein 36 37
Illegaler, dem die Bürgerrechte zur Not verweigert aber nach einem Ort im „Nirgends“ und nach Ankunft werden, dem man nichts schuldig ist, nicht einmal ist endlos – sie dauern lebenslang. Die frohe Botschaft die Unantastbarkeit seiner Würde. Die Unruhe des dabei ist, dass der Mensch nicht nur genetisch gesehen Menschen soll domestiziert, die Liebe zum fernen ein „Überraschungsei“ ist, sondern bis zum letzten Horizont reduziert werden. Leben aber lebt von Atemzug für sich selbst und Andere eine Überraschung der Grenzüberschreitung. Im lebensnotwendigen bleiben kann. Der Mensch ist ein Original, und wie der Stoffwechsel überschreiten wir in jedem Augenblick Arzt Viktor von Weizsäcker schreibt, kein logisches, unsere Grenzen: körperlich, seelisch, geistig, sozial sondern ein lebendiges Beispiel des Lebens. und spirituell. Nur indem wir ständig über uns hinaus- schreiten, können wir überhaupt leben. Aber ohne Prof. Dr. Annelie Keil „Selbstintegration im tätigen Vollzug“ (Hans Jonas) wäre Leben auch nicht möglich. Wer nur voranschreitet, verliert sich. Wer immer bleibt, verliert sich auch. Innere und äußere Häuser sind wie Häute, die verdek- ken, verhüllen, begrenzen und zusammenhalten. In der Häutung, im Abschied von einer bisherigen „ Behausung und Beheimatung“ geht es um Wandel, um das Wandern Literatur von einem Ort zum anderen. Notwendige wie freiwil- Annelie Keil (2011) Auf brüchigem Boden Land gewinnen. lige Umzüge zeigen uns, dass wir vieles, mit dem wir Biografische Antworten auf Krankheit und Krisen, Kösel uns eingerichtet haben, gar nicht brauchen. Das einge- Verlag München richtete Haus einer Partnerschaft, einer Familie, einer Arbeit, einer Profession birgt auch die Gefahr, zum Ort Annelie Keil ( 2014) Wenn die Organe ihr Schweigen für Entfremdung, Gewalt und innerer Heimatlosigkeit brechen und die Seele streikt. Krankheit und Gesundheit zu werden. Ob der Mensch da, wo er ist, wirklich neu denken. Scorpio Verlag München seinen Ort hat und zu Hause ist, steht immer wieder in Frage. Die Fesseln, die in den eigenen Systemen der Annelie Keil, Henning Scherf ( 2016) Das letzte Tabu. Behausung stecken, sind die Wegweiser auf der Suche Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen. nach dem eigenen Weg. Die Sehnsucht wie die Suche Herder Verlag, Freiburg 38 39
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