25 Jahre Zur Rose - Geschäftsbericht 2017 | Zur Rose Group AG
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BERICHT Highlights und Lowlights 8 Profil 10 Kennzahlen 12 Brief an die Aktionäre 14 Interview mit der Gruppenleitung 22 Verwaltungsrat 34 Gruppenleitung 38 Dieser Kurzbericht gibt einen Überblick über den Geschäftsverlauf und die Kennzahlen des 25 JAHRE ZUR ROSE 43 Geschäftsjahrs 2017. Im ausführlichen Online- Editorial 46 Woher wir kommen 51 Geschäftsbericht unter gb.zurrosegroup.com Wohin wir gehen 93 finden Sie zusätzliche Themen rund um die Zur Rose-Gruppe. Kontakt, Impressum 124
BERICHT | HIGHLIGHTS UND LOWLIGHTS HIGHLIGHTS UND LOWLIGHTS | BERICHT Eröffnung erste Weiterer Ausbau der europäischen Marktführerschaft Shop-in-Shop-Apotheke Akquisitionen in der Schweiz Eurapon und Vitalsana 215Mio. Wachstumsstrategie Neuausrichtung Erfolgreicher Börsengang mit netto 11.8% Standort Halle mit Wermutstropfen: Wegfall von Umsatzplus 40 Arbeitsplätzen Mittelzufluss 38.7% Verbotsdis- 6.5% Ein Jahr nach EuGH-Urteil Double Digit Growth kussion um Rx in Umsatzwachstum Rx-Versand Umsatzwachstum im Ärztegeschäft in Deutschland OTC in Deutschland geht weiter der Schweiz Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 8 9
BERICHT | PROFIL PROFIL | BERICHT Profil schäftigt an den verschiedenen Standorten über 1 000 Mitarbeitende und erwirtschaftete im Ge- schäftsjahr 2017 einen Umsatz von CHF 983 Mio. Franken. Die Aktien der Zur Rose Group AG Die Schweizer Zur Rose-Gruppe ist mit sind an der SIX Swiss Exchange kotiert (Valor ihren Marken Zur Rose und DocMorris Europas 4261528, ISIN CH0042615283, Ticker ROSE). grösste Versandapotheke und eine der führen- den Ärztegrossistinnen in der Schweiz. Mit ihrem Geschäftsmodell trägt sie zu einer sicheren und qualitativ hochwertigen pharmazeutischen Ver- sorgung bei. Sie zeichnet sich zudem aus durch die Entwicklung von innovativen Dienstleistungen im Bereich Arzneimittelmanagement, um die Wirk- samkeit des Medikationsprozesses zu erhöhen. Dieses Schaffen von Mehrwerten, die ausgeprägte Patientenorientierung sowie der Anspruch einer kostengünstigen Medikamentenversorgung ma- chen die Unternehmensgruppe zu einer wichtigen strategischen Partnerin für Leistungserbringer, Kostenträger und Industrie. Der operative Sitz der Zur Rose-Gruppe be- findet sich in Frauenfeld, von wo aus auch der Schweizer Markt bedient wird. Die Kunden in Deutschland und Österreich werden hauptsäch- lich von Heerlen (NL) aus beliefert. Im Weiteren hält die Gruppe eine Mehrheitsbeteiligung an BlueCare in Winterthur, dem marktführenden Anbieter von vernetzenden Systemen im Schwei- zer Gesundheitswesen. Die Zur Rose-Gruppe be- Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 10 11
BERICHT | KENNZAHLEN KENNZAHLEN | BERICHT KENNZAHLEN 2017 2016 2015 Mio. CHF Mio. CHF Mio. CHF Umsatz 982.9 879.5 834.4 Umsatzwachstum in % zum Vorjahr 11.8 5.4 − 8.9 Bruttomarge in % des Umsatzes 14.9 15.0 15.1 Betriebsergebnis vor Abschreibungen und Amortisationen (EBITDA) um Sonderkosten 2017 bereinigt − 6.0 2.1 15.8 in % des Umsatzes − 0.6 0.2 1.9 EBITDA − 21.2 2.1 15.8 Betriebsergebnis (EBIT) um Sonderkosten 2017 bereinigt − 18.1 − 7.1 8.4 in % des Umsatzes − 1.8 − 0.8 1.0 EBIT − 38.3 − 7.1 8.4 Unternehmensergebnis um Sonderkosten 2017 bereinigt − 16.3 − 12.8 3.4 in % des Umsatzes − 1.7 − 1.5 0.4 Unternehmensergebnis − 36.3 − 12.8 3.4 Eigenkapital 294.2 103.8 72.8 in % der Bilanzsumme 64.4 39.7 31.2 Investitionen 22.0 21.2 15.5 Personalbestand in Vollzeitstellen per Jahresende 1 106 752 716 Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 12 13
BERICHT | BRIEF AN DIE AKTIONÄRE BRIEF AN DIE AKTIONÄRE | BERICHT Liebe Aktionärinnen, Investitionen in den Markt zahlen sich aus — Die für das forcierte Wachstum breit liebe Aktionäre angelegte Marketingkampagne in Deutschland zur Gewinnung von Neukunden setzte die Zur Die Ende 2016 eingeleitete Wachstumsstrate- Rose-Gruppe 2017 erfolgreich fort. Der konsoli- gie der Zur Rose-Gruppe trägt Früchte. Im dierte Umsatz stieg gegenüber dem Vorjahr um Geschäftsjahr 2017 erhöhten wir als führende 11.8 Prozent auf CHF 982.9 Mio. Die erzielte Versandapotheke Europas den Umsatz zwei- Wachstumsdynamik bestätigt die Wirksamkeit stellig auf CHF 982.9 Mio. Das dynamische des Marketingaufwands zulasten der kurzfristi- Wachstum ist das Resultat der Marketingoffen- gen Ergebnisentwicklung. Das Ergebnis wurde sive in Deutschland und einer erfreulichen durch weitere zukunftsgerichtete Aufwendungen Geschäftsentwicklung in der Schweiz. Für 2018 und einmalige Kosten im Zusammenhang mit erwarten wir ein weiter forciertes Wachstum dem Börsengang plangemäss mit rund CHF 15 von über 20 Prozent in Lokalwährung. Mio. belastet. Das ausgewiesene Betriebsergeb- nis (EBITDA) liegt bei minus CHF 21.2 Mio. und Das Geschäftsjahr 2017 stellte für die Zur das Unternehmensergebnis bei minus CHF 36.3 Rose-Gruppe einen Meilenstein in der 25-jähri- Mio. Bereinigt um die vorgenannten Sonderauf- gen Geschichte des Unternehmens dar. Mit der wendungen würde sich das EBITDA auf minus Mittelaufnahme im Rahmen des IPO und der CHF 6 Mio. belaufen. Kotierung an der SIX Swiss Exchange hat die Gesellschaft die Kapitalbasis für die Umsetzung Kooperationen und Innovationen beflü- einer dynamischen Wachstumsstrategie geschaf- geln Schweizer Geschäft — 2017 gelang es Zur fen. Aus dem Erlös des IPO von netto CHF 215 Rose, ihre starke Marktposition durch die Wei- Mio. konnten die definierten Wachstumsinitia- terentwicklung von innovativen Dienstleistungen tiven vorangetrieben und die Unternehmensan- und Kooperationen mit Migros, Medbase und leihe von CHF 50 Mio. zurückbezahlt werden. Mit Krankenversicherern zu stärken. Mit einem Um- einer Eigenkapitalquote von 64.4 Prozent ist die satzplus von 6.3 Prozent auf CHF 500 Mio. wuchs Gesellschaft solide finanziert und verfügt darü- Zur Rose in der Schweiz deutlich über dem Markt- ber hinaus über ein stabiles Ankeraktionariat. durchschnitt. Durch die 2017 lancierte Koope- ration mit Medbase, dem schweizweit grössten Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 14 15
BERICHT | BRIEF AN DIE AKTIONÄRE BRIEF AN DIE AKTIONÄRE | BERICHT Dienstleister in der ambulanten medizinischen Umsatz des Segments Deutschland um 18.1 Pro- Grundversorgung, beliefert Zur Rose sämtliche zent auf CHF 483.2 Mio. Mit einem Umsatzplus Medbase-Zentren exklusiv mit Arzneimitteln. Das von 38.7 Prozent im Versand rezeptfreier Arznei- Retailgeschäft ist erstmals nach dem Bundes- mittel wuchs DocMorris in Lokalwährung erneut gerichtsurteil von 2015 zur Einschränkung des deutlich stärker als der Gesamtmarkt und gehört Versands rezeptfreier Arzneimittel (OTC) wieder damit auch im OTC-Bereich zu den führenden gewachsen. Die Neuausrichtung des Specialty- Versandapotheken Deutschlands. Das Geschäft Care-Bereichs trug ebenso dazu bei wie die bei- mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln (Rx) nahm den neuen stationären Apotheken in Bern. Der in Lokalwährung um 10.2 Prozent zu. erfolgreiche Start des Shop-in-Shop-Konzepts im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Migros Synergieeffekte durch Bündelung der Ver- veranlasst das Unternehmen, 2018 zwei weitere sandaktivitäten — 2018 wird die Zur Rose- In-Store-Apotheken in den Migros-Filialen im Gruppe die Integration der Ende 2017 akquirierten Claramarkt Basel und am Limmatplatz Zürich zu Unternehmen Eurapon und Vitalsana vollziehen. eröffnen. Zur Rose verbindet ihre stationäre Prä- Der für die Gruppe nachhaltig relevante Umsatz senz mit dem E-Commerce-Geschäft im Rahmen der beiden Gesellschaften hätte 2017 EUR 85 Mio. einer Omni-Channel-Strategie und ermöglicht betragen. Mit den ab Mitte 2018 in Heerlen ab- ihren Kunden damit den kanalübergreifenden gewickelten Versandvolumen, die aus der Neuaus- Bezug von Medikamenten vor allem in Kantonen richtung des Standorts Halle hervorgehen, und ohne ärztliche Selbstdispensation zu denselben der Integration von Vitalsana werden nachhaltige Vorzugskonditionen wie über den Versandkanal. Synergieeffekte erzielt. Mittelfristig soll auch das Versandgeschäft von Eurapon in Heerlen abgewi- Stärkung der Marktführerschaft in Deutsch- ckelt werden. land — Auch in Deutschland gelang es der Zur Rose-Gruppe, ihre führende Marktstellung im Nachwirkungen des EuGH-Urteils — Der Jahr 2017 weiter auszubauen. Durch die verstärk- Koalitionsvertrag zwischen den Parteien CDU / ten Marketingaktivitäten von DocMorris, die sich CSU und SPD beinhaltet eine Passage zur Umset- sowohl an chronisch erkrankte Patienten mit zung eines Verbots des Versandhandels mit ver- einem regelmässigen Bedarf an Medikamenten als schreibungspflichtigen Arzneimitteln. Dort heisst auch an OTC-Kunden richten, erhöhte sich der es: «Um die Apotheken vor Ort zu stärken, setzen Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 16 17
BERICHT | BRIEF AN DIE AKTIONÄRE BRIEF AN DIE AKTIONÄRE | BERICHT wir uns für ein Verbot des Versandhandels mit Konsolidierung des OTC-Versandmarktes über ge- verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ein.» eignete Akquisitionen. Gestützt auf ein weiterhin Verbotsvorhaben wurden bereits 2008 und 2012 zweistelliges organisches Wachstum erwarten wir aus verfassungsrechtlichen Gründen von der Poli- für 2018 ein Umsatzwachstum von über 20 Prozent tik abgelehnt. Die sowohl europa- als auch verfas- in Lokalwährung und streben einen Break-even sungsrechtlichen Argumente gegen ein Verbot auf um Sonderkosten bereinigter EBITDA-Stufe wurden durch das Urteil des Europäischen an. Dabei wird die Wahrnehmung mittelfristig Gerichtshofs 2016 deutlich gestärkt. Ein aktuelles profitabler Wachstumschancen der kurzfristigen Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums Ergebnisverbesserung vorgezogen. für Wirtschaft und Energie kam zudem zum Schluss, dass ein Verbot des Versandhandels vor Wir freuen uns, diese Herausforderungen dem Hintergrund der flächendeckenden Versor- mit der tatkräftigen Unterstützung unserer moti- gung nicht zu rechtfertigen sei. Die Zur Rose- vierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzu- Gruppe beobachtet und analysiert daher alle gehen, denen wir im Jahr 2017 aufgrund ihres Entwicklungen und wird gegebenenfalls im Inte- unermüdlichen Einsatzes und ihrer hohen Kom- resse der Patientinnen und Patienten sowohl in petenz viel zu verdanken haben. Ein besonderes Deutschland als auch auf europäischer Ebene alle Dankeschön gebührt auch unseren Kundinnen notwendigen juristischen und operativen Schritte und Kunden für ihr Vertrauen sowie Ihnen, liebe gegen ein allfälliges Verbot unternehmen. Aktionärinnen und Aktionäre, für Ihre Treue. Ausblick und Dank — Die Zur Rose-Gruppe beabsichtigt, den eingeschlagenen Wachstums- kurs fortzusetzen und die langfristigen Markt- entwicklungen mit einer immer älter werdenden Gesellschaft, dem stetig steigenden Kostendruck im Gesundheitswesen und der im Vergleich zur Konsumgüterindustrie zurückgebliebenen On- Prof. Stefan Feuerstein Walter Oberhänsli line-Durchdringung auch in den kommenden Präsident Delegierter Jahren für ihr Geschäftsmodell konsequent zu des Verwaltungsrats des Verwaltungsrats nutzen. Dazu gehört auch eine aktive Rolle in der und CEO Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 18 19
BERICHT | HIGHLIGHTS UND LOWLIGHTS BRIEF AN DIE AKTIONÄRE | BERICHT STEFAN FEUERSTEIN ( links ) UND WALTER OBERHÄNSLI. Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 20 21
BERICHT | HIGHLIGHTS UND LOWLIGHTS INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG | BERICHT Der Börsengang hat der Zur Rose-Gruppe bedeutende Mittel für weiteres Wachstum eingebracht. In Deutsch- land sind mit forcierten Marketingaktivitäten und Akquisitionen sogleich starke Zeichen gesetzt worden. In der Schweiz sorgt die Versand- apotheke mit Shops für besondere Aufmerk- samkeit. — Moderation: Medard Meier Die Gruppenleitung im Gespräch ( von links im Uhrzeigersinn ) : WALTER HESS (HEAD SWITZERLAND), WALTER OBERHÄNSLI (CHIEF EXECUTIVE OFFICER), MARCEL ZIWICA (CHIEF FINANCIAL OFFICER), OLAF HEINRICH (HEAD GERMANY). Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 22 23
BERICHT | INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG | BERICHT Das Geschäftsjahr 2017 war für die Zur Rose- E-Health. 50 Millionen dienten der Rückzahlung Gruppe sehr ereignisreich. Was war für Sie der Anleihe, womit wir uns gleichzeitig neues das persönliche Highlight? Finanzierungspotenzial geschaffen haben. Erge- ben sich Opportunitäten, können wir nun schnell Walter Oberhänsli — Die Frage ist einfach zu reagieren und Chancen sofort wahrnehmen. beantworten: der Börsengang. Wir beschäftigten uns schon längere Zeit damit. Nachdem sich der Europäische Gerichtshof im Oktober 2016 gegen «Wir sind erfreut, dass wir die hohen eine Wettbewerbsbenachteiligung ausländischer Ziele nicht nur erfüllen, sondern Anbieter entschieden hatte, begannen wir mit teilweise sogar übertreffen konnten.» den Vorbereitungen. Das Zeitfenster an der Börse – Walter Oberhänsli – war günstig. Zur Freude aller ist der Börsengang bestens gelungen. Herr Heinrich, wie prägt das IPO das Deutsch- Marcel Ziwica — Für den Finanzchef ist ein IPO land-Geschäft? etwas vom Grössten, das man in seiner Karriere machen kann. Darum war der Börsengang ein Olaf Heinrich — Das IPO ermöglicht uns, die absolutes Highlight. Das Bilanzbild veränderte Wachstumsstrategie umzusetzen, wie wir sie uns sich auf einen Schlag positiv. Die Zur Rose-Gruppe vorgenommen haben. Für mich war das High- ist nun vollständig eigenfinanziert. light, zu sehen, dass wir ein Jahr nach dem Ur- teil des Europäischen Gerichtshofs bei verschrei- Wie viele Mittel standen Ihnen neu zur Ver- bungspflichtigen Medikamenten wieder auf den fügung? Wachstumspfad zurückkehren konnten, den wir vor der Regulierung, der das Urteil zugrunde lag, Ziwica — Netto waren es 215 Millionen Franken, beschritten hatten. Das zeigt, dass wir die über die wir entsprechend unseren angekündigten die Börse eingenommenen Mittel am Markt auch Plänen im Rahmen der Wachstumsstrategie ein- gut und richtig einsetzen. setzen: für organisches Wachstum in Deutsch- land, für Akquisitionen, wovon zwei inzwischen Herr Hess, wie erlebten Sie als Segmentchef getätigt sind, für Internationalisierung und für Schweiz das ereignisreiche IPO-Jahr? Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 24 25
BERICHT | INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG | BERICHT Walter Hess — Das Geschäftsjahr war insbeson- über 30 Prozent, bei den verschreibungspflichti- dere durch den Aufbau von Kooperationen mit gen Medikamenten immerhin im niedrigen zwei- der Migros, Medbase und Krankenversicherern, stelligen Bereich. aber natürlich auch durch das IPO geprägt. Der Börsengang hat uns zusätzliche Bekanntheit ge- Das Ergebnis der Gruppe ist zwar wie ange- bracht und unser Geschäft beflügelt. kündigt rot. Hätten Sie das Resultat näher bei null erwartet? Wie entwickelte sich das Geschäft? Ziwica — Nein, wir haben absolut im Rahmen Oberhänsli — Wir verfolgen seit 2016 eine ehr- der Erwartungen abgeschlossen. Wir investierten geizige Wachstumsstrategie und sind erfreut, bewusst in die Märkte. Das schlägt sich im Mar- dass wir die hohen Ziele nicht nur erfüllen, son- ketingaufwand nieder und entsprechend im Er- dern teilweise sogar übertreffen konnten. Das gebnis. Die Investitionen in den Markt sind um- schafft Zuversicht für das neue Geschäftsjahr, sichtig gesteuert, um Neukunden zu akquirieren. denn das Wachstum muss weitergehen. Wir erzielen daraus jedoch bereits Deckungsbei- träge, die sich sehen lassen können. Hess — Das Schweizer Segment entwickelte sich sehr positiv. Im Ärztegeschäft verzeichneten wir Wann werden Sie in die schwarzen Zahlen hin- Wachstumsraten, die deutlich über dem Markt einwachsen? liegen. Auch mit dem Retailgeschäft sind wir zufrieden. Die Kooperationen mit den Kran- Ziwica — Die bestehenden Geschäftsfelder und kenversicherern trugen ebenso dazu bei wie der operativen Geschäfte werden auf Stufe EBITDA Specialty-Care-Bereich mit den teuren Medika- positive Ergebnisse abwerfen. Aus dem Wahr- mentationen. Erfreulich sind auch die Beiträge aus nehmen neuer Opportunitäten, der Integration den neuen stationären Apotheken. der Akquisitionen und möglichen Schritten der Internationalisierung kommen abermals Belas- Heinrich — DocMorris ist so gewachsen, wie wir tungen auf uns zu, die das Ergebnis auch 2018 uns das zum Ziel gesetzt hatten. Übers Jahr sind unter null drücken werden. wir organisch bei plus 19 Prozent gelandet. Beim OTC-Geschäft liegt die Steigerung bei deutlich Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 26 27
BERICHT | INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG | BERICHT Oberhänsli — Unseren Ansatz, über ein verstärk- Hess — Auf jeden Fall! Wir werden in diesem tes Marketing zu wachsen, behalten wir weiterhin Jahr mindestens zwei weitere Shop-in-Shop-Apo- bei. Wir nehmen damit bewusst rote Zahlen in theken eröffnen. Die Sichtbarkeit und die Bekannt- Kauf. Ab einem gewissen Punkt der Marktdurch- heit von Zur Rose werden dadurch weiter steigen. dringung werden wir den Marketingaufwand Letztlich zielen wir auf einen kanalübergreifen- relativ zum Umsatz reduzieren können, was uns den Einkauf und damit auf die Erhöhung der dann in die schwarzen Zahlen führen wird. Convenience für die Kunden ab. Omni-Channel heisst das Schlüsselwort. Und die Erfahrung hat Wie ist die zu erwartende Marktentwicklung gezeigt: Es entspricht einem Bedürfnis. unter dieser Prämisse zu sehen? Hess — In der Schweiz wird das Wachstum in «Im Ärztegeschäft verzeichneten der Arzneimittelversorgung in den kommenden wir Wachstumsraten, die deutlich Jahren anhalten. Wir gehen davon aus, dass wir über dem Markt liegen.» stärker als der Markt wachsen werden. Im Ärzte- – Walter Hess – geschäft wird sich die Konsolidierung fortsetzen, was uns zugutekommt. Die Bestrebungen des Regulators, die Kosten im Gesundheitswesen zu Oberhänsli — Wir leben in einem Markt, in dem senken, sprechen ebenfalls für unsere Geschäfts- kein Preiswettbewerb stattfindet, weil die Apo- modelle. Das Versandgeschäft würde noch viel thekenketten dem Grosshandel gehören. Einer mehr Potenzial für Kosteneinsparungen bieten. Kannibalisierung wirkt man entgegen, indem Dies wird jedoch von der Politik immer noch stark man das Niveau der Preise möglichst auf einem unterschätzt und teilweise regulatorisch gar ver- Höchststand hält. Unsere Initiative, über den hindert, wie das OTC-Urteil zeigt. stationären Handel das Angebot für den Kon- sumenten zu vergrössern, ist ein Erfolg verspre- Wie entwickelt sich das stationäre Geschäft, chender Weg, zumal wir mit relevanten Rabatten in das Sie ebenfalls investieren? Zahlt es sich operieren – faktisch als einzige in der Schweiz. bereits aus? Wir sehen in unserer Strategie viel disruptives Potenzial, den Schweizer Markt zu verändern. Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 28 29
BERICHT | INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG | BERICHT Wie rosig ist der Ausblick in Deutschland? erstaunt, dass diese Beurteilungen offenbar nicht ausreichend gewürdigt wurden und die Intention Heinrich — Wir sehen nach wie vor ein beträcht- eines Verbots in den Koalitionsvertrag aufgenom- liches Wachstumspotenzial in Deutschland. Ein men wurde. Wir werden daher im Interesse der grosses Thema ist die absehbare Konsolidierung Patientinnen und Patienten sowohl in Deutschland im OTC-Markt, verursacht durch einen verschärf- als auch auf europäischer Ebene alle notwendi- ten Wettbewerb. Wir werden eine aktive Rolle gen juristischen und operativen Schritte unter- spielen. Bei den verschreibungspflichtigen Arz- nehmen. neimitteln gibt es weiterhin eine Diskussion über ein Versandverbot. Ein aktuelles Gutachten des Was bedeuten die beiden Akquisitionen Eura- Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie pon und Vitalsana für Ihr Geschäft? bestätigt allerdings zweifelsfrei, dass der Europä- ische Gerichtshof mit seiner Einschätzung zum Heinrich — Mit den Übernahmen stellten wir deutschen Apothekenmarkt richtig lag und ein unsere aktive Rolle in der Bereinigung des Mark- Verbot des Versandhandels vor dem Hintergrund tes des Versands rezeptfreier Arzneimittel unter der flächendeckenden Versorgung nicht zu recht- Beweis. Dieses Geschäft ist ein zentraler Pfeiler fertigen ist. unserer Wachstumsstrategie. Eurapon, die sehr un- ternehmerisch geführt ist, gewinnt bereits Markt- anteile. Auf dieser Strategie können wir aufbauen. «Mit den Akquisitionen stellten wir Mit Vitalsana sicherten wir uns die letzte am Markt unsere aktive Rolle in der Bereinigung verfügbare, niederländische Versandapotheke mit des Marktes unter Beweis.» einem relevanten Umsatz und erhöhten somit in – Olaf Heinrich – den Niederlanden die Markteintrittsbarriere. Die Medienkooperation mit dem bisherigen Besitzer Ströer, die wir gleichzeitig eingegangen sind, er- Oberhänsli — Gestützt auf Rechtsgutachten und möglicht uns eine deutschlandweite Sichtbarkeit Aussagen mehrerer Bundesministerien und Par- der Marke DocMorris. Die Entwicklung stimmt teien bin ich überzeugt, dass ein Rx-Versandverbot uns sehr zuversichtlich, die weitere Marktkonso- verfassungswidrig und europarechtlich inkom- lidierung erfolgreich zu nutzen. patibel ist. Vor diesem Hintergrund sind wir sehr Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 30 31
BERICHT | INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG INTERVIEW MIT DER GRUPPENLEITUNG | BERICHT Stichwort Wachstum: Welche Haupttrends trei- spielen werden. DocMorris entwickelt sich daher ben das Geschäft zudem vorwärts? Schritt für Schritt vom Arzneimittelhändler zum digitalen Gesundheitsberater. Oberhänsli — Eine immer älter werdende und auf Arzneimittel angewiesene Gesellschaft, der Welches sind die Ziele für 2018? stetig steigende Kostendruck im Gesundheitswe- sen sowie zunehmend informierte und sensibili- Oberhänsli — Wachstum, Wachstum, Wachstum. sierte Verbraucherinnen und Verbraucher werden das Wachstumspotenzial unterstützen. Hinzu Hess — Ausbau unserer profitablen Basis, des Ärz- kommt, dass die Digitalisierung im Gesundheits- tegeschäfts, und Wachstum im Retailgeschäft, sektor signifikant hinter anderen Konsumgüter- unter anderem durch den Ausbau der Kooperati- industrien zurückgeblieben ist, was an der deutlich onen mit den Versicherern, Medbase und Migros. geringeren Online-Durchdringung des Gesund- heitsmarktes zu sehen ist. Heinrich — Organisches Wachstum, aktive Teil- nahme an der Marktbereinigung und Integration Wie sehen Sie Ihre Chancen in Bezug auf die der übernommenen Unternehmen. Digitalisierung? Ziwica — Digitalisierung, neue Markteintritte und Hess — Mit dem weiteren Ausbau unseres digi- Internationalisierung dürften für Tempo sorgen. talen Serviceportfolios möchten wir Beiträge zur Die Herausforderung wird sein, am Ball zu bleiben Erhöhung der Therapietreue leisten, die Gesund- und unsere Leaderposition zu behaupten. heitsversorgung verbessern und die Kostenbe- lastung für das Gesundheitssystem und die Ver- sicherten verringern. Der Einsatz von Smart Data ist dabei ein wichtiger Faktor. Heinrich — Wir gehen davon aus, dass im deut- Legende zu nächster Doppelseite Seite 34 – 35 : schen Gesundheitssystem E-Health Anwendun- VERWALTUNGSRAT ( von links) : DR. HEINZ O. BAUMGARTNER, DR. LUKAS WAGNER, PROF. STEFAN FEUERSTEIN, gen, Plattformlösungen sowie ein digitales Medi- WALTER OBERHÄNSLI, VANESSA FREY, DR. THOMAS SCHNEIDER, kationsmanagement künftig eine zentrale Rolle PROF. DR. VOLKER AMELUNG. Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 32 33
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BERICHT | VERWALTUNGSRAT VERWALTUNGSRAT | BERICHT Verwaltungsrat Seit 2001 Inhaber der Schwerpunktprofessur für inter- nationale Gesundheitssystemforschung an der Medi- — Stefan Feuerstein (1955, Deutscher, Prof.), zinischen Hochschule Hannover. Zuvor Stationen an der Präsident des Verwaltungsrats Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg, und Vorsitzender des Gesellschafterrats der UNIMO- an der Columbia University, New York. Studium der Gerstner-Gruppe, Zug /Xanten. Diverse Aufsichts- bzw. Betriebswirtschaft an den Universitäten St. Gallen sowie Verwaltungsratsmandate. Bis 2010 Delegierter des Paris-Dauphine. Verwaltungsrats der Markant AG, zuvor Mitglied des — Heinz O. Baumgartner (1963, Schweizer, Vorstands der METRO AG, zuständig für strategischen Dr. oec. HSG) Konzerneinkauf sowie Food und Einzelhandel. Studium Seit 2008 CEO der Schweiter Technologies AG, Horgen. der Betriebswirtschaft. Seit 2001 Honorarprofessor Von 1996 bis 2013 CFO dieser Gesellschaft. Zuvor der Hochschule Worms. Controller bei Asea Brown Boveri Schweiz. Studium der — Walter Oberhänsli (1958, Schweizer, lic. iur., Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen. Rechtsanwalt), Delegierter des Verwaltungsrats, CEO — Vanessa Frey (1980, Schweizerin, Betriebs- Von 1996 bis 2011 Präsident des Verwaltungsrats, seit ökonomin, MSc in Finance) 2005 Delegierter des Verwaltungsrats und Vorsitzender Seit 2007 CEO und Verwaltungsrätin der Corisol der Gruppenleitung (CEO). Bis Ende 2004 selbststän- Holding AG, Zug. Diverse Verwaltungsratsmandate. diger Rechtsanwalt in Kreuzlingen (TG). Studium der Von 2004 bis 2006 im Corporate Finance Team der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich. Handelsbanken Capital Markets in Stockholm, danach — Thomas Schneider (1955, Schweizer, Dr. med.), Asset Managerin in Hongkong. Grundstudium in Vizepräsident des Verwaltungsrats Wirtschaftswissenschaften und Recht an der Univer- Facharzt FMH für Allgemeinmedizin, seit 1989 tätig als sität St. Gallen und Master of Science in International Hausarzt und Allgemeinpraktiker in Praxisgemeinschaft Economics and Business an der Stockholm School in Tägerwilen (TG). 2009 Standesrat der Ärztegesell- of Economics. schaft Thurgau, zuvor diverse standespolitische Aufgaben — Lukas Wagner (1951, Schweizer, Dr. med.) auf nationaler und kantonaler Ebene. Medizinstudium Facharzt FMH für Allgemeinmedizin, seit 1986 an der Universität Basel. mit eigener Praxis in Birsfelden (BL). 2002 bis 2010 — Volker Amelung (1965, deutsch-schweizerischer Präsident der Ärztegesellschaft Baselland. Medizin- Doppelbürger, Univ.-Prof. Dr. oec. HSG) studium an der Universität Basel. Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 36 37
BERICHT | GRUPPENLEITUNG GRUPPENLEITUNG | BERICHT Gruppenleitung männische Ausbildung und Studium der Betriebswirt- schaft an der Fachhochschule St. Gallen. — Walter Oberhänsli (1958, Schweizer, lic. iur., — Olaf Heinrich (1970, Deutscher, Wirtschafts- Rechtsanwalt), Delegierter des Verwaltungsrats, CEO ingenieur), Head Germany Von 1996 bis 2011 Präsident des Verwaltungsrats, seit Seit 2008 im Vorstand, seit 2009 CEO von DocMorris. 2005 Delegierter des Verwaltungsrats und Vorsitzender Seit 2017 zudem Head Germany innerhalb der der Gruppenleitung (CEO). Bis Ende 2004 selbststän- Zur Rose-Gruppe. Vor seiner Tätigkeit für DocMorris diger Rechtsanwalt in Kreuzlingen (TG). Studium der Geschäftsführer von Joint Ventures aus den Bereichen Rechtswissenschaften an der Universität Zürich. Retail (KarstadtQuelle/Redcats) und Pharma (Medco — Marcel Ziwica (1975, Schweizer, lic. oec. HSG), Celesio). Weitere internationale Senior-Management- Chief Financial Officer Positionen bei führenden Unternehmen aus den Be- Von 2001 bis 2014 in verschiedenen leitenden Funk- reichen Retail und Pharma. Studium des Wirtschafts- tionen bei der Zur Rose-Gruppe tätig, zuletzt als Leiter ingenieurwesens in Berlin und London. Finanzen und Controlling Gruppe sowie Mitglied der Geschäftsleitung Schweiz. Seit November 2014 CFO. Vor seiner Tätigkeit für die Zur Rose-Gruppe Consul- tant bei der Spider Innoventure AG in Tägerwilen (TG). Studium der Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen. — Walter Hess (1965, Schweizer, Betriebsökonom), Head Switzerland Seit 2015 Geschäftsführer Zur Rose, seit 2017 zudem Head Switzerland innerhalb der Zur Rose-Gruppe. Vor seiner Tätigkeit für die Gruppe externer Berater, u. a. für diverse Projekte von Zur Rose, zuletzt als Standortleiter der Zur Rose Pharma GmbH, Halle (Saale). Bis 2013 Geschäftsführer der Praevmedic AG, Zürich. Zuvor in verschiedenen leitenden Funktionen in internationalen Industrieunternehmen. Kauf- Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 38 39
BERICHT | GRUPPENLEITUNG GRUPPENLEITUNG | BERICHT GRUPPENLEITUNG 1. WALTER OBERHÄNSLI 2. MARCEL ZIWICA 3. WALTER HESS 4. OLAF HEINRICH 1. 2. 3. 4. Zur Rose-Gruppe | Kurzbericht 2017 40 41
25 Jahre Zur Rose
Editorial 46 Woher wir kommen 51 Wohin wir gehen 93 – 25 Jahre Zur Rose – Kontakt, Impressum 124
Editorial 46 47
«And no, we don’t know where it will wickelten Apps für die Erhöhung der Therapie- lead. We just know there’s something treue, engagierten uns in der Telepharmazie much bigger than any of us here.» und konnten schliesslich mit BlueCare einen — Steve Jobs — führenden Anbieter von vernetzenden Syste- men im Schweizer Gesundheitswesen erwer- ben. Als grösste Versandapotheke Europas ist die Zur Rose-Gruppe in der Lage, ihre lang- Unser Alltag wird immer digitaler – und das jährige Erfahrung zum Nutzen ihrer Kundin- Digitale damit alltäglicher. Menschen und nen und Kunden einzusetzen. Ich bin über- Unternehmen sind zunehmend vernetzt; die zeugt davon, dass die digitale Vernetzung für Welt ist dabei, ein datenbasierter Organismus alle grossen Mehrwert schaffen wird. zu werden, mit Auswirkungen in allen Lebens- Ganz herzlich bedanke ich mich bei allen bereichen – besonders auch im Gesundheits- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren wesen. Die «Akademien der Wissenschaften Einsatz. Ich freue mich, zusammen mit ihnen Schweiz» kamen 2015 in einem Whitepaper noch viele weitere Kapitel der Zur Rose- zur Überzeugung, dass die bessere Nutzung Geschichte zu schreiben. von Daten im Gesundheitswesen mehr als nur eine Option sei. Sie sei unerlässlich. Dem kann ich nur zustimmen. In unserer 25-jährigen Geschichte setzten wir schon früh- Walter Oberhänsli zeitig und erfolgreich auf digitale Prozesse. Mit dem elektronischen Rezept gelang es uns, die Patientensicherheit zu verbessern. Wir ent- 48 49
Woher wir kommen 51
Zur Rose Es war einmal eine fixe Idee — Die Geschich- te von Zur Rose beginnt im Zentrum von EIN WAHRES MÄRCHEN Steckborn. Für ein frisch erworbenes barockes Fachwerkhaus mit dem Namen Zur Rose sucht Walter Oberhänsli am Ende der 1980er-Jahre einen Mieter, und er hat sich in den Kopf ge- setzt, dass es eine Apotheke sein soll. So will er dem Haus einen neuen Sinn geben und seinem Von der Selbsthilfeorganisation für Wohnort wieder zu einer eigenen Offizin ver- selbstdispensierende Ärzte bis hin zur helfen. Doch beim Apothekergrossisten Gale- kotierten Aktiengesellschaft war Wachs- nica holt er sich eine Abfuhr: Steckborn sei viel tum in den vergangenen 25 Jahren ein zu klein und liege zudem in einem Selbstdis- prägendes Thema, jedoch nie Selbst- pensationsgebiet. zweck. Die damit erzielte Grösse ver- schaffte Zur Rose Marktmacht und be- Die Idee beginnt zu gären — In Gesprächen wirkte umfängliche Kostenvorteile, von mit seinem damaligen Hausarzt entsteht die denen unsere Kundinnen und Kunden, zündende Idee: Bei der Ärzteschaft der Region das Gesundheitssystem und die Gesell- hatte sich schon länger Unmut über das Kartell schaft profitieren. der Branche breitgemacht, die Medikamente über den Grosshandel ausschliesslich zu Fest- preisen anbietet, aber unter dem Tisch Rück- erstattungen nach freiem Ermessen tätigt. – Woher wir kommen – Der Rechtsanwalt Walter Oberhänsli gibt den 52 53
entscheidenden Impuls: In der Rechtsform einem Rechtsgutachten und dem Entwurf einer Aktiengesellschaft könnte eine Liefer- einer Klageschrift die Hersteller zwingt, Zur apotheke das Rabattverbot des Kartells durch Rose zu beliefern. Faktisch bedeutet das den Gewinnausschüttungen an Kundenaktionäre Gnadenstoss für das bis dahin herrschende kompensieren. Medikamentenkartell. Im März 1993 wird Zur Rose gegründet, drei Monate später erfol- Gründung der Zur Rose — 21 Ärzte können gen die ersten Ärztebelieferungen. für die standeseigene Selbsthilfeorganisation gewonnen werden, jeder Gründungsaktionär «Ich verfüge über Sportsgeist. zeichnet 10 000 Franken der neuen Gesell- Jedoch, was wir tun, schaft. Doch fast drei Jahre lang suchen ist im Sinne des Patienten Walter Oberhänsli und sein Hausarzt Alfred und stets rechtens.» Muggli nach einem Schweizer Apotheker. Walter Oberhänsli, CEO und Mitgründer Zur Rose Vergeblich, die einheimischen Pharmazeuten sagen alle ab. Erst mit einer Ausnahmebe- Ungebremstes Wachstum — Immer mehr willigung der Kantonsregierung findet sich Ärzte, mittlerweile aus der ganzen Deutsch- schliesslich ein deutscher Apotheker. schweiz, und sogar die Ärzteföderation FMH Das juristische Geschick und die Durch- werden zu Aktionären von Zur Rose. Der haltekraft von Walter Oberhänsli werden ein Umsatz von 2.5 Millionen Franken im ersten weiteres Mal gefordert, als er erwirkt, dass dem Jahr steigt bis 1998 auf knapp 60 Millionen, deutschen Apotheker die Mitgliedschaft im die Zahl der Aktionäre von 21 auf mehr als Schweizerischen Apothekerverein nicht ver- 400. Die Anzahl der Mitarbeitenden nimmt wehrt wird. Und ebenso, als er später mit ständig zu, man mietet Räume in der ortsan- 54 55
sässigen Nähmaschinenfabrik, doch die Enge in der Gesundheitsversorgung. Im selben Jahr bleibt ein ständiger Begleiter. «Wie weiter?», gründet Zur Rose zusammen mit der Polymed fragt sich Walter Oberhänsli, der gegen Ende Medical Center AG die auf Lieferservice spe- der 1990er-Jahre merkt, dass das bisherige zialisierte PolyRose AG als gemeinsames Toch- Geschäftsmodell an seine Grenzen stösst. terunternehmen. «Irgendwie sind wir Zur Rose geht online — Im Jahr 2001 zählt wie eine grosse Familie. die Schweiz zu den Ländern mit der grössten Schon ein gutes Gefühl, Computerdichte; auf jeden zweiten Einwoh- wenn man weiss, ner kommt ein PC. Die Zeit ist reif für den wofür man arbeitet.» Medikamentenversand an Patienten über eine Márcìa Teixeira Lourenço, Automatenkommissionierung, Zur Rose Suisse Versandapotheke. Während der Betrieb einer Versandapotheke im Kanton Thurgau bewil- Umzug nach Frauenfeld — Der Sprung zum ligt wird, ergiesst sich aus anderen Kantonen Grossisten erfordert den Wegzug vom ver- eine Flut von Anzeigen gegen das noch junge kehrstechnisch ungünstigen Steckborn. 1999 Unternehmen. Trotz einer Vielzahl von ju- bezieht Zur Rose im zentral gelegenen Frauen- ristischen Auseinandersetzungen gelingt es feld das neue Logistikzentrum. Dieses umfasst den Anzeigern nicht, den Versandhandel von 4 500 Quadratmeter und ist mit einer moder- Zur Rose zu verbieten. Auch dürfen Ärzte wei- nen Kommissionierungsanlage ausgerüstet. terhin Rezepte im Auftrag des Patienten an 70 Mitarbeitende, darunter viele Frauen, die Zur Rose elektronisch übermitteln und Aktien sich für den Wiedereinstieg ins Berufsleben von ihr besitzen. entschieden haben, verstehen sich als Pioniere 56 57
Die Gewinner der juristischen Auseinander- setzungen sind die Patienten, die fortan selber entscheiden können, wie sie ihre Medikamente erwerben, die Ärzte, die trotz Selbstdispensa- tionsverbot mit Zur Rose zusammenarbeiten dürfen, und schliesslich das ganze Gesund- heitswesen, welches dank der tieferen Preise relevante Einsparungen erzielt. Die ersten Krankenversicherer beginnen in der Folge, die Zur Rose Versandapotheke zu empfehlen. Auf Einkaufstour — Zur Rose ist Nummer zwei im Grosshandel mit Medikamenten und medizinischen Bedarfsartikeln – und sie ist auf Expansionskurs. Im Jahr 2001 übernimmt sie die Ogera AG und die Neue Kloster Apotheke AG, die Nummer drei im Schweizer Markt. Durch diese Übernahmen wächst der Markt- anteil im Geschäftsfeld der Belieferung von selbstdispensierenden Ärztinnen und Ärzten auf rund 30 Prozent. Zur Rose ist nun Markt- leader. 58 59
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Ausgezeichnet — 2001 wird Zur Rose für neue und innovative Lösungen aus dem Bereich Lo- gistikdienstleistung ausgezeichnet und erhält den Innovationspreis «Logistics Fulfillment» der Schweizerischen Gesellschaft für Logistik. 2002 folgt die nächste Auszeichnung: Zur Rose wird der Motivationspreis der Thurgauer Wirt- schaft, der «Thurgauer Apfel», verliehen. Schritt über den Bodensee — 2004, ein Jahr nach dem zehnjährigen Jubiläum von Zur Rose, beginnt die Geschäftstätigkeit ausser- halb der Schweiz mit der Gründung der Zur Rose Pharma GmbH im ostdeutschen Halle. Zwei Jahre später folgt die Übernahme der VfG Versandapotheke in Tschechien, die eben- falls den deutschen Markt bedient. Wie in der Schweiz muss sich Zur Rose dort heftiger An- griffe erwehren. Doch Walter Oberhänsli und seine Mitstreitenden sind überzeugt, dass sie mit ihrer Strategie Megatrends folgen, die sich in allen westlichen Ländern immer deutlicher manifestieren. 78 79
«Wir haben uns früh entschieden, 2009 verkauft Zur Rose, mittlerweile allei- eine extreme Lautstärke nige Besitzerin von Helvepharm, das Generika- zu schaffen — mit leuchtenden Farben Unternehmen zu 100 Prozent an sanofi-aventis. und markanter Typografie.» Die Schatulle von Zur Rose ist prall gefüllt für Andy Schneiter, Creative Director von schneiterpartner zukünftige Investitionen. Alles andere als generisch: Helvepharm — Ein Stern zum Greifen nah: DocMorris — Bereits im Jahr 2000 beteiligt sich Zur Rose Die Versandapotheke DocMorris – damals noch im Rahmen eines Joint Venture mit dem dritt- Konkurrentin – behauptet sich am besten im grössten deutschen Generikahersteller Stada wachsenden Kampf um Europas grössten Ge- Arzneimittel AG an der Helvepharm AG. sundheitsmarkt Deutschland. Über die Jahre Vier Jahre später folgt die Einführung des erarbeitet sich DocMorris eine hohe Bekannt- neuen Markenauftritts und der neuen Ver- heit. packungsgestaltung. Gemeinsam mit Ärzten, 2012 lässt der Vorstand der DocMorris- Apothekern und Patienten hatte Zur Rose Besitzerin Celesio im Markt verlauten, dass mit der Branding-Agentur schneiterpartner er DocMorris bis Ende Jahr verkaufen wolle. eine unverwechselbare Systematik für die Das Versandgeschäft, so denkt er, passe nicht Generika-Verpackungen entwickelt mit dem mehr in den strategischen Kontext. Nachdem Ziel, die Medikation sicherer zu machen. Der die Verhandlungen mit einer Investorengrup- Mehrwert für die Patienten schlägt im Markt pe schon weit vorangeschritten sind, stösst durch. In nur vier Jahren schnellt der Umsatz Zur Rose als letzte Interessentin hinzu und von 3.5 Millionen Franken auf 21.4 Millionen. bekommt überraschend den Zuschlag für die grösste Versandapotheke Europas. Die Mitar- 80 81
beitenden von DocMorris begrüssen diesen «Mit Zur Rose erhielten wir Entscheid, denn mit Zur Rose finden sie eine eine Besitzerin, Besitzerin, die wie sie bereit ist, die Apotheke die bereit war, die Apotheke neu zu erfinden und den Gegnern die Stirn zu neu zu erfinden und den Gegnern bieten. die Stirn zu bieten.» Michael Veigel, CFO, DocMorris Services machen den Unterschied — Von 2006 bis 2012 differenziert sich Zur Rose mit Zankapfel rezeptfreie Arzneimittel (OTC) — innovativen Serviceleistungen von den immer Im Jahr 2011 erweitert Zur Rose das Angebot zahlreicheren Konkurrenten. im Schweizer Versandgeschäft um rezeptfreie Dailymed: Patienten, die mehrere Medi- Arzneimittel (OTC). Die Kunden füllen bei der kamente kombiniert einnehmen müssen, kön- Bestellung einen Fragebogen zu Alter, Gewicht, nen diese mit Dailymed individuell auf den Grösse, Gesundheitszustand und Medikamen- jeweiligen Einnahmezeitpunkt portionieren. tenkonsum aus. Diese Angaben lässt die Ver- iPhone-App MediMemory Connect: Erin- sandapotheke durch externe Ärzte überprü- nert chronisch Kranke zum richtigen Zeit- fen. Sobald diese ein elektronisches Rezept punkt an die Einnahme und genaue Dosie- ausstellen, erfolgt der Postversand des Medi- rung der Medikamente und unterstützt die kaments. Damit erfüllt Zur Rose weit höhere Vorratshaltung. Anforderungen als Passanten-Apotheken, die HomeCare: Pflegefachfrauen von Zur Rose beispielsweise Produkte wie Kamillosan-Spray, unterstützen Patienten zu Hause bei der Ein- Dulix und Voltaren-Salbe ohne weitere Dia nahme, Infusion oder Injektion von Medika- gnose an ihre Kunden abgeben. menten. 82 83
Umso unverständlicher ist der Bundesge- Arztpraxen und Versicherer zu den Innova- richtsentscheid von 2015, der es Zur Rose tionstreibern im digitalen Gesundheitswesen verbietet, rezeptfreie Medikamente zu vertrei- zählt. Die Vision ist ein Healthcare-Hub, der ben, wenn kein ärztliches Rezept auf Basis allen Beteiligten im Gesundheitswesen eine eines persönlichen Kontakts zwischen Arzt offene Plattform bietet. und Patient vorliegt. Zur Rose Group — Zur Rose AG wird 2015 Megatrend E-Health — Digitale Technologien in Zur Rose Group AG umfirmiert. Der neue spielen bei der Gesundheitsversorgung eine Name vermittelt den Gesellschaftszweck als immer wichtigere Rolle. Bereits mit der Ein- Dachorganisation. führung des elektronischen Rezepts im Jahr 2001 leistet Zur Rose einen bedeutenden Bei- DocMorris zieht um — 2015 bezieht Doc- trag zur Patientensicherheit. Die fatalen Folgen Morris das neu erstellte Verwaltungs- und von unleserlich geschriebenen Rezepten gehö- Logistikgebäude im Businesspark Aventis. ren der Vergangenheit an. 30 000 m2 Gesamtfläche, wovon 5 500 m2 für 2014 lanciert DocMorris mit der Deutschen die Verwaltung und 10 000 m2 für die Logis- Telekom eine Telepharmazie-Anwendung. Pa- tik, sowie Landreserven in angrenzender Nähe tienten können sich bei einem DocMorris-Apo- erhöhen die Flexibilität im Hinblick auf neue theker audiovisuell über Medikamente und Märkte und Wachstum. ihre Wirkung informieren und beraten lassen. Mit der BlueCare AG übernimmt Zur Rose Zurück zu den Wurzeln — Zur Rose eröffnet im Jahr 2015 ein Unternehmen, das mit sei- 2016 ihren ersten Flagshipstore in der Welle 7 nen Kommunikationslösungen für Ärztenetze, in Bern. Mit der Filiale verknüpft Zur Rose das 84 85
Versand- und das stationäre Geschäft im Rah- Unmittelbar nach der Entscheidung for- men einer Omni-Channel-Strategie. Die Kun- dert die Bundesvereinigung Deutscher Apo- den von Zur Rose profitieren im Flagshipstore thekerverbände (ABDA) ein Verbot des Ver- von den gleichen Konditionen wie in der Ver- sandhandels mit verschreibungspflichtigen sandapotheke, wo rezeptpflichtige Medikamen- Arzneimitteln (Rx); der deutsche Gesundheits- te durchschnittlich 12 Prozent und rezeptfreie minister Hermann Gröhe legt im Dezember Arzneimittel 10 bis 35 Prozent günstiger sind 2016 einen Referentenentwurf für ein Gesetz als in herkömmlichen Apotheken. zum Verbot des Rx-Versandhandels vor. Das Gesetzesvorhaben konnte allerdings nicht ver- EuGH erlaubt «Boni auf Rezept» — Der Euro- abschiedet werden. Es sollte sich zeigen, dass päische Gerichtshof in Luxemburg bestätigt die Verbotsthematik auch ein Jahr später noch im Oktober 2016 mit seinem Urteil, dass Boni präsent ist. auf Rezept für EU-ausländische Versand apotheken zulässig sind. Die Ausweitung der Erfolgreicher Börsengang — Am 6. Juli 2017 Festpreisbindung für rezeptpflichtige Medika- wird die Zur Rose Group AG an der SIX mente in Deutschland auf EU-ausländische Swiss Exchange kotiert. Die Versandapothe- Versandapotheken aus dem Jahr 2012 verstösst ke nimmt mit ihrem Börsengang die maximal gegen europäisches Recht. Das Gericht stellt angestrebte Summe von 233 Millionen Fran- fest, dass ein einheitlicher Abgabepreis für ver- ken ein. Die der Zur Rose-Gruppe zufliessen- schreibungspflichtige Arzneimittel in Deutsch- den Mittel sollen vor allem für den Ausbau der land eine nicht gerechtfertigte Beschränkung Marktführerschaft in Deutschland und die des freien Warenverkehrs darstellt. Das Urteil internationale Expansion in neue Märkte ge- ist für DocMorris wegweisend. nutzt werden. 86 87
Zur Rose in der Migros — Zur Rose verstärkt ihre stationäre Präsenz und eröffnet kurz nach dem Börsengang in der Migros an der Berner Marktgasse die erste Shop-in-Shop-Apotheke in der Schweiz. Das Konzept ist erfolgreich, und die Möglichkeit des kanalübergreifenden Einkaufens erfreut sich grosser Beliebtheit. 2018 werden zusätzliche Shop-in-Shop-Apo- theken in weiteren Migros-Filialen folgen. Auf Expansionskurs — Die Zur Rose-Gruppe beschleunigt ihren Expansionskurs und über- nimmt im Dezember 2017 die Eurapon Phar- mahandel GmbH. Eurapon erzielt im Jahr zuvor mit ihrem auf rezeptfreie Medikamente ausgerichteten Versandgeschäft einen Umsatz von 52 Millionen Euro. Ebenfalls im Dezember wird die Versand- apotheke Vitalsana mit einem Gesamtumsatz im Jahr 2016 von 30 Millionen Euro über- nommen. Die Zur Rose-Gruppe baut mit die- sen Schritten ihre europäische Marktführer- schaft weiter aus. 88 89
59 60 61 74 75 76 — 77 62 — 63 64 65 78 89 59, 60 Apotheke Zur Rose – Steckborn 61 «Thurgauer Apfel» 62 — 63 Bodensee – Steckborn 66 — 67 68 — 69 64 Zur Rose Pharma – Halle 65, 66 — 67 Zur Rose-Flagshipstore – Bern 68 — 69 Zur Rose – Frauenfeld 70 DocMorris – Heerlen 71 Zur Rose Pharma – Halle 72 — 73 DocMorris – Heerlen 74, 75 Zur Rose – Frauenfeld 76 — 77 DocMorris – Heerlen 78 Helvepharm Packaging 89 Bodensee – Steckborn 70 71 72 — 73
Wohin wir gehen 93
Roundtable WAS IST DIGITALISIERUNG? BLICK IN DIE ZUKUNFT Joël Luc Cachelin – Es gibt wohl so viele Verständnisse von Digitalisierung wie Leute, die darüber reden. Für mich sind drei Prozesse entscheidend: erstens Vernetzung, zweitens Digitalisierung ist in aller Munde, und eine gestiegene Transparenz und drittens kein Tag vergeht, ohne dass darüber in Selbstorganisation. Aber natürlich sehen den Medien Deutungsversuche zu lesen, wir in allen drei Entwicklungen auch einen zu hören und zu sehen sind. Die Politik- Gegentrend. philosophin, Publizistin und Beraterin Dr. Katja Gentinetta, der langjährige Georg Kohler – Digitalisierung bedeutet Ordinarius für Philosophie an der Uni- also auf alle Fälle Komplexitätszunahme; versität Zürich Dr. Georg Kohler sowie Transparenz könnte auch zu viel Sonne zu- der Hochschuldozent und Geschäftsfüh- lassen, man würde geblendet – ein Beispiel rer der «Wissensfabrik» Dr. Joël Luc für «die Dialektik der Digitalisierung». Oder Cachelin versuchen in einem Gespräch, Selbstorganisation, das ist ja für Liberale und die Auswirkungen der scheinbar allmäch- Libertäre eine besonders schöne Vorstellung; tigen Algorithmen auf Gesellschaft und was wäre ihr Nachteil? Politik zu ergründen. Cachelin – Wir sehen gegenwärtig zwei Muster der Komplexitätsreduktion. Gleichzei- – Wohin wir gehen – tig zur Selbstorganisation ist es das Erstarken 94 95
von hierarchischen Strukturen und traditi- verändert sich, sie wandert von der Spitze der onellen Geschlechterbildern, die Rückkehr Pyramide weg zu den Knoten der Netzwerke, autoritärer Religionen und Staatsführer. Hier die die Kontrolle über die Daten und die in wird die Verantwortung für die Reduktion Zukunft immer wichtiger werdenden Metada- von Komplexität nicht ans «Selbst», sondern ten haben. nach oben delegiert. Gentinetta – Das mag sein, doch die Netz- Katja Gentinetta – Ich gehe weiter und knoten bleiben zu einem guten Teil das Ei- befürchte ein «Ende des Selbst». Das, was gentum der Datengiganten. Damit wird die wir Selbstbestimmung und Selbstbewusst- Macht der Datenbesitzer nicht gebrochen. sein nennen, wird durch die Digitalisierung völlig untergraben. Die Digitalisierung ist Cachelin – Richtig. Durch Daten und Me- allgegenwärtig, in den Unternehmen, in der tadaten entstehen neue Informationsasym- Wirtschaft, in meinem Tun und auch in mei- metrien und mit ihnen möglicherweise ein nem Denken. Damit tritt an die Stelle meiner neuer Feudalismus. In den Megakonzernen Selbstbestimmung die von mir nicht kontrol- konzentriert sich nicht nur viel Geld, sondern lierbare Macht derer, die über meine Daten, auch Wissen und Macht. Trotzdem stärkt die die sie aufschlüsselnden Algorithmen und Digitalisierung natürlich potenziell auch die damit über die daraus ersichtlichen subtils- Dezentralisierung – etwa in Form der Sharing ten Informationen verfügen. Economy oder der Blockchain-Technologie. Cachelin – Sicher, das Netz ist nicht frei Kohler – Wo sitzt die Macht? Bei GAFA von Macht und Hierarchie. Aber die Macht natürlich, Google, Amazon, Facebook und 96 97
Apple. Aber was erlaubt Digitalisierung ganz generell gedacht? Simpel formuliert: Zu- nächst einmal, dass man alle Informationen zu sammeln in der Lage ist (und zwar uner- hört rasch!), die einen interessieren. Die Folge ist, dass wir für alle denkbaren Entscheidun- gen erstens mehr wissen, und zweitens sehr viel schneller zu Schlüssen kommen. Gentinetta – Digitalisierung beschleunigt Entscheidung nicht nur, durch sie erhalten Entscheidungen eine völlig andere Qualität. Wo nicht mehr der Mensch der kontrollierende Faktor ist, sondern die künstliche Intelligenz, bleiben Begründung und Argumentation auf der Strecke, es herrschen allein Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten. Im Gespräch (von links): Prof. Dr. Georg Kohler, Dr. Katja Gentinetta, Dr. Joël Luc Cachelin. 98 99
Kohler – Somit wären wir schon weit über man dieses soziale Grossproblem? Mit einem «1984» hinaus, vermutlich bei «HAL», dem bedingungslosen Grundeinkommen? gottgleichen Computer in Stanley Kubricks «Space Odyssey». Der Ersatz früherer Infor- Gentinetta – Der Ansatz der Bedingungs- mationstechniken und die daraus resultie- losigkeit ist falsch. In einer sozialen Gemein- renden Vorteile wirken sich nicht nur in der schaft müssen wir immer noch davon ausgehen, ökonomischen Organisationswelt aus. In der dass Solidarität eine wechselseitige Verpflich- politischen Welt schaffen sie die berüchtig- tung ist und sein muss. Schüttet ein Staat ein te «Digital Divide», die Unterscheidung der bedingungsloses Grundeinkommen aus, hat Menschen in jene, die mitkommen, und in er keine Möglichkeit mehr, vom Einzelnen Ge- jene, die nicht mitkommen. genleistungen oder irgendwelche Pflichten einzufordern. Das bedingungslose Grundein- WER SIND DIE GEWINNER UND DIE kommen ist keine Lösung. Dass sie auch von VERLIERER DER DIGITALISIERUNG? den GAFAs propagiert wird, erstaunt nicht: Sie wären nicht nur von sozialen Folgeleistun- Kohler – Es ist klar: Nicht alle werden in gen befreit, sondern hätten überdies brave, ja der Lage sein, an den Vorteilen der neuen willenlose Datenlieferanten, für die gesorgt ist. Techniken und Technologien teilzuhaben. Und so werden wir nicht mehr nur 10 Prozent Kohler – Die politische Seite der Digitali- Arme haben, sondern vielleicht 20 oder 25 sierung ist nur das eine, das andere sind ihre Prozent der Bevölkerung, die quasi sitzen blei- Folgen in der individualisierten Teil-Lebens- ben – und jetzt spreche ich nur von der westli- welt. Bösartig formuliert, kann man sagen, chen beziehungsweise der OECD-Welt. Wie löst dass Digitalisierung zur «Oblomovisierung» 100 101
führt, dass die Leute immer fauler werden; so geht vergessen, dass das Internet das Leben der schlaue Roboter und das Internet der Din- einfacher, intensiver, friedlicher und ökolo ge haben alles schon geleistet, wofür wir uns gischer machen kann. früher mit Hirn, Herz und Hand anstrengen mussten. Gentinetta – Kann, muss aber nicht! Ich Das Problem, das bis jetzt überhaupt noch sehe ebenfalls Gegentrends, nur vermute ich, nicht thematisiert worden ist, ist die erhöhte, dass diejenigen, die über die wirkliche Kom- enorme Verletzbarkeit unserer digitaltechnisch petenz im digitalen System verfügen, bereits gesteuerten Welt. Denn diese Steuerungen einen riesigen Vorsprung haben, dem auch das beruhen ja nicht bloss auf «Wolken», sie sind Regelsystem nur hinterherhinken kann. massiv abhängig von zerstörbarer Hardware. Cachelin – Vielleicht haben Sie ja recht, Cachelin – Es ist nicht gesetzt, dass die dennoch wäre einfach zu resignieren das Aller- Digitalisierung nur zur Zentralisierung führt. schlimmste. Wir sollten mitdiskutieren und Wenn wir auf Smartgrids, Blockchain, digi- mitsteuern. tale Währungen, die Sharing Economy und Communities setzen, stärkt die Technologie Kohler – Die Frage ist, wer dieses «Wir» das Prinzip der Dezentralisierung. Damit wird ist. Die EU versucht mit ihrer Gesetzgebung, das System auch weniger verwundbar. Im Erinnerung und Besitz im Netz zu regeln. In Moment dominieren negative Visionen der welchem Masse sich solche Regelungen tat- Zukunft, und zweifellos sind die Ängste vor sächlich durchsetzen lassen, wissen wir noch digitalen Regimes und Monopolen nicht aus nicht. Einfach werden sie jedenfalls nicht zu der Luft gegriffen. Das finde ich schade, denn handhaben sein. 102 103
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