AMNESTY - JUNG UND UNGEBREMST - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
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© AI EINLADUNG ZUR JAHRESVERSAMMLUNG 2020 Die Jahres- und Generalversammlung (GV) 2020 findet am 2. und 3. Mai 2020 im Weltpostverein in Bern statt. Die Anmeldung ist ab Februar 2020 und bis am 22. März 2020 möglich. Alle weiteren Informationen: www.amnesty.ch/gv «Wie werden die Menschenrechte durch die Klima- krise beeinflusst? Welche Rolle nehmen der Staat, die Konzerne und die Zivilgesellschaft dabei ein?» Diesen und weiteren Fragen widmet sich die Jahres- und Generalversammlung der Schweizer Sektion von Amnesty International 2020. An einer Podiumsdiskussion werden FachexpertIn- nen aktuelle und zukünftige Probleme in Zusam- menhang mit der Klimakrise und den Menschen- rechten diskutieren. Bringen auch Sie Ihre Meinung ein und nehmen Sie an spannenden Workshops und einer emotionalen Aktion teil! Zur öffentlichen Podiumsdiskussion sind alle herz- lich eingeladen. Werden Sie heute noch Mitglied, um an der Generalversammlung abstimmen zu können. WIE DIE KLIMAKRISE DIE MENSCHENRECHTE BEEINFLUSST Engagieren Sie sich im Vorstand von Amnesty Schweiz! Wenn Sie Lust haben, Amnesty Schweiz mitzugestalten, gut Französisch und Deutsch verstehen, sich während etwa 200 Stunden pro Jahr engagieren können und bereits Mitglied sind, dann freuen wir uns über Ihr E-Mail. Wir suchen insbesondere Personen mit Interesse und Kompetenzen für die Finanzen der Sektion. Bitte melden Sie sich bis Mitte Januar 2020 via info@amnesty.ch.
Titelbild INHALT_DEZEMBER 2019 Das Graffiti hat der Künstler Jadore Tong in Berlin gesprayt. Auf dem Titelbild sind junge Mitglieder von Amnesty Deutschland zu sehen. © Sarah Eick AKTUELL 20 «Ständig werden neue Generationen erfunden» Interview mit dem Historiker und Experten 4 Good News für Jugendkultur Bodo Mrozek. 6 Aktuell: Die Hundertste 22 Getrennte Welten in Belfast 7 Nachrichten Fotoessay von Toby Binder über die Sorgen Jugendlicher in Belfast. 9 Brennpunkt Ja zum Schutz vor Hass und Hetze 26 Bleiben oder gehen 30 Jahre nach dem Mauerfall engagieren sich junge Menschen in Ostdeutschland gegen Rechtsextreme. DOSSIER 28 Was besser werden muss Jugendliche Fünf Fakten zu Menschenrechtsverletzungen, unter welchen Minderjährige leiden. 30 Wissen ist Leben Die Jugend Brasiliens geht für ihr Recht auf Bildung auf die Strasse. 32 «Wir haben so viel Energie» Drei AktivistInnen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen, was sie motiviert. 10 Wir sind dran KULTUR 12 Sie tun was Porträts von drei jungen Menschen aus der Schweiz, 35 Film die sich für mehr Gerechtigkeit einsetzen. Den Blick weiten 36 Buch 15 Das ist erst der Anfang Eine Jugend in Guantánamo Jugendliche wollen mitbestimmen. 16 Haft fürs Helfen Sarah Mardini und Seán Binder droht Gefängnis für ihre Menschlichkeit. CARTE BLANCHE 18 Das Aufbegehren der Jugend In afrikanischen Ländern wehren sich Junge 37 Charles Nguela gegen alte Eliten. Mehr Fluch als Segen Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 100, Dezember 2019. Redaktion: Carole Scheidegger (cas, verantw.), Manuela Reimann Graf (mre). MitarbeiterInnen dieser Nummer: Markus Bickel, Toby Binder, Nadia Boehlen, Lea De Gregorio, Franziska Grillmeier, Hannah El-Hitami, Emilie Mathys, Anna Monsberger, Charles Nguela, Reto Rufer, Bettina Rühl, Andrzej Rybak, Felix Wellisch. Korrektorat: Doris Yannick Héritier, Bern. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Auf nachhaltig produziertem Papier gedruckt, Schutzhülle überwiegend aus nachwach- senden Rohstoffabfällen hergestellt. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Sie kann als E-Paper unter issuu.com/magazin-amnesty-schweiz gelesen werden. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 17. Januar 2020. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sektion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty International, Schweizer Sektion. Spenden- konto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktionsadresse: Magazin «AMNESTY», Redaktion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 84 000 (dt.). www.amnesty.ch facebook.com/amnesty.schweiz twitter.com/amnesty_schweiz www.instagram.com/amnesty_switzerland International: www.amnesty.org 3 AMNESTY Dezember 2019
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N Beschwingt und zuversichtlich: So fühle ich mich regelmässig nach Begegnungen mit jungen Amnesty-Mitgliedern. Sie stel- len in ihrer Freizeit neben Schule, Lehre oder Studium GOO Evelyn Hernández freigesprochen EL SALVADOR – Evelyn Hernández wurde drei Jahre nach Antritt ihrer Haftstrafe vom Vorwurf des Mordes freigesprochen. Nachdem die jun- ge Frau am 6. April 2016 zu Hause ohnmächtig geworden war, wurde sie ins Krankenhaus gebracht, wo sie eine Fehlgeburt erlitt. Evelyn Hernández gab später an, dass sie durch eine Vergewaltigung schwan- ger geworden sei. Aus Angst vor möglichen Konsequenzen habe sie die Vergewaltigung nicht zur Anzeige gebracht. Das Krankenhauspersonal meldete Evelyn Hernández bei der Polizei. Sie wurde festgenommen Aktionen auf die Beine, sie und später wegen Mordes zu 30 Jahren Haft verurteilt. 2018 hob ein sammeln Unterschriften oder höheres Gericht das Urteil auf und ordnete eine Neuverhandlung an. Am 19. August 2019 wurde die inzwischen 21-Jährige von der Anklage veranstalten Konzerte. Wie gewissenhaft sie das tun wegen Mordes freigesprochen. und wie reflektiert sie sind, beeindruckt mich. Die Ak- © Keystone/EPA/Rodrigo Sura tivistinnen und Aktivisten von Amnesty Youth sind solidarisch mit Menschen, die vielleicht auf der ande- ren Seite des Erdballs leben, deren Schicksal ihnen aber nahegeht. Seit Greta Thunbergs Schulstreik en- gagieren sich viele von ihnen zusätzlich für den Kli- maschutz. Ich finde es nicht fair, wie rasch bei der «Klimajugend» nach Fehlern gesucht wird: Haben sie Abfall an einem Festival liegen lassen? Nehmen sie nicht vielleicht doch noch ab und zu den Flieger? Evelyn Hernández (links) und ihre Anwältin nach dem Freispruch. Schliesslich haben nicht die Jungen die Klimaproble- Ahmed H. endlich Ihm drohte die Abschiebung me verursacht. Warum sollten sie die Suppe nun al- bei seiner Familie nach Syrien, denn zunächst hat- lein auslöffeln? Viele Jugendliche haben zudem UNGARN/ZYPERN – Ahmed H. durf- ten es die zypriotischen Behörden durchaus persönliche Konsequenzen gezogen. In die- te endlich nach Zypern reisen abgelehnt, ihm die Wiedereinreise und seine Familie wiedersehen, nach Zypern zu gestatten. sem Magazin, das wir gemeinsam mit den Kollegen nachdem er fast vier Jahre von und Kolleginnen in Deutschland und Österreich reali- seiner zypriotischen Frau und sei- Keine Abschiebung nen beiden Töchtern getrennt USA – Die Transgender-Aktivistin siert haben, berichten wir vom Einsatz junger Men- war. Im September 2015 war der Alejandra Barrera suchte 2017 in schen an verschiedenen Orten der Erde. Wir ver- syrische Flüchtling nach einer den USA Schutz vor tätlichen und Auseinandersetzung mit Polizei- sexualisierten Angriffen in ihrem schweigen auch die Gefahren nicht, denen sie kräften an der Grenze in Ungarn Heimatland El Salvador. Kurz nach begegnen. Ich hoffe, dass wir Sie trotzdem mit dem inhaftiert worden. In einem skan- ihrer Ankunft kam sie in Abschie- Optimismus anstecken können, den diese jungen dalösen Prozess wurde er zu behaft und wurde dort bis zum zehn Jahren Haft wegen «Mittä- 6. September 2019 festgehalten, Leute bei mir wecken. terschaft bei einer terroristischen obwohl die Gesundheitsversor- Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre und einen schö- Handlung» verurteilt. Am 19. Ja- gung nicht ausreichend war und nuar 2019 wurde er unter Aufla- sie fünf Anträge auf eine Freilas- nen Jahreswechsel. gen freigelassen und seither in ei- sung aus humanitären Gründen ner ungarischen Hafteinrichtung gestellt hatte. Das Gericht ordnete Carole Scheidegger, verantwortliche Redaktorin für Asylsuchende festgehalten. nun einen Abschiebestopp an. 4 AMNESTY Dezember 2019
AKTUELL_GOOD NEWS D NEWS © paparazza / shutterstock.com nachdem er friedlich gegen die Annexion der Krim durch die Russische Föderation protestiert hatte. Er wurde am 25. August 2015 zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Der Prozess gegen ihn war in vielfacher Hinsicht unfair. Seine Strafe musste er in einem sie habe einen Schwanger- schaftsabbruch vornehmen las- sen, immer bestritten. Ihre Ver- haftung habe vielmehr mit ihren kritischen Artikeln zu tun, sagte Raissouni bei ihrer Verurteilung im September. Raissounis Fall hatte in Marokko und im Ausland IN KÜRZE MAURETANIEN – Das Verfahren gegen die beiden Blogger Cheikh Jiddou und Abderrahmane Weddady wurde im Juli einge- stellt. Die beiden waren im März in der mauretanischen Straflager verbüssen. Während Empörung ausgelöst. Der Verlob- Hauptstadt Nouakchott festge- der Haft trat er in einen Hunger- te der 28-Jährigen und ihr Gynä- nommen worden. Sie hatten streik, den er nur knapp überleb- kologe wurden ebenfalls freige- auf Facebook Kommentare te. Mit ihm zusammen wurde lassen. Ihnen wurde vorgeworfen, gepostet, in denen sie Regie- auch der Student und Aktivist ihr geholfen zu haben. rungsvertretern vorwarfen, rechts- Aleksandr Kolchenko freigelassen. widrig Vermögen angehäuft © Private und ins Ausland gebracht zu Kritische Journalistin haben. Oleg Sentsov und seine Tochter nach begnadigt seiner Freilassung. MAROKKO – Die Journalistin Hajar Raissouni, die wegen eines an- ARGENTINIEN – Am 2. Februar Oleg Sentsov freigelassen geblichen illegalen Schwanger- 2019 wurde die peruanische RUSSLAND − Der ukrainische schaftsabbruchs und ausserehe- Staatsbürgerin Vanessa Gómez Regisseur Oleg Sentsov kam lichem Geschlechtsverkehr zu Cueva mit ihrem zweijährigen Anfang September im Rahmen einem Jahr Gefängnis verurteilt Kind aus Argentinien abgescho- eines Gefangenenaustauschs worden war, wurde von König ben, wo sie über 15 Jahre gelebt frei. Sentsov war im Mai 2014 auf Mohammed VI. begnadigt und hatte. Ihre beiden anderen Kin- Hajar Raissouni wurde begnadigt, der Krim festgenommen und aus dem Gefängnis entlassen. der, die die argentinische Staats- was allerdings nicht einem Freispruch nach Russland gebracht worden, Die 28-Jährige hatte den Vorwurf, gleichkommt. bürgerschaft haben, musste Gómez Cueva zurücklassen. Mehr als 30 000 Unterschriften gegen sexuelle Gewalt Nach einer Grundsatzentschei- SCHWEIZ – Diesen Frühling lancierte Amnesty Schweiz eine Kampagne gegen sexuelle Gewalt. Eine dung des Nationalen Migrations- Umfrage in Zusammenarbeit mit dem Institut gfs.bern hatte gezeigt, dass in der Schweiz jede fünfte amts dürfen sie und ihr Sohn Frau mindestens einmal in ihrem Leben ungewollte sexuelle Handlungen erlebt hatte, 12 Prozent gaben nun nach Argentinien zurück an, Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen erlitten zu haben (siehe dazu auch das AMNESTY- kehren. Magazin vom Juni 2019). Mit einer Petition fordert Amnesty die Schweizer Behörden auf, die notwendi- gen Massnahmen zu ergreifen, um Frauen besser vor sexueller Gewalt zu schützen und Gerechtigkeit TUNESIEN – Am 19. September für die Opfer zu erlangen. Nun konnten am 28. November mehr als 30 000 Unterschriften an Bundes sprach ein tunesisches Gericht rätin Karin Keller- die 18-jährige Aktivistin Maissa Sutter übergeben al-Oueslati von allen Anklage- werden. punkten frei. Die Polizei hatte Maissa al-Oueslati und ihren 16 Jahre alten Bruder willkürlich Mit vier kurzen, aufsehen- inhaftiert, weil sie einen Protes- erregenden Spots von tierenden gefilmt hatten, der sich Regisseurin Barbara Miller vor einer Polizeiwache in Brand (#Female Pleasure) lancierte setzen wollte. Aufgrund der kons- Amnesty die zweite Phase truierten Vorwürfe hätte sie zu der Kampagne, um zu verdeutlichen, dass ein Ja vier Jahren Haft verurteilt werden vor dem Sex absolut not können. wendig ist. 5 AMNESTY Dezember 2019
AKTUELL_DIE HUNDERTSTE ai_magazin_46_06 12.05.2006 11:20 Uhr Seite 1 ai_mag_61_teil_1 2.2.2010 12:32 Uhr Seite 1 amnesty AMNESTY Nr. 46 Mai 2006 AMNESTY Nr. 61 Februar 2010 Nr. 94 72 Dezember Juni 2012 2018 PAKISTAN Die Macht der Taliban ist ungebrochen DOSSI ER SÜDSUDAN MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE Magazin der Menschenrechte Widerstand für die Freiheit Kurz vor den Wahlen droht neuer Krieg EIN JAHR OBAMA KLIMAWANDEL WO BLEIBT DER WANDEL? UND MENSCHENRECHTE RENDITIONS LO R D O F WA R ALBANIEN WM-GASTGEBER RUSSLAND Entführen und foltern Kugel im Kopf Täter lernen, wie es ohne Gewalt geht Wenig Freiraum für Homosexuelle Sie halten die hundertste Ausgabe von «AMNESTY – MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE» in Händen. Wobei: Tatsächlich hat Amnesty Schweiz schon deutlich mehr Magazine herausgegeben. Doch im Juni 1997, bei einem Layout- und Konzeptwechsel, stieg man auch auf eine neue Numme- rierung um. Und seither sind mit dieser Ausgabe 100 Magazine erschienen. Die runde Zahl ist Anlass für einen herzlichen Dank an Sie, unsere Leser und Leserinnen, für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung. Und wir danken all jenen, die über die Jahre zum AMNESTY-Magazin und seinen Vorläufern beigetragen haben, sei es als Freiwillige oder als Angestellte. Mit dabei ist seit 1979 unser Grafiker Oliver Lütolf, ein paar Jahre später stiess Cordula Müller dazu. Sie geben unserem Heft seine Gestalt. Wir freuen uns auf die nächsten Hundert! 6 AMNESTY Dezember 2019
AKTUELL_NACHRICHTEN der Diskussion forderte. Der Opfer des © anasalhajj / shutterstock Vorwand? Es sei notwendig, sich «Kampfs gegen Drogen» vertieft mit dem Vorschlag von BANGLADESCH – Die Behörden von Bundesrätin Karin Keller-Sutter Bangladesch haben allem An- zu befassen, der sich auf eine schein nach mehrere Hundert minimale Berichterstattungs- Menschen unter dem Deckman- pflicht von Unternehmen über tel des «Kampfs gegen Drogen» die Folgen ihres Wirtschaftens für getötet, wie Untersuchungen von Menschenrechte und Umwelt be- Amnesty International ergeben schränkt. Dieses Manöver verhin- haben. 2018 wurden dreimal so derte, dass sich die StänderätIn- viele Menschen getötet wie im nen vor den Wahlen zu diesem Jahr zuvor. Zu den Vorwürfen im Mit Waffen aus dem Westen versorgen die Vereinigten Arabischen Emirate Thema äussern mussten. Der Zusammenhang mit den mut- jemenitische Milizen, denen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Protestbrief der Koalition hinter masslichen aussergerichtlichen der Konzernverantwortungs Hinrichtungen zählen ausser- Waffenhandel I initiative brachte in nur 2 Tagen dem Fälle von Verschwindenlas- JEMEN – Ein von Amnesty International veröffentlichter Bericht zeigt, mehr als 50 000 Unterschriften sen und das Fälschen von belas- wie führende Rüstungsunternehmen in Kauf nehmen, dass mit ihren zusammen, konnte die Verschie- tendem Beweismaterial durch Waffen Menschenrechtsverletzungen begangen werden, indem sie bung aber nicht verhindern. die Strafverfolgungsbehörden. ihre Produkte in einige der unsichersten und gewaltreichsten Regio- © Minzayar Oo - Panos / Amnesty International nen der Welt liefern. So werden Staaten wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die am Jemen-Krieg beteiligt sind, durch Waffenlieferungen unterstützt, obwohl sie mutmasslich für eine Vielzahl an Kriegsverbrechen in dem Konfliktgebiet verantwortlich sind. Für den Bericht hat Amnesty International 22 Rüstungsunter- nehmen dazu befragt, wie sie ihrer Verantwortung zur Wahrung der Menschenrechte nach international anerkannten Standards nach kommen. Keines der antwortenden Unternehmen konnte hinreichend erklären, wie es seiner Verantwortung für die Menschenrechte nachkommt, oder eine angemessene Sorgfaltspflicht nachweisen; 14 Unternehmen reagierten überhaupt nicht. Schweizer Firmen wur- den in der Untersuchung nicht befragt. Waffenhandel II Saudi-Arabien und in die Verei- SCHWEIZ – Die Schweiz hat in den nigten Arabischen Emirate. Ex- ersten 9 Monaten dieses Jahres portiert wurde auch nach Brasili- Kriegsmaterial im Wert von fast en, Malaysia, Bahrain und einer halben Milliarde Franken Pakistan. Die überwiegend dem Christentum angehörende ethnische Gruppe der Kachin exportiert. Das sind beinahe lebt zum Teil seit vielen Jahren als intern Vertriebene in Flüchtlingscamps in 200 Millionen Franken mehr als Konzernverantwortung: Myanmar, wie diese Frau und ihre Kinder. in der Vorjahresperiode und ent- Es geht nicht vorwärts spricht somit einer Steigerung SCHWEIZ – Der Ständerat hat sich Angriffe gegen Minderheiten um 60 Prozent. Die grössten bis Redaktionsschluss immer MYANMAR – Die myanmarische Armee geht weiter brutal gegen ethni- Abnehmer von Schweizer Kriegs- noch nicht zum Gegenvorschlag sche Minderheiten vor: Recherchen von Amnesty im März und im material waren Dänemark und zur Konzernverantwortungsinitia- August dokumentieren gravierende Menschenrechtsverletzungen und Deutschland. Es wurden auch tive geäussert. Am 26. Septem- Gräueltaten gegen Angehörige der Kachin, Lisu, Shan und Ta’ang im wieder Waffen in Länder verkauft, ber folgte er mit 24 zu 20 Stim- Norden Myanmars. Zivilpersonen werden willkürlich von Strafverfol- in welchen die Menschenrechte men einem Ordnungsantrag von gungsbehörden verhaftet, inhaftiert und gefoltert. Die Vorwürfe betref- massiv verletzt werden, so nach Ruedi Noser, der eine Vertagung fen dieselbe Militäreinheit wie bereits 2017 im Fall der Rohingya. 7 AMNESTY Dezember 2019
AKTUELL_NACHRICHTEN © private IN EIGENER SACHE DIE VERPACKUNG: EIN VIELSCHICHTIGES THEMA Das AMNESTY-Magazin wird in einer Folie verpackt verschickt. Im Flüchtlingslager Moria Warum ist das so? Hier einige Gründe: fehlt es an allem, auch an Zelten und Decken. Dabei Dem AMNESTY-Magazin liegen jeweils die Aktionsbeilage können die Winter hier sehr «In Action» und der adressierte Begleitbrief bei. Einen kalt und nass sein, wie der offenen, sprich unverpackten Versand eines Hefts mit Winter 2017 zeigte. Beilagen erlaubt die Post nicht. Die Schande Europas Auf das Beilegen eines Begleitbriefs mit Einzahlungsschein GRIECHENLAND – Im überfüllten Flüchtlingslager Moria auf der griechi- können wir nicht verzichten. Diese Spendeneinnahmen sind schen Insel Lesbos ist am 29. September ein Feuer ausgebrochen, bei für die Finanzierung des Magazins notwendig. dem eine Frau ums Leben kam. Mehr als 12 000 Menschen müssen in diesem Lager leben, das für 3000 Menschen ausgelegt ist. Es kam Ein Versand im Couvert kommt nicht in Frage, da die bereits zuvor zu Bränden. Die Behörden können also nicht leugnen, Ökobilanz eines Couverts laut Studien um 20 Prozent dass diese Tragödie vermeidbar gewesen wäre. Allein im September schlechter ausfällt als jene einer Folie. Nicht nur wird bei kamen drei Menschen ums Leben. der Herstellung von Couverts mehr Energie verbraucht, Couverts sind ausserdem wesentlich teurer. Erneute Verschiebung von ge türkische Amnesty-Direktorin Prozess gegen Taner Kılıç İdil Eser, wurde am 9. Oktober Unsere Folie ist aber nicht einfach «Plastik». Die von uns und Istanbul 10 in Istanbul erneut vertagt. Den verwendete Schutzhülle besteht zu mindestens 50 bis TÜRKEI – Der Prozess gegen den Angeklagten drohen bis zu 15 85 Prozent aus nachwachsenden Rohstoffen (Überreste aus Ehrenvorsitzenden von Amnesty Jahre Haft. Amnesty kritisiert das der Rohrzuckergewinnung). Auch ist der CO2-Ausstoss bei International in der Türkei, Taner schon seit zwei Jahren andauern- der Produktion geringer als bei herkömmlichen, fossilen Kılıç, und gegen die als Istanbul de Verfahren als unfair. Auch die Folien. Die Schutzhülle ist recyclingfähig, gehört jedoch nicht 10 bekannt gewordenen Men- Verlängerung der Haft des Aktivis- in den Kompost. schenrechtler, unter ihnen der ten Osman Kavala zeigt, dass die deutsche Menschenrechtstrainer Verfolgung kritischer Stimmen in Plastikmüll ist vor allem dann ein Problem, wenn er nicht Peter Steudtner und die ehemali- der Türkei weiter System hat. richtig entsorgt wird. Aber unsere Folie gelangt ja nicht in die Landschaft oder in Gewässer, wenn Sie sie im normalen Haushaltskehricht entsorgen. Sie dient sogar als willkomme- JETZT ONLINE ner Energieträger bei der Kehrrichtverbrennung. Briefmarathon 2019: Drei tolle Videos über die Jugend lichen, für die dieses Jahr im Briefmarathon geschrieben Wir würden am liebsten auf die Folie verzichten und klären wird: So zu Yasaman Aryani, die es wagte, gegen den deshalb Alternativen weiterhin ab. Kopftuchzwang im Iran zu protestieren, und zum verscholle- Bis wir das Ei des Kolumbus gefunden haben, versenden nen Yiliyasijiang Reheman aus China. In einem weiteren Clip wir das Magazin weiterhin mit der Schutzhülle. lernen Sie Sarah Mardini und Seán Binder besser kennen. Ihre Redaktion AMNESTY-Magazin Gegen sexuelle Gewalt: Woher weiss ich, ob mein Gegen- über auch Sex will? Warum können sich Betroffene von Vergewaltigungen manchmal nicht wehren? Diesen Fragen stellten sich Studierende des Fachbereichs Trends & Identity der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) – und produzier- ten Kurzfilme, die unter die Haut gehen. Jetzt online unter: www.amnesty.ch/magazin-dezember19 8 AMNESTY Dezember 2019
AKTUELL_BRENNPUNKT JA ZUM SCHUTZ VOR HASS UND HETZE auf Rang 27 unter 49 Ländern würde geht. Kontroverse Diskus- © Frank Rumpenhorst / DPA / Keystone in Europa zurückgefallen ist. sionen und kritische Meinungen Diese Rangliste wird alljährlich etwa zur Frage der Heirat von von der International Lesbian, Schwulen, Lesben und Bisexuel- Gay, Bisexual, Trans and Inter- len sind in keiner Weise tangiert. sex Association (ILGA) ermittelt. Auch der Hinweis des Refe- In den meisten europäischen rendumskomitees, dass tätliche Ländern sind Hass und Hetze Angriffe auf LGBTI ja schon heu- gegen LGBTI längst strafbar, in te strafbar seien, zielt ins Leere: der Schweiz aber nicht. Denn gerade die Tatsache, dass öffentliche Aufrufe zu Hass, Dis- Bundesrat und Parlament wol- kriminierung und Gewalt unge- len dies nun endlich ändern straft bleiben, bereiten tätlichen und die Anti-Rassismus-Straf- Angriffen den Boden. norm auf Aufrufe zu Hass auf- grund der sexuellen Orientie- Amnesty Schweiz hat sich be- rung ausweiten. Leider hat der reits anlässlich ihrer diesjähri- Am 9. Februar 2020 stimmen wir Ständerat dabei entschieden, gen Jahresversammlung mit ei- darüber ab, ob Schwule, Lesben diese Erweiterung nicht auch ner Resolution für die geplante und Bisexuelle besser vor Hassreden auf die geschlechtliche Identität Ausweitung der Anti-Rassis- geschützt werden sollen. Kontroverse anzuwenden, womit beispiels- mus-Strafnorm auf die sexuelle «N Debatten sind auch nach Annahme der neuen Regelung weiterhin möglich. ur ein toter Muslim weise Transmenschen der Orientierung ausgesprochen – ist ein guter Mus- Schutz versagt bleibt. weil diese ein zwar unvollstän- lim.» «Hitler hätte diger, aber dennoch wichtiger euch alle vergasen sollen.» Das » Nichtsdestotrotz hat ein frei- Schritt zu einem umfassende- sind Beispiele öffentlicher Auf- kirchlich geprägtes Komitee ren Schutz vor Hass und Hetze rufe zu Hass gegen religiöse das Referendum ergriffen. Des- aufgrund bestimmter Identitäts- Minderheiten, die in den letzten halb stimmen wir am kommen- merkmale ist. Queeramnesty, Jahren in der Schweiz zu einer den 9. Februar 2020 nun darü- die Amnesty-AktivistInnengrup- Verurteilung aufgrund der Anti- ber ab, ob Lesben, Schwule pe für LGBTI-Rechte, engagiert Rassismus-Strafnorm geführt und Bisexuelle vor Hass und sich nun, unterstützt von der haben. Hätten sich die Aussa- Hetze geschützt sein sollen – gesamten Schweizer Sektion gen gegen Schwule, Lesben wie dies für religiöse oder ethni- von Amnesty International, im oder Bisexuelle gerichtet, wären sche Minderheiten bereits heu- Abstimmungskomitee «Ja zum sie straffrei geblieben. Denn te selbstverständlich ist. Schutz vor Hass». Am 9. Feb- die öffentliche Herabwürdigung ruar 2020 können wir an der von LGBTI und Aufrufe zu Hass Das Referendumskomitee beruft Urne Ja stimmen zur Auswei- und Diskriminierung aufgrund sich vordergründig auf die Mei- tung der Antirassismus-Straf- der sexuellen Orientierung wer- nungsfreiheit. Es verschweigt norm, denn: Menschenrechte den vom Schweizer Strafrecht dabei jedoch, dass es bei der und Menschenwürde sollen für bisher nicht erfasst. Dieser völ- neuen Strafnorm ausschliesslich alle gelten, unabhängig von lig fehlende Schutz vor «hate um Aufrufe zu Hass und Gewalt, Rasse, Ethnie oder Religion – speech» ist einer der Gründe, die pauschale Herabsetzung und eben auch von der sexuel- weshalb die Schweiz im Ran- und Diskriminierung und damit len Orientierung! king der LGBTI-Freundlichkeit die Verletzung der Menschen- Reto Rufer 9 AMNESTY Dezember 2019
J unge Menschen sind dran – im doppelten Sinn: Sie nehmen das Heft in die Hand und demonst- rieren für eine bessere Zukunft. Sie erhalten aber nicht immer den Schutz, den sie verdienen. Manche Jugendliche leiden unter massiven Menschen- rechtsverletzungen. Wir zeigen in diesem Magazin mutige junge Menschen, die für ihre Anliegen einstehen. 11 AMNESTY Dezember 2019
DOSSIER_JUGENDLICHE Sie tun was Nicht erst seit Greta Thunberg haben Jugendliche Lust darauf, die Welt zu verändern. Wir stellen drei junge Menschen vor, die sich in der Schweiz engagie- ren: für Frauenrechte, Migran- ten oder gegen den Klima- wandel. Sie setzen ihre Freizeit für Aktionen ein und haben keine Angst davor, auch einmal anzuecken. «Über die Nasenspitze hinausdenken» auch in der Klimabewegung ist sie sehr aktiv. «Oft handeln wir aus Solidarität für andere, die vielleicht weit weg von Noch vor ein paar Jahren fühlte sich Fina Girard ohnmächtig und uns leben. Aber beim Klimawandel geht es zum ersten Mal um ein dachte: «Ich bin ja nur eine Jugendliche, meine Meinung wird nicht Thema, das auch mich ganz direkt betrifft», erzählt sie bei einem ernst genommen, ich kann nichts machen.» Dabei fand sie Politik Kaffee im Basler Lokal Mitte. schon damals spannend – aber sich bei einer Jungpartei einzurei- Mit der Jugendgruppe Basel organisiert sie auch mal spontane hen, das war ihr zu einengend. Dann nahm ein Freund sie mit zur Strassenaktionen, zum Beispiel gegen sexuelle Gewalt, oder ein Amnesty-Jugendgruppe in Basel. Schnell gewann Fina dort den Ein- Konzert für die Menschenrechte wie den «Dance for Human druck, dass sie doch etwas bewegen und selbst gestalten könne: «Ich Rights», an dem der Saal voll war. Bei den Aktionen will sie auch habe realisiert, dass es noch andere gibt, die so denken wie ich.» Die mit Andersdenkenden in Kontakt kommen: «Man muss ja gar heute 18-Jährige, die am vergangenen 20. Oktober zum ersten Mal nicht alle überzeugen wollen, aber im Dialog bleiben!», sagt sie. wählen durfte, erklärt: «Wichtig ist mir, über die eigene Nasenspitze, Besonders angetan hat es Fina auch der Amnesty-Briefmara- über meine eigenen Bedürfnisse hinauszudenken. Ich möchte eine thon, der jeweils im Dezember stattfindet. Er komme bei Passanten Welt, in der Materielles und Egoismus weniger zählen.» Sogleich gut an, und die Resultate seien motivierend: «Wenn ein Mensch kommentiert sie sich selbst – klar, als Jugendliche bekomme man freigelassen wird, für den wir uns eingesetzt haben, merke ich, bei solchen Aussagen rasch den «Idealistenstempel», aber die Jun- dass wir etwas bewirken.» Sogar während eines Austauschjahrs in gen hätten eben tatsächlich noch Raum und Zeit, sich zu engagieren. Stockholm schloss sie sich einer Amnesty-Gruppe an und sammel- Ausserdem würden sie wohl auch die Gleichaltrigen besser errei- te nach ein paar Monaten Unterschriften auf Schwedisch. Wohin chen können, «wahrscheinlich sind wir glaubwürdiger als ein 50-jäh- nach der Matur der Weg für die Tochter eines Taxifahrers und ei- riger Marketingmensch, der seine Texte jugendlich machen will, in- ner Sammlungskuratorin geht, ist noch offen. Lange interessierte dem er öfter das Wort ‹krass› verwendet.» sie sich für Architektur, mittlerweile schwebt ihr aber eher ein Be- Finas Agenda ist voll. Sie bereitet sich auf die Matur im kom- ruf in einer sozialen Organisation vor: «Ich möchte vor allem eine menden Frühling vor, spielt Oboe in verschiedenen Ensembles sinnvolle Arbeit machen können.» und singt im Chor. Daneben gibt es die Amnesty-Gruppe, und Text: Carole Scheidegger 12 AMNESTY Dezember 2019
Bilder: Nicolas Schopfer «Die Utopisten sind die anderen» wird. Auf dem Lausanner Gipfel waren wir darüber uneins.» Hamzas «grünes» Bewusstsein entstand im «Wenn du deinen Platz in dieser Welt noch nicht gefunden hast, Laufe der Zeit. Schon als Kind las er gerne wissenschaftliche Bü- dann bist du hier, um eine neue zu schaffen.» Dieses Motto hat cher, er interessierte sich leidenschaftlich für Astronomie. Und sich Hamza Palma zu eigen gemacht. Der Gymnasiast aus dem dann kamen die schwedische Aktivistin Greta Thunberg und ihre waadtländischen Morges will zu den Menschen gehören, denen es Rede vom Dezember 2018 an der Klimakonferenz COP 24 in Kato- dereinst gelingt, den Planeten vor der globalen Erwärmung und wice, die ihn stark beeindruckte. Der Gymnasiast engagiert sich den daraus resultierenden Katastrophen zu retten. Der 16-jährige seither nicht nur an den Klimastreiks, sondern auch in der Bewe- Teenager, den wir am Rande des Lausanner Klimagipfels «Smile gung Extinction Rebellion, mit der er sogar nach Paris zur Klima for Future» treffen, hat seit dem Beginn der Klimastreiks im De- blockade reiste. Er ist auch bei den Jungen Grünen und bei Am- zember 2018 keine einzige Klimademo verpasst. «Es ist wichtig, nesty International aktiv. «Die Menschenrechte sind mir sehr dass junge Menschen demonstrieren, denn wir sind die nächste wichtig, insbesondere diejenigen von Migrantinnen und Migran- Generation. Das legitimiert unser Engagement», betont Hamza. Er ten. Wir werden das Klimaproblem nicht lösen können, wenn wir kritisiert die PolitikerInnen, die trotz den vielen wissenschaftlichen nicht zugleich die Frage der sozialen Gerechtigkeit lösen», meint Beweisen für den Klimawandel untätig bleiben würden. «Das der Schüler. Solche verschiedenen Engagements würden es ermög- Schlimmste ist, dass die Politiker die Macht hätten, etwas zu tun, lichen, unterschiedliche Formen des Protests auszuprobieren: Poli- aber nichts machen. Sie rechtfertigen sich mit dem Argument, tik, Streiks, Demonstrationen oder ziviler Ungehorsam – alles sei dass in der Schweizer Demokratie immer ein Konsens gefunden nützlich, um Öffentlichkeit für dringliche Anliegen herzustellen. werden muss. Oder dann erwarten sie von uns, dass wir die Lösun- Hat er Angst davor, dass seine Aktivitäten ihm persönlich Nachteile gen präsentieren.» bringen könnten? «Angst darf uns nicht blockieren. Solange ein Hamza strebt eine andere Gesellschaft an, eine ohne den «unge- Kampf legitim ist und niemandem Schaden zugefügt wird, müssen zügelten Kapitalismus», der die natürlichen Ressourcen ausplün- wir marschieren!», sagt Hamza bestimmt. «Wir werden Utopisten dere. «Ich persönlich befürworte die Wachstumsbeschränkung. genannt. Aber die Utopisten sind doch heute die anderen – diejeni- Meiner Meinung nach ist ein ökologisches Wachstum nicht mög- gen, die glauben, den Wandel ablehnen zu können.» lich. Doch das ist ein Thema, das unter uns noch immer diskutiert Text: Emilie Mathys 13 AMNESTY Dezember 2019
© Nicolas Schopfer Einmal Aktivistin, immer Aktivistin sexistische Angriffe wehren kann. Die- ses Anliegen möchte sie auch im Rahmen der Studierendenorganisatio- «Bereits in meinem Heimatland habe ich mich mit Frauenrechten nen verbreiten, in denen sie ebenfalls aktiv ist. beschäftigt. Ich bin in Marokko aufgewachsen, in einer Gesell- «Alle Themen rund um die Sexualität finde ich spannend. schaft, in der die sozialen und religiösen Regeln sehr streng sind», Denn dies ist in meinem Heimatland noch ein grosses Tabu. Aber erzählt die 22-jährige Zineb Baazis. Als Teenager musste sie we- auch die Situation von Migrantinnen und ihre doppelte Unterdrü- gen des sozialen Drucks mit Fussballspielen aufhören, aber sie ckung beschäftigen mich sehr», erklärt Zineb, die sich ausserdem setzt sich weiterhin und auch hier in der Schweiz für Frauenrechte auch für LGBTI-Rechte engagiert. «Ich war sehr enttäuscht, als ich ein. Glücklicherweise hat Zineb einen aufgeschlossenen Vater, feststellen musste, dass auch hierzulande Menschen wegen ihrer der seine Töchter stets zum Reisen ermutigte und ihre Bildung sexuellen Orientierung angegriffen werden.» förderte. Als sie 18-jährig war, wählte die an Kriminalistik und Fühlt sie sich jemals entmutigt? «Nein, im Gegenteil. Mit den Menschenrechten interessierte junge Frau für ihre Studien die Jahren wurde meine Motivation immer stärker. Die negativen Schweiz: «Hier ist die Kombination beider Fächer möglich.» So Kommentare, die ich manchmal auf sozialen Netzwerken erhalte, begann sie ein Studium an der Universität Lausanne. sind ein Zeichen dafür, wie viel noch zu tun ist. Wie auch immer: «Im Gymnasium in Rabat machte ich bei einer Gruppe mit, die Wer sich engagiert, darf sich nicht entmutigen lassen», sagt sie mit sich ‹Strassenphilosophie› nannte. Jeden Samstag trafen wir uns ruhiger Stimme. «Ich bin eine Frau, und deshalb werde ich diskri- für informelle Debatten rund um progressive Themen. Dank die- miniert. Wenn ich nicht selbst kämpfe, wer dann?» sen Gesprächen konnte ich andere Anschauungen entwickeln, und Zineb ist kürzlich für ihren Masterabschluss nach Genf umge- vor allem stellte ich fest, dass ich nicht die Einzige war, die gesell- zogen und überlegt sich, was sie danach tun will. Liegt ihre Zu- schaftlich ‹vorwärts machen› wollte. Mein Engagement wurde kunft in Marokko, in der Schweiz oder anderswo? «Ich werde dort dann aber vor allem hier an der Uni konkret, als ich Amnesty Inter- sein, wo ich eine Veränderung bewirken kann», prophezeit die jun- national beitrat», erzählt die Studentin. Als Co-Verantwortliche der ge Feministin. Einmal Aktivistin, immer Aktivistin. Gruppe für Frauenrechte organisiert Zineb regelmässig Vorträge Text: Emilie Mathys und Ateliers, die unter anderem vermitteln, wie man sich gegen 14 AMNESTY Dezember 2019
DOSSIER_JUGENDLICHE Das ist erst der Anfang Junge Menschen stellen einen grossen Anteil an der Weltbevölkerung, können aber auf politischer Ebene kaum mitbestimmen. Deshalb wählen sie andere Mittel, um sich Gehör zu verschaffen. Von Carole Scheidegger V on Hongkong bis São Paulo, von Bern bis Beirut de- © Geovien So/SOPA Images/shutterstock monstrieren junge Leute. Sie fordern politische Freiheit, Bildung, Klimaschutz oder schlicht genug zum Leben. Sie alle in denselben Topf zu werfen, wäre natürlich vermessen. Junge Menschen haben unterschiedliche Pläne, verfolgen unterschiedliche Ziele, wählen unterschiedliche Mittel. Auch unter den Jungen gibt es politisch Linke und Rechte, es gibt die, die sich einen kompletten Systemwechsel wünschen, und andere, die nur nicht verlieren wollen, was sie schon ha- ben. Aber eines eint sie: Sie haben den grössten Teil des Le- bens noch vor sich. Und sie sind viele. 42 Prozent der Welt- bevölkerung ist unter 25 Jahre alt. Während uns in Mitteleuropa Sorgen bereitet, dass immer weniger Junge für immer mehr Ältere die Altersvorsorge sichern sollten, wird der Anteil der Jungen auf dem afrikanischen Kontinent vor- aussichtlich weiter wachsen. Minderjährige sind in vielen Ländern stark von Armut betroffen. Höchst verständlich also, wenn sie sich um ihre Zukunft sorgen. Die drohenden Fol- gen des Klimawandels verdüstern die Zukunftsaussichten zusätzlich. Trotzdem fällt auf, wie viel positive Energie zum Beispiel bei den Klimademos zu spüren ist, wie witzig und unverdrossen die Slogans auf den Transparenten sind. Auch Sie trotzen dem Tränengas: Protestierende in Hongkong. bei AMNESTY YOUTH, dem Jugend-Netzwerk der Schwei- zer Sektion von Amnesty International, setzen die Mitglieder auf Kreativität. Wer sich gegen Ungerechtigkeit wehrt, ent wickelt sehr viel Energie. Was heisst «jung» überhaupt? Ein solches Engagement kann aber auch gefährlich wer- Jugend, die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, lässt sich in den. Nicht überall können junge Leute ihr Recht auf freie Zahlen verschieden definieren. Die Uno verwendet den Begriff für Perso- Meinungsäusserung ausüben. Eigentlich sind Regierungen nen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren. laut Kinderrechtskonvention verpflichtet, Minderjährige zu Eine andere Definition begrenzt die Jugend auf das Erreichen der Volljäh- schützen. Stattdessen geraten die Jugendlichen in manchen rigkeit; in der Schweiz gilt man seit 1996 ab 18 Jahren als mündig. Das Ländern ins Fadenkreuz – etwa in Hongkong oder im Irak, hiesige Jugendstrafrecht wird vom vollendeten 10. bis zum 18. Altersjahr wo Demonstrierende brutal unterdrückt werden. Offenbar angewendet. Im Kinder- und Jugendförderungsgesetz hingegen reicht das fürchten die Mächtigen die Stimmen der Jungen. Alter der Jugendlichen bis 25 Jahre. Jugend kann aber auch als soziale oder biologische Phase angesehen wer- den. Wichtige Meilensteine sind das Erreichen der Pubertät respektive der Mehr über AMNESTY YOUTH, das Netzwerk von jungen Menschen Übergang in die wirtschaftliche Selbstständigkeit. bis 26 Jahre, finden Sie unter www.amnestyyouth.ch. 15 AMNESTY Dezember 2019
DOSSIER_JUGENDLICHE Haft fürs Helfen Im Ungewissen Nach der erneuten Festnahme im August 2018 erklären die ErmittlerInnen in einem unge- wöhnlich langen Statement, Sarah und Seán hätten sich mit verschlüsselten Whatsapp-Nachrichten über die Migrations- Sarah Mardini und Seán Binder kümmerten sich routen im Mittelmeer verständigt und den Funkverkehr der Küstenwache abgehört, um Menschen illegal über die nord- auf Lesbos um Flüchtlinge. Dafür drohen den beiden östlichen Ägäischen Inseln nach Griechenland zu bringen. jungen Menschen nun 25 Jahre Gefängnis. Dieses Mal kommen sie nicht so rasch frei. Sarah teilt sich die Zelle mit zwei anderen Frauen, denen Von Franziska Grillmeier sie ein paar Brocken Englisch beibringt, um die Zeit totzu- schlagen. Die Frauen klagen über zu wenig Wasser, zu wenig Essen. Duschen? Nur alle zwei Tage. Nach zwei Wochen wird Seán in das Männergefängnis von Chios gebracht. Und E s ist sechs Uhr morgens, am Flughafen in Lesbos hält Sarah Mardini ihr Ticket schon in der Hand. Gleich soll ihr Flug nach Berlin starten. Nach neun Monaten als ehren- Sarah ins Hochsicherheitsgefängnis Korydallos in der Nähe von Athen. Sie beide wissen nicht, wie lange diese Unsicher- heit noch andauern soll. Niemand macht genaue Angaben. amtliche Flüchtlingshelferin auf Lesbos will sie ihr Studium Bis zu 25 Jahre können sie laut ihren Anwälten für die Ankla- in Berlin wieder aufnehmen, sie will in ihr Leben in gen hinter Gitter kommen. Und das, weil sie Menschen das Deutschland zurückkehren. Doch Sarah verpasst ihren Leben retteten? Flug. Sie wird kurz vor der Sicherheitskontrolle von griechi- schen PolizistInnen festgenommen. Die PolizistInnen sa- Anpacken, wenn Not herrscht Sarah Mardini, gen, Sarah könne am nächsten Morgen auf Kosten der grie- 24 Jahre alt, wurde mit ihrer eigenen Fluchtgeschichte 2015 chischen Regierung weiterfliegen – falls alles in Ordnung berühmt. Ihre Schwester Yusra und sie waren beide professio sei. Doch Sarah kommt an diesem 21. August 2018 nicht nelle Schwimmerinnen und trainierten vor ihrer Flucht mit frei, und auch nicht an den folgenden Tagen. Seán Binder, dem syrischen Nationalteam. Als bei der Überfahrt zwischen der die vergangenen Monate an der Seite von Sarah bei der der türkischen Küste und Lesbos der Motor des Schlauch- Erstversorgung von Geflüchteten an der Küste von Lesbos boots ausfiel, liessen sich die beiden Schwestern ins Wasser half, eilt zur Polizeistation. «Ich dachte, sie hätten einen gleiten und zogen das Boot mit 18 Menschen schwimmend Fehler gemacht», sagt Seán, «ich wollte das Missverständ- hinter sich her, bis sie die Lichter der Insel sahen. nis aufklären.» Als er bei der Polizeiwache seine Hilfe zur Bereits ein halbes Jahr nach ihrer eigenen Flucht nach Aufklärung des Falls anbietet, wird er selbst festgenommen. Berlin im Herbst 2015 entschied sich Sarah das erste Mal, Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen die beiden wie- nach Lesbos zurückzukehren, um denen zu helfen, die noch gen schwer: Menschenschmuggel, individuelle Bereiche- immer auf der Insel festsassen. Seitdem verliess sie ihr neues rung durch Spenden, Geldwäsche, Spionage und Mitglied- Leben in Berlin immer wieder für mehrere Monate, um auf schaft in einer kriminellen Vereinigung. Lesbos ehrenamtlich mitanzupacken. Die Anklage fusst laut der griechischen Polizei auf einer Auch Seán Binder ist zum Zeitpunkt seiner Verhaftung sechsmonatigen Ermittlung: Bereits im Februar 2018 wur- über ein Jahr als ehrenamtlicher Mitarbeiter auf der Insel. den Sarah und Seán bei einer Fahrzeugkontrolle angehalten, Der 25-jährige Deutsch-Ire entschloss sich nach einem Mas- als sie die Küste von Lesbos auf und ab fuhren, um nach neu terstudium mit dem Schwerpunkt Europäische Verteidi- ankommenden Booten Ausschau zu halten. Die PolizistIn- gungs- und Sicherheitspolitik zu diesem Einsatz. Als ausge- nen fanden ein zweites, militärisches Kennzeichen unter bildeter Rettungsschwimmer konnte er, wie Mardini, dem griechischen Nummernschild. Sie beschlagnahmten professionell und gezielt helfen. Handys und Laptops und nahmen die beiden mit auf die Po- Hunderte HelferInnen versuchen seit Jahren, die prekäre lizeistation. Nach 48 Stunden wurden sie wieder freigelas- Situation für Menschen auf der Flucht, die an den Grenzen sen. In den folgenden Monaten hörten sie nichts mehr von Europas stranden, zu lindern. Seit dem Abkommen zwischen der Polizei. der EU und der Türkei im März 2016 leben über 12 000 Menschen unter katastrophalen Verhältnissen im Auffangla- ger Moria auf Lesbos und kommen weder vor noch zurück. Franziska Grillmeier ist freie Journalistin und lebt auf Lesbos. Manche werden erst nach zwei Jahren zum ersten Mal be- 16 AMNESTY Dezember 2019
© privat DOSSIER_JUGENDLICHE «Das Beängstigende ist, dass das jedem passieren kann»: Sarah Mardini und Seán Binder sassen über 100 Tage in Untersuchungshaft und warten jetzt auf ihr Gerichtsverfahren. fragt. Und immer noch kommen weitere Asylsuchende aus erwehrleute wegen Menschenschmuggel vor Gericht, die als der Türkei in Schlauchbooten an der Küste an. Froh, dass sie Seenotretter gearbeitet hatten. Der Prozess zog sich zwei Jah- überlebt haben, wissen sie noch nicht, was vor ihnen liegt. re in die Länge, bis sie freigelassen wurden. Als gelernter Rettungsschwimmer half Seán abends bei der Die Geschichte von Sarah und Seán ist bei Weitem kein Erstversorgung der ankommenden Flüchtlinge, Sarah arbeite- Einzelfall. In ganz Europa werden Menschen, die Flüchten- te tagsüber als Übersetzerin im Flüchtlingslager von Moria den helfen und sich für deren Rechte einsetzen, angegriffen. und half abends an der Küste, wenn die Schlauchboote eintra- «Das Beängstigende ist nicht, dass ich ohne Prozess im Ge- fen. Sie zogen Ankommende aus dem Wasser, wickelten sie in fängnis sass oder dass ich noch immer mit 25 Jahren Gefäng- Decken, leisteten medizinische Erstversorgung und brachten nis konfrontiert werde. Das wirklich Beängstigende ist, dass sie anschliessend zu den Bussen, die Neuankömmlinge in das dies jedem passieren kann, weil Staaten die bestehenden Ge- Auffanglager in Moria transportierten. setze zum Schutz der Humanität nicht einhalten. Noch schlimmer ist es, dass Menschen, die vor Verfolgung fliehen, Vorwurf: Menschenschmuggel Sarah und nicht nur in ihren Herkunftsländern in Gefahr sind, sondern Seán waren damit zwei von vielen ehrenamtlichen HelferIn- auch in Europa», sagt Seán. nen mit professionellem Hintergrund, die versuchen, die Lü- Sarah und Seán kamen am 3. Dezember 2018 nach über cken im Versorgungssystem für Menschen auf der Flucht zu 100 Tagen in Gefangenschaft auf Kaution frei. Noch immer füllen. Und sie arbeiteten in einer Zeit, in der Flüchtlingshel- warten sie auf die Entscheidung des griechischen Gerichts, ferInnen stärker ins Fadenkreuz der Behörden geraten. Der ob ihnen ein Prozess gemacht wird, der 25 Jahre Haft bedeu- Vorwurf: Sie würden den Geflüchteten die Überfahrt nach ten kann. Europa erleichtern. Schon 2016 standen drei spanische Feu- Briefmarathon: Schreiben Sie für Sarah und Seán Am diesjährigen Briefmarathon setzt sich Amnesty International auch für Sarah Mardini und Seán Binder ein. Machen auch Sie mit! Mehr Informationen und einen Brief zum Unterschreiben finden Sie in beiliegendem «In Action» und unter www.amnesty.ch/briefmarathon. Am Briefmarathon engagieren sich jeweils Leute auf der ganzen Welt für andere Menschen, die in Gefahr sind oder Unterstützung brauchen. Dieses Jahr stehen junge Menschen im Mittelpunkt. 17 AMNESTY Dezember 2019
© Bettina Rühl DOSSIER_JUGENDLICHE Das Aufbegehren G elächter. Gekicher. Dutzende junge Augenpaare kleben an einem Schüler, der offensichtlich betrunken ist. Er streitet mit seiner Mutter, die sich darüber beschwert, dass er ständig der Jugend die Schule schwänze, wobei er behauptet, sich tadellos zu ver- halten. Das Ganze ist nur ein Spiel, aufgeführt von Mitgliedern der kenianischen Jugendgruppe Wasanii Sanaa, auf Deutsch etwa «die Kunst der Künstler». An diesem Morgen spielt die Gruppe vor Schülerinnen und Schülern in Kibera, einem der Mit auffälligen Aktionen klären junge Leute in grössten Slums in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Kenia ihre Mitmenschen über ihre Rechte auf. «Unsere Stücke handeln von allem, was zu unserem All- tag im Slum gehört», erklärt Vincent Odhiambo Omondi, der Auch in anderen Ländern auf dem afrikanischen mittlerweile 28-jährige Gründer der Gruppe. «Menschen- Kontinent wehren sich Junge gegen alte Eliten. rechtsverletzungen, Drogenmissbrauch, Vergewaltigungen und andere Gewalt gegen Frauen.» Der Rechtsanwaltsgehilfe Von Bettina Rühl und Jurastudent ist in Kibera aufgewachsen und gründete Wasanii Sanaa 2011. Schon als Kind habe er beobachtet, wie Polizisten die SlumbewohnerInnen als eine Art Freiwild be- handelten: Sie hätten Geld für tatsächliche oder angebliche Vergehen gefordert und mit Verhaftung oder Gewalt gedroht, sollten ihre Opfer nicht zahlen. «Die meisten Menschen hier kennen ihre Rechte nicht», sagt Vincent. «Ich bin mit dem Ge- danken gross geworden, dass ich sie einiges Tages verteidigen werde.» Durch Amnesty International und andere Organisati- onen wurde Vincent zu einem «Paralegal» ausgebildet, einem Anwaltsgehilfen. Ausserdem begann er ein Jurastudium, das er nach zwei Semestern allerdings auf Eis legen musste, weil er die Universitätsgebühren zurzeit nicht bezahlen kann. 18 AMNESTY Dezember 2019
DOSSIER_JUGENDLICHE Mit Tanz- und Theateraufführungen thematisiert die Gruppe Wasanii Sanaa im Slum Kibera Menschenrechtsverletzungen und Gewalt. Dank Wasanii Sanaa kann Vincent trotzdem weiterhin das Den Gefahren trotzen In der Demokratischen Re- machen, was ihm am Herzen liegt: die Menschen über ihre publik Kongo beispielsweise kämpfen die Mitglieder der Be- Rechte aufklären. Und zwar spielerisch und artistisch, mit- wegung LUCHA (Lutte pour le changement) gegen Men- tels Theateraufführungen, Tanz oder Musik. Die Verbindung schenrechtsverletzungen und Missstände, und zwar aus- zwischen Kunst und dem Kampf für Menschenrechte hat vie- schliesslich mit friedlichen Mitteln. Schliesslich habe der be- le der Mitglieder von Wasanii Sanaa für die Gruppe begeis- waffnete Kampf das Elend der Bevölkerung bisher nur tert. «Ich hatte sie einige Male auftreten sehen», erinnert sich vergrössert, sagen sie. Gegründet wurde die Gruppe 2012 in die 21-jährige Wirtschaftsstudentin Nancy Makini. «Weil ich Goma, der Metropole im Osten des Landes, zunächst als eher schon länger davon träumte, selbst etwas Künstlerisches zu informelle Bewegung junger AkademikerInnen. Eine Kam- machen, habe ich mich ihnen vor zwei Jahren angeschlos- pagne für sauberes Trinkwasser in Goma war eine der ersten sen.» Dass sie auf diese Weise auch noch zum Widerstand Aktionen von LUCHA – mit Demonstrationen, Sit-ins, Infor- gegen den Machtmissbrauch der Herrschenden beitragen mationsveranstaltungen oder über die neuen Medien protes- kann, findet sie besonders reizvoll. tieren sie seitdem gegen alles, was sie als sozialen oder politi- schen Missstand empfinden. Und davon gibt es reichlich, vor Kontinental vernetzt In vielen afrikanischen Län- allem im Osten des Landes. dern sind jüngere Menschen nicht länger bereit, sich von den Vor den Präsidentschaftswahlen vom Januar 2019 be- alten Eliten widerspruchslos beherrschen zu lassen. Sie wollen richtete Amnesty International von Einschränkungen der Armut, Unterdrückung, Korruption und Misswirtschaft nicht Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit, von Ein- mehr kampflos hinnehmen. Stattdessen begehren sie gegen schüchterungen und willkürlichen Verhaftungen. Men- ihre Regierungen auf und klagen ihre demokratischen Rechte schenrechtsaktivistinnen und Journalisten werden im Land ein. In den vergangenen Jahren sind unter anderem in Burki- regelmässig bedroht, des Landes verwiesen oder getötet. na Faso, der Demokratischen Republik Kongo, der Republik Das gilt auch für die Mitglieder von LUCHA, von denen Kongo und dem Senegal, in Simbabwe und Tansania Wider- viele immer wieder verhaftet wurden. Ihre Vision klingt an- standsbewegungen von meist jungen und oft akademisch ge- gesichts der gegenwärtigen Verhältnisse wie Träumerei: «Ich bildeten Aktivistinnen und Aktivisten entstanden. Erleichtert würde wirklich gerne erleben, dass unsere Justiz eines Tages wird das Aufbegehren der Jugend durch die technologische denjenigen, die ihrer Rechtsprechung unterworfen sind, tat- Entwicklung. Die AktivistInnen in den unterschiedlichen Län- sächlich Gerechtigkeit wiederfahren lässt», sagte der inzwi- dern kennen und vergleichen sich untereinander über soziale schen verstorbene Jurist Luc Nkulula. Stattdessen habe die Medien wie Facebook, Twitter oder Filme auf Youtube. Bevölkerung weder Wasser noch Strom, selbst wenn sie für Die Bewegung hat den ganzen Kontinent erfasst. Unter die entsprechenden Anschlüsse bezahle. Ein gutes Jahr spä- dem Titel «Africans Rising for Justice, Peace and Dignity» ter, im Juli 2018, verbrannte der 32-jährige Nkulula in sei- (Afrikaner begehren auf für Gerechtigkeit, Frieden und Wür- nem hölzernen Haus in Goma. Die LUCHA-Mitglieder zwei- de) schlossen sich im Sommer 2016 in Südafrika junge afri- feln die Ergebnisse einer staatlichen Untersuchung an, kanische Aktivistinnen und Aktivisten zusammen. Die Mit- wonach sein Tod ein Unglück gewesen sei. glieder der Initiative nutzen das Internet, um ihre Botschaften Obwohl Nkulula einer der wichtigsten Köpfe von LUCHA zu verbreiten. Unter Hashtags wie #AfricansRising, #Africa- war, macht die Bewegung weiter. Sie tauscht sich mit der WeWant oder #EndInequality twittern junge Afrikanerinnen ebenfalls kongolesischen Gruppe Filimbi («Der Schluss- und Afrikaner ihre Gedanken, Visionen und Forderungen. pfiff») aus, kooperiert mit Balai Citoyen («Besen der Bürger») Da heisst es zum Beispiel: «Wir sind es leid, zum Schweigen in Burkina Faso und mit Y’en a marre («Es reicht») im Sene- gebracht, unterdrückt und isoliert zu werden.» Oder: «Wir gal – einem von zwei Rappern 2011 gegründeten Kollektiv, haben ein Recht auf Frieden, gesellschaftliche Teilhabe und das in einer grossen Kampagne junge Menschen aufrief, sich einen Anteil am Reichtum.» für die Wahlen registrieren zu lassen; seither engagiert sich Viele junge AktivistInnen sehen sich in einer Linie mit Y’en a marre unter anderem für den verstärkten Einbezug Unabhängigkeitskämpfern wie Kwame Nkrumah, Patrice von jungen Menschen in politische Prozesse und gegen die Lumumba, Nelson Mandela oder Julius Nyerere. Sie streben Korruption. aber keine politischen Posten an, keine Beteiligung an der Der Widerstand der afrikanischen Jugend gegen die Will- Regierung. Stattdessen fordern sie ihre Rechte als BürgerIn- kür der Herrschenden wächst weiter. nen ein, wollen die Regierenden kontrollieren – und im Ge- genzug ihre Pflichten erfüllen. Bettina Rühl ist Korrespondentin in Nairobi. 19 AMNESTY Dezember 2019
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