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23 2018 6. Dezember 2018 71. Jahrgang FORSCHUNGSERGEBNISSE ZUR DISKUSSION GESTELLT Auswege aus dem Dilemma der empirischen Mittelstands forschung Türkei, Argentinien, Michael Berlemann, Vera Jahn und Robert Lehmann Brasilien, Indien: DATEN UND PROGNOSEN Schwellenländer vor ifo Konjunkturumfrage im Verarbeitenden Gewerbe: neuer Krise? Konjunkturelle Hochlage Carsten Hefeker, Volker Treier, Ulrich Kater, Jörg Krämer und führt zu Engpässen Ulrich Leuchtmann, Valentin Lang, Klaus-Jürgen Gern Simon Litsche und Stefan Sauer Die ifo Investitions erwartungen – ein neuer Frühindikator für die Investitionstätigkeit deutscher Unternehmen Timo Wollmershäuser Schwächere Autokonjunktur dämpft Leasingwachstum – Anlageinvestitionen weiter auf Wachstumskurs Arno Städtler IM BLICKPUNKT ifo Konjunkturumfragen November 2018 Klaus Wohlrabe
ifo Schnelldienst ISSN 0018-974 X (Druckversion) ISSN 2199-4455 (elektronische Version) Herausgeber: ifo Institut, Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München, Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: ifo@ifo.de. Redaktion: Dr. Marga Jennewein. Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, Annette Marquardt, Prof. Dr. Chang Woon Nam. Vertrieb: ifo Institut. Erscheinungsweise: zweimal monatlich. Bezugspreis jährlich: Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,– Studenten EUR 48,– Preis des Einzelheftes: EUR 10,– jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Kochan & Partner GmbH. Satz: ifo Institut. Druck: Majer & Finckh, Stockdorf. Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars. im Internet: http://www.cesifo-group.de
SCHNELLDIENST 23/2018 ZUR DISKUSSION GESTELLT Türkei, Argentinien, Brasilien, Indien: Schwellenländer vor neuer Krise? 3 Türkei, Argentinien, Indonesien, Brasilien: Die Währungen vieler Schwellenländer befinden sich zunehmend unter Druck. Die Ursachen sind ähnlich: hohe Schulden, steigende Inflation und schwaches Wachstum. Es fällt den Ländern zunehmen schwer, internationales Kapital zu attrahieren. Stehen sie vor einer neuen Krise? Carsten Hefeker, Universität Siegen, legt dar, dass die Schwellenländer derzeit doppelt negativ von der ameri- kanischen Handels- und Währungspolitik betroffen sind. Die Konsequenzen der amerikanischen Handelspoli- tik und die Gefahr eines Handelskriegs seien Themen internationaler Diskussionen, aber auch die restriktiver gewordene amerikanische Geldpolitik habe negative Auswirkungen auf die Schwellenländer. Um diese negati- ven Effekte zu reduzieren, sollte die Fed die Folgen ihrer Geldpolitik stärker berücksichtigen. Eine moderatere Zinspolitik würde die Volatilität von Kapitalströmen reduzieren. Volker Treier, Deutscher Industrie- und Handels- kammertag, Berlin, sieht die Schwellenländer ebenfalls durch höhere US-Zinsen belastet. Allerdings zeigten sich die meisten Schwellenländer heute widerstandsfähiger als in früheren Zeiten. Die Türkei und Argentinien seien zwei Sonderfälle, deren Probleme in erster Linie hausgemacht seien: Ein immenses strukturelles Leis- tungsbilanzdefizit belaste beide Länder. Ulrich Kater, Deka Bank, sieht die Schwellenländer als festen »Bestand- teil des Anlageuniversums« an. Die institutionelle und makroökonomische Stabilität sowie die Entwicklung der Finanzmärkte in diesen Ländern haben deutliche Fortschritte gemacht. Trotz einer Zunahme der Verschuldung in den Schwellenländern in den Jahren nach der Finanzkrise sorgen im Durchschnitt moderate Finanzkennzah- len für ausreichendes Vertrauen in die Finanzmärkte der Schwellenländer. Nach Ansicht von Jörg Krämer und Ulrich Leuchtmann, Commerzbank AG, ist eine umfassende Krise der Schwellenländer wenig wahrscheinlich, auch wenn Krisen einzelner Schwellenländer nicht ausgeschlossen werden können. Die Verschuldungssituation sei in den meisten Fällen wenig alarmierend und die Geldpolitik der Schwellenländer besser geworden. Das Ausblei- ben einer Krise bedeute aber nicht, dass die Schwellenländer zum ungewöhnlich hohen Wachstum der frühen 2000er Jahre zurückkehrten. Valentin Lang, Universität Zürich, geht der Frage nach, welchen Effekt Krisenländer erwarten können, wenn sie in ein IWF-Programm eintreten: Nach den bisherigen Erfahrungen könne der IWF kurzfristig dem Vertrauensverlust von Investoren entgegenwirken und zu einer geld- und finanzpolitischen Sta- bilisierung verhelfen. Langfristig allerdings hänge der Erfolg davon ab, ob der IWF dem Land Reformen zumute, die dieses auch innenpolitisch umsetzen könne. Reformprogramme, die zu starke Wachstumseinbrüche mit sich brächten und deren Lasten sich zu ungleich auf die Bevölkerung verteilten, seien zum Scheitern verurteilt. Klaus-Jürgen Gern, Institut für Weltwirtschaft, Kiel, stellt fest, dass das Wachstum in den Schwellenländern, das in den 2000er Jahren und in den Jahren unmittelbar nach der Großen Rezession der stärkste Treiber der welt- wirtschaftlichen Expansion war, bereits vor einiger Zeit ins Stocken geraten ist. Das Krisenpotenzial sei durch eine gestiegene Verschuldung größer geworden. Es sei damit zu rechnen, dass die Wachstumsdynamik in den Schwel- lenländern allgemein nachhaltig gebremst werde. Eine ausgewachsene Schwellenländerkrise, vergleichbar mit der Asienkrise 1997, sei aber derzeit nicht wahrscheinlich. FORSCHUNGSERGEBNISSE Auswege aus dem Dilemma der empirischen Mittelstandsforschung 22 Michael Berlemann, Vera Jahn und Robert Lehmann Nach einhelliger Meinung zeichnen sich mittelständische Unternehmen vor allem dadurch aus, dass hier Eigen- tum und Leitung der Unternehmen in einer Hand liegen. Aber in der empirischen Mittelstandsforschung sowie beinahe allen Berichten, die sich mit der tatsächlichen Größe und der Bedeutung des Mittelstands auseinan- dersetzen, werden mittelständische Unternehmen mit kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) gleichgesetzt. Der Grund hierfür liegt darin, dass mittelständische Firmen auf Basis amtlicher Daten nicht geeignet abgegrenzt werden können. In der Folge ist beinahe die gesamte empirische Mittelstandsforschung faktisch Forschung über kleine und mittlere Unternehmen. Um diesem Dilemma zu entgehen, wurden drei Sonderfragen in die ifo Kon-
junkturumfrage integriert, die eine sachgemäße Identifikation mittelständischer Unternehmen zulassen. Die Ergebnisse zeigen, dass die KMU-Quote die Mittelstandsquote erwartungsgemäß sehr stark überzeichnet. Mit den Sonderfragen bieten die Daten des ifo Instituts nunmehr die Möglichkeit, neue Impulse für die empirische Mittelstandsforschung zu liefern und so das beschriebene Dilemma zu überwinden. DATEN UND PROGNOSEN ifo Konjunkturumfrage im Verarbeitenden Gewerbe: Konjunkturelle Hochlage führt zu Engpässen 29 Simon Litsche und Stefan Sauer Zu Beginn des Jahres 2018 bewerteten die an der ifo Konjunkturumfrage teilnehmenden Unternehmen des Ver- arbeitenden Gewerbes ihren Geschäftsverlauf als so gut wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Seitdem hat sich die Lage zwar leicht abgekühlt, die Situation stellt sich aber nach wie vor sehr gut dar. Gleichzeitig war im Jahresverlauf ein erheblicher Anstieg der Anzahl der Firmen zu verzeichnen, die über negative Einflüsse auf ihre Produktionstätigkeit klagten. Vor allem die Faktoren Fachkräftemangel sowie Material- und Rohstoffengpässe traten dabei vermehrt zum Vorschein. Der Artikel stellt die vierteljährlich erhobene Frage nach Produktionsbe- hinderungen im Verarbeitenden Gewerbe genauer vor und beleuchtet die aktuellen Entwicklungen und deren Hintergründe näher. Die ifo Investitionserwartungen – ein neuer Frühindikator für die Investitions- tätigkeit deutscher Unternehmen 32 Timo Wollmershäuser Seit dem Jahr 2015 machen die deutschen Unternehmen im Rahmen der regulären ifo Konjunkturumfrage zwei- mal jährlich im Mai und November Angaben zu ihrer tatsächlichen und geplanten Investitionstätigkeit. Damit steht ein Frühindikator zur Verfügung, der einen recht guten Zusammenhang zur jahresdurchschnittlichen Ver- änderung der Bruttoanlageinvestitionen aufweist. Die jüngste Befragung im Herbst 2018 legt nahe, dass die Unternehmen ihre Investitionen in diesem Jahr stärker ausgeweitet haben dürften als im vergangenen Jahr. Im kommenden Jahr dürfte jedoch mit einer Verlangsamung zu rechnen sein. Schwächere Autokonjunktur dämpft Leasingwachstum – Anlageinvestitionen weiter auf Wachstumskurs 36 Arno Städtler Das Leasing hat 2017 mit einem Zuwachs von 6,4% besser abgeschnitten als die gesamtwirtschaftlichen Inves- titionsausgaben, wie die neueste ifo Investitionsumfrage bei den deutschen Leasinggesellschaften zeigt. Für das Jahr 2018 signalisiert der ifo Investitionsindikator, den das ifo Institut und der Bundesverband Deutscher Leasing-Unternehmen gemeinsam ermitteln, einen Anstieg der Ausrüstungsinvestitionen von nominal 4,5%. Die Investitionen im Nichtwohnbau sollen um real 2,1% zunehmen, was nominal ein Plus von über 6% ergeben dürfte. Die Investitionsentwicklung wäre damit sogar noch etwas dynamischer als im Vorjahr. Ursächlich hierfür dürfte auch der inzwischen schon lange anhaltende Aufschwung und die ständige Zunahme des Auslastungsgrads der deutschen Wirtschaft seit 2013 sein. IM BLICKPUNKT ifo Konjunkturumfragen November 2018 auf einen Blick: Die deutsche Konjunktur kühlt sich ab 47 Klaus Wohlrabe Der ifo Geschäftsklimaindex ist im November gefallen. Dies ist der dritte Rückgang in Folge. Die Unternehmen schätzten die aktuelle Lage – wenn auch von einem noch hohen Niveau ausgehend – schlechter ein. Ihre Erwar- tungen trübten sich ebenfalls ein. Dies deutet zusammen mit anderen Indikatoren auf ein Wirtschaftswachstum von allenfalls 0,3% im vierten Quartal hin. Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr 2019.
ZUR DISKUSSION GESTELLT Türkei, Argentinien, Brasilien, Indien: Schwellenländer vor neuer Krise? Türkei, Argentinien, Indonesien, Brasilien: Die Währungen vieler Schwellenländer befinden sich zunehmend unter Druck. Die Ursachen sind ähnlich: hohe Schulden, steigende Inflation und schwaches Wachstum. Es fällt den Ländern zunehmen schwer, internationales Kapital zu attrahieren. Stehen die Schwellenländer vor einer neuen Krise? Carsten Hefeker* auf 35,5% und bei Vorprodukten von 3% auf 31% stei- gen könnten. Dollardominanz und Krisen- anfälligkeit von Schwellen- GLOBALE KAPITALSTRÖME ländern Die Konsequenzen der amerikanischen Handelspolitik und die Gefahr eines Handelskriegs sind Themen inter- Internationaler Währungsfonds (IWF) und Finanz- nationaler Diskussionen, aber es wird wenig davon presse warnen vor einem globalen Abschwung, wenn gesprochen, wie sehr die restriktiver gewordene ame- Carsten Hefeker auch noch nicht vor einer Rezession. Die projektierte rikanische Geldpolitik Auswirkungen auf Schwellenlän- Wachstumsrate für Schwellenländer liegt nur noch der hat. Seit die Federal Reserve im Jahr 2013 erstmals bei etwas über 3% und selbst für China werden nur vorsichtig den geldpolitischen Wechsel ankündigte, noch 6% erwartet. Erste Vorboten einer möglichen sind die negativen Effekte der amerikanischen Zinspo- Krise zeigen sich in erheblichen Wechselkurseffekten. litik für Schwellenländer sichtbar und steigt die Anzahl So haben seit Beginn dieses Jahres der argentinische von sudden stops (vgl. De Gregorio et al. 2018).1 Da die Peso um rund 50% und die türkische Lira um rund 30% amerikanische Zentralbank weitere Zinssteigerungen gegenüber dem Dollar verloren. Auch die Währungen angekündigt hat, ist davon auszugehen, dass sich der Brasiliens, Indiens und Russlands haben um über 10% Druck weiter verstärken wird. an Wert eingebüßt, und Länder wie Mexiko, Südafrika, Während vor wenigen Jahren der brasilianische Indonesien, Pakistan und die Philippinen sind eben- Finanzminister Mantega den USA noch vorwarf, durch falls unter Druck geraten. Die Probleme der Türkei und ihre expansive Geldpolitik einen »Währungskrieg« Argentiniens sind mit Inflationsraten von 20 bzw. 40% gegen die Schwellenländer zu führen, wird nun betont, nicht überraschend, aber die moderaten Inflationsra- dass niedrige Zinsen im Zentrum Kapitalströme in die ten der anderen Schwellenländer weisen auf andere Peripherie lenken und dort zu Fehlinvestitionen und Gründe hin. steigenden Vermögenspreisen, vor allem im Immo- Sieht man von den hausgemachten Proble- biliensektor, führen (vgl. Rajan 2015, Gopinath 2017). men ab, so sind die Schwellenländer derzeit doppelt Insbesondere Schwellenländer mit liquiden und ent- negativ von amerikanischer Handels- und Währungs- wickelten Finanzmärkten ziehen in Niedrigzinspha- politik betroffen. Die von Präsident Trump gegen sen große Zuströme an. Hier aber findet dann ebenso China, die Türkei, Mexiko, Russland und die EU ver- der stärkste Abfluss statt, wenn sich die Zinssituation hängten Zölle auf Stahl und Aluminium und deren ändert, da die Anleger die höhere Liquidität dieser Gegenmaßnahmen beeinflussen durch die globalen Märkte nutzen, um ihre Anlagen zu verkaufen. Wertschöpfungsketten auch den Handel mit Dritt- Dabei ist besonders auffällig, dass die Wechsel- staaten. Potenziell noch bedrohlicher wäre es, wenn kurse und Aktienmärkte von Ländern mit starken Trump seine Ankündigung umsetzt und aus der Welt- makroökonomischen Fundamentaldaten (hohe Wäh- handelsorganisation WTO ausscheidet. So befürch- rungsreserven, geringe öffentliche Defiziten und Ver- ten Bown und Irwin (2018), dass die durchschnittli- schuldung, starkes Wachstum) hierfür keineswegs chen Zollsätze der USA bei Konsumgütern von 4,6% weniger anfällig sind. Lediglich Länder, die erst eine 1 * Prof. Dr. Carsten Hefeker ist Inhaber des Lehrstuhls für Europäi- Sudden stops bezeichnet die abrupte Umkehr von Kapitalzuströ- sche Wirtschaftspolitik an der Universität Siegen. men, die vor allem Schwellenländer betrifft. ifo Schnelldienst 23 / 2018 71. Jahrgang 6. Dezember 2018 3
ZUR DISKUSSION GESTELLT starke reale Aufwertung hatten und große Leistungs- ner Verschuldung in eigener Währung seit dem Jahr bilanzdefizite aufbauten, erleben stärkere Abflüsse 2000 von 10% auf 60% gestiegen ist.2 Aber während als Länder, die nur moderat aufwerteten und deren sich die Fremdwährungsverschuldung einiger Staaten Leistungsbilanzdefizite relativ gering anstiegen (vgl. in Schwellenländern entspannt hat, gilt dies nicht für Eichengreen und Gupta 2015). die Auslandsverschuldung von Unternehmen. Bruno Somit zeigt sich ein globaler Finanz- und Kredit- und Shin (2018) zeigen, dass vor allem Unternehmen zyklus, in dem die amerikanischen Zinssätze ganz in Schwellenländer ihre Dollarverschuldung in den entscheidend sowohl für das Niveau wie auch die Ver- letzten Jahren erhöht haben. Der gesamte Bestand änderungen von Kapitalströmen in Schwellenländer an Dollar denominierter Verschuldung von Nichtban- sind. So schätzen Bräuning und Ivashina (2018) einen ken steht nach ihren Schätzungen bei mehr als 11 Bil- Volumeneffekt von rund 2%, wenn sich die US-Zinsen lionen, wovon 3,7 Billionen auf Schwellenländer ent- um 0,25% verändern. Geht man von einer Veränderung fallen, und sich somit seit 2010 verdoppelt hat. Grund von insgesamt 4% über den Zinszyklus in den USA aus, dafür ist der sogenannte carry trade, der besonders so hat dies einen Effekt auf mehr als 30% der Kapital- lukrativ ist, solange der Zinsabstand zum Dollar hoch ströme. Mit der Entscheidung der Schwellenländer und der Wechselkurs stark ist.3 Sie finden auch, dass zur Öffnung der Kapitalmärkte und der Integration in nicht die Fremdwährungsverschuldung per se ein Pro- die globalen Finanzströme werden diese also anfällig blem ist, sondern die Verwendung der Mittel entschei- für Änderungen der amerikanischen Geldpolitik – und dend ist. Gefährdet sind vor allem diejenigen Firmen, dies gilt sowohl bei festen wie bei flexiblen Wechsel- die mit den Fremdwährungsschulden Finanzanlagen kursen (vgl. Rey 2015). Während die meisten Studien in heimischer Währung finanzieren und durch das immer noch zeigen, dass flexible Wechselkurse eine damit verbundene Währungsungleichgewicht zwi- gewisse geldpolitische Autonomie erhalten und Län- schen Anlagen und Verbindlichkeiten anfällig für eine der weniger anfällig für Krisen machen, sind die Vor- Abwertung werden. Da carry trade besonders von grö- teile flexibler Kurse aber offenbar deutlich geringer, ßeren Firmen betrieben wird, verlieren diese in die- als herkömmliche Theorien annehmen, da die Integr sem Fall stark an Börsenwert. Insgesamt finden die ation in die globalen Finanzmärkte auch bei Ländern Autoren, dass vor allem Firmen mit großen Bargeldbe- mit flexiblen Wechselkursen die Finanzmarktstabili- ständen in Brasilien, China und Russland von Abwer- tät gefährdet (vgl. Obstfeld und Taylor 2017). tungen betroffen sind, was auf den ersten Blick kon- traintuitiv ist. Der Grund liegt darin, dass offenbar vor ANFÄLLIG FÜR DEN DOLLAR allem riskantere Firmen einen größeren Bedarf sehen, Reserven zu halten. Tatsächlich trauen die meisten Schwellenländer den Bruno und Shin (2018) kontrollieren auch für die angeblichen Vorteilen weitgehend flexibler Wech- positiven Effekte einer Abwertung durch eine Ver- selkurse nicht. Es wird geschätzt, dass rund 80% der besserung der Exportchancen, finden aber, dass die Entwicklungs- und Schwellenländer Arrangements negativen Effekte aus der Verschuldung überwiegen. haben, die implizit einen Zielwert oder Korridor zu Anders als oft erwartet, hat eine Abwertung vielfach einer anderen Währung definieren und somit nur eine nicht die erwünschten positiven Effekte für eine Ver- beschränkte Flexibilität der Wechselkurse aufweisen, besserung der Leistungsbilanz. Dabei wird meist was in der Anfälligkeit aus schwankenden Wechselkur- unterstellt, dass eine nominale Abwertung zu einer sen begründet ist (vgl. Gopinath 2017). realen Abwertung führt, die Exporte verbilligt und Anfällig gegenüber starken Abwertungen sind Importe verteuert. Tatsächlich zeigen neuere Arbei- die Schwellenländer dabei aus verschiedenen Grün- ten, dass eine nominale Abwertung des Wechselkur- den. Traditionell wird vor allem auf das Ausmaß an ses um 1% nur eine Veränderung um 0,1% des realen Fremdwährungsverschuldung verwiesen, das Kredit- Wechselkurses bewirkt (vgl. Gopinath 2017). Anders nehmer unter Druck setzt, wenn die Dollarzinsen stei- als in den Standardmodellen unterstellt, sind offen- gen und die heimische Währung gegenüber dem Dol- bar nicht die Produzentenpreise in heimischer Wäh- lar abwertet. Dabei hat der Anteil des Dollar in inter- rung fixiert, sondern werden die Exportpreise in nationaler Verschuldung zugenommen. Waren 2008 Dollar fixiert. Eine Veränderung des Wechselkur- noch 45% der grenzüberschreitenden Verschuldung ses verändert damit zwar die Gewinne der exportie- in Dollar gezeichnet, so waren es 2016 über 60% (vgl. renden Firmen, hat aber nur geringe Effekte auf das Gopoinath 2017). Entsprechend stark ist die Weltwirt- Handelsvolumen. schaft gegenüber einer Änderung des Dollar exponiert. Zurückzuführen ist dies auf die dominante Stel- Während für lange Zeit vor allem die Staatsver- lung des Dollar im internationalen Handel. Das Phäno- schuldung in Fremdwährung Ursache für Finanzkri- 2 Dies gilt aber noch längst nicht für alle Länder. Die Gebietskörper- sen gewesen ist, kann man hier eine gewisse Besse- schaften Argentiniens sind mit rund 100 Mrd. in Dollar verschuldet, dazu kommen im privaten Sektor noch einmal knapp 70 Milliarden. rung beobachten, da es Schwellenländern zuneh- 50 Milliarden dieser Auslandsschulden sind zum nächsten Jahr fällig. mend gelingt, Staatsschulden in lokaler Währung Es überrascht daher nicht, dass das Land beim IWF einen Kredit von mehr als 50 Mrd. Dollar aufgenommen hat. aufzunehmen. So berichten Du und Schreger (2017) 3 Beim carry trade werden niedrig verzinste Fremdwährungskredite für eine Gruppe von 14 Ländern, dass der Anteil exter- aufgenommen und zu höheren Zinsen in Heimatwährung investiert. 4 ifo Schnelldienst 23 / 2018 71. Jahrgang 6. Dezember 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT men der »dominanten« Währung zeigt sich vor allem Nicht zuletzt hat die jüngste Entwicklung auch darin, dass der Anteil des Dollar mit 40% im interna- die Diskussion über die dominante Rolle des Dollar tionalen Handel viermal höher ist als der Anteil der wiederbelebt. So hat kürzlich EU-Kommissionprä- USA am internationalen Handel.4 Nicht nur Handel, sident Jean-Claude Juncker in einer Rede vor dem bei denen die USA auf einer Seite beteiligt sind, wird Europäischen Parlament kundgetan, es sei »unsin- in Dollar fakturiert, sondern auch der zwischen Staa- nig« und »lächerlich«, wenn Produkte, die nicht aus ten, die andere Währungen benutzen. Daher ist es den USA importiert würden, in Dollar abgerechnet nicht der bilaterale Wechselkurs zwischen zwei Län- würden. Bereits seit längerer Zeit ist auch die chine- dern, sondern der Kurs der eigenen Währung gegen- sische Regierung bemüht, die globale Bedeutung des über dem Dollar, der die Handelsvolumen beein- Dollar zugunsten des Renminbi zu reduzieren. Bislang flusst. Eine Abwertung der eigenen Währung gegen- ist allerdings nicht zu erkennen, dass die chinesische über der des Handelspartners beeinflusst demnach Währung dem Dollar Konkurrenz machen könnte (vgl. die eigenen Importpreise nur wenig. Wertet aber die De Gregorio et al. 2018). Und während mit der Einfüh- Währung gegenüber dem Dollar um 1% ab, so steigen rung des Euro spekuliert wurde, dieser könnte irgend- die Importpreise um 0,8%. Eine Aufwertung des Dol- wann den Dollar ablösen, ist davon gegenwärtig nur lar gegenüber dem Rest der Welt führt daher zu einem noch wenig zu hören. Rückgang des Handelsvolumens, da dies die Import- Es sind vor allem strukturelle Gründe, die gegen preise aller Länder erhöht und so zum Rückgang von eine größere internationale Rolle anderer Währungen Importen führt (vgl. Gopinath 2017). Diese Dominanz sprechen, und hier besonders die relativ geringe Liqui- des Dollar wird schließlich noch verstärkt durch den dität der Währungs- und Anleihemärkte. Die Rolle des Anreiz, sich in Dollar zu verschulden. Um eine natür- Dollar wird erst zurückgehen, wenn sich sichere und liche Absicherung gegen schwankende Wechselkurse verlässliche Anlagealternativen bieten. Mindestens im zu schaffen, ist es naheliegend, Einkommen in Dollar Fall des Euro könnte man dem relativ leicht begegnen, zu erzielen. Werden aber Exporte vermehrt in Dollar wenn es gemeinsame Eurobonds gäbe, die einen ent- abgerechnet, stärkt dies die Rolle des Dollars weiter. sprechend großen Markt schaffen würden. Das wird aber nicht nur von der deutschen Regierung vehement REDUZIERUNG DER ANFÄLLIGKEIT abgelehnt, und so lange das so ist, ist von einer größe- ren Rolle des Euro als Anlagewährung nicht auszuge- Um die negativen Effekte einer Änderung der ameri- hen. Es ist also zu erwarten, dass der Dollar weiter die kanischen Geldpolitik auf Schwellenländer zu redu- dominante Währung bleiben wird und die Schwellen- zieren, ist eine naheliegende Forderung an die Fed, länder wohl oder übel daran und an der Geldpolitik die externen Effekte ihrer Geldpolitik stärker zu be- der USA hängen bleiben werden. rücksichtigen (vgl. Rajan 2015). Eine moderatere Zins politik würde, so die Hoffnung, auch die Volatilität LITERATUR von Kapitalströmen reduzieren. Ob die Fed dazu bereit Bown, C. und D. Irwin (2018), What Might a Trump Withdrawal from the ist, ist jedoch fraglich. Eine weitergehende Form der World Trade Organization Mean for US Tariffs?, Policy Brief 18-23, Peterson internationalen Zusammenarbeit besteht in der Aus- Institute for International Economics, Washington DC. weitung der existierenden Swap-Abkommen, die Län- Bräuning, F. und V. Ivashina (2018), »U.S. Monetary Policy and Emerging Market Credit Cycles«, NBER Working Paper 25185. dern unter Druck Zugang zu internationaler Währung Bruno, V. und H. S. Shin (2018), »Currency Depreciation and Emerging verschaffen, sowie die Schaffung regionaler Währungs- Market Corporate Distress, Bank for International Settlements«, Working fonds wie der Chang-Mai-Initiative, dem BRICS Con- Paper 753. tingent Reserve Arrangement oder des lateinameri- De Gregorio, J., B. Eichengreen, T. Ito und C. Wyplosz (2018), IMF Reform: kanischen Reservefonds FLAR, die den IWF ergänzen The Unfinished Agenda, Geneva Reports on the World Economy 20, CEPR, London. (vgl. De Gregorio et al. 2018). Noch sind die Mittel aber Du, W. und J. Schreger (2017), »Sovereign Risk, Currency Risk, and Corpo- beschränkt, und einer Ausweitung der multilatera- rate Balance Sheets«, Columbia University, mimeo. len Möglichkeiten im Rahmen des IWF werden die USA Eichengreen, B. und P. Gupta (2015), »Tapering Talk: The Impact of Expec- kaum zustimmen. tations of Reduced Federal Reserve Security Purchases on Emerging Mar- kets«, Emerging Markets Review 25, 1–15. Unilateral können die betroffenen Staaten ihre Gopinath, G. (2017), »Rethinking Macroeconomic Policy: International Verwundbarkeit natürlich durch die Reduzierung Economy Issues«, Harvard University, mimeo. ihrer Dollarverschuldung senken, wofür erste Anzei- Obstfeld, M. und A. Taylor (2017), »International Monetary Relations: chen zu sehen sind. Neue Schuldverschreibungen in Taking Finance Seriously«, Journal of Economic Perspectives 31(3), 3–28. den sechs Monaten bis Oktober sind auf rund 24 Mrd. Rajan, R. (2015), »Competitive Monetary Easing: Is It Yesterday Once More?«, Macroeconomics and Finance in Emerging Market Economies 8, Dollar und damit um mehr als 70% im Vergleich zum 5–16. Vorjahr gefallen. Stattdessen nahmen die Emissio- Rey, H. (2015), »Dilemma not Trilemma: The Global Financial Cycle and nen in anderen Währungen zu (vgl. Financial Times, Monetary Policy Independence«, NBER Working Paper 21162. 15. November 2018). 4 Für manche Länder, vor allem in Lateinamerika, ist der Anteil noch höher. So sind 88% der argentinischen Importe in Dollar deno- miniert, obwohl nur 15% aus den USA kommen. ifo Schnelldienst 23 / 2018 71. Jahrgang 6. Dezember 2018 5
ZUR DISKUSSION GESTELLT Volker Treier* gen der handelspolitischen Konflikte – vor allem zwi- schen den USA und China – noch nicht in ihrer Gänze Asienkrise 2.0 – droht ein entfaltet, so dass es für eine generelle Entwarnung neuer Flächenbrand? definitiv zu früh ist. Lira, Peso, Rand und Rupie. Im Laufe des Jahres HÖHERE US-ZINSEN BELASTEN DIE EMERGING sind die Währungen einiger Schwellenländer unter MARKETS Druck geraten. Auslöser war die Erhöhung der US- Leitzinsen durch die Fed. Die Steuerreform des Derzeit belaufen sich die US-Dollarschulden der US-Präsidenten hat dem Dollar zusätzlich Aufwind Emerging Markets laut Bank für Internationalen Zah- © DIHK/Jens Schicke verliehen. Das hat dazu geführt, dass sich die Ren- lungsausgleich (BIZ) auf rund 3,7 Billionen US-Dol- diteaussichten der Kapitalanleger im Vergleich zu lar. Damit haben sich die Verbindlichkeiten seit der den risikoreicheren Emerging Markets zum Vorteil Finanzkrise 2008 mehr als verdoppelt. Das lag in den Volker Treier des »sicheren« Hafens USA verschoben haben. In vergangenen Jahren vor allem an den niedrigen Leit- der Folge kam es zu einer Umschichtung von Kapi- zinsen in den USA, Europa und anderen Industrie- tal nach Nordamerika. Das wiederum hat die Wäh- nationen. Die im Vergleich dazu attraktive Risiko- rungen einiger aufstrebender Ökonomien zur Abwer- prämie hat vermehrt Investoren in die aufstreben- tung gezwungen – vor allem dort, wo angesichts gro- den Ökonomien gelockt. Ende 2014 beendete die ßer Leistungsbilanzdefizite eine US-Dollarverschul- Fed jedoch ihre stark expansive Geldpolitik. Zunächst dung vorherrscht. Insbesondere in Argentinien und ließ die amerikanische Währungshüterin ihr Ankauf- in der Türkei hat zwischenzeitlich eine massive Kapi- programm für Staatsanleihen auslaufen. Im Dezem- talflucht eingesetzt. Länderspezifische Probleme, die ber 2015 hob sie in Reaktion auf die anziehende sich auch eher in einer strukturell ungleichgewichti- US-Konjunktur auch die Zinsen von 0 auf 0,5% an. gen Außenwirtschaft ausdrücken, wurden offenge- Ab diesem Zeitpunkt gestaltete die Fed ihren geld- legt. Der Handelskonflikt zwischen China und den USA politischen Kurs zunehmend restriktiver. Seit Novem- belastet die Schwellenländer zusätzlich. Die meis- ber 2017 hat sie die Leitzinsen viermal erhöht – zum ten asiatischen Länder sind bei ihren Exporten auf letzten Mal im September 2018 auf 2,25%. Die kurz den amerikanischen Markt über das Reich der Mitte aufeinanderfolgenden Zinsanhebungen haben die verbunden. Währungen einiger Schwellenländer unter Abwer- Angesichts der aktuellen Entwicklungen füh- tungsdruck gebracht. Durch die Zinserhöhung stieg len sich viele an die Asienkrise in den 1990er Jahren die Zinslast der US-Dollarverschuldung deutlich an. erinnert. Damals hatten unter anderem hohe Han- Die durch die Steuerreform beflügelte US-Konjunk- delsdefizite und eine exzessive Kreditaufnahme tur sowie die mit ihr angestoßene Repatriierung in Fremdwährung eine schwere Wirtschafts- und von Gewinnen verstärkten den Run auf den Dol- Finanzkrise in den Tiger- und Pantherstaaten aus- lar. Zeitgleich büßten die betroffenen Staaten als gelöst. Heute ist die Situation jedoch eine andere. Investitionsstandort relativ zu den USA an Attrakti- Schwellenland ist nicht mehr Schwellenland. Viele vität ein. Ausländische Geldgeber zogen Investi- aufstrebende Volkswirtschaften konnten ihre makro- tionsmittel in die Vereinigten Staaten ab. Das ökonomischen Rahmenbedingungen unter ande- wiederum ließ den Wert der heimischen Währung rem durch die Einführung flexibler Wechselkurse fallen und vergrößerte die reale Schuldenlast. Argen- und die Reduzierung ihrer Staatsschulden signifi- tinien und die Türkei traf die Zinserhöhung beson- kant verbessern. Im Vergleich zu einigen kriseln- ders hart. Dort setzte aufgrund der stark ausge- den Eurostaaten ist die staatliche Gesamtverschul- prägten Auslandsverschuldung und des hohen Leis- dung in der Breite geradezu vorbildlich. Dement- tungsbilanzdefizits ein Teufelskreis aus Kapitalflucht sprechend präsentieren sich viele Emerging Markets und Abwertung ein. deutlich widerstandsfähiger. Die Türkei und Argen- Auch in anderen Emerging Markets waren die tinien bilden zwei schwierige Sonderfälle. Abgese- Auswirkungen der gestiegenen Leitzinsen auf die hei- hen von den politischen Widrigkeiten im Zusam- mischen Währungen zu spüren. Im aktuellen »AHK menhang mit dem Putschversuch im Juli 2016 in World Business Outlook Herbst 2018« berichtet welt- der Türkei belastet beide Länder ein immenses weit jedes dritte deutsche Unternehmen, dass seine strukturelles Leistungsbilanzdefizit, das zu einem Auslandsgeschäfte von Wechselkursschwankungen Großteil durch kurzfristige Fremdwährungskredite bedroht werden – ein im Zeitvergleich besonders finanziert wird. Die Gefahr einer Ausbreitung der regi- hoher Wert. Mit Ausnahme von den unter etlichen onalen Krisen in Verbindung mit höheren Zinsen – US-Sanktionen stehenden Ländern Iran (75%) und insbesondere in den USA – zu einem Flächenbrand Russland (71%) sehen die Betriebe das größte Wech- erscheint daher aktuell als nicht sehr hoch. Allerdings selkursrisiko in der Türkei (79%) und in Argentinien haben sich die negativen konjunkturellen Auswirkun- (68%). Aber auch in Südafrika (64%), Indien (44%) und * Dr. Volker Treier ist Stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Brasilien (42%) herrschen große Sorgen mit Blick auf Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Berlin. die heimische Währung vor. 6 ifo Schnelldienst 23 / 2018 71. Jahrgang 6. Dezember 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT DENNOCH: SCHWELLENLÄNDER SIND WIDER- Es bleibt die Frage zu klären, warum es andere STANDSFÄHIGER GEWORDEN Schwellenländer wie Südafrika nicht ähnlich hart getroffen hat wie die Türkei oder Argentinien. Im Früh- Die aktuellen Entwicklungen in Argentinien und der jahr musste das Land am Kap der guten Hoffnung auf- Türkei sind zweifelsfrei besorgniserregend. Der Wert grund einer verheerenden Dürre eine wirtschaftliche des Peso hat sich seit letztem November gegenüber Talsohle durchschreiten und wird dieses Jahr nur um dem US-Dollar nahezu halbiert. Die Lira verzeichnet im knapp 0,5% wachsen. Dennoch zeigt sich das Land Vergleich zum April trotz einer leichten Erholungsphase relativ stabil. Der afrikanische Rand war zwar im Laufe noch immer ein Defizit von knapp 25%. Makroökono- des Jahres Schwankungen unterworfen, konnte sich misch zeigen sich beide Staaten durch die Wirtschafts- jedoch leicht über dem Vorjahresniveau stabilisieren. und Währungskrisen schwer angeschlagen. Das tür- Ein starker Anstieg der Verbraucherpreise blieb eben- kische Wirtschaftswachstum erfährt bereits dieses falls aus wie eine Kapitalflucht der Investoren. Jahr einen deutlichen Knick. Nächstes Jahr droht am Die größten Herausforderungen Argentiniens und Bosporus eine Stagnation. Argentinien ist derweil der Türkei sind die hohen Leistungsbilanzdefizite von bereits in eine Rezession gerutscht. rund 5% des Bruttoinlandsprodukts. Nach der Anhe- Nichtsdestotrotz ist die Gefahr einer Ausbreitung bung der Zinsen haben die Investoren das Vertrauen der Krise auf andere aufstrebende Volkswirtschaf- verloren, dass diese Defizite weiterhin durch Zufluss ten gering. Laut IWF werden die aufstrebenden Öko- ausländischen Kapitals finanziert werden können – nomien auch 2018 und 2019 um fast 5% wachsen. Im sie haben ihr Kapital abgezogen. Zum Vergleich: In Fall Argentiniens und der Türkei sind die Probleme in Südafrika betrug das Defizit mit 2,3% nicht einmal die erster Linie hausgemacht. In beiden Ländern kommt Hälfte. Indien verzeichnete ein Minus von 2%, Brasi- – so schmerzhaft die aktuellen Verwerfungen sind – lien ein Minus von 0,5%. schlichtweg das ökonomische Prinzip vom »rationa- Ein weiterer Grund für das Ausbleiben der Krise len Kapital« zum Tragen. Die Anteile wandern dorthin, in anderen Schwellenländern ist die Struktur der Aus- wo unter Einbeziehung von Risikofaktoren der größte landsverschuldung. Ein hoher Anteil an kurzfristigen Ertrag erzielt werden kann. Schwellenländer wie Schulden wie zum Beispiel in Form von Portfolioin- Indien, Malaysia oder Indonesien haben in der Vergan- vestitionen macht ein Land per se anfälliger für Wech- genheit wirtschaftspolitische Aufgaben gründlicher selkursschwankungen. Bei dieser Form der Anlage erledigt und sind dementsprechend besser gegen stehen der Entwicklungsgedanke und der Kontroll den Abzug von ausländischem Kapital gewappnet. aspekt über ein Unternehmen nicht im Mittelpunkt. Der Blick auf zentrale Wirtschaftsdaten verschiedener Investoren können ihr Kapital zeitnah in attraktivere Emerging Markets hilft, um die geringe Widerstandsfä- Anlagemärkte verlagern, wenn sich die Renditeaus- higkeit von Buenos Aires und Ankara zu erklären. sichten ändern. Dem gegenüber stehen die längerfris- Die Höhe der Staatsverschuldung scheint nicht tigen Direktinvestitionen. Dabei handelt es sich um der Auslöser der aktuellen Krise zu sein. In den meis- Vermögensinvestitionen. Neben dem Kapital fließen ten Schwellenländern hat sich die Staatsverschuldung auch Technologie und Wissen in das Land. Der Inves- zuletzt vergleichsweise positiv entwickelt. Brasilien tor versucht nachhaltige Strukturen vor Ort zu schaf- verzeichnet mit fast 90% des Bruttoinlandsprodukts fen. Dementsprechend sind Direktinvestitionen weit die höchste Schuldenquote unter den aufstrebenden weniger volatil als Portfolioinvestitionen. Insbeson- Ökonomien. Indien ist mit knapp 70%, Argentinien dere in Argentinien und der Türkei ist der Anteil an mit 63%, Südafrika und Malaysia jeweils mit 56% ver- kurzfristigen Investitionen mit 12% beziehungsweise schuldet. Die Türkei und Russland verbuchen sogar 14% überdurchschnittlich hoch. Im Vergleich kommt nur ein Defizit von 33% beziehungsweise 15% Südafrika lediglich auf 9%, Indien auf 4% und Brasi- Schwellenländer weisen traditionell eine hohe lien auf 2,5%. Verschuldung in Fremdwährung auf. Daher ist die Aus- landsverschuldung – also alle Verbindlichkeiten des SONDERFALL ARGENTINIEN staatlichen und privaten Sektors gegenüber dem Aus- land – ein aufschlussreicherer Indikator für die der- In Argentinien wurde auch während der Erholungs- zeitigen Probleme. Die Türkei ist mit über der Hälfte phase der letzten Jahre weiterhin ein Großteil der ihres Bruttoinlandsprodukts im Ausland verschuldet. Staatsausgaben sowie das immense Leistungsbilanz- Südafrika schuldet dem Ausland knapp die Hälfte sei- defizit von mehr als 30 Mrd. Euro über eine hohe Aus- nes Bruttoinlandsprodukts. Argentinien liegt bei 37%, landsverschuldung in US-Dollar finanziert. Eine stär- Brasilien und Indien bei 26% beziehungsweise bei kere Finanzierung über die Anziehung von Direktinves- 20%. Angesichts dieser Zahlen wird deutlich, warum titionen ist auch der Reformregierung von Präsident Schwellenländer bei einer Abwertung der eigenen Macri nicht gelungen. Der wachsende Schuldenberg Währung schnell in die Bredouille geraten können. wurde dem Land im Frühjahr zum Verhängnis. Die Anhe- Argentiniens Auslandsverschuldung wird 2018 laut bung der US-Leitzinsen hat die noch immer existieren- IWF auf 51% steigen. Innerhalb eines Jahres erhöhen den strukturellen Probleme des Landes frei gelegt, die sich die Schulden des Landes damit um 14%. Anleger zum Geldabzug bewegt und den Peso letztlich ifo Schnelldienst 23 / 2018 71. Jahrgang 6. Dezember 2018 7
ZUR DISKUSSION GESTELLT zur Abwertung gezwungen. Der vergleichsweise hohe Großteil der Geschäfte wie zum Beispiel Mietverträge Anteil an kurzfristigen Auslandsverbindlichkeiten hat in Dollar getätigt werden, haben sich die Kosten für die Lage verschärft. Insbesondere die Portfolioinves- viele Betriebe in der Türkei nahezu verdoppelt. Zah- titionen haben 2017 stark zugenommen. Dementspre- lungsausfälle und Insolvenzen sind derzeit die Folge. chend einfach war es für Investoren, ihr Geld aus dem Von der Türkei geht dennoch wenig Ansteckungs- Markt herausziehen. Selbst das IWF-Darlehen von über gefahr aus. Die Verknüpfungen zu anderen Schwel- 50 Mrd. Euro und Leitzinsen von 60% konnten die Kapi- lenländern sind zu gering ausgeprägt. Die türkischen talflucht nicht gänzlich stoppen. Es fehlt das Vertrauen Probleme sind in erster Linie länderspezifisch. Ein Ein- der Anleger in die Nachhaltigkeit des eigentlich positi- bruch des Handels träfe zunächst die engsten Wirt- ven wirtschaftspolitischen Kurses der Regierung. Auch schaftspartner: Das sind Deutschland, Russland und die deutsche Wirtschaft zeigt sich über die dortigen China. Ein Risiko für andere vulnerable Emerging Mar- wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen besorgt: kets besteht vor allem dann, wenn diese Staaten dem Knapp drei Viertel der Betriebe in Argentinien geben türkischen Beispiel von Kapitalverkehrskontrollen – die Wirtschaftspolitik als großen Unsicherheitsfak- oder Ankündigung derselben – nacheifern und so das tor an. Im lateinamerikanischen Durchschnitt sind es Vertrauen der Kapitalgeber verspielt werden sollte. ohnehin auch hohe 52%. Ein Übergreifen der Krise auf andere aufstre- ANSTECKUNGSEFFEKTEN VORBEUGEN bende Ökonomien Südamerikas erscheint unwahr- scheinlich. Brasiliens Expansion hat sich zwar abge- Die meisten Emerging Markets zeigen sich heute wider- schwächt, bleibt aber im positiven Bereich. Der bra- standsfähiger als in früheren Zeiten. Die Probleme in silianische Real hat ebenfalls spürbar abgewertet, Argentinien und der Türkei sind in erster Linie hausge- jedoch bei Weitem nicht im Umfang des Pesos. Gefahr macht. Unsolide außenwirtschaftliche Defizite sowie droht am Zuckerhut allerdings für den Fall, dass die politische Instabilität beziehungsweise Fragezeichen neugewählte Regierung der weltweit achtgrößten haben das Vertrauen der Anleger unterminiert bezie- Volkswirtschaft die nötigen Reformen im Land unter- hungsweise nicht überzeugend restauriert (Argen- lässt. Für die restlichen Volkswirtschaften Südameri- tinien). Die beste Prävention gegen die Entstehung kas stehen die Zeichen mit Ausnahme von Venezuela weiterer Krisenherde ist ein nachhaltiger wirtschafts- in der Summe weiterhin auf Wachstum. politischer Kurs. Dazu zählt neben einer soliden Haus- haltsführung auch die Stärkung des internationalen SONDERFALL TÜRKEI Handels und der Attrahierung ausländischer Direkt- investitionen im Rahmen von Freihandelsabkommen Am Bosporus zeigt sich eine ähnliche Entwicklung wie sowie einer Verbesserung von Standortfaktoren. Ins- in Argentinien – ergänzt um eine politische Kompo- besondere rohstoffreichen Schwellenländern bietet nente. Das türkische Wachstum wurde in den letzten sich durch Freihandelsabkommen ein lukrativer Wirt- Jahren stark von Krediten in Fremdwährung getrie- schafts- und Warenaustausch mit den Ländern der ben. So hat sich in der Türkei über die Jahre ein Leis- Europäischen Union. Eine rechtlich abgesicherte Inves- tungsbilanzdefizit von fast 50 Mrd. US-Dollar pro Jahr titionsregelung im Rahmen eines Abkommens wie zum aufgebaut. Dabei haben die hohe Kassen- und Import- Beispiel EU-Mercosur erhöht zudem die Attraktivität nachfrage die Preise sukzessive in die Höhe getrieben. des Investitionsstandorts und kann helfen, neue Inves- Bei einem Inflationsziel von 5% lag die Preissteigerung toren ins Land zu ziehen. im Jahr 2017 mit 11% mehr als doppelt so hoch. Als im Frühjahr 2018 die US-Leitzinsen gestiegen waren und LITERATUR gleichzeitig einige Ratingagenturen die Bonität des DIHK e.V. (2018), AHK World Business Outlook, Herbst, Berlin. Landes herabgestuft hatten, geriet die heimische Wäh- Internationaler Währungsfonds (2018), World Economic Outlook, Challen- rung unter Druck. Die von den Märkten geforderte Leit- ges to Steady Growth, Oktober, Washington DC. zinserhöhung wurde lange Zeit unterlassen. Auch in der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent- Türkei konnten Investoren einen signifikanten Teil ihres wicklung (2014), Mehr Vertrauen in Marktprozesse, Jahresgutachten 2014/2015, Wiesbaden. Kapitals in kurzer Zeit problemlos abziehen. Die später erfolgten etatistischen Eingriffe der Regierung zur Stabilisierung der Währung wie die Kon- vertierungspflicht konnten den Sturz der Lira nicht stoppen. Sie wurden vielmehr als Signal der Verzweif- lung gesehen. Erst die deutliche Anhebung des Leit- zinses von 17,75 auf 24% durch die Nationalbank im September 2018 verschaffte der türkischen Währung etwas Luft. Aktuell leidet die Wirtschaft jedoch noch immer unter einer hohen Inflationsrate. Im Septem- ber erhöhten sich die Verbraucherpreise um knapp ein Viertel – so stark wie seit 15 Jahren nicht mehr. Da ein 8 ifo Schnelldienst 23 / 2018 71. Jahrgang 6. Dezember 2018
ZUR DISKUSSION GESTELLT Ulrich Kater* Finanzkrise ausnahmsweise einmal nicht die Schwel- lenländer, sondern die »Industrieländer« betraf, gilt Schwellenländer: Fester weiterhin als Ausnahme von der Regel. Bestandteil des Anlage- Allerdings ist in den vergangenen Jahren eine stär- kere Widerstandskraft der Schwellenländer gegen- universums über finanzwirtschaftlichen Störfaktoren zu erken- nen. Nicht zuletzt sind die beiden letzten Belastungs- Die Bilanz Anfang des vierten Quartals war alles phasen der Jahres 2013 und 2018 ohne eine weiter andere als berauschend: Finanzanlagen in Schwel- gehende Ansteckung und damit ohne eine »Schwel- Ulrich Kater lenländern standen im Jahr 2018 unter keinem guten lenländerkrise« bewältigt worden. Dass es dabei zu Stern. Emerging-Markets-Anleihen hatten sich von lokalen Krisen in einzelnen Ländern gekommen ist, ihren im Sommer erreichten Tiefständen zwar stabili- 2013 in Brasilien und in Indien, gegenwärtig in der Tür- siert, doch sie steuern noch immer auf das schwächste kei und – wieder einmal – in Argentinien verdeutlicht Jahresergebnis seit 2013 zu. Die Währungskrisen in vielleicht am besten, auf welchem Weg die Gruppe der der Türkei und in Argentinien haben einen erheb- Schwellenländer ist, nämlich auf einem Weg der Aus- lichen Beitrag zu der negativen Entwicklung 2018 differenzierung, auf dem es krisenanfällige Volkswirt- geleistet. Die Panik, die beide Märkte phasenweise schaften ebenso gibt wie krisenresistente. erfasst hatte, war zwar nicht auf andere Länder über- gesprungen, doch der makroökonomische Rahmen KAPITALFLÜSSE ÜBERRASCHEND STABIL aller Länder wurde vor dem Hintergrund der beiden Krisen genauer unter die Lupe genommen. Durch den Bei allen individuellen Unterschieden war das Dreh- Test gefallen sind wie schon 2013 in erster Linie die buch der vergangenen Schwellenländerkrisen ähn- Länder mit den höchsten Leistungsbilanzdefiziten: lich. Eine zentrale Rolle spielten jeweils die Kapital- So zählten der südafrikanische Rand mit einem Rück- ströme. Hohe Kapitalzuflüsse ermöglichten Schwel- gang von 12,2% in den ersten drei Quartalen, die in- lenländern Leistungsbilanzdefizite und damit die dische Rupie (12,0%), die indonesische Rupiah Verschuldung im Ausland, ebenso wie sie inländische (– 8,9%), der philippinische Peso (– 7,3%) und der Kreditbooms antrieben. Mit der Zeit wandelt sich chilenische Peso (– 6,8%) zu den größten Verlie- die Struktur der Kapitalzuflüsse mehr und mehr von rern unter den Währungen. Der brasilianische Real Direktinvestitionen hin zu Finanzinvestitionen mit (– 17,6%) und der russische Rubel (12,2%) kamen auf- der Tendenz zu immer kürzeren Laufzeiten. Insbeson- grund der anhaltenden politischen Unsicherheit mit dere feste Wechselkursregimes fördern solches Inves- Blick auf die mittlerweile abgeschlossenen Wahlen torenverhalten, zumindest solange sie glaubwürdig in Brasilien und die lange Zeit drohende Verschär- sind. Dauert der Zyklus lange genug an, ist die Gefahr fung der Sanktionen für Russland noch weiter unter von Übertreibungen groß – Wachstum und makroöko- Druck. Zusätzlich stiegen die Renditen von Lokalan- nomische Stabilität bleiben hinter den Erwartungen leihen der Schwellenländer, was Kursverluste aus- zurück. Politische oder ökonomische Schocks füh- löste. In der Gesamtertragsschau wurden diese Kurs- ren dann zu plötzlichem Kapitalabzug mit gesamt- rückgänge zwar durch die Kuponzahlungen abgemil- wirtschaftlich erheblichen negativen Konsequen- dert, das reine Rentenergebnis lag aber immer noch bei zen. Die Wechselkursanbindung kann nicht mehr auf- – 0,4%, hinzu kommt das Währungsergebnis des Index rechterhalten werden. Zahlungsausfälle, Inflation für EM-Inlandswährungsanleihen mit zusätzlichen und Zinserhöhungen führen die Länder in schwere – 10,2%. Im Gegensatz dazu hielt sich der Markt für Anpassungskrisen. EM-Hartwährungsanleihen deutlich besser: Der hier Daher überrascht es nicht, dass die geldpoliti- maßgebliche Index verlor von Jahresbeginn bis zum sche Wende in den USA für die Schwellenländer das Ende des dritten Quartals lediglich 3,0%. Ein ähnliches beherrschende Thema ist, seitdem der damalige Bild bietet sich auf der Aktienseite: Ein breiter Markt- US-Notenbankchef Ben Bernanke sie im Mai 2013 index über alle Schwellenländer wies von Jahresan- eingeleitet hat. Diese geldpolitische Schubumkehr fang bis Anfang des vierten Quartals einen Rückgang hat mittlerweile die Weltfinanzmärkte erreicht und von 13,7% auf. ist im Jahr 2018 weit vor allen weltpolitischen Ein- Die Entwicklungen in diesem Jahr, insbesondere flussfaktoren der Haupttreiber der Kursverluste bei zur Jahresmitte, haben die Angst vor einer generel- Aktien und Anleihen gewesen. An den Finanzmärkten len Schwellenländerkrise geschürt. Währungs- und der Emerging Markets war die geldpolitische Wende Finanzkrisen gehören landläufig immer noch zu den bereits wesentlich früher angekommen. Bereits sehr Definitionsmerkmalen von Schwellenländern. Die früh nach der bloßen Ankündigung der Fed, ihr An - Häufigkeit von staatlichen Zahlungsausfällen und leihekaufprogramm auslaufen zu lassen, bestand Währungsschocks in den vergangenen Jahrzehnten die Sorge, dass steigende US-Zinsen zu einer Umkehr scheinen das zu bestätigen. Dass die letzte große der Kapitalströme führen könnten. Die Daten der * Dr. Ulrich Kater ist Chefvolkswirt bei der Deka Bank, Frankfurt am nachfolgenden Jahre deuteten denn auch auf stei- Main. gende Kapitalabflüsse hin: Im Jahr 2015 lag der ifo Schnelldienst 23 / 2018 71. Jahrgang 6. Dezember 2018 9
ZUR DISKUSSION GESTELLT private Nettokapitalabfluss aus Schwellenländern der jüngeren Vergangenheit zu flexiblen Wechselkur- bei 739 Mrd. US-Dollar. 2013 war es noch zu einem sen übergegangen sind, haben Länder wie Algerien, Nettozufluss in Höhe von 297 Mrd. US-Dollar gekom- Angola, die Dominikanische Republik oder Kroatien men, so dass sich der Saldo innerhalb von zwei Jah- den entgegengesetzten Weg eingeschlagen. ren um über eine Billion US-Dollar verschlechtert hatte. Dieser private Kapitalabfluss wurde von mas- HOHE VERSCHULDUNG GRUND ZUR BESORGNIS siven Devisenmarktinterventionen begleitet, in dem Versuch der Zentralbanken, ihre Währungen zu sta- Einen generellen Grund zur Besorgnis bilden die stark bilisieren. Die Zentralbanken der Schwellenländer gestiegenen Verschuldungsniveaus in den Schwellen- veräußerten 2015 netto Währungsreserven in Höhe ländern. Seit dem Jahr der Finanzkrise 2008 sind die von 496 Mrd. US-Dollar, während 2013 die Reser- Verschuldungsquoten (alle Sektoren) der Schwellen- ven noch um 533 Mrd. US-Dollar gestiegen waren. länder im Durchschnitt von 146 auf 211% in Relation 2016 lagen die Nettokapitalabflüsse mit 373 Mrd. zum BIP angestiegen. Allerdings lohnt es sich auch US-Dollar erneut auf hohem Niveau. Die Währungs hier, hinter die Zahlen zu schauen. Denn auch hier ist reserven schrumpften um weitere 236 Mrd. US-Dol- ein Großteil der Verschuldungszunahme der chinesi- lar. Es handelte sich bei dieser Umkehr der Kapital- schen Konjunkturprogramme nach der Finanzkrise flüsse jedoch nicht um einen allgemeinen Trend: zuzuschreiben, die bei der staatlichen Verschuldung, Wie so viele Schwellenländerstatistiken wird auch mehr aber noch bei den Schuldenquoten von Unter- diese von der Entwicklung in China dominiert. Von nehmen und Haushalten zu erheblichen Zuwächsen den gesamten privaten Nettoabflüssen des Jah- geführt hat. Nur relativ wenige andere Schwellenlän- res 2015 in Höhe von 739 Mrd. US-Dollar entfielen der haben einen ähnlich bedenklichen Weg gewählt, 680 Mrd. auf Nettoabflüsse aus China. 2016 lagen bei dem der Anstieg der Verschuldung durch die Ent- die Nettoabflüsse aus China bei 460 Mrd. US-Dol- wicklung von Realwirtschaft oder die notwendige lar. Bei einem Gesamtabfluss aus den Emerging Mar- finanzielle Vertiefung im Entwicklungsprozess nicht kets von 373 Mrd. US-Dollar bedeutet dies für die zu rechtfertigen ist. übrigen Länder sogar einen Nettozufluss in Höhe Im Gegenteil lassen sich für die gegenwärtig zu von 87 Mrd. US-Dollar. Diese Zahlen konnten so ge- beobachtende Widerstandkraft gegen die negati- deutet werden, dass sich Schwellenländer im Allge- ven Wirkungen einer strafferen US-Geldpolitik in vie- meinen noch einigermaßen stabil hielten, während len Ländern sogar verbesserte Finanzrelationen an sich in China eine bedrohliche Entwicklung andeu- führen. So sind die Währungsreserven in den meis- tete – allerdings waren hier weniger die Umkehr inter ten Schwellenländern heute deutlich höher als etwa nationale Investoren als vielmehr die Anlageentschei- in den 1990er Jahren. Die Krisenkandidaten der dungen von Inländern oder sogar staatliche Direkt Vergangenheit, angefangen von Thailand, Indone- investitionen im Ausland ursächlich. China reagierte sien und Malaysia 1997 über Russland 1998 bis hin zu auf diese Bedrohung mit Einschränkung der Konver- Argentinien 2001, wiesen vor ihren damaligen Krisen tibilität, nachdem vorher ein Viertel der hohen Devi- erfahrungen deutlich geringere Währungsreserven senreserven zur Stützung der Währung aufgewendet als kurzfristige Auslandsschulden auf. Heute ist dies wurden, um eine starke Abwertung zu verhindern. nur bei der Türkei sowie der Ukraine der Fall. Die Zwar hängt das Damoklesschwert der Kapitalflucht meisten Länder verzeichnen doppelt so hohe Reser- weiterhin über dem Land und verhindert über not- ven im Vergleich zu ihren kurzlaufenden Verbindlich- wendige Konvertibilitätsbeschränkungen die weitere keiten im Ausland. Dies sorgt für ein größeres Ver- Entwicklung zur Weltreservewährung, das akute Pro- trauen bei Investoren und schafft in Stressperio- blem hoher Kapitalabflüsse wurde allerdings effektiv den Zeit für die makroökonomische Anpassung. Dies behoben. ermöglicht es auch, die in den vergangenen Jahren In großen Schwellenländern wie Brasilien, Südaf- angestiegene Verschuldung in harter Währung zu rike, der Türkei, Indien und Indonesien haben flexible rechtfertigen. Fremdwährungen spielen dabei ge Wechselkurse in den vergangenen Jahren zur Mode- genwärtig für die staatlichen Schulden eine geringe rierung von Ungleichgewichten beigetragen. So steu- Rolle: Außerhalb Chinas liegen die Volumina der ert die Türkei mittlerweile auf eine ausgeglichene Leis- staatlichen Verbindlichkeiten in Fremdwährung bei tungsbilanz hin. Dass Emerging Markets jedoch gene- durchschnittlich unter 10% gemessen am heimischen rell zu flexiblen Wechselkursregimes übergegangen BIP. Die chinesische Staatsschuld etwa ist dabei zu sind, lässt sich nicht belegen. In den 1990er Jahren fast 100% in heimischer Währung denominiert. China ließen tatsächlich nur ein gutes Drittel der Schwellen- selber sollte bei der langen Historie von Leistungs länder den Außenwert ihrer Währung frei schwanken. bilanzüberschüssen und einer weiterhin nicht voll- Nach der Asienkrise stieg dieser Anteil zwar auf 60% ständig konvertiblen Währung noch eine Weile lang an, um danach jedoch wieder deutlich zurückzufallen. von außenwirtschaftlichen Krisen verschont sein. Auch heute haben etwa nur die Hälfte der Schwellen- Allerdings steuert das Land auf eine außenwirt- länder flexible Wechselkursregimes. Während etwa schaftliche Zeitenwende zu. Hier wird es in den kom- Länder wie Russland, Kasachstan oder Paraguay in menden Jahren darauf ankommen, ob das Land die 10 ifo Schnelldienst 23 / 2018 71. Jahrgang 6. Dezember 2018
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