MENSCHEN & RECHTE SIND UNTEILBAR - Flüchtlingsrat Niedersachsen
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Ausgabe 2/2019 Heft 155 Mai 2019 Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen Tag des Flüchtlings 2019 MENSCHEN & RECHTE SIND UNTEILBAR MENSCHENRECHTE & EUROPA Libyen, Mittelmeer, Seenotrettung DEN RECHTSSTAAT VERTEIDIGEN Rechtsanwalt Fahlbusch im Interview RASSISMUS BEKÄMPFEN Rola macht vor, wie's geht
2 4 TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 2018 MENSCHEN & RECHTE SIND UNTEILBAR: Die neue PRO ASYL-Ausstellung zum Bestellen. Menschenrechte sind die unveräußerliche Grundlage demokratischer Gesellschaften. Genau dies wird gegen- wärtig in Europa von Rechtspopulisten, Nationalisten und Demokratiefeinden in Frage gestellt. Angesichts dieser Ent- wicklungen erinnert die neue PRO ASYL-Ausstellung an die Bedeutung der Menschenrechte. Wie und unter welchen Umständen sind sie entstanden? Wie ist es gelungen, sie zu etablieren? Und warum müssen wir uns heute erneut für sie engagieren? Die Ausstellung besteht aus 15 Plakaten im Format DIN A2 und ist variabel einsetzbar. Die Online-Version der Ausstellung gibt es unter: menschenrechte.proasyl.de Bestellungen unter: https://shorturl.de/55Kit Titelbild: Geflüchtete Geflüchtete in einer Gefängniszelle im Garabuli-Haftlager Garabuli-Haftlager in in Libyen, Libyen.©©Narcisco Narciso Contreras Contreras
TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | EDITORIAL 3 Liebe Leserin, lieber Leser, denken Sie zurück an die Bilder jenes Sommers 2015, als an Bahnhöfen in ganz Deutschland Tausende von Menschen ankommende Flüchtlinge willkommen hießen. Diese Bilder sind inzwischen so weit weg, dass wir innehalten, ja buchstäblich die Augen schließen müssen, um sie zu sehen. Was sagt Ihnen der Satz »Wir schaffen das« noch? Erinnern Sie sich noch an die Äußerung der Kanzlerin, es sei nicht mehr ihr Land, »wenn wir jetzt auch noch anfangen müssen, uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen«? Wann haben Sie solche Aussagen zuletzt in der öffentlichen Debatte oder von politisch Verantwortlichen gehört? Wir werden uns fast ungläubig bewusst, wie rasend schnell sich der politische und mediale Wind gedreht hat. Und wie erbarmungslos er all denen ins Gesicht bläst, die bei uns weiterhin Schutz suchen, und zunehmend auch denen, die sich für diese Menschen einsetzen. Statt mit den realen Herausforderungen einer Willkommens kultur müssen wir uns mit Hasskommentaren im Netz und der Verunglimpfung der Flüchtlingshilfe auseinandersetzen. Das »Unwort des Jahres 2018« ist ein Beispiel dafür, lesen Sie dazu den Beitrag auf Seite 42. Erinnern Sie sich noch an den Aufschrei der europäischen Öffentlichkeit, der im Jahr 2013 auf das Bootsunglück vor Lampedusa mit mehreren Hundert Toten folgte? Heute, sechs Jahre später, werden Bootsflüchtlinge im Mittelmeer brutaler denn je zurückgewiesen oder dem Tod überlassen. In Deutschland geht es derweil nur noch um Entrechtung und möglichst hohe Abschiebungszahlen. Allein während der Redaktionsphase für diese Publikation waren mehr als ein halbes Dutzend neuer Gesetzesentwürfe in der Mache, die nichts Gutes verheißen. Wir wünschten, dass das Heft, das Sie in den Händen halten, eines voller guter Nach richten wäre. Eine Fortsetzung jener überwältigenden Zuversicht und Courage aus 2015, getragen von einer Politik, die die Menschenrechte zum Kompass ihres Handelns macht, völkerrechtliche Verpflichtungen einlöst, menschenwürdige Aufnahme und Integrationschancen bietet und das Angebot dauerhafter Sicherheit für Schutz suchende beinhaltet. Es gibt dennoch Lichtblicke – einige von ihnen haben wir eingefangen. Die alltäglichen Erfolgsgeschichten, die ungebrochen wertvolle Arbeit der freiwilligen Helfer*innen, die Geflüchteten das Hiersein erleichtern, ihnen mit Achtung und auf Augenhöhe begegnen. Menschen, die andere aus Seenot retten, in Asylverfahren begleiten oder in der Abschiebungshaft betreuen, die Hausaufgabenhilfe und Begeg nungscafés organisieren. Immer mehr Berater*innen, Anwält*innen, Betroffene, un zählige Gruppen und Einzelne setzen sich nicht nur praktisch für die Menschenrechte ein, sondern streiten für eine bessere Flüchtlingspolitik. Sie machen uns allen Mut. Herzlich, Ihre PRO ASYL-Redaktion Anđelka Križanović & Andrea Kothen
4 TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 INHALT GRUSSWORT 6 Verantwortung teilen, nicht abwälzen Dominik Bartsch, UNHCR Deutschland ÜBERBLICK 7 Flüchtlingsrechte, Menschenrechte und wir In der Inhaltsübersicht auf Seite 4 und 5 sind Günter Burkhardt die Beiträge mit den entsprechenden Seiten verlinkt. Per Mausklick kommen Sie direkt zum Beitrag. NICHT MEINE LAGER! zusätzlich: Entmündigung, Entrechtung, Elend 10 Lager machen Schule è zum Titelbild Max Klöckner è zum Hinweis auf die Ausstellung Hotspots in Griechenland »Menschen & Rechte 14 »Die Menschen in Moria sind Gefangene« sind unteilbar« Refugee Support Aegean, PRO ASYL è zum Editorial RECHT AUF LEBEN è über den Flüchtlingsrat Libyen und Mittelmeer 18 12.748 Tote und ein menschenverachtender Deal Durch klicken des Symbols Dominik Meyer, Karl Kopp ➡ kommen Sie zurück zur Inhaltsübersicht. Seenotrettung 20 »Ich kann helfen, also werde ich helfen. So einfach ist es« Interview mit Daniel Hempel, »Sea-Eye« Todesursache Flucht 24 Namenlose: Gedanken zum Gedenken Bernd Mesovic 10 18 26 © Kevin McElvaney © Alexander Draheim / sea-eye.org © Erik Marquardt
TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 5 WARUM FLIEHEN MENSCHEN? KOMMENTIERT Auf der Flucht vor dem Erdoğan-Regime 42 Zum Unwort des Jahres 2018 26 Wer Despoten unterstützt, erzeugt Fluchtgründe Andreas Lipsch Meral Zeller 43 Geheimnisvolles BAMF: Statistiken zu Afghanistan Afghanistan Bernd Mesovic 28 Das Ende eines vierzigjährigen Krieges? Bernd Mesovic RECHT AUF INTEGRATION RECHT AUF ASYL Verweigerter Familiennachzug 44 Ein Grundrecht wird bürokratisch entstellt Zum Widerrufs- und Rücknahme-Aktionismus Karim Alwasiti des BAMF 30 Viel hilft nicht viel Eritreische Familie wieder vereint Jelena Bellmer, Andreas Meyerhöfer 47 Vier lange Jahre Sophia Eckert Auf den Inhalt kommt es an 32 Warum man die bereinigte Schutzquote Verbieten, regulieren, blockieren heranziehen sollte 48 Wie der Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge Max Klöckner erschwert wird Timmo Scherenberg DEN RECHTSSTAAT VERTEIDIGEN! ENGAGIEREN! ARGUMENTE, FAKTEN, MATERIALIEN Rechtswidrige Abschiebungshaft 34 »Es geht um uns. Darum, wie wir unsere Aufstehen gegen Rassismus Verfassung leben« 50 »Im Wort Zivilcourage steckt Courage drin – Interview mit Rechtsanwalt Peter Fahlbusch also Mut« Interview mit Rola Saleh, Jugendliche ohne Grenzen Schicksale hinter den Abschiebungszahlen 38 Es gibt gute Gründe, warum Abschiebungen 54 Zahlen und Fakten 2018 scheitern Dirk Morlok, Andrea Kothen Wiebke Judith 40 Angriffe auf die Zivilgesellschaft in der EU 58 Mach mal Meinung! – Bestell- und Materialliste Meral Zeller, Dominik Meyer 59 Impressum 34 48 50 © Max Klöckner / PRO ASYL © Sebastian Gollnow / dpa © Andi Weiland / cc-by-2.0
6 TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | GRUSSWORT Verantwortung teilen, nicht abwälzen Deshalb ist es paradox, das Flüchtlingsthema weiter zu politi- sieren. Denn die nackten Zahlen sprechen eine andere Sprache Dominik Bartsch ist – nämlich eine, die weiter unsere Hilfsbereitschaft als wert Vertreter des H ohen orientierter und reichster Kontinent der Erde fordert. Leider Flüchtlingskommis- dominiert in vielen Ländern Europas die instrumentalisierte sars der Vereinten Angst vor Schutzsuchenden. Die Institution des Asyls als zivili- Nationen (UNHCR) satorische Errungenschaft erscheint nicht mehr unumstößlich. in Deutschland. Der Grund dafür sitzt nicht nur an den viel gescholtenen © UNHCR / M. Gambarini Stammtischen. Er findet sich auch dort, wo mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zum Beispiel vorge- schlagen wird, nur dann Verantwortung für Schutzsuchende zu übernehmen, wenn sich kein anderer Staat außerhalb der A uch im Jahr drei nach dem großen Zuzug wird weiter gerungen. Darum, wann Flüchtlingsfamilien wieder zu- sammen sein können, wo Flüchtlinge wohnen dürfen, was EU findet. Das ist ein fatales Zeichen an jene Staaten außerhalb Europas, die durch die Aufnahme von Millionen von Flücht lingen vor große Herausforderungen gestellt sind. Dort wird Heimat und Zuhause für sie bedeuten sollen. Diese Diskussion sehr genau beobachtet, wie Europa mit Flüchtlingen umgeht. wird oft aus dem Bauch heraus und weniger mit dem Kopf ge- Es ist deshalb vernünftig und in unserem Interesse, weiter- führt. Das ist ein Warnsignal, denn unreflektierte Empörung, hin erkennbar Verantwortung für den Flüchtlingsschutz zu gefühlte Wahrheiten und Zorn sind die natürlichen Gegenpole übernehmen, statt sie auf jene abzuwälzen, die bereits viele zur V ernunft, die Handlungsmaxime unseres demokratischen Flüchtlinge aufgenommen haben. Nur so kann der Kern Rechtsstaates ist. Besorgniserregend wird es dann, wenn das des internationalen Flüchtlingsschutzes, wie er in der Genfer Bauchgefühl zur Politik erhoben wird. Denn dann sind auch Flüchtlingskonvention verbürgt ist, bewahrt werden. Grundwerte wie Solidarität, Gerechtigkeit und Mitgefühl in Ge- fahr. Ohne sie kann auch Flüchtlingsschutz nicht funktionieren, Verantwortungsteilung ist das Gebot der Stunde, um den denn wenn der Grundkonsens des Zusammenlebens bedroht Flüchtlingsschutz in die Zukunft zu tragen. Den Rahmen dafür ist, bleibt für die Schutzlosesten wenig Empathie übrig. hat der Globale Pakt für Flüchtlinge gesetzt. Jetzt muss er ge- meinschaftlich mit Leben gefüllt werden. Mehr Resettlement- Ein nüchterner Blick auf die Fakten ist bei diesem zweifelsohne Plätze oder Gelder für humanitäre Hilfe sind dabei wichtig, emotionalen Thema geboten. Weltweit sind 68,5 Millionen dürfen den spontanen Zugang zu Schutz aber nie ersetzen. Menschen auf der Flucht, 186.000 suchten im letzten Jahr in Deutschland hat diese Herausforderung in den letzten Jahren Deutschland Schutz. Das Chaos ist ausgeblieben, die Zahl angenommen und muss sie europäisch und global weitertra- der Asylbewerber in Deutschland sinkt weiter rapide. Auch gen – für die Flüchtlinge, aber auch um den Werten Europas die Ankünfte über das Mittelmeer sind weiter zurückgegangen. treu zu bleiben. Rund 141.000 haben 2018 die gefährliche Überfahrt gewagt. Viele bezahlten den Versuch mit dem Leben. Oder sie ver suchen seitdem in einem libyschen Internierungslager zu überleben. Kurzum: Die Krise war nie in Europa, sie ist aber weiterhin anderswo: in Bangladesch, in Uganda, im Jemen, in den Nachbarländern Syriens sowieso. Dominik Bartsch Repräsentant des UNHCR in Deutschland
TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | ÜBERBLICK 7 FLÜCHTLINGSRECHTE, MENSCHENRECHTE UND WIR Wir erleben heute eine Zeit, in der sich viele nicht daran erinnern wollen, dass Menschenrechte das Fundament der Demokratien in der Europäischen Union sind. Was wir für selbstverständlich erachten – die unveräußerlichen Rechte eines jeden Menschen – wird gegenwärtig in Frage gestellt. Günter Burkhardt PRO ASYL D as Grundgesetz spricht von der Würde des Menschen – und nicht von der Würde des Deutschen. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert individuell einklag bare Menschenrechte für jede und je- den, die sich in ihrem Geltungsbereich befinden. Es gerät in Vergessenheit, war- um die Väter und Mütter der EMRK und des Grundgesetzes die Menschenrechte © Harm Bengen in Europa zu verbindlichem Recht mach- www.harmbengen.de ten. Die zentralen Normen des Zusam menlebens werden unterminiert oder für unverbindlich erklärt: das Recht auf Leben, das Recht auf Schutz vor Folter Für die Betroffenen bedeutet der EU- In Hotspots wird der Rechtsstaat und unmenschlicher Behandlung, das Türkei-Deal, dass der Zugang zu einem außer Kraft gesetzt Recht auf den Zugang zu einem fairen fairen Asylverfahren in Europa verhindert Asylverfahren, das Recht auf einen wird. Alle auf den griechischen Inseln Heute, rund drei Jahre nach dem Ab- Rechtsstaat, in dem Behördenentschei- ankommenden Schutzsuchenden sollen schluss des Deals, sitzen tausende dungen durch Gerichte geprüft werden. zurück in die Türkei – ohne Prüfung der Schutzsuchende auf den griechischen individuellen Asylgründe. Ihr Asylantrag Inseln fest – unter menschenunwürdi- Diese Rechte werden missachtet, wird als unzulässig eingestuft, ein faires gen Bedingungen. Sie leben im Elend, wenn Tausende von Menschen im Asylverfahren gibt es nicht. Stattdessen in einem bewusst und künstlich geschaf- Mittelmeer ertrinken und Europa taten- soll die Türkei ihnen Schutz und Asyl fenen Slum vor der Hauptstadt von los zuschaut. Sie werden missachtet, gewähren. Das Land selbst hat zwar in Lesvos, Mytilini, oder auf Chios, Samos wenn Europa mit der Türkei ein recht- hohem Maße syrische Flüchtlinge erst- und Kos. Zehntausende müssen in Dreck lich zweifelhaftes Abkommen außer- versorgt. Einen Zugang zu einem Asyl- und Schlamm ausharren, bauen sich halb des Zuständigkeitsbereichs der recht nach der Genfer Flüchtlings selbst ihre Zelte, versuchen ihre Kinder europäischen Gerichtsbarkeit schließt. konvention gibt es dort jedoch nicht. vor Schlangen und Skorpionen zu schüt- Das höchste europäische Gericht, der zen, wissen nicht, wie sie ohne Gefahr Europäische Gerichtshof, wird damit nachts auf die Toilette gehen können. daran gehindert, die Rechtmäßigkeit Teilweise stehen die Menschen bereits des EU-Türkei-Deals zu überprüfen. nachts bei der Essensausgabe an, um für Das Abkommen schwebt scheinbar im den Tag etwas zum Essen zu bekommen. rechtsfreien Raum. Slums und Massenlager sind Orte der
8 TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | ÜBERBLICK Oben von links: Flüchtlingslager in Griechenland in den Jahren 2016, 2017, unten von 2018. © Björn Kietzmann © picture alliance Gewalt und Erniedrigung. Sie wurden zur Abschreckung eingerichtet, um Menschen auf der Flucht davon abzuhal- ten, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Bei solchen Zuständen versinken Men- schenwürde und der Rechtsstaat im Schlamm. Ein rechtsstaatliches Verfahren ist für Asylsuchende unter diesen Bedin gungen nicht gewährleistet – und auch nicht vorgesehen. Alles, was einen Rechtsstaat ausmacht, ist dort nicht vor- handen. Und selbst wenn es Rechtsan © Salinia Stroux wält*innen in ausreichender Zahl gäbe – wo sind die Behörden, die die Flucht gründe inhaltlich prüfen? Wo ist eine ausgebaute Gerichtsstruktur, die ein E uropas Grenze möglich: kein Geld, land sogenannte AnkER-Zentren instal- rechtsstaatliches Verfahren gewährleis- kein fester Wohnsitz, fehlende Ausweis- liert, die auf Schnellverfahren und Ab- tet und Behördenhandeln überprüft? dokumente, Einreise ohne Papiere – schiebungen ausgerichtet sind. Andere In einem Rechtsstaat gilt: Behördenent- dies sind alles künftige Haftgründe, die Bundesländer planen oder haben bereits scheidungen werden von unabhängigen nahezu auf jeden Geflüchteten zutreffen funktionsgleiche Großlager. Erfahrungen Richter*innen kontrolliert. All dies kann können. In den Hotspots an der Außen- der vergangenen Monate zeigen, dass in den EU-Hotspots auf den griechischen grenze, aber auch in der gesamten EU die Anerkennungsquoten dort sinken. Inseln nicht gewährleistet werden. soll diese Richtlinie zu geltendem Recht Asylsuchende haben keinen effektiven werden. Aus Elendslagern drohen nun Zugang zum Rechtsbeistand und oft- Europa trägt die Verantwortung auch noch Haftlager zu werden. mals auch keine Möglichkeit, sich vor Ge- richt gegen Behördenentscheidungen Statt eines fairen Asylverfahrens soll es Wer sich diesen menschenunwürdigen zu wehren. für Schutzsuchende, die es nach Europa Zuständen entzieht und unerlaubt in schaffen, ein vorgeschaltetes Verfah- ein anderes EU-Land weiterreist, dem Davon hat sich PRO ASYL am 6. Dezem- ren geben, in dem ihre Asylgesuche als droht nach der neuen Rückführungs- ber 2018 selbst bei einem Besuch des »unzulässig« abgewiesen werden. Ihnen richtlinie und den jüngsten Plänen des AnkER-Zentrums Bamberg überzeugen droht die Zurückschiebung in sogenann- Bundesinnenministeriums auch hier die können. Vorab trafen wir im Café der te »sichere Drittstaaten«. Inhaftierung. Jemand, der gerade wegen Initiative »Freund statt Fremd« einen der rechtswidrigen Umstände aus Un- eritreischen Flüchtling. Er war per Direkt- Deshalb arbeitet man mit Hochdruck garn oder Griechenland flieht, kann in flug aus Eritrea nach Frankfurt gekom- an der neuen Rückführungsrichtlinie. Deutschland wieder in Haft genommen men. Um hier eine medizinische Be Innerhalb von 48 Stunden soll in Schnell- werden. handlung zu ermöglichen, hatte die verfahren in den Hotspots an der EU- italienische Botschaft ihm im Auftrag Außengrenze entschieden werden, wer AnkER-Zentren: Ablehnung Deutschlands ein Visum ausgestellt, da zurückgeschickt wird. Wer nicht sofort im Turboverfahren Deutschland keine Botschaft in Eritrea zurückgeschickt werden kann, wird an unterhält. Am 15. November 2018 wurde den EU-Außengrenzen festgesetzt. Nach Betroffenen, die es nach Deutschland sein Asylantrag rechtswidrig abgelehnt, den neuen Vorschlägen der EU-Kommis- schaffen, droht abermals Festsetzung er sollte nach Italien abgeschoben wer- sion zur EU-Rückführungsrichtlinie ist und Isolation in Lagern. Seit Herbst 2018 den, obwohl Deutschland eindeutig eine nahezu uferlose Inhaftierung an wurden in Bayern, Sachsen und im Saar- zuständig ist. Ohne anwaltliche Hilfe
TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | ÜBERBLICK 9 individuell beraten und Kontakte zu Anwält*innen herstellen würden, um Klagen gegen Entscheidungen zu er- möglichen, die die eigene Behörde getroffen hat. So werden in Deutschland AnkER-Zentren zu Orten der Entwürdi- gung und der Entrechtung. © Infomobil-Team Es geht um mehr als um das Asylrecht Das AnkER-Zentrum Manching. Bei alldem, was sich vor uns auftut, geht es um mehr als um Flüchtlingsrechte. Es geht letztendlich um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Menschenrechte müssen unverändert und uneingeschränkt gelten – für alle legte er bei der Außenstelle des Verwal- Solche Turboverfahren hebeln rechts- Menschen in allen Staaten der EU. tungsgerichts im Bamberger AnkER- staatliche Prinzipien aus. Kaum ein Zentrum am 19. November 2018 Klage Flüchtling hat unter diesen Bedingun- Wir müssen immer wieder daran er ein, um die Frist zu wahren. Bereits am gen die Chance auf eine Rechtsvertre- innern: Der Kampf um Menschenrechte 23. November 2018 wurde seine Klage tung, die dann auch die Zeit hat, schnell wurde jahrhundertelang geführt. Sie vom VG abgelehnt – ohne inhaltliche zu handeln. Die seitens der GroKo ver- sind Rechte, die mühsam erkämpft wur- Auseinandersetzung mit den zugrunde- sprochene unabhängige Verfahrens den. Nun ist es an uns, sie zu verteidigen. liegenden Fakten. Erst durch unser zu beratung ist ebenso wenig in Sicht. Die Es reicht nicht mehr, sich auf die gelten- fälliges Zusammentreffen und anschlie- Beratung liegt in staatlicher Hand und den Rechte zu berufen. Wir müssen wer- ßende Intervention wurde die falsche wird von BAMF-Mitarbeiter*innen vor- ben und erklären, warum diese Rechte Entscheidung des BAMF korrigiert. genommen. Als ob diese Geflüchtete zur unveräußerlichen Grundlage unserer Kultur und unserer Gesellschaft gehören. PRO ASYL ruft unter dem Motto »Men- schen und Rechte sind unteilbar« zu Anerkennungsquote für Afghan*innen im Jahr 2018 Veranstaltungen und Aktionen zum Tag des Flüchtlings auf. Die weltweite Flücht- lingsthematik steht am 20. Juni im Fokus. Bundesweiter Durchschnitt 52,1 % Während der Interkulturellen Woche im September engagieren sich hunderte AnkER-Zentrum Deggendorf 34,9 % von Initiativen und Kommunen in ganz Deutschland. < AnkER-Zentrum Manching 34,7 % Quelle: Bundestags-Drucksache 19/8701 AnkER-Zentrum Zirndorf 32,9 % Weitere Infos: www. interkulturellewoche.de Im Jahr 2018 betrug die Anerkennungsquote für Afghan*innen bundesweit im Durchschnitt 52 % (bereinigte Schutzquote). In den bayerischen AnkER-Zentren Deggendorf, Manching und Zirndorf wurde Afghan*innen im Vergleich dagegen deutlich seltener Schutz zugesprochen.
10 TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | NICHT MEINE LAGER! ENTMÜNDIGUNG, ENTRECHTUNG, ELEND LAGER MACHEN SCHULE Während weltweit immer mehr Menschen auf der Flucht sind, werden die Abwehrmaßnahmen gegen Schutzsuchende in Europa und in Deutschland stetig verschärft. Abschreckung, Festsetzung und Isolierung in Lagern – so lautet offenbar die Antwort darauf, dass Menschen vor Gewalt, Unrecht und Unterdrückung fliehen. Max Klöckner PRO ASYL F ür Politiker*innen in Deutschland und Europa scheint es fast schon zum guten Ton zu gehören, sich ein eigenes Und wenn man schon »Kontrollierte Zentren« hat, so dachte sich Österreichs Regierung wohl während der eigenen SITUATION IN DEUTSCHLAND AnkER-Zentrum an der Lagerkonzept auszudenken. So befindet EU-Ratspräsidentschaft, dann kann man Hamburger Straße in Dresden sich Bundesinnenminister Horst See direkt auch gleich »Rückkehrzentren« hofer mit den von ihm vorangetriebe- machen, erst gar keine Asylanträge mehr »Unhygienische Zustände, nicht abschließ nen AnkER-Zentren und seiner Idee der auf europäischem Boden akzeptieren bare Sanitärräume (die sich teilweise auf »Transitzentren« an den deutschen Gren- und abgelehnte Asylbewerber*innen dem Hof der Hamburger Straße befinden), zen in guter – oder besser: schlechter sogleich mit dorthin verfrachten. die Tatsache, dass Menschen vorgeschrie Gesellschaft. Der Europäische Rat schlug ben wird, wann und was sie zu essen beispielsweise die Schaffung »Kontrol- Lagerkonzepte, wohin man blickt also – haben, unangekündigte Zimmerkontrol lierter Zentren« auf dem Gebiet der EU und sie überbieten sich in Inhumanität len, bei denen die Security die Sozialarbei vor, in denen gerettete Bootsflüchtlinge und Entfernung von den sogenannten ter*innen begleitet (im Widerspruch zur festgehalten werden sollen. Nicht nur europäischen Werten. Aber auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in der möglichen deutschen Abkürzung bereits existente Realität ist schlimm der auch Zimmer in Sammelunterkünften offenbaren sich Gedankenlosigkeit genug für die Geflüchteten. unter den Schutz von Art. 13 GG zählt) – und Geschichtsvergessenheit der Ver antwortlichen. Zweifellos ist es für die Betroffenen ein großer Unterschied, ob sie sich in einem libyschen Folterlager, einem EU-Hot- spot in Griechenland oder Italien oder einem deutschen AnkER-Zentrum befinden. Aber ganz gleich, um welche Lager es sich handelt: Lager sind Orte der Kontrolle, der Stigmatisierung, der Entwürdigung und der Gewalt. Sie dienen der Abschreckung von Flüchtlin- gen und sollen erleichtern, Asyl zu ver- Texte, Materialien und noch wehren und Menschen abzuschieben. mehr Infos zu den verschiedenen Lagern finden sich auf www.nichtmeinelager.de und www.proasyl.de
TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | NICHT MEINE LAGER! 11 all das kommt auf der Hamburger Straße vor und trägt dazu bei, dass der Einzelfall, der Mensch, im Lager verschwindet und von den politisch Verantwortlichen ein von Abhängigkeiten geprägtes, unsicheres Leben herbeigeführt wird.« Mark Gärtner, Sächsischer Flüchtlingsrat Landeserstaufnahme- einrichtung Freiburg »Konkret dürfen Geflüchtete, solange sie in der Einrichtung leben, nicht arbeiten und die Stadt Freiburg nur auf Antrag verlassen. Viele werden zu Arbeitsgelegenheiten für 80 Cent die Stunde im Lager verpflichtet. Durch diese bundesgesetzliche Regelung AnkER-Zentrum in Dresden. erhalten Geflüchtete bei einer Wochen © Sächsischer Flüchtlingsrat arbeitszeit von 20 Stunden im Monat 64 Euro. Die Bewohner*innen werden so zu billigen Arbeitskräften degradiert und es erfolgt auch keine angemessene Ein An der Tagesordnung ist auch, Personen der Lageralltag kann kostensparend auf teilung der Kinder nach Alter und Niveau. für Abschiebungen zu menschenunwürdi rechterhalten werden. Die Aufnahme einer Beschäftigung bleibt gen Zeiten mit hohem Polizeiaufgebot den Bewohner*innen der AnkER-Zentren aus ihren Zimmern zu holen. Für schwer An den Ein- und Ausgängen finden verwehrt. Ferner herrscht Residenzpflicht traumatisierte Menschen kann dies fatale Taschen- und Ausweiskontrollen mithilfe auf Stadt oder Landkreis, sodass die Men psychische Folgen haben.« eines speziell eingerichteten Lagerauswei schen in ihrer Bewegungsfreiheit stark ses statt. Daraus werden Anwesenheits eingeschränkt sind. Franziska Sauer, Bayerischer Flüchtlingsrat profile erstellt, damit zu jeder Zeit nach verfolgt werden kann, wer wann das Lager AnkER-Zentren setzen auf das Sachleis Lager Siekhöhe in Göttingen betreten oder verlassen hat. Bei der Leis tungsprinzip, das bedeutet konkret: Kanti tungsbeschreibung konkretisiert das Regie nenverpflegung, Hygienepakete, Ausgabe »Das Lager Siekhöhe liegt am äußersten rungspräsidium als zuständige Behörde, von Fahrkarten und Kleidern. Statt etwa Stadtrand in einem Gewerbegebiet. An die dass selbst die Mahlzeiten personengenau selbst zu entscheiden, wie sie sich und ihre Außenanlagen grenzen Wiesen, über die im Verwaltungsprogramm zugeordnet Familien ernähren wollen, sind die Men die Autobahn führt oder auf denen weitere werden müssen.« schen auf das Kantinenessen angewiesen. Lagerhallen stehen. Die Siekhöhe selbst ist Das ist besonders für Kinder, Schwangere ein ehemaliges Hochregallager, in dessen LEA Watch Freiburg, und stillende Mütter fatal, die neben den Innerem mittels zwei Meter hohen Wänden www.leawatch.blogsport.eu angebotenen drei Mahlzeiten täglich auch Räume für bis zu zehn Menschen gebildet Zwischenmahlzeiten benötigen. Mangel werden. Durch die fehlenden Decken wird AnkER-Zentren in Bayern ernährung kann die Folge sein. das Licht zentral durch den Wachschutz gesteuert und der Lärmpegel bleibt kons »Bislang gibt es pro Regierungsbezirk eine Die Unterbringung in den Zimmern ist für tant hoch. Privatsphäre und die Möglich AnkER-Einrichtung, dazu kommen bayern einen oft monate- oder gar jahrelangen keit, selbstbestimmt zu leben, existieren so weit insgesamt 20 weitere Dependancen. Aufenthalt nicht geeignet. Vulnerable kaum. Mittlerweile werden alle Geflüchteten, die Gruppen wie Schwangere oder Kinder in Bayern registriert werden, einem AnkER- haben kaum Rückzugs- und Schutzmög Es gibt Kochmöglichkeiten für die Bewoh Zentrum oder einer Dependance zugewie lichkeiten. Die Tatsache, dass Menschen ner*innen, doch die Aufwendungen für sen – unabhängig von der Bleibeperspekti derart eingepfercht und isoliert leben das zentrale Catering bleiben auch bei ve des jeweiligen Herkunftslandes. müssen, führt immer wieder zu Konflikten eigener Verpflegung von den Sozialleistun zwischen den Bewohner*innen, die ge gen abgezogen. Durch Kameras auf dem Kinder im schulpflichtigen Alter sollen nicht waltsam durch das Security-Personal oder Außengelände sowie Wachschutz stehen mehr die Möglichkeit haben, eine Regel gar unverhältnismäßige Polizeieinsätze die Personen unter permanenter Beobach schule zu besuchen, sondern werden direkt »geschlichtet« werden. tung. Auch Taschenkontrollen gehören im AnkER-Zentrum beschult. Allerdings zum System der Entmündigung.« ist der Unterricht sehr rudimentär und be inhaltet hauptsächlich Deutschstunden, Deportation Watch Göttingen
12 TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | NICHT MEINE LAGER! EU-HOTSPOTS AN EUROPAS Hotspot auf AUSSENGRENZEN Lampedusa. © Borderline Sicilia M assenlager in Europas Grenzstaaten dienen der EU seit Jahren als ein probates Mittel zur Abschreckung. Im Jahr 2015 wurden sogenannte Hotspots in Griechenland und Italien eingerichtet und Schutzsuchende dort von Anfang an dem Elend überlassen. Menschen auf der Flucht soll auf diese Weise signa- lisiert werden: »Bleibt weg! In Europa erwartet euch kein Schutz, sondern die Elend, wohin man schaut: Hotspot Hotspots Griechenlands und Italiens!« Moria auf Lesvos. © Kevin McElvaney Italien »In Italien wurden seit 2015 fünf sogenann te Hotspots in Betrieb genommen. Immer wieder werden Fälle von willkürlichen In haftierungen, Massenabschiebungen und der Verletzung des Rechts auf Asyl bekannt. Dabei werden die Ankommenden oftmals nicht nur unzureichend oder gar nicht über ihre Rechte aufgeklärt, sondern ihnen wird auch aktiv die Möglichkeit verwehrt, einen Asylantrag zu stellen. Im Hotspot auf Lampedusa haben die WCs keine Türen, die Matratzen sind ge braucht und schmutzig, in den Zimmern müssen bis zu 36 Personen schlafen, Män ner und Frauen nicht getrennt. Warmes Wasser steht nur eine Stunde am Tag zur Verfügung, während das fließende Wasser von 21 bis 7 Uhr abgestellt wird. Es kommt häufig zu Überschwemmungen, viele müssen mit Schlafplätzen im Hof oder Griechenland »In Moria mangelt es an Personal in allen den Büros vorliebnehmen. Asylanträge Bereichen. Die ärztliche Versorgung ist können nicht gestellt werden.« »Familien mit drei Kindern leben seit drei so schlecht, dass die Organisation Ärzte Jahren in einem Wurfzelt und niemanden ohne Grenzen Mitte September einen Aus Judith Gleitze, borderline-europe interessiert das. Die Kinder im Camp nahmezustand in der medizinischen und spielen am Boden mit Wasser. Ganz in der psychosozialen Versorgung feststellte. Nähe sind die völlig verdreckten Toiletten, Im September, als die Überbelegung am obwohl sie das krank macht. Sie haben schlimmsten war, gab es nur einen einzi manchmal Essen bekommen und haben gen Arzt für das ganze Lager. Durch die dafür drei oder vier Stunden gewartet und Überbelegung brechen Hautkrankheiten am Ende war das Essen schon schlecht. wie Krätze aus.« Ein paar haben erzählt, dass sie Würmer und Maden im Essen gefunden haben.« Mitarbeiter*innen des PRO ASYL / RSA-Teams über das Lager Moria auf Lesvos Afghanischer Journalist Ramin Mohabat zu den Zuständen im Lager auf Chios
TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | NICHT MEINE LAGER! 13 Flüchtlinge im Lager Tariq al-Sikka in Tripolis, Libyen. © UNHCR / Iason Foounten LIBYEN »Einige [Lager] scheinen nicht über »Die kleinen Schlafräume sind ver fließendes Wasser, Wasch- oder über schmutzt, die Matratzen verfilzt, schon D ie Flucht über das Mittelmeer in Richtung Europa bleibt weiterhin lebensgefährlich. Bootsflüchtlinge, Sanitärmöglichkeiten zu verfügen, wes halb Migrant*innen und Flüchtlinge gezwungen sind, ihre Notdurft in Eimern auf dem Flur mit Urinpfützen kommt mir ein ätzender Gestank entgegen. Der Boden des Waschraumes ist knöcheltief mit Kot die von der sogenannten libyschen oder draußen zu verrichten. Inhaftierte und Urin bedeckt. Die Wasserhähne funk Küstenwache aufgegriffen werden, müssen entweder selbst für Essen sorgen, tionieren nicht und Duschen gibt es keine, werden in die berüchtigten libyschen indem sie sich Geld von ihren Familien ihre Notdurft müssen sie in Eimern ver Lager zurückverfrachtet. Die EU weiß schicken lassen – oder sie verhungern. richten, die dann in diese Lache entleert um die Schreckensbilder aus Libyen Grundlegender Hygienebedarf ist nicht werden. Für ihre Körperpflege zweigen sie und die Menschenrechtsverletzungen gedeckt, medizinische Versorgung existiert etwas Trinkwasser ab.« in den dortigen Haftlagern, kooperiert nicht. Bedürfnisse besonders vulnerabler aber mit der libyschen Küstenwache Flüchtlinge und Migrant*innen, darunter Dr. Tankred Stöbe, Ärzte ohne Grenzen: »Bericht aus einem zerrissenen Land«, weiter. Kinder, Schwangere und stillende Mütter, 21. April 2017 werden nicht gedeckt. … Migrant*innen »Tausende von Geflüchteten und und Flüchtlinge sind extremer Gewalt Migrant*innen werden in ganz Libyen ausgesetzt – manchmal vor laufender »Männer in Uniformen waren gewalt- in offiziellen und improvisierten Lagern Kamera, während ihre Familien entsetzt tätig und mit Pistolen, Eisenstangen und unter albtraumhaften Bedingungen zusehen müssen. Zu den häufigsten Ge Stöcken bewaffnet. Sie wollten Erpres festgehalten: Folter, sexuelle Gewalt, Aus waltanwendungen zählen Schläge mit sungsgeld. Sie verprügelten jeden Teil beutung, Menschenschmuggel zum unterschiedlichen Gegenständen, An meines Körpers und zwangen mich dazu, Zwecke sexueller Ausbeutung und weitere ketten, Übergießen von Opfern mit Benzin, an sexueller Gewalt gegen die anderen Menschenrechtsverletzungen finden dort kochendem Wasser oder Chemikalien, Frauen mitzuwirken. Ich habe Narben an systematisch statt. Der Rechtsweg und Elektro-Schocks, Messerstiche, Heraus meinem Kopf und an meinem rechten Arm. andere Abhilfemaßnahmen existieren ziehen von Nägeln, Traktieren mit heißen Wegen der Schläge, unter denen ich litt, praktisch nicht. « Metallgegenständen und Schüsse, beson verlor ich mein ungeborenes Kind. Meine ders in die Beine.« Schwester starb aufgrund der Misshand Bericht der Women’s Refugee Commission, lungen. Ich verlor eine Menge Blut, ohne März 2019 UN-Bericht zu Libyen vom 20. Dezember jegliche Hilfe bekommen zu haben.« 2018 Zitat einer inhaftierten Nigerianerin im Bericht von OXFAM: »You aren't human any more«, 9. August 2018
14 TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | NICHT MEINE LAGER! HOTSPOTS IN GRIECHENLAND »DIE MENSCHEN IN MORIA SIND GEFANGENE« Seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals im März 2016 herrscht auf den griechi- schen Inseln permanenter Ausnahmezustand. Für die etwa 15.200 festsitzenden Flüchtlinge (Stand März 2019) sind die Inseln Lesvos, Samos und Chios zu Freiluftgefäng nissen geworden. Refugee Support Aegean (RSA), PRO ASYL M it dem »Flüchtlingsdeal« zwischen EU und der Türkei wurden Orte des Elends geschaffen, an denen Menschen- Die Einrichtung und der Betrieb der Hotspots als Blaupause für die Flücht- lingspolitik an Europas Grenzen ist Bedingungen setzt sich das Team in den völlig überfüllten Lagern auf den Inseln für die Rechte der Ankommenden und Grundrechte nicht zu existieren nicht nur menschenunwürdig, sondern ein, derer sich Europa schnellstmöglich scheinen und die rechtlichen Garantien destabilisiert die Gesellschaften auf entledigen will. und Verfahren zum Schutz von Flücht- den griechischen Inseln und stärkt rassis- lingen Makulatur sind. Eine Verbesse- tische Stimmungen. Drei Jahre »Deal« Die Anwält*innen kämpfen nicht nur rung ist nicht in Sicht, denn gerade die sind für die Flüchtlinge drei Jahre uner- gegen drohende Abschiebungen in die Lebensumstände sind zentraler Bestand- messliches Leiden in einem Klima der Türkei. Sie sorgen dafür, dass Schutz teil der Abschreckungspolitik der EU. Angst. Menschen, die in Europa Schutz suchende in diesem Chaos überhaupt suchen, sollen abgeschreckt werden – einen Asylantrag stellen können. In Würde und Rechte spielen dabei keine einem quälend langen Verfahren unter- Rolle mehr. stützen sie Schwerkranke, Schwangere, Familien mit Kindern und Folteropfer Mitarbeiter*innen von PRO ASYL/ darin, als »besonders vulnerabel« ein Refugee Support Aegean dokumentie- gestuft zu werden. Nur mit dieser amtli- ren die fatalen Auswirkungen des chen Feststellung dürfen diese Flücht Türkei-Deals von Anbeginn. Sie decken linge die Insel verlassen und auf das Menschenrechtsverletzungen auf und griechische Festland reisen. Hier einige stehen Schutzsuchenden bei – humani- Beispiele aus der Arbeit von PRO ASYL/ tär wie rechtlich. Unter schwierigen RSA:
TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | NICHT MEINE LAGER! 15 Verzweiflung in Moria auf Lesvos. Seit Inkrafttreten ANNA: gungen auf den Inseln der Nordostägäis. Drei Flüchtlinge starben im Lager Moria des EU-Türkei-Deals ist die Lage auf den griechischen »DIE TÜRKEI IST KEIN – mutmaßlich aufgrund der mangel Inseln desaströs. LAND DER RECHTE« haften Unterbringungsbedingungen. In © Salinia Stroux Moria war die Schwangere sich selbst überlassen. Ihr Zufluchtsort: ein kleines Anna* ist Mitte 30 und floh aus ihrem Zelt. Heimatland in Zentralafrika, um dem häuslichen Missbrauch ihres Partners Anna blieb in Moria anderthalb Monate zu entkommen. Auf ihrer Flucht wurde ohne Zugang zu einem Gynäkologen – sie Opfer von Menschenhandel. In der trotz Blutungen und kritischem Zu- Türkei war sie geschlechtsspezifischer stand. »Es war kalt, es regnete, es lag Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt, Schnee, ich hatte Blutungen«, erzählt ohne eine Möglichkeit, dagegen vorzu- sie. Endlich bekam sie ein Dokument, gehen. Hilfe erfuhr sie nicht. »Die Türkei um ins Krankenhaus gehen zu können. ist kein Land der Rechte. Es ist möglich, Dort wurde ein chirurgischer Eingriff dass man sein ganzes Leben lang ausge- durchgeführt, denn der Fötus war be- beutet wird, und ohne Papiere hat man reits tot. »Dann sagten sie mir, ich könne nicht das Recht, sich zu beschweren …«, zurück nach Moria gehen und ich ging berichtet Anna. am selben Tag zurück.« Zweimal versuchte Anna vergeblich Der Verlust des ungeborenen Kindes aus der Türkei zu fliehen – denn zum war eine weitere traumatische Erfahrung EU-Türkei-Deal gehört auch die Abriege- für die junge Frau. Viel zu spät erhielt sie lung der Grenzen durch die Türkei. Nach Zugang zur Notfallversorgung im Kran- jedem gescheiterten Versuch wurde sie kenhaus. Weder die Gewalt, die Anna festgenommen. Beim dritten Versuch – erlitten hatte, noch die Auswirkungen im Winter 2017 – erreichte sie nach einer des Hotspots auf Annas psychische Ge- lebensgefährlichen Überfahrt die Insel sundheit wurden im Interview bei der Lesvos. Zu dem Zeitpunkt war Anna seit Europäischen Asylagentur EASO berück ein paar Wochen schwanger. Im Winter sichtigt. Da sie zuvor nicht als besonders 2017 herrschten extreme Wetterbedin- schutzbedürftig bzw. »vulnerabel« identifiziert worden war, wurde ihr An trag im Rahmen des üblichen beschleu- nigten Grenzverfahrens geprüft – und abgelehnt. Erst nach rechtlichen Interventionen von PRO ASYL/RSA wurde Anna, zehn Monate nach ihrer Ankunft in Moria, als vulnerabel eingestuft. Derzeit wartet sie auf ein weiteres Interview nach einem zweiten Asylantrag, der Anfang des Jahres für zulässig befunden wurde. Alles, was Anna möchte ist, an einem Ort zu leben, an dem sie ein Zuhause hat und arbeiten kann. © privat * Name von der Redaktion geändert
16 TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | NICHT MEINE LAGER! MAHMOUD: Nach zwei Ablehnungen im Zulässig- Mahmouds Gedanken sind wieder bei keitsverfahren wurde Mahmoud einen den Flüchtlingen, die derzeit in Moria »WIR WURDEN IN MORIA Monat lang auf der Polizeistation Mytilini festsitzen. »Ich bete für die Menschen NICHT WIE MENSCHEN festgehalten, ihm drohte die gewalt in Moria. Dass sie in andere europäische BEHANDELT« same Überstellung in die Türkei. Nach Länder weiterreisen können. Dass sie verschiedenen rechtlichen Interventio- zumindest in Griechenland bleiben nen durch PRO ASYL/RSA wurde er können, mit Papieren, einem Dach über Mahmoud*war aufgrund des Syrien- freigelassen. Heute lebt er mit interna dem Kopf, Essen, einem Job. Ich denke, Konfliktes zur Flucht gezwungen und tionalem Schutz in einem anderen dass die Menschen in Moria keine Asyl- ließ sich zunächst in der Türkei nieder. europäischen Land. bewerber sind, sie sind Gefangene. Hier wurde er vom IS bedroht, war Ich hoffe, dass die EU dieses Abkommen aufgrund seiner sexuellen Orientierung annullieren wird und diese Menschen gefährdet und floh erneut, um in ein neues, sicheres Leben erhalten.« Griechenland Schutz vor Verfolgung zu suchen. Mahmoud erreichte Lesvos kurz nach Inkrafttreten des Deals. Er wurde zu sammen mit vielen anderen Flüchtlin- gen, die zu diesem Zeitpunkt ankamen, inhaftiert. Mahmoud erinnert sich: »Wir wurden in Moria festgehalten. 45 Tage lang durften wir das Lager nicht ver lassen. Es war eine sehr schwierige Situa tion mit dem Essen, mit den Zelten, mit den Menschen. Wir wurden in Moria nicht wie Menschen behandelt. Das war eine Katastrophe.« Mit der Europäischen Asylagentur (EASO) führte Mahmoud sein einziges Gespräch im Rahmen seines Asylantrags. Die Mitarbeiter*innen glaubten ihm nicht, dass er in der Türkei gefährdet sei. Statt- dessen stellten sie seine sexuelle Orien- © privat tierung und seine Verfolgung in Frage und kamen zu dem Schluss, dass sein Antrag unzulässig sei. Mahmoud be- schreibt die Irritation im Gespräch mit der EASO-Mitarbeiterin: »Als ich ihr JAFAR: »AUF ZWÖLF inoffiziellen Lager außerhalb von Moria. meine Geschichte erzählte, sagte sie: Jafar erzählt: »Im Inneren des Lagers ›Du bist nicht schwul.‹ Ich fragte, warum QUADRATMETERN gab es keinen Platz. Sie steckten sechs sie mir nicht glaube. Sie sagte: ›Weil KÖNNEN KEINE SECHS Familien in einen Container. Auf 12 du die Schwulenflagge nicht erkennst. FAMILIEN LEBEN« Quadratmetern können keine sechs Du hast die Schwulenbars nicht erkannt.‹ Familien leben. Also gingen wir in den Ich sagte ihr: ›Ich komme aus Syrien. Wald. Es gab Schlangen, Skorpione. Ich komme nicht aus Lesvos, ich komme Jafar* und Soraya* erreichten die Ufer Wir litten sehr.« nicht aus Kanada. In Syrien ist es nicht von Lesvos im Spätsommer 2018 zusam- akzeptabel, schwul zu sein. Ich habe in men mit ihrem fünfjährigen Sohn und Diese unmenschlichen Bedingungen meinem Land viele Probleme, weil ich einem Neugeborenen. Die Überfahrt hatten Auswirkungen auf die Gesund- schwul bin. Ich muss mich immer ver über die Ägäis war für die junge afghani- heit des Babys. Es leidet an Asthma stecken.‹« sche Familie gefährlich. Jafar erinnert und musste wegen Mageninfektionen sich: »Wir haben es zweimal mit dem und Erkältung immer wieder behandelt Boot versucht und sind fast ertrunken.« werden. Einmal bekam das Neuge Die Familie musste auf Lesvos unter borene im Krankenhaus eine Notfall unerträglichen Lebensbedingungen versorgung, danach wurden Soraya und ausharren. Die meiste Zeit verbrachten ihr Kind mitten in der Nacht in ihr Zelt sie in einem kleinen Sommerzelt im zurückgeschickt.
TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | NICHT MEINE LAGER! 17 »ICH DACHTE, WENN ICH IN EUROPA ANKOMME, BIN ICH IN FREIHEIT, ABER ALS ICH NACH EUROPA KAM, FÜHLTE ICH, DASS ICH IN SYRIEN FREIHEIT IM KRIEG HATTE. WAS ICH HIER MÖCHTE, IST NUR EIN BISSCHEN MEHR FREIHEIT.« Nadeem, Flüchtling in Moria Im August 2016 schaffte die Familie die Überfahrt auf die Insel Lesvos und beantragte Asyl. Nadeem erzählt von den Bedingungen im Lager Moria: »Als wir in Moria waren, schliefen wir draußen, da gab es Schlä- gereien – einmal im Park, einmal auf der Straße. In Syrien habe ich noch nie draußen geschlafen.« Während Nadeems Schwester und ihre Familie als Flüchtlinge anerkannt wurden, wurden die Asylanträge von Nadeem und Alya mit der Begründung abgelehnt, die Türkei sei für beide ein sicheres Land. Mutter und Sohn leben weiter in der Schwebe und haben Angst. © privat Mit Hilfe der Rechtsanwält*innen von RSA wird Nadeems Fall neu aufgerollt, da die Tatsache, dass er Folteropfer ist, Einen Monat nach ihrer Ankunft konnte NADEEM: zuvor nicht berücksichtigt wurde. Bei die Familie mit der Unterstützung von Alya erreichten die Anwält*innen, dass UNHCR und einer Anwältin ihren Asyl »IN SYRIEN HABE ICH sie in das reguläre Asylverfahren auf antrag stellen. Soraya beschreibt die NOCH NIE DRAUSSEN genommen wird. Nadeem darf die Insel Herausforderungen für die Flüchtlinge, GESCHLAFEN.« immer noch nicht verlassen und Alya die im inoffiziellen Lager vor Moria stran- bleibt bei ihm, da sie ohne ihren Sohn den: »Man muss als verletzlich anerkannt nicht aufs Festland will. < werden. Wer nicht verletzlich ist, wird Nadeem* und seine Mutter Alya* sind nicht aus diesem Dschungel hier, aus syrische Flüchtlinge und werden seit Moria, von der Insel wegkommen.« Die fast drei Jahren auf Lesvos festgehalten vierköpfige Familie wurde als vulnerabel – eine Folge des toxischen EU-Türkei- identifiziert. Trotzdem mussten sie bis Deals. Nadeem floh 2016 mit seiner Anfang Oktober 2018 in einem Sommer- Mutter, seiner Schwester und deren zelt leben. Erst Ende Januar 2019 durften Familie aus Syrien. Nadeems Frau und sie die Insel verlassen und wurden in sein Kind wurden bei einer Razzia in ein Lager in der Region Attika verlegt. ihrem Haus durch die Regierungstrup- Die Familie teilt sich nun einen Container pen getötet, er selbst wurde verhaftet mit einer anderen Familie und wartet und später gefoltert. auf ihre Asylanhörung. * Namen von der Redaktion geändert
18 TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | RECHT AUF LEBEN LIBYEN UND MITTELMEER 12.748 TOTE UND EIN MENSCHENVERACHTENDER DEAL 12.748 Menschen starben zwischen 1. Januar 2015 und 31. Dezember 2018 im zentralen Mittelmeer. Ohne die zivilen Seenotrettungsorganisationen wäre diese Zahl noch viel höher. Und was macht Europa? Dominik Meyer, Karl Kopp PRO ASYL S tatt einer staatlich organisierten See- notrettung und der Bereitstellung legaler Fluchtwege werden die zivilen Seenotrettungsorganisationen im Mit- telmeer systematisch blockiert und kriminalisiert. Italien und Malta schlie- ßen ihre Häfen. Und die EU rüstet die sogenannte »libysche Küstenwache« – Milizionäre, Menschenschmuggler und -händler – aus, damit sie Bootsflücht linge abfangen und in die Folterlager Libyens zurückschaffen kann. In 2017 und 2018 hat die »libysche Küstenwache« mehr als 30.000 Boots- flüchtlinge auf dem Meer aufgegrif- fen. Im R ahmen ihrer Patrouillen und Operation »Sophia« statt. In der ersten Durch das chaotische und brutale Vorgehen der »libyschen »Rettungseinsätze« wendet sie Gewalt Hälfte 2018 wurde die Operation von der Küstenwache« kommen am gegen Männer, Frauen und Kinder an, Bundesregierung mit insgesamt etwa 6. November 2017 mindestens fünf Bootsflüchtlinge im Mittelmeer zwingt die Betroffenen auf ihre Schiffe 53 Millionen Euro unterstützt. Zum ums Leben. Die »Sea-Watch«-Crew und bringt sie zurück nach Libyen. Mandat gehört neben der Ausbildung kann noch 58 Menschen retten. Wiederholt haben libysche Einheiten der »libyschen Küstenwache« auch ihre © Lisa Hoffmann zivile Seenotretter*innen mit dem Tode Überwachung. Der Kontrollmechanis- bedroht und deren Schiffe beschossen. mus könne allerdings seit Mai 2018 »Die Küstenwache besteht aus unter- aufgrund von »Sicherheits- und adminis- schiedlichen Warlords, die sich den trativen Gründen« nicht ausgeführt wer- Namen ›Küstenwache‹ gegeben haben, den, so ein »Sophia«- Kommandant im zu einem fairen Asylverfahren zu ver- um Geld von Europa zu kriegen«, sagt Dezember 2018. wehren und sie stattdessen in einen Nicole Hirt, Wissenschaftlerin am GIGA Staat zurückzubringen, in dem ihnen Institut für Afrika-Studien in Hamburg. Arbeitsteiliger unmenschliche Behandlung und Folter »Sie sind selbst in Menschenschmuggel Völkerrechtsbruch droht. Das Folterverbot ist in Artikel 3 involviert, retten die Flüchtlinge also, der Europäischen Menschenrechts damit sie verkauft werden.« Die italienische Europaparlamentarierin konvention verankert. Das »Non-Refou Barbara Spinelli stellte im Januar 2019 lement«-Gebot verbietet die Zurück Ungeachtet all dieser Verbrechen wird zur Militärmission »Sophia« fest, sie weisung in ebensolche Umstände. die »libysche Küstenwache« weiterhin sei ein Instrument der Zurückweisung Völkerrechtswidrige Zurückweisungen – von der EU hofiert, ausgebildet und geworden und diene der Legitimierung sogenannte »Push-Backs« – wurden finanziell unterstützt. Die Ausbildung straffälliger Milizen. Zurückweisung im Februar 2012 vom Europäischen Ge- findet im Rahmen der EUNAVFOR MED heißt, Schutzsuchenden den Zugang richtshof für Menschenrechte verurteilt.
TAG DES FLÜCHTLINGS 2019 | RECHT AUF LEBEN 19 in Rom bei Seenotfällen an die »Seenot Notfallplan für Bootsflüchtlinge leitstelle« in Tripolis. Doch dort geht in der Regel niemand ans Telefon. Inter Der fortlaufende eklatante Völkerrechts- nationale Vorschriften besagen aber: bruch im Mittelmeer muss sofort be Koordinierungsstellen müssen rund um endet und die blutige Arbeitsteilung mit die Uhr besetzt sein. den Kommandos der »libyschen Küsten- wache« gestoppt werden. Die verbre- Der Bundesregierung seien »Berichte cherische Blockade der zivilen Seenot- über Schwierigkeiten bei der elektroni- rettung muss ein Ende haben. Die EU schen oder telefonischen Erreichbarkeit hat die Pflicht, einen robusten, flächen (…) der libyschen Küstenwache be- deckenden EU-Seenotrettungsdienst kannt«, heißt es lapidar in einer Bundes- aufzubauen. Auswege aus dem humani- tagsdrucksache im Februar 2019. Die tären Desaster im Mittelmeer bieten Leitstelle in Tripolis befinde sich »noch nur legale und sichere Fluchtwege nach im Aufbau«. Europa. Den Bootsflüchtlingen muss Willige Vollstrecker nach Anlandung in einem sicheren euro- der EU – die »libysche Küstenwache«. Die »Ausschiffungskrise« päischen Hafen eine menschenwürdige © REUTERS / Ismail Zetouni Aufnahme und Zugang zu einem fairen Auf Anweisung des rechtsradikalen Asylverfahren gewährt werden. Innenministers Matteo Salvini wurden Italiens Häfen im Sommer 2018 für Der Europäische Flüchtlingsrat (ECRE) Die EU versucht, die Verletzung des Schutzsuchende geschlossen. Mehrmals hat dazu einen praktikablen Vorschlag Refoulement-Verbots durch Delegieren mussten Schiffe wochenlang ausharren, gemacht: Eine Koalition der aufnahme- an ihre libyschen Stellvertreter zu um bis ihnen erlaubt wurde, die Geretteten bereiten Staaten soll sich unter Koordi- gehen. Auch sogenannte »Pull-Backs« – an Land zu bringen. nierung der EU-Kommission zusammen- das Abfangen und gewaltsame Zurück- schließen und die Schutzsuchenden bringen von Flüchtlingsbooten nach Die Erlaubnis zur Ausschiffung machen unter Anwendung der Humanitären Libyen durch die »libysche Küstenwa- Italien und Malta seitdem immer wieder Klausel der Dublin-Verordnung nach che« – verletzen internationales Recht. von der Zusage anderer europäischer einem vorher festgelegten Proporz um- Nach Libyen zurückgebrachte Boots- Staaten abhängig, die Schutzsuchenden verteilen (Relocation). Die Aufnahme flüchtlinge sind systematisch schwersten aufzunehmen. Schnell wurde klar, dass würde so automatisch gewährleistet und Menschenrechtsverletzungen ausge- sich Salvinis Politik gegen jede Form lebensgefährdende ad-hoc-Aktionen setzt. Ein Großteil wird direkt inhaftiert der Rettung von Flüchtlingen und zur Übernahme der Geflüchteten für und unter grausamsten und unwürdigs- Migrant*innen richtet. Am 14. August jedes einzelne Schiff, das Menschen in ten Bedingungen in Lagern und Gefäng- 2018 rettete ein Schiff der italienischen Seenot gerettet hat, verhindert. Zahl nissen festgehalten. UN-Berichte doku- Küstenwache namens »Diciotti« 177 reiche Städte, Regionen und Gemeinden mentieren Folter, Vergewaltigungen und Menschen. Salvini untersagte die Anlan- in Deutschland und Europa haben be- außergerichtliche Hinrichtungen. dung und drohte, die Geretteten nach reits ihre Aufnahmebereitschaft signali- Libyen zurückzuschicken. Dieser ange- siert. Für sie muss die Möglichkeit ge- Salah Marghani, ehemaliger Justizminis- drohte Völkerrechtsbruch ist nur ein schaffen werden, Bootsflüchtlinge im ter in der libyschen Nachbürgerkriegs Beispiel von vielen für die Rechtsstaats- Rahmen eines Relocation-Programms regierung stuft die Rückführungen von feindlichkeit des Innenministers. aufzunehmen. < Flüchtlingen und Migrant*innen als völkerrechtswidrig ein. »Libyen ist kein Geretteter an Bord sicherer Ort. Sie werden Opfer von Mord Zehn Tage harrten die Menschen auf der der »Sea-Watch«. werden. Sie werden gefoltert werden. »Diciotti« aus. Sie durften erst an Land, © Christian Gohdes Das ist dokumentiert … Und Europa als ein Staatsanwalt Ermittlungen wegen weiß es.« Freiheitsberaubung und Amtsmiss- brauch gegen Salvini aufnahm. Der Keiner geht ans Telefon Vorfall schreckte ab: Noch während die italienischen Häfen für die »Diciotti« Doch Europa setzt weiter auf den Deal geschlossen waren, wurden Fälle doku- mit Libyen. Im Sommer 2018 gab Italien mentiert, in denen kommerzielle Schiffe die Verantwortung für ein großes See Menschen nicht aus Seenot retteten, gebiet an Libyen ab. Die libysche Such- weil sie ein ähnliches Szenario befürch- und Rettungszone erstreckt sich nun- teten. mehr auf 76 Seemeilen vor der libyschen Küste. Seitdem verweist die Leitstelle
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