Abteilung Sucht - Kanton ...
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Impressum Redaktion: Lavinia Flückiger, Abteilung Sucht, Gesundheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt, Clarastrasse 12, Postfach, CH-4005 Basel 061 267 89 00, abteilung.sucht@bs.ch www.sucht.bs.ch Texte (sofern nicht anders vermerkt): Abteilung Sucht Bildnachweis: S. 35, KEYSTONE/Yoshiko Kusano; S. 41, Flavia Schaub Auflage und Erscheinungsdatum: 2000 Ex./November 2018 Gestaltung: Vischer Vettiger Hartmann AG, Basel Druck: Werner Druck & Medien, Basel
Inhalt Vorwort von Dr. Lukas Engelberger, Vorsteher des Gesundheitsdepartements Basel-Stadt 4 Einführung von Eveline Bohnenblust, Leiterin der Abteilung Sucht des Gesundheitsdepartements Basel-Stadt 5 Die Zukunftsfrage Politisch-rechtliche an unsere Experten 6 Aspekte psychoaktiver Substanzen 28 Megatrend Gesundheit: Neue psychoaktive Substanzen und «Legal Highs»: eine globale Welche Rolle spielt Herausforderung 28 dabei die Sucht? 8 Bisher keine Revolution an den «Give me your clothes» – Schweizer Drogenmärkten durch zwei Szenarien aus das Darknet 32 medienpädagogischer Perspektive 12 Psychoaktive Substanzen in der Medizin 14 Cannabis: Heilmittel und Volksdroge? 14 Neue LSD-Forschung in der Schweiz Interview mit Matthias Liechti 17 Welche Regulierungsform ist zukunftsträchtig? Interview mit Ruth Dreifuss 34 Die Suchtpolitik in Basel-Stadt 38 Angebots- und Bedarfsanalyse im Suchtbereich 38 Sucht im ethischen «Die Suchtthematik wird im Kanton sehr ernst genommen» Kontext 20 Interview mit Sarah Wyss 42 Der süchtige Mensch – zwischen Selbst- bestimmung und Fremdbestimmung? 20 Stigma – einige Überlegungen Unterstützung am Beispiel der Politik bei und weiterführende psychoaktiven Substanzen 24 Informationen 46 3
« Im Gegensatz zu gewissen Versuchen, den Betäubungsmittelsüchtigen durch scharfe Bestrafung abzuschrecken, erscheint es richtiger, die Sucht nicht als ein Vergehen oder gar Verbrechen, sondern als Krankheit zu betrachten.» (Schweizerischer Bundesrat 1951, S. 849) Psychoaktive Substanzen sind seit jeher ein Teil der menschlichen Kultur- geschichte. So wurden psychoaktive Substanzen wie Cannabis und Opium seit der vorchristlichen Zeit im Rahmen von Ritualen und als Heilmittel eingesetzt. Seit dem 19. Jahrhundert sind die negativen Auswirkungen des Alkoholkonsums eine Sorge von Politik und Gesellschaft, und ab den 1980er-Jahren beschäftigten die offenen Drogenszenen die Öffentlichkeit. Noch heute polarisiert der Diskurs über einen angemessenen Umgang mit psychoaktiven Substanzen, aktuell insbesondere neue Regulierungsmodelle für Cannabis. Die Haltung im Umgang mit psychoaktiven Substanzen und Sucht wird von der Gesellschaft immer wieder neu verhandelt. So kam das Verständnis, dass Sucht ein Krankheitsbild ist, erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Was eine Gesellschaft unter Sucht versteht und wie sie mit psychoaktiven Substanzen umgeht, wird von unterschiedlichsten ethisch-moralischen, medizinischen oder poli- tischen Aspekten geprägt. Lange Zeit – und teilweise auch heute noch – wurde und wird der Konsum von psychoaktiven Substanzen vor allem mit «Lasterhaftigkeit» ver- bunden. Seit rund siebzig Jahren wird Sucht vermehrt als ein komplexes bio-psycho- soziales Krankheitsbild angesehen. Dieser Ansatz ist auch in der Nationalen Strategie Sucht 2017–2024 verankert. Das Bundesamt für Gesundheit hat diese in Zusammen- arbeit mit den Kantonen im Rahmen der gesundheitspolitischen Gesamtschau «Ge- sundheit 2020» zur Intensivierung der Gesundheitsförderung und Krankheitsvor- beugung entwickelt. Die Nationale Strategie Sucht verfolgt das Ziel, die Prävention von Suchterkrankungen und deren Früherkennung zu stärken sowie die Behandlung von suchterkrankten Menschen langfristig zu sichern. Sie basiert auf der Balance von Eigenverantwortung und Unterstützungsangeboten für diejenigen, die sie benö- tigen. Zum Wohle der Betroffenen, aber auch der gesamten Bevölkerung. Die Natio- nale Strategie Sucht ist – neben anderen eidgenössischen und kantonalen Gesetzen – eine wichtige Grundlage für die basel-städtische Suchtpolitik. Mit der vorliegenden Ausgabe des Magazins «ausgesucht.bs» möchten wir Ihnen einen Einblick in die Breite der Suchtthematik bieten. Dabei werden aktuelle Frage- stellungen aus einer Vielzahl von Perspektiven beleuchtet: gesellschaftlich, ethisch, medizinisch oder politisch und rechtlich. Das Magazin soll Ihnen eine Anregung bieten, um neue Blickwinkel auf die Suchtthematik zu gewinnen, aktuelle Trends zu kennen sowie eigene Ansätze weiter zu verfolgen. Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre! Regierungsrat Dr. Lukas Engelberger Vorsteher des Gesundheitsdepartements Basel-Stadt 4
Einführung Gesellschaftliche, politische oder medizinische Veränderungen wie z.B. die steigende Bedeutung einer gesunden Lebensführung oder die Diskussion von neuen Regulierungsmodellen für den Umgang mit psychoaktiven Substanzen beeinflussen den Diskurs rund um das Thema Sucht. Diese Veränderungen eröffnen nicht nur neue Möglichkeiten, sondern bringen auch neue Herausforderungen und Fragen mit sich. Kann eine gesunde Lebensführung zur Sucht wer- Sucht im ethischen Kontext wird durch die den? Ist der süchtige Mensch selbst- oder fremd- Beiträge «Der süchtige Mensch – zwischen Selbst- bestimmt? Wie sieht heutzutage eine adäquate bestimmung und Fremdbestimmung» sowie Stig- Regulierungsform von psychoaktiven Substan- matisierung der Sucht thematisiert. zen aus? Wo steht die baselstädtische Suchtpoli- Im Interview mit Ruth Dreifuss werden poli- tik? Diese Fragen zeigen einen kleinen Ausschnitt tisch-rechtliche Aspekte beleuchtet. Insbesondere des äusserst grossen Spektrums «Sucht», welches werden die aktuellen nationalen und internatio- von gesellschaftlichen über ethische und medizi- nalen suchtpolitischen Gegebenheiten sowie deren nische bis hin zu politisch-rechtlichen Themen möglichen zukünftigen Entwicklungen dargelegt. reicht. Die fünfte Ausgabe «Gesellschaft s/Sucht Ausserdem thematisieren zwei weitere Beiträge Konsum: Zwischen Alltagskonsum und Kontroll- derzeitige rechtliche Schlupflöcher – die Herstel- verlust» des Magazins «ausgesucht.bs» möchte lung von neuen psychoaktiven Substanzen sowie Ihnen einen Einblick in diese Themenvielfalt und der Handel über das Darknet. aktuellen Fragestellungen geben. Abschliessend wird die aktuelle und mögliche Die vorliegende Ausgabe startet mit Zitaten von zukünftige Suchtpolitik in Basel-Stadt dargestellt. unseren Autorinnen und Autoren aus unterschied- Ein Interview mit der baselstädtischen Gross- lichen Fachbereichen zur Zukunftsfrage, in wel- rätin Sarah Wyss rundet dieses Thema ab. chem Bereich der Suchtthematik sie die grösste Ver- An dieser Stelle möchten wir uns bei allen änderung in den nächsten zehn Jahren erwarten. Autorinnen und Autoren für ihre wertvollen Bei- Der erste Artikel befasst sich mit dem The- träge ganz herzlich bedanken. ma des Megatrends Gesundheit. Gesundheits- förderung oder gesunde Lebensführung hat eine Für Fragen steht Ihnen die Abteilung Sucht des grosse Bedeutung in der Gesellschaft. Im Artikel Gesundheitsdepartements Basel-Stadt gerne zur wird unter anderem folgenden Fragen nachgegan- Verfügung. gen: Wie viel gesunde Lebensführung ist gesund? Haben wir es beim Megatrend Gesundheit mit einem neuen Suchtverhalten zu tun? Da heutzuta- ge die Digitalisierung mit unserer Gesundheit so- Eveline Bohnenblust, Leiterin Abteilung Sucht wie anderen Lebensbereichen stark verknüpft ist, Gesundheitsdepartement Basel-Stadt werden Ihnen im Rahmen eines Exkurses zwei Zukunftsszenarien im Sinne der «Digitalisierung – Fluch oder Segen?» aufgezeigt. Anmerkungen Anschliessend wird das Thema der medizini- Um den Sprach- und Lesefluss nicht zu stören, schen Anwendung von psychoaktiven Substanzen wird im Text teilweise die männliche Form aufgenommen. Dabei werden zwei Substanzen – verwendet. Selbstverständlich sind damit beide Cannabis und LSD – und deren potenziellen posi- Geschlechter gemeint. Das Magazin erhebt keinen Anspruch auf Voll- tiven Effekte, die wir für unser Wohlbefinden nut- ständigkeit. zen könnten, dargestellt. 5
Die Zukunftsfrage an unsere Experten: In welchem Bereich der Suchtthematik erwarten Sie die grösste Veränderung in den nächsten zehn Jahren? Prof. Dr. Sandro Cattacin «In zehn Jahren werden die positiven Wirkungen von Drogen allgegenwärtig diskutiert werden und sich die moralischen Linien, die gute von schlechten Produkten unterscheiden, weiter aufweichen. Im Zentrum pädagogischer Ansätze wird deshalb der Umgang mit Drogen stehen.» (Artikel von Sandro Cattacin auf Seite 24) Dr. Christian Schneider, Bundesamt für Polizei fedpol «Substanzen dürften in Zukunft eine weniger wichtige Rolle für das Thema Sucht spielen. Damit wird sich auch die Art, wie wir mit Süchten umgehen, verändern müssen – gerade für die Säule der Repression könnte dies zu einer grossen Herausforderung werden.» (Artikel von Christian Schneider auf Seite 32) Dr. med. Toni Berthel «Kontrolliert leben, kontrolliert sterben.» (Artikel von Toni Berthel auf Seite 8) Dr. rer. nat. Julia Wolf «Die Abhängigkeit von Psychopharmaka wird zunehmen, vor allem durch die vermehrte Nutzung als Neuroenhancer bei Gesunden. Ebenso werden uns in Zukunft die durch die neuen Medien geschaffenen Kommunikationsformen und virtuelle Welten fordern und möglicherweise überfordern.» (Artikel von Julia Wolf auf Seite 20) 6
Ruth Dreifuss, Alt-Bundesrätin «Einerseits ist der Verzicht auf Strafen für den Konsum ein Schritt, der innert Jahren erreicht werden könnte. Pilotprojekte im Bereich Cannabis- Regulierung werden stattfinden und den Weg zu einem vom Staat kontrollierten Markt führen, ich wage zu sagen, in den nächsten zehn Jahren. Und dann sind weitere Substanzen an der Reihe.» (Interview mit Ruth Dreifuss auf Seite 34) Sarah Wyss, Grossrätin Basel-Stadt «Ein adäquater Umgang mit schädlichen Ver- haltensweisen ist wichtig – kann aber sehr individuell aussehen. Dies müssen wir als Gesellschaft akzeptieren, sonst droht die Gefahr von Ausgrenzung und Abweichlern.» (Interview mit Sarah Wyss auf Seite 42) Dr. Manfred Fankhauser, Apotheker «Meiner Meinung nach werden nicht-substanzen- bedingte Suchtthemen wie Internet, Fitnesswahn usw. die Gesellschaft zunehmend noch mehr beschäftigen.» (Artikel von Manfred Fankhauser auf Seite 14) Prof. Dr. Matthias Liechti «Das Smartphone wird zum neuen Heroin. Ich erwarte eine Verschiebung hin zu substanzungebundenen Suchtproblemen.» (Interview mit Matthias Liechti auf Seite 17) Dr. rer. nat. Katja Mercer-Chalmers-Bender «Legalisierung des Konsums von klassischen Rauschdrogen, nicht zuletzt, um auch eine Entkriminalisierung eines substanziellen Anteils der Gesellschaft herbeizuführen und um Ver- folgungsbehörden und Gerichte zu entlasten.» (Artikel von Katja Mercer-Chalmers-Bender auf Seite 28) 7
Megatrend Gesundheit: Welche Rolle spielt dabei die Sucht? In den letzten Jahren haben die Themen Gesundheit, Gesundheits- förderung, gesunde Lebensführung, aber auch Enhancement, körperliche und psychische Leistungsverbesserung eine breite Bedeutung erhalten. Das klassische Kerngebiet der Gesundheits- förderung ist die Unterstützung hin zu einer gesunden Lebens- führung und Mässigung. Aber wie viel gesunde Lebensführung ist gesund? Haben wir es beim Megatrend Gesundheit mit einem neuen Suchtverhalten zu tun? Was ist Gesundheit? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als «einen Zustand völligen körper- lichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohl- befindens». Für Friedrich Nietzsche ist «Gesund- heit dasjenige Mass an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigun- gen nachzugehen». Für Prosecco-Philosophen ist «Gesundheit nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts». Gesundheit kann auch erlangt und gefördert werden. Die Ottawa-Charta der WHO hält dazu fest: «Gesundheitsförderung (…) zielt über die Entwicklung gesünderer Lebenswei- sen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin.» Hinter dieser Charta steht die Haltung, dem Menschen zuzugestehen, sein Wohlbefinden selber zu moderieren: «Gesund- heitsförderung zielt auf einen Prozess hin, allen Menschen ein höheres Mass an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen, und sie da- mit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.» 8
mer, wenn ein neues Phänomen in unserer Ge- sellschaft erscheint, aufleuchtet oder aufflackert, stürzen sich die Vertreter des Suchtverhinderungs- und Suchtbehandlungsgewerbes darauf. Präven- tionsspezialisten heben den Finger und sehen die heranwachsende Jugend gefährdet; die Fachleute für Früherkennung wittern ein Verhalten mit ei- nem Potenzial für Kontrollverlust und Suchtmedi- ziner und -therapeuten finden Symptome, die sie bei anderen Süchten auch sehen. Wie eine Super- nova, die neu im All aufleuchtet, wird von vielen Exponenten der Suchtcommunity eine neue Sucht deklamiert und es werden Gelder aus den ver- schiedenen Finanzierungstöpfen reklamiert. Was ist Sucht? In den Diagnosemanualen International Classi- fication of Diseases (ICD) der WHO und Diag- nostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der amerikanischen Medizinergemeinde, wird Sucht oder Abhängigkeit anhand klar defi- nierter Symptome festgelegt. Biologische, psychi- sche und soziale Aspekte fliessen dabei in die Di- agnose ein. Ein starker Wunsch oder Zwang nach der Substanz oder dem Verhalten, eine Dosisstei- gerung, verminderte Kontrollfähigkeit, Toleranz- erhöhung, Entzugserscheinungen, Einengung des Verhaltens, Vernachlässigung anderer Vergnügen und Interessen, anhaltender Konsum trotz Prob- Wer hat ein Problem? lemen: Von diesen Symptomen müssen mehrere Haben Menschen, die gesund leben, die fit bleiben über längere Zeit vorliegen, damit wir eine Sucht, wollen, die zu ihrem Körper Sorge tragen, die sich eine Suchterkrankung diagnostizieren dürfen. gesund ernähren, die für die Pflege ihres Körpers sehr viel Zeit, Training und Energie investieren, Hat dieses Verhalten mit Sucht zu tun? ein Problem? Ist dieses Verhalten pathologisch? Dürfen wir nach diesen Kriterien bei Menschen, Es sind häufig Menschen, die ihre ganze Kind- die ihre Gesundheit optimieren und maximieren, heit und Jugend über gehört haben, wie sie gesün- von Sucht, von süchtigem Verhalten sprechen? der leben können. Und – wohlerzogen wie sie sind Sind dies nicht Menschen mit einem guten Ge- – setzen sie dies auch um. In ihrem Kindergarten- sundheitsbewusstsein? Müssen wir nicht von ge- znüni-Tupperware waren Rüebli und geschälte sundheitsförderbaren, und damit von «präven- Gurken anstatt Bananen und Kekse; sie spielten tionscomplianten» Personen reden? Oder sind es mit erzieherisch hochwertigen Holzspielsachen Individuen, die in den Fängen der Gesundheits- anstatt mit Plastikramsch; sie tranken und trin- förderer hängen geblieben sind und sich in Ge- ken mit Honig gesüssten Biotee anstatt mit Tau- sundheitsexzessen verlieren? rin und Zucker massentauglich gemachte Süssge- Nach den Kriterien des DSM und des ICD dür- tränke; sie betreiben regelmässig Ausdauersport, fen wir hier nicht von Sucht sprechen. Wir sehen anstatt Entspannung mit Elektronikgeräten zu in unserer Gesellschaft Tendenzen, jedes mensch- suchen. Immer mehr kommen Stimmen auf, die liche Verhalten, das aus der Mitte, dem Medi- bei einem solchen, die Gesundheit maximal för- an, der Norm hinausfällt, zu medizinalisieren, dernden Verhalten eine Störung sehen. Und im- zu psychiatrisieren und damit zu pathologisieren. 9
Megatrend Gesundheit · Welche Rolle spielt dabei die Sucht? Somit werden diese Verhaltensweisen zum Be- standteil allumfassender Public-Health-Bemühun- gen. Einige der Phänomene, die wir bei Menschen sehen, die ihre Gesundheit maximieren, können durchaus auffällig erscheinen. So wirken die ei- nen Verhaltensweisen wie Zwangssymptome. Bei anderen kann Gesundheit zur überwertigen Idee oder zum Fetisch werden. Und dann wiederum erhält Gesundheit eine quasireligiöse Dimension. Diese Phänomene pauschal der Diagnose Sucht zuzuordnen, das ist mir doch zu populärwissen- schaftlich und populistisch. Es bleiben viele offene Fragen Wenn es sich hier nicht um Sucht handelt, lohnt es sich doch, die Bedeutung des Megatrends Ge- sundheit unter verschiedenen Aspekten zu be- trachten: Sind dies nicht die guten Bürger, die ihre Ge- lüste unter Kontrolle halten, ihr Verhalten maxi- Einerseits … mal steuern, die verzichten, wenn es um Emoti- Sind diese Menschen nicht die Musterschüler onen, Alkohol, Nikotin, Drogen, Fett, Zucker, der Gesundheitsförderer und unserer Bemühun- Koffein, One-Night-Stands, political incorrect- gen, den Menschen ein massvolles Leben beizu- ness geht? Der maximal in die ressourcenopti- bringen? Gesundes Essen, striktes Einhalten der mierte Leistungsgesellschaft eingemittete Mensch. Lebensmittelpyramide, ausreichend Bewegung, massvoller Konsum, kontrollierter Umgang mit Anderseits … Risiken. Setzen diese Menschen nicht einfach das Public Health hat die Aufgabe, die Menschen in um, was sie im Kindergarten, in Schulstunden ge- ihrer seelischen und körperlichen Entwicklung hört, in einer Unzahl von Gesundheitsartikeln zu unterstützen und ihnen ein Leben in Gesund- oder in Gesundheitszeitschriften gelesen und in heit zu ermöglichen. Dabei ist es durchaus legi- Gesundheitskampagnen gelernt haben? tim, die Menschen zu einer gesunden Lebensfüh- Zeigen diese Menschen nicht ein maximales ge- rung zu motivieren. Wer gesund lebt und gesund sundheitsökonomisches Wohlverhalten? Gesund- altert, belastet das Gesundheitswesen und damit heitsapps zur totalen Kontrolle ihrer täglichen die Gemeinschaft weniger. Aber das Menschsein Bewegung, ihrer Herzfrequenz, ihres Kalorienver- ist mehr als eine zu optimierende ökonomische brauchs bis hin zur Aufzeichnung ihres Schlafmus- Grösse in einem Wirtschaftssystem und Lebens- ters und ihrer Schlafqualität, absoluter Verzicht raum. Gesundheit ist mehr als das Verhindern auf Nikotin und andere Suchtmittel. Und dies al- von Kranken- oder Sozialversicherungsleistungen. les mit einem direkten Draht zum Zentralrechner Definitionen, die im Feld der öffentlichen Ge- ihres Krankenversicherers. Dafür werden sie be- sundheit handlungswirksam werden, decken in lohnt: mit günstigeren Prämien in der Zusatzver- der Regel nur einen kleinen Teil der menschlichen sicherung, mit regelmässigen Goodies, mit vom Bedürfnisse ab. Rausch, Schlemmen, Grenzüber- Computer ausgelöstem virtuellem Schulterklopfen. schreitung, Verschmelzung, Unmässigkeit, um Gesunde Lebensführung als Internalisierung nur einige wenige Begriffe zu nennen, haben in der von Werten, die uns in unserer Kindheit und Ju- offiziellen öffentlichen Gesundheit kaum Platz. gend vermittelt wurden. Werte, die später im Le- Es werden Vernunft, Mässigung, Selbstkontrol- ben umgesetzt werden. Verhaltensweisen, die uns le gelehrt und gefordert. Mit Robert Pfaller kön- ein Leben in Gesundheit ermöglichen. Wir könn- nen wir hier sagen: «Immer nur vernünftig sein, ten hier sagen: gelungene Erziehung, erfolgreiche ist kein Kennzeichen davon, dass man tatsäch- Prävention, zielführende Gesundheitsförderung. lich vernünftig ist. Erst wenn wir unvernünftige 10
Dinge tun – tanzen, trinken oder uns verlieben per gehegt und gepflegt werden. Schmerzfrei, be- – haben wir das Gefühl, dass es sich zu leben weglich, selbstbestimmt – wer will das nicht? Es lohnt.» boomt nicht nur die Gesundheit, es boomen auch Public-Health-Strategien orientieren sich an und vor allem die Gesundheits-, Wellness-, The- medizinischen Definitionen. In der Medizin bei- rapie-, Reiseangebote für den älter werdenden spielsweise wird der Rausch als Intoxikation, Menschen. Der gesundheitsbewusste Mensch ist sprich Vergiftung, definiert. Ein menschliches Be- auch ein Wirtschaftsfaktor. dürfnis nach Entgrenzung, Verschmelzung, Eks- Solange Menschen selbstbestimmt Verantwor- tase wird so pathologisiert. Rausch aber kann das tung für ihre Lebensführung übernehmen, ist der Leben bereichern. Befriedigendes Leben ist mehr Wunsch nach einem maximal gesunden Leben als Kontrolle, mehr als Mässigung, mehr als nicht sinnvoll. Neue verhaltensökonomische Ansätze krank sein. Ein gelingendes Leben ist mehr als zeigen hier jedoch, dass mit ausgeklügelten Me- nett, mild, lau oder angenehm. thoden versucht wird, den konsumierenden Men- schen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wir Und auch noch dies … sprechen hier von libertärem Paternalismus. Un- Der Megatrend Gesundheit hat auch etwas mit ter dem Deckmantel der Gesundheit oder des den Babyboomern zu tun. War die durchschnitt- «Gemeinwohls» werden allerhand subtile Domes- liche Lebenserwartung in unseren Gesellschaf- tizierungsansätze eingesetzt. Dabei wird versucht, ten vor 100 Jahren um die 50 Jahre, ist sie heu- das Individuum durch einen Schubs (nudge), te beim Mann 81,8 Jahre und bei der Frau 85,3 wenn auch nicht auf einen gottgefälligen, so doch Jahre. Wer heute 65 Jahre alt wird, hat als Mann wenigstens auf den «richtigen» Weg zu zwingen noch 19,8 und als Frau 22,6 Lebensjahre vor sich. – nämlich den für die Gesellschaft ressourcen- Noch nie lebten so viele älter werdende Menschen. schonendsten. Und wo die Bedeutung des eige- Unsere Gesellschaft auf dem Weg zu einer Geron- nen Körpers eine religiöse Dimension erhält, wird tokratie. Gesund alt werden wollen in der Regel gesunde Lebensführung zur moralischen Pflicht. Menschen jenseits des vierzigsten Altersjahrs. Ju- Krankheit und Schwäche sind nicht erlaubt, jegli- gendliche wollen intensive emotionale Erfahrun- ches Scheitern wird als Versagen abgelehnt. gen machen, wollen starke Gefühle erleben und erfahren, wollen sich total ins Leben stürzen. Fit- Auch Gesundheit ist politisch te Rentner, reiselustige Senioren, kapitalkräfti- Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek schreibt: ge Menschen mit einer langen Lebenserwartung. «Wir finden heutzutage auf dem Markt eine ganze Doch auch hier gilt: «Vo nüt khunnt nüt.» Damit Reihe von Produkten, die von ihren schädlichen der Lebensabend gelingen kann, muss der Kör- Eigenschaften befreit sind: Kaffee ohne Koffein, 11
Megatrend Gesundheit · Welche Rolle spielt dabei die Sucht? «Give me your Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol … Die Lis- te liesse sich fortsetzen: Wie wär’s mit virtuel- lem Sex als Sex ohne Sex, Colin Powells Doktrin der Kriegsführung ohne Opfer (auf unserer Seite selbstverständlich) als Krieg ohne Krieg, der ge- – zwei Szenarien aus medien- genwärtigen Neudefinition von Politik als fach- pädagogischer Perspektive männischer Verwaltung, also Politik ohne Politik, bis hin zur Toleranz des liberalen Multikultu- «Give me your clothes» – ralismus von heute als der Erfahrung des Ande- ren ohne sein Anderssein …?» Zizek nennt sein dieses Zitat stammt aus dem Szenario «Willkommen in der Wüste des Rea- ersten Teil der Filmreihe len». Es mag sich etwas überspitzt anhören. Den- noch gibt der Mensch mit der Mässigung, der Terminator aus dem Jahr 1984. Selbstkontrolle immer gewisse Dimensionen sei- Es markiert für die Autoren ner Seinsmöglichkeiten preis. Überdies verliert er dieses Beitrags in etwa den durch die kollektiven Anleitungen «zum Besten für alle» mit Sicherheit ein Quantum an Freiheit Zeitpunkt, als sie zum ersten Mal über die – und damit das wichtigste Kriterium seiner Exis- Möglichkeit einer Zukunft nachdachten, tenz: seine Individualität. Und konsequenterwei- se ein Stück Lebenslust. «Das Gehorsamsubjekt in der Technik einen gänzlich anderen ist kein Lustsubjekt, sondern ein Pflichtsubjekt», Stellenwert einnehmen wird. 30 Jahre schreibt Byung-Chul Han. später sind VHS-Kassetten und Walkman Ausblick verschwunden. Stattdessen wird über Wie ausgeführt geht es beim Megatrend Gesund- moralische Entscheidungsfähigkeit künst- heit nicht um Sucht oder süchtiges Verhalten. Es geht hier um Selbstkontrolle, Selbstoptimierung licher Intelligenz diskutiert. Wie wird die und Selbstbestimmung, aber auch um Politik und Zukunft in weiteren zehn oder 20 Jahren Ökonomie. Selbstständig sein, niemandem zur Last fallen, autonomes Handeln bis zum Lebens- aussehen? Zwei Szenarien aus medien- ende. Wir sollen und wollen ein kostengünstiges pädagogischer Perspektive. Risiko für die Gesellschaft, unsere Nächsten und uns selber sein. Mässigung, Wohlverhalten, Öko- nomisierung, Kontrolle. Durch Internalisierung Szenario I: Digital Trust Assistant dieser Vorgaben werden sie Teil unserer Persön- Mein Name ist Jack. Ich bin ein Digital Trust Assistant. lichkeit und damit handlungswirksam. Kontrol- Meine Aufgabe ist es, Vertrauen für die digitale Welt zu liert leben, kontrolliert sterben. Wenn wir das schaffen, um so das Leben der Menschen durch Technik Konzept der Mässigung, der Selbstkontrolle, der und Medien effizienter und besser zu gestalten. Es gibt tat- maximalen Wertschöpfung unseres Körpers fer- sächlich noch einige smarte Gadgets und Programme, wel- tig denken, dann müssen wir auch das Sterben che die Kunden meiner Auftraggeber noch nicht verwen- in diese Überlegungen mit einbeziehen. Wer un- den, obwohl es ihnen das Leben wesentlich erleichtern ter solchen Prämissen aufwächst, wer mit solchen könnte. Die Algorithmen, welche den Programmen zugrun- Zielen lebt, der will auch kontrolliert, ohne viel deliegen, arbeiten heute sehr sicher und zuverlässig. Um Belastung für die Liebsten, selbstbestimmt und den Menschen mittels unserer Angebote diejenigen Dienst- selbstbewusst sterben. Ach ja, auch das kann zu leistungen zu ermöglichen und bereitzustellen, die sie einem Geschäftsfeld ausgebaut werden. Wollen sich wünschen, brauchen wir aber ihr Vertrauen. Wenn die wir das? Leute persönliche Daten zurückhalten, verhindern sie die Verbesserung unserer Datensätze und Programme. Da- Dr. med. Toni Berthel, Direktor Sucht und Begutachtungen, Integrierte Psychiatrie Winterthur Zürcher Unterland und Präsi- durch schaden sie nicht nur sich selbst, sondern auch den dent der Eidgenössischen Kommission für Suchtfragen vielen Millionen anderen Nutzern. 12
r clothes» Szenario II: Non-digital Survival Trainer Mein Name ist Ruby. Ich bin Non-digital Survival Trainer. Meine Aufgabe ist es, die Menschen aus ihrer digitalen Abhängigkeit zu befreien. Viele Bereiche unseres Lebens wie Arbeit und Beziehungen sind von digitalen Angebo- ten und Dienstleistungen bestimmt, sodass von einem selbstbestimmten Leben keine Spur übriggeblieben ist. Wir hängen wie komatöse Patienten am medialen Tropf und lassen uns dankbar für diese vermeintliche Hilfe und digitale Dauerberieselung gerne vom eigentlichen Leben ablenken. Meine Aufgabe besteht darin, den Menschen zurück zum «Ausgang aus der selbstverschuldeten digi- talen Unmündigkeit» zu verhelfen. Beziehungen Beziehungen Sehr wichtig ist es, dass die Menschen ihre Liebesbezie- Die grosse Mehrzahl der Paare finden aufgrund von Al- hungen durch unsere Dienstleistungen bestimmen las- gorithmen zueinander. Deshalb wissen sie bereits zu sen. All dieser Herzschmerz, diese Wut und Enttäu- Beginn ihrer Beziehung alles übereinander und es gibt schungen, von denen wir in den alten Beiträgen lesen, kaum noch Dinge zu entdecken. Aus diesem Grund ist sind durch unsere Programme hinfällig geworden. Der den Paaren oft langweilig, wodurch sie in eine Krise ge- Algorithmus mit all seinen Variablen weiss viel besser, raten und zu mir kommen. Dies ist ein schwieriger Punkt welches unsere objektiven Persönlichkeitszüge sind und in meiner Arbeit: Sollte ich den Paaren vorschlagen, sich welcher Partner wie lange zu uns passt. Zugegeben, ich zu trennen und sich ohne digitale Unterstützung auf das war schon etwas überrascht, als ich letztes Jahr eine Abenteuer einer neuen Partnerschaft einzulassen? Partnerin zugeteilt bekommen habe, nachdem ich die Jah- re zuvor immer mit Männern zusammen war. Vor zwei Verkehr Monaten ist zudem Joa, ein achtjähriger Junge dazuge- An einem meiner Workshops reise ich mit den Teilneh- stossen, der eine Auszeit von seinen Eltern braucht. Der menden in die nächste Stadt, mit einem modifizierten, Algorithmus hat uns offenbar für gute «Pflegeeltern» manuell steuerbaren Bus. Und es ist immer schön zu er- befunden. Wie hätte Joa uns finden können, ohne die von leben, wie sich die Menschen über das Abenteuer freuen, unserer Firma angelegten umfassenden Datensätze? die Technik beherrschen und den individuellen Zielen an- passen zu können. Eine weitere Herausforderung für die Verkehr Teilnehmenden des Reiseworkshops ist es, nicht genau Die Welt ist dank der Technologie viel sicherer gewor- zu wissen, wann wir ankommen. Risiken zu managen und den. Was für eine Erleichterung, dass wir Menschen nicht mit Unvorhersehbarkeiten umzugehen ist für sie eine mehr selbst autofahren müssen! Wie viel stressfreier ist grosse Herausforderung. der Verkehr heute, jegliche Macht- und Statuskämpfe sind daraus verbannt. Heute kaum vorstellbar, aber vor 30 Sie sehen: Die Möglichkeiten der Technik sind uner- Jahren sassen Menschen mit all ihren Emotionen hinter schöpflich. Die Fehler der Vergangenheit haben dazu ge- dem Steuer und haben ihre Autos selber gelenkt. führt, dass einige Wenige die Macht über viele haben. Es liegt an uns, dass wir uns emanzipieren und uns von der Sie sehen: Technik macht glücklich und deshalb ist es digitalen Abhängigkeit befreien. Soziale, politische und meine Aufgabe, ja Berufung, den Menschen die Vorzüge moralische Ideen sollen diskutiert und das System geän- der technologischen Möglichkeiten aufzuzeigen, sie zu dert werden. überzeugen und als Kunden zu gewinnen. Damit können wir unsere weltweite Datenbank ergänzen, ausweiten und Attila Gaspar, Medienpädagoge und Geschäftsführer Medien- und dazu beitragen, ihnen und allen anderen Menschen eine Theaterfalle; Frank Egle, Dipl. Päd., selbstständiger Medienpädagoge noch bessere Zukunft zu verschaffen. und Erwachsenenbildner 13
Psychoaktive Substanzen in der Medizin Der Konsum von psychoaktiven Substanzen ist mit unterschiedlichen Risiken verbunden. Bestimmte psychoaktive Substanzen bergen jedoch nicht nur Risiken, sondern können auch im Rahmen der medizinischen Anwendung potenzielle positive Effekte auf unser Wohlbefinden haben. Zwei Beispiele – Cannabis und LSD – werden vorgestellt. Cannabis: Als eine der ältesten Kulturpflanzen der Welt, hat Cannabis zur Fasergewinnung auch in der Heilmittel und Volksdroge? Schweiz eine lange Tradition. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts wurde durch Orientreisende der Ge- brauch von «fremdländischem» Cannabis in Eu- ropa als Droge bekannt. Es existieren aber prak- «Die Gefahr, dass jemand in der Schweiz Hanfkraut tisch keine Hinweise, dass Cannabis in frühen zum Zwecke der Gewinnung von Betäubungs- Zeiten in Europa bereits für Rauschzwecke be- mitteln anbaut, ist gering.» Dieses Zitat aus den nutzt worden wäre. Auch das in der Schweiz vielgepriesene «Sonntagspfeifchen», d.h. das späten 1960er-Jahren stammt nicht von Personen Rauchen von Hanf zu Zeiten Gotthelfs im 19. aus dem Dunstkreis der aufkommenden Jahrhundert, ist ein Mythos. Gerne wird dieser jedoch ins Feld geführt, als vermeintliche Legiti- Hippie-Bewegung, sondern vom schweizerischen mation, dass Cannabis eben ein traditionelles Be- Bundesrat. rauschungsmittel gewesen sein soll. Kommt dazu, dass der einheimische kultivierte Hanf (Cannabis Diese Einschätzung der obersten Behörde der sativa; sativa = kultiviert, angebaut) kaum den be- Schweiz verdeutlicht, dass Cannabis in keiner Art rauschenden Stoff Tetrahydrocannabinol (THC) und Weise in der Schweiz in problematischem enthielt, welcher eine psychotrope Wirkung über- Ausmass konsumiert wurde. Trotzdem wurde haupt ermöglicht hätte. das Hanfkraut 1951 in das schweizerische Betäu- Interessanterweise kennt man erst seit Ende bungsmittelgesetz aufgenommen, was einem Ver- der 1960er-Jahre den rekreativen Gebrauch von bot gleichkam. Wie kam es dazu? Cannabis in der Schweiz. Im Jahr 1966 wurden 14
vereinzelt Kiffer angezeigt und wenig später wur- Arzneischatz verschwand, war möglicherweise den erstmals Konsumierende verurteilt. In dieser auch, dass bessere und effektivere Arzneistoffe Zeit waren gesundheitsgefährdende Aspekte des zur Verfügung standen. Konsums der Droge sekundär. Es ging einzig und allein darum, das Verbot von Cannabis zu voll- Cannabinoide in der Medizin – heute ziehen. Es sollte bis zum Beginn der 1990er-Jahre dauern, Die stetige Zunahme von Cannabiskonsumie- bis medizinisches Cannabis aus seinem Dornrös- renden bis in die heutige Zeit stellt eine Heraus- chenschlaf erweckt wurde. Der Grund war: Erst- forderung für die Polizei und die Vollzugsbehör- mals wurden sogenannte Cannabinoid-Rezep- den dar. Pragmatische Lösungen im Umgang mit toren (CB1 und CB2) im menschlichen Körper dem Konsum von Cannabis sind deshalb anzu- entdeckt. Dank diesen «Andockstellen» begann streben. Aktuell gibt es verschiedene politische man die Wirkungen von Cannabis, insbesonde- Vorstösse, welche z.B. die Vereinfachung der Can- re des THCs, zu verstehen. Fast gleichzeitig fand nabisabgabe zu medizinischen Zwecken oder die man heraus, dass der Mensch körpereigene En- Schaffung einer gesetzlichen Grundlage, um wis- docannabinoide (z.B. das Anandamid) produ- senschaftliche Studien im Umgang mit Cannabis ziert, welche ebenfalls die Cannabinoid-Rezep- durchzuführen, fordern. toren aktivieren. Dank diesen Entdeckungen ist die Forschung rund um Cannabis förmlich explo- Cannabis als Medikament – früher diert und hat schliesslich dazu geführt, dass Can- Für medizinische Zwecke wurde in der westli- nabispräparate heute in der Medizin wieder ver- chen Welt bis Mitte des 19. Jahrhunderts aus- mehrt eingesetzt werden. In der Schweiz gibt es schliesslich einheimischer Hanf bzw. dessen Sa- aktuell ein einziges registriertes betäubungsmit- men oder das daraus gewonnene Öl verwendet. telpflichtiges Fertigpräparat (SATIVEX) auf dem Das änderte sich schlagartig, als der in Indien tä- Markt, welches Ärzte an Multiple-Sklerose-Pa- tige irische Arzt William B. O’Shaughnessy sei- tienten zur Behandlung der schmerzhaften Spas- ne Erfahrungen mit indischem Cannabis in Euro- tik verschreiben können. Daneben können Ärzte pa bekannt machte. Innert kürzester Zeit konnte auch sogenannte Magistralrezepturen – Arznei- sich diese – nun aus Indien importierte – «Can- mittel, die auf ärztliches Rezept für eine bestimm- nabissorte» auch in der Schweiz etablieren. Neu te Person hergestellt werden – auf Cannabisba- war, dass man nun nicht mehr wie bis anhin die sis verschreiben. Allerdings sind diese zusätzlich Samen, sondern die Blätter und die Blütenstände bewilligungspflichtig, d.h. der behandelnde Arzt der viel wirksameren indischen Variante zu Tink- turen und Extrakten weiterverarbeitete. Obschon das psychoaktive Cannabinoid Tetrahydrocanna- binol (THC) erst mehr als 100 Jahre später ent- deckt wurde, realisierte man schnell, dass dieses importierte Cannabis aus Indien (Cannabis indi- Cannabis sativa vs. Cannabis indica ca) viel stärker wirkte. Für welche Beschwerden Der wissenschaftliche Name Cannabis wurden Cannabispräparate überhaupt eingesetzt? indica (indischer Hanf) stammt vom Dies umfasste Schmerzen, Asthma, Schlafproble- französischen Botaniker Jean-Baptiste me und äusserlich vor allem als Hühneraugenmit- Lamarck (1744-1829), der ihn damit tel. Oftmals war Cannabis auch ein Bestandteil von dem in Europa angebauten Cannabis von industriellen Fertigpräparaten, die bei ver- sativa unterschied. Bis heute ist es um- schiedensten Krankheiten angewendet wurden. stritten, ob es sich um eigene Arten Die Hochblüte von Cannabis als Medika- oder lediglich Unterarten handelt. ment war gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Da- Umgangssprachlich gilt indischer Hanf nach flachte das Interesse ab, bis das Betäu- als Rauschhanf (mit hohem THC-Gehalt) bungsmittelgesetz von 1951 dem Cannabis den und Cannabis sativa als Faserhanf endgültigen «Todesstoss» versetzte. Ein weiterer (mit geringem THC-Gehalt). Grund, weshalb das Medizinalcannabis aus dem 15
Psychoaktive Substanzen in der Medizin · Cannabis: Heilmittel und Volksdroge? muss ein Gesuch ans Bundesamt für Gesund- ativer Konsum eingenommen wird. Patientinnen heit (BAG) stellen, damit die Patientinnen und Pa- und Patienten kommen in aller Regel mit einer tienten ein entsprechendes Präparat erhalten kön- viel geringeren Dosis THC aus als Freizeitkonsu- nen. Die wichtigsten Indikationen sind: Schmer- mierende. Dementsprechend sind auch die Neben- zen (z.B. neuropathische oder Tumorschmerzen), wirkungen sehr moderat. Aus medizinischer Sicht Spastik (Krämpfe durch erhöhte Eigenspannung sind die berauschenden Effekte des THCs nicht der Skelettmuskulatur), Appetitförderung, Übel- erwünscht, gelten gar als Überdosierung. Trotz- keit, aber auch Bewegungsstörungen (u.a. Tics, dem sind insbesondere akute, lebensbedrohliche Tourette) und viele andere mehr. In den letzten Vergiftungen mit THC nicht möglich, was die- Jahren hat die Anzahl der Gesuche stark zuge- se Substanz von vielen anderen hochwirksamen nommen, fast täglich kommen neue dazu. Auf- Stoffen unterscheidet. Auch im Vergleich zu den grund dieser zunehmenden Nachfrage laufen ak- legalen Konsumgütern wie Alkohol oder Tabak tuell Bemühungen, das Bewilligungsverfahren zu wird das gesundheitsgefährdende Potenzial insge- vereinfachen. samt als vergleichbar bis geringer eingeschätzt. Cannabis als Droge oder Medikament. Ein Blick nach vorne Worin liegt der Unterschied? Aktuell herrschen interessante Zeiten: Weltweit «Sola dosis facit venenum – nur die Dosis macht wird über den Umgang mit Cannabis diskutiert das Gift.» Dieses bekannte (abgekürzte) Zitat von und lamentiert. Trotz internationalen Vereinba- Paracelsus kann man exemplarisch auf Cannabis rungen könnten die Gegensätze nicht grösser sein. anwenden. Es ist ein grosser Unterschied, ob Can- Die Regulierungsmodelle reichen von der Repres- nabis zu therapeutischen Zwecken oder als rekre- sion über die Entkriminalisierung und Legalisie- rung bis hin zur totalen Liberalisierung – Letzteres kommt jedoch kaum vor. Trotzdem herrscht Auf- bruchstimmung, ein allgemeiner Trend zur Libera- lisierung und Entkriminalisierung ist festzustellen. In den USA und in Kanada glauben nicht weni- ge, dass das Cannabisgeschäft ein riesiger Wachs- tumsmarkt ist und sich künftig mit dem «grünen Gold» legal viel Geld verdienen lässt. Generell ist festzustellen, dass die Nachfra- ge für die wertvolle Cannabisfaser in den letz- ten Jahren stark gesunken ist. Im Gegensatz dazu ist jedoch die Renaissance von Cannabis für me- dizinische Zwecke in vollem Gange, wenn auch in kleinen Schritten. Es braucht mehr Forschung, damit Cannabis wieder ein allgemein akzeptiertes Arzneimittel wird. Die Geschichte von Cannabis ist noch lange nicht zu Ende. Wohin die Reise geht, wird die Zu- THC vs. CBD kunft zeigen. Tetrahydrocannabinol (THC) ist die psychoaktive Substanz in der Cannabispflanze und der Grund, weshalb Cannabis als Dr. Manfred Fankhauser, Inhaber der Bahnhof Apotheke Betäubungsmittel eingestuft wird. Demgegenüber wirkt das in Langnau BE Cannabidiol (CBD) nicht berauschend und ist auch kein verbo- tener Stoff. Das schweizerische Betäubungsmittelgesetz kennt einen Grenzwert für THC: Wenn der Gehalt mehr als ein Pro- zent beträgt, dann ist die Pflanze verboten. Der Konsum von CBD-haltigem Cannabis hingegen ist in der Schweiz erlaubt. 16
Interview Neue LSD-Forschung in der Schweiz Interview mit Prof. Dr. Matthias Liechti vom Universitätsspital Basel Sie sind einer von wenigen Forschern, welche LSD klinisch untersuchen. Wie kam es dazu? LSD (Lysergsäurediethylamid) wird weltweit kon- sumiert. In der Schweiz wird LSD von Psychia- tern auch sehr begrenzt für medizinische Zwecke verwendet. Allerdings gibt es viele offene Fragen zur Pharmakologie dieser 75 Jahre alten Substanz und daher braucht es moderne Forschung (Liechti, 2017). Unsere Abteilung für Klinische Pharmako- logie und Toxikologie am Universitätsspital Basel ist spezialisiert auf die Durchführung klinischer Untersuchungen von Medikamenten. In meiner Forschungsgruppe untersuchen wir die pharma- kologische Wirkung verschiedener psychoaktiver Substanzen wie Ecstasy, Amphetamin oder Alko- hol. Im Jahr 2013 kam noch LSD dazu. Was ist LSD und wie wirkt es? Prof. Dr. Matthias Liechti ist stellvertretender Chef- LSD ist eine Substanz, welche 1938 zum ersten arzt der Abteilung Klinische Pharmakologie und Mal in Basel hergestellt wurde unter Verwendung Toxikologie des Universitätsspitals Basel und leitet die Forschungsgruppe Psychopharmakologie. von Mutterkornpilz. Die halluzinogene Wirkung von LSD wurde 1943 durch den Chemiker Albert Hoffmann entdeckt. Diese Zufallsentdeckung jährte sich dieses Jahr zum 75. Mal und ist als «Bi- verstehen. Im Vergleich zu einem Schlafmittel, wel- cycle Day» bekannt. Pharmakologisch gesehen ist ches die Hirnaktivität dämpft, führt LSD zu einer LSD ein Serotonin 5-HT2A Rezeptor-Agonist. Das erhöhten Aktivität und Zusammenarbeit verschie- heisst, dass LSD im Gehirn an einen Rezeptor bin- dener Hirnareale. Hirnnetzwerke, welche norma- det, an welchen sonst der körpereigene Botenstoff lerweise getrennt von anderen arbeiten, erhöhen Serotonin andockt. LSD stimuliert die Hirnakti- unter LSD ihre funktionelle Verbindung und das vität und führt zu einer verstärkten funktionellen Gehirn ist funktionell damit insgesamt mehr ver- Vernetzung verschiedener Hirnareale (Carhart- netzt (Carhart-Harris et al., 2016). Möglicher- Harris et al., 2016). Dies führt vorübergehend weise kann dies Synästhesien, also die Koppelung zu einer verstärkten und veränderten Wahrneh- verschiedener Wahrnehmungen, erklären. Man mung äusserer und innerer Reize. Es kommt zu könnte auch sagen, dass die übliche funktionel- einem veränderten Bewusstseinszustand mit in- le Zusammenarbeit des Gehirns vorübergehend tensivierter Wahrnehmung, Synästhesie (Bilder «durcheinander» ist. werden durch Töne verändert), starken Gefühlen und zum Teil mystischen Erlebnissen. Dieser Zu- Welche Risiken bringt die Einnahme von LSD stand wird mehrheitlich als angenehm erlebt. mit sich? LSD wirkt bereits in winzigen Mengen im Gehirn. Gibt es Erklärungsansätze für die Bewusst- Es zeigt jedoch auch in hohen Dosen keine schädi- seinsänderung sowie visuellen Halluzinationen gende Wirkung auf den Körper (Nichols & Grob, bzw. Illusionen ausgelöst durch LSD? 2018). Es bestehen allerdings psychologische Risi- Die Wirkung von klassischen Halluzinogenen ken. Es kann zu sogenannten «Flashbacks» (Wie- inklusive LSD wird primär über den Serotonin dererleben früherer Erlebnisse oder Gefühlszustän- 5-HT2A Rezeptor im Gehirn vermittelt. Wie es de) kommen. Diese Risiken sind allerdings sehr dann zu den Bewusstseinsveränderungen kommt gering. Während der akuten Wirkung von LSD ist nur teilweise klar. Wir und andere Forschungs- kann sich die Wahrnehmung von Zeit und Raum gruppen in Zürich und London versuchen, dies verändern. Angst kann auftreten, weil man die mittels funktioneller Bildgebung (fMRI) besser zu Kontrolle über das Denken und Fühlen verlieren 17
Interview kann. Ausserdem wird vermutet, dass LSD bei prä- Wie stehen Sie persönlich zur aktuellen Gesetz- disponierten Personen die Auslösung einer Schizo- gebung in der Schweiz? phrenie begünstigen kann. LSD darf in der Schweiz mit einer Ausnahmebe- In den wissenschaftlichen Studien wird eine mo- willigung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) derate Dosis LSD (100–200 µg) verabreicht und die medizinisch untersucht und begrenzt therapeu- Untersuchungen finden nach einer Vorbereitung tisch angewendet werden. Anders als in den meis- auf das Erlebnis in einem sehr kontrollierten Rah- ten anderen Ländern wird also ein medizinischer men mit dauernder Betreuung und Überwachung Nutzen nicht ausgeschlossen oder die Untersu- statt. Personen mit einem Risiko für eine Schizo- chung eines solchen nicht durch die Gesetzgebung phrenie werden nicht für die Studien zugelassen. verhindert. Daher können wir in der Schweiz LSD und den Nutzen und die Risiken – wie für jedes Welches sind verbreitete Mythen über LSD? potenzielle Medikament – auch am Menschen un- Ein Mythos ist, dass LSD abhängig macht. Es tersuchen. Für die medizinische Forschung ist die gibt zwar LSD-Missbrauch, aber keine LSD-Ab- aktuelle Gesetzgebung in der Schweiz gut. hängigkeit. LSD zeigt sogar eher gegenteilige Ef- fekte. Eine Metaanalyse von sechs Studien konn- In den letzten Jahren wurde die Forschung zu te bei alkoholabhängigen Patienten nach einer LSD wieder aufgenommen. Wie kam es dazu? Dosis LSD eine Reduktion des Alkoholkonsums In vielen Ländern war und ist Forschung zu LSD aufzeigen (Krebs & Johansen, 2012). Falsch ist am Menschen untersagt. Zudem ist LSD stigma- auch, dass LSD psychische Krankheiten verur- tisiert. Viele Forscher hatten schlicht Angst, ih- sacht. Neue bevölkerungsbasierte Untersuchun- ren Ruf zu schädigen. Daher befasste sich die mo- gen zeigen, dass Personen, welche Halluzinogene derne Halluzinogenforschung zuerst mit anderen, konsumieren, insgesamt nicht mehr psychische historisch weniger belasteten Substanzen wie bei- Probleme aufweisen als Personen, welche keine spielsweise Psilocybin («Zauberpilze», «Magic Halluzinogene konsumieren (Johansen & Krebs, mushrooms»). Mittlerweile wagen sich wieder 2015). Verbreitet ist auch die Annahme, LSD einige wenige Forscher an LSD, welches als das verursache vor allem Horrortrips. Tatsächlich prototypische Halluzinogen gilt. Die Rahmen- kann es zu unangenehmen Erfahrungen kom- bedingungen für diese Forschung sind aber erst men, meistens ist die Wirkung von LSD jedoch an wenigen Orten weltweit gegeben. Vorausset- sehr angenehm. zung zur Durchführung solcher Studien sind For- schungsgruppen mit Humanforschungserfahrung, Wie hat sich der gesellschaftliche und politi- finanzielle Mittel, überwindbare rechtliche und sche Umgang mit LSD seit der Entdeckung 1943 regulatorische Hürden und eine minimale gesell- entwickelt? schaftliche Akzeptanz. Viele Forscher wären the- Die Nutzen-Risiko-Wahrnehmung hat sich wie- oretisch an der LSD-Forschung interessiert, meist derholt verschoben und wurde auch politisch fehlt es aber an einer oder mehreren dieser Vor- stark beeinflusst. In den 1950er- bis 1970er-Jah- aussetzungen. ren sah man vor allem den potenziellen Nutzen und die therapeutischen Möglichkeiten, so dass Aktuell läuft unter Ihrer Leitung eine Studie auch viel und häufig unreguliert experimentiert zur LSD-begleiteten Psychotherapie bei Angst- patienten. Können Sie uns davon erzählen? In den Jahren 2008 bis 2011 wurde LSD durch «Ein Mythos ist, dass LSD den Psychiater Peter Gasser in der Behandlung abhängig macht. Es gibt zwar von Patienten mit Angst im Rahmen einer lebens- bedrohlichen Erkrankung in einer klinischen Stu- LSD-Missbrauch aber die untersucht (Gasser et al., 2015). Nach zwei keine LSD-Abhängigkeit.» Behandlungen mit LSD zeigte sich eine anhal- tende Abnahme der Angst. Allerdings war diese Studie klein und es fehlte eine genügend grosse wurde. Ende der 1960er-Jahre wurde LSD zuneh- Kontrollgruppe. Daher haben wir nun eine et- mend dämonisiert, was dann auch zu einem Ver- was grössere Studie begonnen, welche primär die bot der Forschung in den meisten Ländern führ- Wirksamkeit von LSD bei Patienten mit Angst be- te. Seit den 1970er-Jahren ist LSD in den meisten stätigen soll. Die Studie wird allerdings erst etwa Ländern als medizinisch nicht nützliches und 2021 Resultate zeigen. Eine Nachfrage nach Be- nicht akzeptiertes Betäubungsmittel mit hohem handlungen mit alternativen Ansätzen wie zum Suchtpotenzial gelistet. Dies entspricht jedoch Beispiel LSD von psychiatrischen als auch teilwei- nicht der aktuellen wissenschaftlichen Datenlage. se körperlichen Erkrankungen können wir aber schon heute feststellen. 18
Wie erleben Sie aufgrund Ihrer Forschung zu Was ist der Vorteil von LSD in der Behandlung LSD das medizinische Umfeld bzw. wie reagiert von Depressionen im Vergleich zu herkömm- dieses auf Ihre Forschung? lichen Antidepressiva? Warum man Krebs erforscht, muss man nicht er- Das können wir noch nicht beantworten. Wenn klären. Will man aber LSD untersuchen, um die einige Einzelgaben von LSD eine Depression lin- Todesangst bei Krebspatienten zu lindern, so dern könnten, so wäre das möglicherweise kosten- kommen viele Fragen, da der Laie aufgrund der effektiver und nebenwirkungsärmer als die tägliche gesellschaftlichen Verbannung und öffentlichen Einnahme von Antidepressiva. Einige Patienten Meinung annimmt, LSD löse primär Horrortrips würden eine solche Behandlung in Kombination aus. Forschung zu LSD stösst sicher auf breites In- mit einer Psychotherapie sicherlich vorziehen. Die teresse, nicht nur in der Fachwelt, sondern gene- Wirksamkeit muss aber erst noch gezeigt werden. rell in der Öffentlichkeit und bei den Medien. Wichtig ist, dass solche Studien an mehreren Zent- ren systematisch durchgeführt werden können. In welchen weiteren Bereichen kommt LSD zum Einsatz und wie sieht die wissenschaftliche Wie verbreitet ist der LSD-Konsum im Lage dazu aus? klinischen Setting im Vergleich zum Freizeit- In der Schweiz wird LSD therapeutisch mit auf konsum heutzutage? einzelne Patienten beschränkte Bewilligungen des Legal wird LSD in der Schweiz erst bei etwa zehn BAGs angewendet, welche vor allem an Angst, bis 20 Patienten pro Jahr angewendet. Zudem neh- Depression oder Cluster-Kopfschmerzen (peri- men jährlich nochmals etwa gleich viele gesunde odisch, extrem heftige und attackenartige Kopf- Versuchspersonen an unseren Studien teil. Meines schmerzen) leiden. Eine Studie zur Behandlung Wissens gibt es ansonsten weltweit noch keine legale Anwendung. Etwa ein bis zehn Prozent der Erwach- «Forschung zu LSD stösst auf senen hat mindestens einmalige Konsumerfahrung (Schweiz um 1%, USA um 10%) im Freizeitgebrauch. breites Interesse, nicht nur in der Fachwelt, generell in der Wie schätzen Sie die Einnahme von LSD- Mikrodosierungen zur Selbstoptimierung ein? Öffentlichkeit und in den Medien.» Zurzeit sind noch keine wissenschaftlichen Daten zu diesem Thema publiziert. Microdosing muss zu- von Angst ist angelaufen. Weitere Studien, auch erst noch wissenschaftlich untersucht werden. zur Prüfung der Anwendung von LSD für weitere Indikationen, sind in Planung und wir versuchen Welche zukünftigen Veränderungen im die Finanzierung zu sichern. Ältere Studien gibt es Einsatz und Umgang mit LSD erwarten Sie in vor allem zur Behandlung von Angst und Depres- den nächsten zehn Jahren? sion (Rucker et al., 2016) und Abhängigkeitser- Es gibt Organisationen, welche MDMA und das krankungen (Krebs et al., 2012). Daneben gibt es Halluzinogen Psilocybin in den nächsten Jahren mehrere Untersuchungen bei gesunden Versuchs- als Medikamente verfügbar machen wollen. Die personen, bei welchen die akuten Effekte von LSD US- und die Europäische Arzneimittelbehörde systematisch untersucht und mit den Effekten von bieten Unterstützung für diese Anliegen. Ich den- anderen psychoaktiven Substanzen wie MDMA ke nicht, dass LSD in zehn Jahren eine Marktzu- oder Amphetamin verglichen werden. Darüber lassung hat, jedoch weiterhin mit Spezialbewilli- hinaus wird die Dosis-Wirkungs-Beziehung er- gungen für zwischenzeitlich möglicherweise sogar fasst und Veränderungen der Hirnaktivität wer- zusätzliche Indikationen therapeutisch genutzt den unter LSD bildgebend dargestellt. Studien mit werden kann. Es wird jedoch weiterhin vor allem LSD-Microdosing (Einnahme geringster Dosie- akademisch und nicht kommerziell untersucht. rungen, bei welchen nicht der halluzinogene Ef- Ich hoffe aber, dass es zahlreiche akademische fekt im Vordergrund steht) sind in Holland und klinische Studien geben wird, welche den Nutzen England geplant, realisiert ist aber erst wenig. und die Risiken definieren. Carhart-Harris, R.L., Muthukumaraswamy, S., Roseman, L., Kaelen, M., Droog, W., Murphy, K. et al. (2016). Neural correlates of the LSD experience revealed by multimodal neuroimaging. PNAS. 113:4853-8. Gasser, P., Kirchner, K. & Passie, T. (2015). LSD-assisted psychotherapy for anxiety associated with a life-threatening disease: a qualitative study of acute and sustained subjective effects. Journal of Psychopharmacology. 29(1):57-68. Johansen, P.O. & Krebs, T.S. (2015). Psychedelics not linked to mental health problems or suicidal behavior: a population study. Journal of Psychopharmacology. 29(3):270-9. Krebs, T.S. & Johansen, P.O. (2012). Lysergic acid diethylamide (LSD) for alcoholism: meta-analysis of randomized controlled trials. Journal of Psychopharmacology. 26(7):994-1002. Liechti, M.E. (2017). Clinical research on LSD. Neuropsychopharmacology. 42:2114-27. Nichols, D.E. & Grob, C.S. (2018). Is LSD toxic? Forensic Science International. 284:141-5. Rucker, J.J., Jelen, L.A., Flynn, S., Frowde, K.D. & Young, A.H. (2016). Psychedelics in the treatment of unipolar mood disorders: a systematic review. Journal of Psychopharmacology. 30(12):1220-9. 19
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