Forum Ausgabe 12 2016 - Aktuelle Entwicklungen bei Berufskrankheiten - DGUV Forum
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80168 Fachzeitschrift für Prävention, Rehabilitation und Entschädigung Ausgabe 12 • 2016 Forum Aktuelle Entwicklungen bei Berufskrankheiten Der Versicherungsfall nach § 9 Abs. 2 SGB VII Eine besondere Herausforderung Aus der Forschung Projekt zum Gesundheitsschutz von Feuerwehreinsatzkräften
Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, die Entwicklung im Berufskrankheitengeschehen stellt uns regelmäßig vor neue Herausforderungen. Gerade hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wissenschaftliche Be- gründungen für vier neue Krankheitsbilder veröf- fentlicht. Es handelt sich um drei unterschiedliche Krebserkrankungen und die fokale Dystonie bei Be- Foto: Wolfgang Bellwinkel/DGUV rufsmusikern und -musikerinnen. Alle vier Erkran- kungen können künftig „wie eine Berufskrankheit“ anerkannt werden. Wie hoch sind die zu erwar- tenden Fallzahlen? Welche Begutachtungsempfeh- lungen müssen wir entwickeln? Jedes neue Krank- heitsbild stellt seine eigenen Bedingungen und wir betreten immer wieder ein Stück Neuland. So war es auch mit der BK 5103, dem hellen Hautkrebs durch natürliche UV-Strahlung, der zum 1. Januar 2015 in die Berufskrankheitenliste aufgenommen wurde. Die gesetz- liche Unfallversicherung war gut vorbereitet auf diese neue Be- „Unsere Aufgabe und unser Be- rufskrankheit. Zum Stichtag stand bereits eine Reihe von Ar- streben ist es, die Qualität der beitshilfen zur Verfügung. Aber viele Fragen stellen sich erst in BK-Verfahren und ihre Transpa- der Praxis. Wie schaffen wir es, dass die Sonne beim Arbeiten renz stetig weiterzuentwickeln. im Freien auch als mögliche Gefahr gesehen wird? Was sind wirksame Präventionsmaßnahmen? In welchem Maße wird die Nötig sind dazu aber auch Erwerbsfähigkeit durch die neue Berufskrankheit gemindert? möglichst klare Vorgaben für Und was zählt alles zu einer guten medizinischen Nachsorge? die einzelnen Krankheitsbilder durch den Gesetzgeber.“ Es braucht Zeit, Erfahrung und häufig auch weitere Forschung, bis Prävention und Klinik so gut verzahnt sind wie zum Beispiel im Hautarztverfahren der BK 5101. Unsere Aufgabe und unser Bestreben ist es, die Qualität der BK-Verfahren und ihre Transparenz stetig weiterzuentwickeln. Nötig sind dazu aber auch möglichst klare Vorgaben für die einzelnen Krankheitsbilder durch den Gesetzgeber. Mit den besten Grüßen Ihr Dr. Joachim Breuer Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung 2 DGUV Forum 12/2016
Inhalt > Editorial/Inhalt >>> 2–3 > Aktuelles >>> 4–8 > Nachrichten aus Brüssel >>> 9 > Titelthema >>> 10–37 Der Versicherungsfall nach § 9 Abs. 2 SGB VII Eine besondere Herausforderung 10 Karin Praefke, Stefanie Palfner Wissenschaftliche Begründungen Neue Anerkennungsmöglichkeiten für beruflich verursachte Erkrankungen 13 Patricia Heinisch, Stefanie Palfner Kostenträger Krankenkasse oder Berufsgenossenschaft? 13 CI-Implantation bei anerkannter Lärmschwerhörigkeit und nachfolgender lärmunabhängiger Ertaubung 15 Tilman Brusis, Jürgen Alberty, Eberhard F. Meister Die DASA Arbeitswelt-Ausstellung in Dortmund zeigt zurzeit Sekundärprävention von UV-induziertem Hautkrebs die Ausstellung „Wie geht’s“, die mit einem innovativen (BK-Nr. 5103) Konzept und farbenfrohen Illustrationen junge Berufstätige für das Thema „Berufskrankheiten“ sensibilisieren will. Individuelle Lichtschutz-Beratung für Beschäftige Eine der Illustrationen von Laura Laakso ziert das Titelbild in Außenberufen 18 der aktuellen Ausgabe des DGUV Forum. Entwickelt wurde Michaela Ludewig, Marc Rocholl, Anja Hübner, das Konzept von der DASA in Kooperation mit der Deutschen Christoph Skudlik, Swen Malte John, Annika Wilke Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Weitere Infor- ma-tionen finden Sie auf der Medien-Seite. Neue Hörgeräte-Generation für Tätigkeiten im Lärmbereich Hörgeräte am Lärmarbeitsplatz erlaubt? 22 Ulrike Wolf, Otmar Lenz Teil 1: Minderung der Erwerbsfähigkeit bei arbeitsbedingten Hautkrebserkrankungen Bamberger Empfehlung und rechtliche Hintergründe zu MdE 26 Stephan Brandenburg, Wolfgang Römer, Steffen Krohn, Stefanie Palfner Teil 2: Minderung der Erwerbsfähigkeit bei arbeitsbedingten Hautkrebserkrankungen Die neuen MdE-Tabellen in der Praxis 28 Stephan Brandenburg, Steffen Krohn, Wolfgang Römer, Stefanie Palfner Hautkrebs durch UV-Strahlung Update zur neuen BK-Nr. 5103 31 Daniel Engel, Steffen Krohn, Stephanie Schneider, Gerald Wanka 38 Berufskrankheiten-Monitoring Entwicklungen zeigen und Hypothesen überprüfen 36 Stephanie Schneider > Prävention >>> 38–39 > Personalia >>> 40 Aus der Forschung Projekt zum Gesundheitsschutz von > Aus der Rechtsprechung >>> 41 Feuerwehreinsatzkräften 38 Dirk Taeger > Medien/Impressum >>> 42 DGUV Forum 12/2016 3
Aktuelles Wenn der Schmerz vom Kopf in den Rücken wandert Die neue Broschüre der DGUV „Rundum Kommt es zu Beschwerden oder Erkran- gestärkt – Wie psychosoziale Faktoren kungen, so werden sie meist durch eine bei der Prävention von Muskel-Skelett- Kombination aus körperlichen und see- Erkrankungen am Arbeitsplatz berück- lischen, beruflichen und privaten Be sichtigt werden können“ erklärt, welche lastungen verursacht. Die Broschüre arbeitsbedingten Belastungen zu Be- „Rundum gestärkt“ legt den Schwer- schwerden führen können, und gibt punkt auf die psychosozialen Faktoren Tipps und Hinweise, was Betriebe dage- und erklärt konkret und anschaulich, gen tun können. Stress kann zu Muskel- welche Belastungsfaktoren es gibt, was verspannungen, langfristig zu Besch Unternehmen, Führungskräfte und Be- werden und Erkrankungen im Bewe- schäftigte konkret tun können und wel- gungsapparat führen. Psychische Belas- che Institutionen sie dabei unterstützen. Foto: Kaj Kandler/kombinatrotweiss.de/DGUV tungen können aber auch in gesund- heitsförderliche Ressourcen verwandelt werden, wenn man sie entsprechend ge- staltet. Durch eine bessere Aufgabenver- ! Die Broschüre und weitere Informa- tionen stehen unter dem folgenden teilung und die Organisation kollegialer Link zur Verfügung: Unterstützung kann aus einer Überfor- www.gdabewegt.de > Presse > derung – zum Beispiel eine hohe Ar- Presseinformation: Psychische beitsintensität – eine Herausforderung Ursachen von Rückenschmerzen: werden, die die Beschäftigten zugleich Neue Broschüre der DGUV fordert und fördert. „Sicher mit System“: Wenn alle an einem Strang ziehen Ende September wurde der Firma Schlieckmann das Gütesiegel „Sicher mit System“ der Berufsgenossenschaft für Holz und Metall (BGHM) verlie- hen. In nur einem Jahr hat das Unter- nehmen ein professionelles Arbeits- schutzmanagementsystem (AMS) eingeführt. Unternehmensleitung, Management und der Betriebsrat zogen an einem Strang, um die Arbeitssicherheit im Betrieb zu verbessern. Simone Krüger, Personalleiterin der Hubert Schlieck- Foto: BGHM mann GmbH, betont: „Als wir das neue AMS einführten, hinterfragten wir in Zusammenarbeit mit allen Ab- teilungen die bestehenden Arbeits Gütesiegelübergabe an die Hubert Schlieckmann GmbH abläufe und best eh ende Organi sationsformen. Das gemeinsam ! ausgelotete Optimierungsp otenzial haben wir dann Schritt für Schritt – achtung beantragen. Parallel zum AMS Weitere Informationen zu „Sicher mit Abteilung für Abteilung umgesetzt.“ führte das Unternehmen auch ein Betrieb- System“ und dem Beratungsangebot Drei Jahre bleibt das Gütesiegel „Si- liches Gesundheitsmanagement ein, das „Gesund im Mittelstand“ unter: www. cher mit System“ gültig. Dann kann von der BGHM und dem Angebot „Gesund bghm.de (Webcodes 492 und 491) das Unternehmen eine erneute Begut- im Mittelstand“ unterstützt wurde. 4 DGUV Forum 12/2016
Aktuelles Jugendliche aufgepasst: Abschleppen nur mit Führerschein Die Sozialversicherung für Landwirt- ablegen. Die SVLFG empfiehlt zusätzlich schaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) ein spezielles Fahrtsicherheitstraining, weist daraufhin, dass Schlepper, Stapler damit Jugendliche die komplexe Technik oder Hoflader auf einem Betriebsgelän- der Schlepper auch in Gefahrensituati- de nur mit dem passenden Führerschein onen beherrschen. Für Fragen und eine gefahren werden dürfen. Sobald es mög- ausführliche Beratung rund um das lich ist, ein Betriebsgelände von außen Thema Schlepper und Führerscheinviel- zu betreten, gelten dort die gleichen Re- falt stehen die Präventionsfachleute der geln zum Führen eines Fahrzeugs wie SVLFG jederzeit zur Verfügung. auf einer öffentlichen Straße. Besonders bei Jugendlichen ist das Schlepperfah- ren sehr beliebt. Das birgt aber aufgrund der mangelnden Fahrerfahrung ein er- Foto: SVLFG hebliches Unfallrisiko. Jugendliche kön- Die Fahrprüfung, die zum Schlep- nen allerdings die Prüfung zur Fahrer- perfahren berechtigt, kann ab 16 laubnis der Klassen T und L ab 16 Jahren Jahren abgelegt werden. Einigung zum Rückwärtsfahren bei der Abfallsammlung Unfallversicherungsträger, Entsorgungs- wirtschaft und die Vereinte Dienstleis- tungsgewerkschaft (ver.di) haben einen Konsens zum Rückwärtsfahren bei der Ab- fallsammlung gefunden. Dieser ist in der neuen Branchenregel „Abfallsammlung“ umgesetzt, die vom Grundsatzausschuss Prävention der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) am 24. Oktober 2016 beschlossen wurde und zeitnah in der DGUV Publikationsdatenbank veröffent- licht wird. „Mit der Branchenregel ist es uns gelungen, Lösungen für den Arbeitsschutz bei der Ab- fallsammlung zu finden, die die Bedürfnisse der Praxis und den aktuellen Stand der Technik berücksichtigen“, so Dirk Füting, Leiter des Sachgebiets Abfallwirtschaft der DGUV. „Unter anderem machen wir trans- parent, wie die Sicherheit beim Rückwärts- fahren gewährleistet werden kann.“ Laut Branchenregel sollen Entsorgungsun- ternehmen die Touren bei der Abfallabho- lung grundsätzlich so planen, dass unfall- Foto: Dominik Buschardt/DGUV trächtige Rückwärtsfahrten möglichst vermieden werden. In Ausnahmefällen sol- len sie jedoch möglich sein, wenn in der Gefährdungsbeurteilung Schutzmaßnah- men für die Beschäftigten festgelegt sind. An der Erarbeitung der Branchenregel wa- ren Fachleute der Berufsgenossenschaften, Rückwärtsfahren ist bei Abfallsammelfahrzeugen deshalb so gefährlich, weil die Fahrer Unfallkassen, Entsorgungswirtschaft und und Fahrerinnen nur unzureichend den Raum hinter ihrem Fahrzeug einsehen können. der Gewerkschaft ver.di beteiligt. DGUV Forum 12/2016 5
Aktuelles Kein Unfall – BG ETEM gewinnt Deutschen Wirtschaftsfilmpreis Das Präventionsvideo der Berufsgenossen- schaft Energie Textil Elektro Mediener- zeugnisse (BG ETEM) „Aufmerksamkeit darf man nicht teilen“ wurde im Oktober beim 49. Deutschen Wirtschaftsfilmpreis in der Kategorie „Audiovisuelle Beiträge für digitale Medien“ mit dem ersten Platz aus- gezeichnet. Im Rahmen der Kampagne Foto: Alexander Paul Englert/BG ETEM „Ein Unfall ändert alles.“ wird das Video seit 2015 auf den digitalen Kanälen der BG ETEM eingesetzt, um jugendliche Ver- kehrsteilnehmer und -teilnehmerinnen für das Thema Ablenkung im Straßenverkehr zu sensibilisieren. Bislang wurde das Video insgesamt 1,5 Millionen Mal auf Facebook und Youtube aufgerufen. Die Kampagne hat bisher mehrere Millionen User erreicht. Screenshot aus dem Videoclip BG ETEM zeichnet gute Ideen für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz aus Die Berufsgenossenschaft Energie Textil geben. Prämiert wurden sowohl technische Das Unternehmen konnte mit einem selbst- Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) hat Lösungen als auch Maßnahmen zum Ge- gedrehten Film zur Schulung von Stapler- im Kölner Schokoladenmuseum sechs mit- sundheitsschutz. Zwei der ausgezeichne- fahrenden überzeugen. Mit dem IQ-Präven- telständische Unternehmen mit dem Prä- ten Unternehmen sind in Nordrhein-West- tionspreis sind zusätzlich 3.000 Euro ventionspreis ausgezeichnet. falen beheimatet, zwei in Bayern. verbunden. ! Der Preis wird seit 2008 alle zwei Jahre für Bei der Preisverleihung im Schokoladen- vorbildliche Leistungen auf den Gebieten museum vergab das Publikum unter den Mehr Informationen und Videos zu Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz sechs Preisträgern und Preisträgerinnen den ausgezeichneten Unternehmen verliehen. In jeder der sechs bei der BG außerdem den IQ-Präventionspreis. Die unter: www.bgetem.de ETEM versicherten Branchen wird jeweils Wahl fiel auf das Druckhaus Mainfranken (Webcode 16805240) ein 5.000 Euro dotierter Branchenpreis ver- GmbH aus Greußenheim bei Würzburg. Foto: Andreas Enderlein/BG ETEM Die Preisträger und Preisträgerinnen des IQ-Präventionspreises der BG ETEM 6 DGUV Forum 12/2016
Aktuelles Neuer Service für Altenpflege: Gefährdungsbeurteilung jetzt online erstellen Ambulante und stationäre Einrichtungen neuen Online-Handlungshilfen führen grundinformationen und Verweise auf der Altenpflege können die gesetzlich systematisch durch die einzelnen Schrit- gesetzliche Grundlagen. vorgeschriebene Gefährdungsbeurtei- te der Gefährdungsbeurteilung. Sie hel- lung für ihre Beschäftigten jetzt auch on- fen dabei, Arbeitsbereiche festzulegen, In der aktuellen Ausgabe „Gefährdungs- line erstellen. Das Werkzeug dazu bietet Tätigkeiten zu erfassen, Gefährdungen beurteilung“ des Magazins „BGW mittei- die Berufsgenossenschaft für Gesund- systematisch zu ermitteln und Risiken lungen“ berichtet die Berufsgenossen- heitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) beim Auswählen geeigneter Schutzmaß- schaft darüber hinaus ausführlich über auf ihrer Webseite www.bgw-online.de/ nahmen zuverlässig zu beurteilen. Zu je- das Steuerungsinstrument Gefährdungs- gefaehrdungsbeurteilung-online an. Die dem Thema finden sich Links zu Hinter- beurteilung. Teleskoplader brauchen keine spezielle Fahrerlaubnis in der Landwirtschaft Der Besitz eines Bedienerscheins oder ei- reich einen Bedienerausweis – also eine chen Mitarbeitenden und Familienange- ner speziellen Fahrerlaubnis für Telesko- spezielle Fahrerlaubnis – besitzen müssen, hörigen jedoch hinsichtlich der Gefahren plader ist beim Einsatz in der Landwirt- gilt ausschließlich im Regelungsbereich zu unterweisen. schaft nicht notwendig. Darauf weist die der DGUV und daher nicht für Versicherte ! Sozialversicherung für Landwirtschaft, der SVLFG. Der Besitz eines Führerscheins Forsten und Gartenbau (SVLFG) aufgrund mindestens der Klasse L für das Fahren ei- vermehrter Nachfragen hin. nes Teleskopladers auf öffentlichen Stra- Eine ausführliche Betriebsanwei- sung der SVLFG fasst alle Gefahren ßen, Wegen und Verkehrsflächen bleibt kurz und bündig zusammen. Sie ist Der Qualifizierungsgrundsatz 308-009 der selbstverständlich erforderlich. auf der Homepage www.svlfg.de Deutschen Gesetzlichen Unfallversiche- unter dem Stichwort „Teleskoplader“ rung (DGUV), dass Fahrer und Fahrerinnen Um Teleskoplader in der Landwirtschaft zu finden. von Teleskopladern im gewerblichen Be- sicher zu betreiben, sind die maßgebli- Intensive Kooperation bei Forschung zur Mensch-Roboter-Kollaboration Im Auftrag der Berufsgenossenschaft und Gesundheit bei der Mensch-Roboter- BGHM und im DGUV Fachbereich Holz Holz und Metall (BGHM) haben Fachleu- Kollaboration ermöglicht“, sagt Dr. Mat- und Metall, der die Studie am Fraunhofer te des Fraunhofer Instituts für Fabrikbe- thias Umbreit, Experte für Robotik in der IFF intensiv begleitet. trieb und -automatisierung IFF in Mag deburg in einem Forschungsprojekt Grenzwerte für Kraft und Druck ermittelt, die im Falle eines Kontakts zwischen Mensch und Roboter die Zusammenar- beit von Mensch und Maschine ohne Un- fall sicherstellen. Bei diesem für die Prä- vention wichtigen Forschungsthema besteht auch eine enge Kooperation mit dem Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA). Im Technikum des Fraunhofer IFF wird unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ erforscht, was die Arbeitswelt in der Pro- duktion in naher Zukunft und zum Teil schon heute verändert. Der Forschungs- Foto: BGHM/Costard schwerpunkt des Geschäftsfeldes Robo- tersysteme liegt auf Service- und Assis- tenzrobotern. Die sichere Kooperation und die Interaktion zwischen Mensch und Maschine ist eines der zentralen Themen. „Die BGHM hat mit dieser For- (v. l.) Prof. Norbert Elkmann (Leiter des Geschäftsfeldes Robotersysteme), Dr. Matthias schungsförderung die Ermittlung ent- Umbreit (Robotik-Experte der BGHM) und Roland Behrens (wissenschaftlicher Mitarbei- scheidender Grenzwerte für Sicherheit ter und Projektleiter der Studie) im Technikum des Fraunhofer IFF DGUV Forum 12/2016 7
Aktuelles Gemeinsame Erklärung und Gefahrstoffpreis: Staub am Arbeitsplatz verringern Der 11. Deutsche Gefahrstoffschutzpreis des Bundesministeriums für Arbeit und So- ziales (BMAS) in Zusammenarbeit mit der dass auch die Praxis auf einem guten Weg ist.“ Der Preis wurde in diesem Jahr in den Kategorien „Staubarme Materialien ver- ! Nähere Informationen zu den Preis- trägern und Eindrücke von der Preis- Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Ar- wenden“, „Staubarme Techniken“ und verleihung gibt es im Internet unter: www.gefahrstoffschutzpreis.de beitsmedizin (BAuA) würdigte auch dieses „Staubausbreitung verhindern“ vergeben. Jahr innovative Lösungen, die auf unter- schiedliche Weise das Staubaufkommen am Arbeitsplatz verringern und so die Ge- sundheit der Beschäftigten schützen. Der Preis ist mit 15.000 Euro dotiert und wurde den Preisträgern von Ministerialdirektorin Maria Britta Loskamp, Abteilungsleiterin im BMAS, verliehen. Die Preisverleihung fand im Rahmen einer Veranstaltung zur Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklä- rung des Aktionsprogramms Staub am 25. Oktober 2016 in Berlin statt. Foto: Jörg Carstensen/BMAS „Staub ist nicht ungefährlich: Er kann die Gesundheit erheblich beeinträchtigen. Ge- rade beim Bauen sind Beschäftigte häufig Stäuben ausgesetzt“, hält Yasmin Fahimi fest, Staatssekretärin des BMAS. „Es ist gut, wenn alle Beteiligten bei der Staubmi- nimierung an einem Strang ziehen. Die ge- (v. l. n. r.) Martin Reuter (Hilti Deutschland AG), Bernhard Arenz (BG BAU), Lars Dannen- meinsame Erklärung setzt dabei ein gutes mann (DUSS), Rüdiger Pipke (BAuA), Klemens Möcklinghoff (möcklinghoff Lufttechnik Signal. Und die Preisträger des 11. Deut- GmbH), Britta Loskamp (BMAS), Matthias Gräf (möcklinghoff Lufttechnik GmbH), Günther schen Gefahrstoffschutzpreises zeigen, Hermann (Mapei), Uwe Thomae (Recknagel GmbH), Alfred Loleit (INOTEC GmbH) Hamburger Trägerinnen der gesetzlichen Unfallversicherung und BG Klinikum Hamburg unterstützen die Rollstuhlbasketball-WM 2018 Die Hamburger Trägerinnen der gesetzlichen die Unfallkasse (UK) Nord und das BG Klini- fördert die körperliche und seelische Ge- Unfallversicherung und die berufsgenossen- kum Hamburg (BGKH) gemeinsam mit. Sie sundheit gleichermaßen. Der Spitzensport schaftliche Unfallklinik in Hamburg unter- erleben in ihrer Arbeit immer wieder, wie wirkt dabei motivationsfördernd und identi- stützen die Rollstuhlbasketball-Weltmeister- wichtig Sport für die gesellschaftliche Teilha- fikationsstiftend. Diese Chance bietet auch schaft der Frauen und Männer 2018 in der be von Menschen mit Behinderungen ist – die Rollstuhlbasketball-Weltmeisterschaft Hansestadt. Das teilen die Berufsgenossen- und damit für die Inklusion im Sinne der UN- 2018: Sie wird den Behindertensport ins schaft für Gesundheitsdienst und Wohl- Behindertenrechtskonvention. Sport ist ein Rampenlicht rücken – und gleichzeitig ein fahrtspflege (BGW), die BG Verkehr, die VBG, unverzichtbares Mittel der Rehabilitation: Er Stück weiter in die Mitte der Gesellschaft. Zahl des Monats: 1,382 Mio. Wird ein Unternehmen, das der Gewerbeord- Millionen Gewerbeanzeigen erstattet. In der nung unterliegt, gegründet oder geschlossen, Vergangenheit wurden die Auszüge per Post Illustration: Cicero meldet der Unternehmer oder die Unterneh- versandt. Seit einiger Zeit ist die Umstellung merin das dem zuständigen Gewerbeamt der auf eine elektronische Übermittlung im Gan- Kommune. Auszüge aus diesen Meldungen ge. Ab dem 1. Januar 2017 endet der analoge schicken die Ämter an verschiedene Behörden Datentransfer: Sämtliche Gewerbeämter sind und auch an die Deutsche Gesetzliche Unfall- dann verpflichtet, die Auszüge aus den Ge- versicherung. Im Jahr 2015 wurden nach An- werbeanzeigen nur noch auf elektronischem gaben des Statistischen Bundesamtes 1,382 Weg an die Unfallversicherung zu senden. 8 DGUV Forum 12/2016
Nachrichten aus Brüssel Menschen mit Behinderung soll der Zugang zu Webinhalten erleichtert werden Seit 2012 diskutieren das Europäische cher Stellen betroffenen. So sollen Web- Die EU möchte mit den neuen Regelun- Parlament und der Ministerrat über seiten künftig für Menschen mit Ein- gen den Weg für eine inklusive digitale neue Regelungen, die Menschen mit schränkungen so gestaltet sein, dass sie Gesellschaft frei machen, ein Recht, Behinderung den Zugang zu Websei- auch für sie wahrnehmbar und bedien- das auch in der von der EU ratifizierten ten und mobilen Apps öffentlicher bar sind, zum Beispiel ohne Verwen- UN-Konvention für Menschen mit Be- Stellen erleichtern sollen. Nachdem dung einer Maus. hinderung verankert ist. sich die europäischen Gesetzgebungs- organe in trilateralen Beratungen auf einen konkreten Text geeinigt haben, wird der vom Ministerrat und vom Eu- ropäischen Parlament offiziell gebil- ligte Text bald in Kraft treten. Die Mit- gliedstaaten haben 21 Monate Zeit, die europäischen Regelungen in nationa- les Recht umzusetzen. Ziel der von der EU-Kommission vorge- legten Richtlinie ist es, in den Berei- chen Kommunikation und Informatio- Foto: momius/Fotolia.com nen einen gleichberechtigten Zugang auch dort zu realisieren, wo eine Behin- derung heute noch zu massiven Ein- schränkungen für die Betroffenen führt. Von den Regelungen sind insbesondere Webseiten und mobile Apps öffentli- Was hat Brüssel 2017 vor? Die Europäische Kommission gibt je- ran zu arbeiten, eine Säule sozialer beitszeitrichtlinie. Um neue Arbeitsplät- weils im Herbst Auskunft über ihre po- Rechte zu schaffen. Im Anschluss an die ze, Wachstum und Investitionen anzu- litischen Prioritäten, die sie im folgen- bis Ende des Jahres laufende öffentliche regen, möchte die EU-Kommission den Jahr umsetzen möchte. In diesem Anhörung möchte die EU-Kommission ebenfalls noch bis Ende des Jahres ei- Jahr bündelt die Brüsseler Behörde ihre ihre konkreten Vorstellungen hierzu be- nen „Europäischen Solidaritätskorps“ Vorstellungen unter dem Titel „Für ein kannt geben. Sie hat bereits jetzt ange- einführen. Darin sollen sich junge Men- Europa, das schützt, stärkt und vertei- deutet, dass eine Säule sozialer Rechte schen freiwillig engagieren und helfen, digt“. Im Vorfeld des 60-jährigen Jubi- als Basis einer europäischen, sozialen herausfordernde Situationen in der EU läums der Römischen Verträge im kom- Marktwirtschaft sowie als Kompass für zu bewältigen. menden März geht es dabei um Kern- faire Arbeitsbedingungen und nach fragen der Gemeinschaft. haltige Wohlfahrtssysteme dienen soll. Die Europäischen Institutionen werden Darüber hinaus ist die Veröffentlichung nun eine gemeinsame Erklärung zu Von den zehn Prioritäten und 21 Kern- weiterer damit zusammenhängender In- den Zielen und Prioritäten für 2017 er- elementen ist für die Sozialversicherung itiativen geplant, etwa der Zugang zum arbeiten, damit die Vorschläge schnell unter anderem von Interesse, weiter da- Sozialschutz und zur Umsetzung der Ar- umgesetzt werden können. Weitere Informationen: ilka.woelfle@esip.eu DGUV Forum 12/2016 9
Titelthema Der Versicherungsfall nach § 9 Abs. 2 SGB VII Eine besondere Herausforderung Seit das 7. Sozialgesetzbuch VII die Reichsversicherungsordnung abgelöst hat, wurde nicht nur der eigenständige Versicherungsfall Berufskrankheit geschaffen, sondern auch die Verpflichtung sta- tuiert, eine Erkrankung wie eine Berufskrankheit anzuerkennen, wenn die Voraussetzungen vorliegen (§ 9 Abs. 2 in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Eine Annäherung. Einleitung Bevor eine Erkrankung wie eine Berufs- Auf dieser Basis gibt er unter anderem Während die rechtliche Grundlage für die krankheit anerkannt werden kann, ist da- Empfehlungen für die Aufnahme neuer Entschädigung von Berufskrankheiten be- her zu prüfen, ob die im SGB VII geregelten Berufskrankheiten in die Berufskrankhei- reits in der zum 1. Januar 1913 in Kraft ge- Voraussetzungen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII, tenverordnung ab. tretenen Reichsversicherungsordnung auf die § 9 Abs. 2 SGB VII Bezug nimmt) (RVO) geschaffen wurde, besteht erst seit erfüllt sind. Dieser Beitrag soll eine Orientierung ge- 1963 die Möglichkeit, im Einzelfall Krank- ben, welche Aspekte bei einzelnen Aufga- heiten wie eine Berufskrankheit anzuer- Dafür muss der aktuelle Erkenntnisstand ben und Fragestellungen zu berücksichti- kennen (§ 551 Abs. 2 RVO). Mit Ablösung der medizinischen Wissenschaft ermittelt gen sind. All diese Punkte sind zusätzlich der RVO durch das Sozialgesetzbuch (SGB) und geklärt werden, ob die Erkrankung zur Frage der individuellen Kausalität VII zum 1. Januar 1997 wurde nicht nur der durch besondere Einwirkungen verur- auch in jedem einzelnen Verfahren nach eigenständige Versicherungsfall Berufs- sacht wurde, denen eine bestimmte Per- § 9 Abs. 2 SGB VII zu prüfen. krankheit geschaffen (§ 9 Abs. 1 SGB VII), sonengruppe durch ihre versicherte Tätig- sondern auch die Verpflichtung statuiert, keit in erheblich höherem Grade als die Prüfung der Voraussetzungen nach eine Erkrankung wie eine Berufskrankheit übrige Bevölkerung ausgesetzt ist. Dabei § 9 Abs. 2 anzuerkennen, wenn die Voraussetzungen sind auch wissenschaftliche Erkenntnisse Erleichtert ist die Anerkennung einer Er- vorliegen (§ 9 Abs. 2 SGB VII). weiterer Wissenschaftszweige wie Epide- krankung als Berufskrankheit, wenn der miologie, Toxikologie, Pharmakologie, ÄSVB eine Empfehlung für die Aufnahme „Erleichtert ist die Anerkennung Biomechanik oder Molekularbiologie zu- einer Berufskrankheit in die Anlage 1 zur sammenzutragen, zu sichten und zu be- BKV veröffentlicht hat. Damit sind die einer Erkrankung wie eine Berufs- werten. Im Prinzip umfasst die Prüfung grundsätzlichen wissenschaftlichen Vo- krankheit, wenn der ÄSVB eine eines solchen Einzelfalles somit die Klä- raussetzungen geprüft und diese Basis Empfehlung für die Aufnahme rung der sogenannten BK-Reife der jewei- für Anerkennungen nach § 9 Abs. 2 SGB einer Berufskrankheit in die Anla- ligen Erkrankung. VII gegeben. ge 1 zur BKV veröffentlicht hat.“ Bei der Erweiterung der sogenannten BK- „Mit der Anerkennung eines Versi- Liste (Anlage 1) zur Berufskrankheitenver- Diese „Öffnungsklausel“ soll dazu dienen, ordnung (BKV) steht dem Verordnungs cherungsfalles im Einzelfall nach Härten für die jeweilige Zwischenzeit zu geber bei dieser Prüfung der Ärztliche § 9 Abs. 2 SGB VII wird die Erkran- vermeiden, die sich daraus ergeben, dass Sachverständigenbeirat „Berufskrankhei- kung keine Listenerkrankung.“ die Berufskrankheiten-Liste nur im Ab- ten“ (ÄSVB) zur Seite. Der ÄSVB ist ein stand von einigen Jahren geändert wird, ständiges und weisungsunabhängiges und um neuen Erkenntnissen der Wissen- Gremium, das das Bundesministerium für In der Praxis der Unfallversicherungsträ- schaft umgehend Rechnung tragen zu kön- Arbeit und Soziales in medizinisch-wis- ger trifft dies jedoch auf eine Vielzahl von nen. Sie ist aber keine allgemeine Härte- senschaftlichen Fragen berät – mit der Erkrankungen nicht zu, die nicht unter ei- klausel für die Anerkennung beruflich Aufgabe, den neuesten wissenschaft ner BK-Nr. zu subsumieren sind. Daher verursachter Krankheiten, die nicht in der lichen Erkenntnisstand zu Berufskrank bedarf die Prüfung, ob ein Ursachenzu- Berufskrankheiten-Liste enthalten sind.1 heiten zu sichten und zu bewerten. sammenhang zwischen einer a rbeits- bedingten Einwirkung und der Entste- hung einer Krankheit infolge der versi- Autorinnen cherten Tätigkeit vorliegt, besonderer Auf- merksamkeit. Karin Praefke Stefanie Palfner Referat Berufskrankheiten der DGUV Referat Berufskrankheiten der DGUV Für die Anerkennung einer Erkrankung E-Mail: karin.praefke@dguv.de E-Mail: stefanie.palfner@dguv.de über die Öffnungsklausel ist zu prüfen, ob 10 DGUV Forum 12/2016
§ 9 Abs. 2 SGB VII Foto: kwarner/fotolia.com Paragraph 9 Abs. 2 des 7. Sozialgesetzbuches hat die Verpflichtung statuiert, eine Erkrankung wie eine Berufskrankheit anzuerkennen, wenn die Voraussetzungen (in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII) vorliegen. • eine besondere Einwirkung vorliegt, fung gesundheitlicher Arbeitsstoffe der der praktischen Erfahrungen eindeutig die mindestens in ihrer Stärke deut- Deutsche Forschungsgemeinschaft“ bekannt ist, kann ein epidemiologi- lich quantitativ und qualitativ über ei- und die internationale Krebsfor- scher Nachweis entbehrlich sein. Dies ne im privaten Bereich bestehende schungsbehörde der Weltgesundheits- kommt am ehesten bei seltenen Erkran- Einwirkung hinausgeht. Diese kann organisation „International Agency for kungen und seltenen Einwirkungen vor. unter anderem durch chemische Ge- Research on Cancer“ (IARC) genaue und fahrstoffe in Form von Stäuben, Ga- wissenschaftlich begründete Definitio- sen, Dämpfen, Flüssigkeiten sowie nen der Faktoren, die eine humankan- Erläuterungen Lärm und auch durch mechanische zerogene Wirkung von Gefahrstoffen § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII Belastungen auftreten. feststellen. Damit kann für sogenannte Berufskrankheiten sind Erkrankungen, • eine bestimmte Personengruppe betrof- K 1-Stoffe – das sind Stoffe, die beim die nach den Erkenntnissen der medizi- fen ist, die der besonderen Einwirkung Menschen bekanntermaßen Krebs er- nischen Wissenschaft durch besondere in erheblich höherem Grade ausgesetzt zeugen – deren krebserzeugende Ur- Einwirkungen verursacht sind, denen ist als die übrige Bevölkerung. Die be- sächlichkeit als gesichert gelten. Darü- bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich hö- stimmte Personengruppe definiert sich ber hinaus ist der epidemiologische herem Grade als die übrige Bevölkerung durch die erheblich erhöhte Einwirkung Nachweis erforderlich, dass die Erkran- ausgesetzt sind. gegenüber der Noxe, nicht durch die Zu- kung in dem exponierten Personenkreis § 9 Abs. 2 SGB VII gehörigkeit zu einer Tätigkeit oder ei- überhäufig vorkommt. Eine Überhäufig- nem Beruf. keit kann sicher angenommen werden, Die Unfallversicherungsträger haben eine Krankheit, die nicht in der Rechts- •d ie schädigende Einwirkung generell ge- wenn eine Verdopplung des Erkran- verordnung bezeichnet ist oder bei der eignet ist, eine bestimmte Erkrankung kungsrisikos vorliegt, auch wenn dies die dort bestimmten Voraussetzungen zu verursachen oder zu verschlimmern. vom Gesetz nicht vorgeschrieben ist. Bei nicht vorliegen, wie eine Berufskrank- Dabei müssen vor allem klinische und Krankheiten, die in der Regel nicht heit als Versicherungsfall anzuer- biologisch-naturwissenschaftliche Er- kennen, sofern im Zeitpunkt der Ent- durch andere Ursachen entstehen und scheidung nach neuen Erkenntnissen kenntnisse der Verursachung der Er- bei denen der Pathomechanismus der medizinischen Wissenschaft die krankung (Pathomechanismus) hinrei- durch die berufliche Ursache auf der Voraussetzungen für eine Bezeichnung chend geklärt sein. So liefern die Grundlage der verfügbaren wissen- nach Abs. 1 Satz 2 erfüllt sind. „Ständige Senatskommission zur Prü- schaftlichen Forschungsergebnisse oder ▸ DGUV Forum 12/2016 11
Titelthema • neue Erkenntnisse der medizinischen und Ausmaß der schädigenden Einwir- dergrund stehen, können die relevanten Wissenschaft über den Ursachenzu- kungen festzustellen. Fragen häufig auch ohne nochmalige Un- sammenhang zwischen schädigender tersuchung der versicherten Person nach Einwirkung und der Erkrankung hin- Sofern es noch keine wissenschaftliche Aktenlage beantwortet werden. sichtlich der versicherten Tätigkeit Empfehlung und Begründung des ÄSVB vorliegen. Diese müssen der „herr- zur Aufnahme einer entsprechenden Be- Mit der Anerkennung eines Versiche- schenden Lehrmeinung“ entsprechen. rufskrankheit gibt, ist zur Beantwortung rungsfalles im Einzelfall nach § 9 Abs. 2 Als solche gilt der durch Forschung der Frage, ob ein genereller Ursachenzu- SGB VII wird die Erkrankung keine Lis- gewonnene Erkenntnisstand, der von sammenhang zwischen einer angeschul- tenerkrankung. Diese Entscheidung ob- der Mehrheit der auf dem jeweiligen digten arbeitsbedingten Einwirkung und liegt allein dem Verordnungsgeber. Fachgebiet tätigen Wissenschaftler der Entstehung einer Erkrankung im Ein- und Wissenschaftlerinnen anerkannt zelfall vorliegt, in der Regel ein Gutachten Dokumentation der Erkrankungen wird. Einzelmeinungen reichen in der eines medizinischen Experten oder einer nach § 9 Abs. 2 SGB VII bei der DGUV Regel nicht aus. Neue Erkenntnisse Expertin erforderlich. Die Erkrankungen, die die Unfallversiche- liegen unter anderem auch dann vor, rungsträger nach dieser Vorschrift prüfen, wenn sie dem Verordnungsgeber nicht Für die Anerkennung als Berufskrankheit werden bei der Deutschen Gesetzlichen bekannt waren und daher nicht be- reicht allein die Überzeugung des Gutach- Unfallversicherung (DGUV) in einer ge- rücksichtigt werden konnten. Auch tens nicht aus, dass im Einzelfall ein sonderten Dokumentation erfasst. Diese wenn die Erkenntnisse dem Verord- kausaler Zusammenhang zwischen der Er- Ergebnisse können – neben den Unfall- nungsgeber bekannt waren und den- krankung der versicherten Person und den versicherungsträgern – die medizinischen noch nicht geprüft worden sind oder arbeitsbedingten Einwirkungen besteht! Sachverständigen und den ÄSVB beim wenn eine Bewertung der Erkenntnis- Entscheidend ist, dass die Bewertung, be- Bundesministerium für Arbeit und Sozia- se unter neuen wissenschaftlichen As- stimmte Einwirkungen verursachten gene- les (BMAS) unterstützen, da sie dazu bei- pekten und Möglichkeiten erfolgen rell bestimmte Erkrankungen, nur dann tragen, Krankheits- und Gefährdungs- kann, gelten sie als „neu“. anzunehmen ist, wenn die Mehrheit der schwerpunkte frühzeitig erkennbar zu •d er ursächliche Zusammenhang der medizinischen Sachverständigen zu dersel- machen. Die Daten dieser Dokumentation Erkrankung mit der gefährdenden ben wissenschaftlich fundierten Auffas- werden jährlich dem BMAS gemeldet. Zu- Einwirkung im konkreten Einzelfall sung gelangen. Sie müssen auf den jeweils sammengefasst werden sie auch regelmä- hinreichend wahrscheinlich ist. in Betracht kommenden Gebieten über be- ßig publiziert, und es werden und dabei sondere Erfahrungen und Kenntnisse ver- aktuelle Fragen zur wissenschaftlichen Im Einzelfall sind also zunächst die gesi- fügen. Da im Gutachten also vor allem Diskussion gestellt. cherte Diagnose der Erkrankung und Art wissenschaftliche Fragestellungen im Vor- Workflow für Erkrankungen nach § 9 Abs. 2 SGB VII für Verwaltungen der Unfallversicherungsträger Um bei der BK-Sachbearbeitung die Ver- fahrensschritte in Feststellungsverfahren über Erkrankungen nach § 9 Abs. 2 SGB VII zu standardisieren, entstand eine Be- schreibung des Verfahrensablaufes als Workflow (Flussdiagramm). Darin sind nicht nur die Fülle und Komplexität von Fallgestaltungen dargestellt, die nach § 9 Abs. 2 SGB VII zu prüfen sind, sondern auch, die Zeitpunkte zur Dokumentation mittels der neu eingeführten Web-Anwen- dung hinterlegt. Diese Maßnahmen unterstützen hoffent- lich die wissenschaftlich und rechtlich anspruchsvolle Prüfung der Öffnungs- klausel. • Foto: burnhead/fotolia.com Fußnote [1] BSG Urteil v. 23.6.1977 – B 2 RU 53/76; BVerfG Beschluss v. 14.7.1993 – 1 BvR 1127/90 12 DGUV Forum 12/2016
Titelthema Wissenschaftliche Begründungen Neue Anerkennungsmöglichkeiten für beruflich verursachte Erkrankungen Der Ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat für vier neue Krankheitsbilder Wissenschaftliche Begründungen beschlossen sowie das Ärzt- liche Merkblatt zur Berufskrankheit Nummer 1301 durch eine Wissenschaftliche Stellungnahme ergänzt. Ausführungen zu den Voraussetzungen, kumulative 1,3-Butadien-Dosis von min- Fokale Dystonie unter denen eine Erkrankung wie eine Be- destens 180 (ppm x Jahre) fest. Sie nennt Diese Erkrankung des zentralen Nerven- rufskrankheit nach § 9 Absatz 2 SGB VII an- als Krankheitsbild Chronisch-myeloische systems äußert sich durch Bewegungsstö- erkannt werden kann, enthält der im oder chronisch-lymphatische Leukämie“. rungen aufgrund eines Verlustes der gleichnamigen Heft erschienene Beitrag Koordinationsfähigkeit einzelner Extremi- „Der Versicherungsfall nach § 9 Abs. 2 SGB Erkrankungen durch polyzyklische täten oder der Mund und Gesicht betref- VII: eine besondere Herausforderung“. aromatische Kohlenwasserstoffe fenden Muskultur (orofacial) bis hin zu In einer Vielzahl von Branchen (zum Bei- Verkrampfungen. Fokale Dystonien treten „Für drei der vier Erkrankungen spiel chemische Industrie, Metallindustrie, bei Instrumentalmusikern und Instrumen- Gießereien oder Braunkohleverarbeitung) talmusikerinnen deutlich häufiger auf konnten in der Bezeichnung können Beschäftigte Tätigkeiten verrichten, als in der übrigen Bevölkerung. Betroffen konkrete Dosis-Wirkungsbezie- bei denen sie polyzyklischen aromatischen können Spieler und Spielerinnen von hungen festgelegt werden.“ Kohlenwasserstoffen (PAK) ausgesetzt sind. Tasten- und Zupfinstrumenten, Streich-, Die Wissenschaftliche Begründung führt Holzblas- und Blechblasinstrumenten Die neuen Wissenschaftlichen Tätigkeiten mit PAK-Einwirkung tabellarisch sein, insbesondere Blechbläser. Begründungen auf. Besonders hohe PAK Einwirkungen be- In den vier neuen Wissenschaftlichen stehen zum Beispiel in Kokereien, bei der B egründungen 1 werden die jeweiligen Herstellung von technischem Ruß, von „Die Anzahl der gemeldeten Krankheitsbilder konkret bezeichnet. Gummi und in Schornsteinfegerbetrieben. Neuerkrankungen nach der Ver- Für drei der vier Erkrankungen konnten öffentlichung der Wissen- i n der Bezeichnung konkrete Dosis- Der Ärztliche Sachverständigenbeirat „Be- schaftlichen Begründung bleibt Wirkungsbeziehungen festgelegt werden. rufskrankheiten“ hat die Aufnahme fol- abzuwarten.“ Die wissenschaftlichen Begründungen gender Krankheitsbilder in die Berufs- sind auf der Website der Bundesanstalt krankheitenliste empfohlen: für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Häufig müssen die Betroffenen ihr Spiel- (BAuA) abrufbar.2 • „Kehlkopfkrebs durch polyzyklische niveau und Repertoire einschränken und aromatische Kohlenwasserstoffe bei sind dann gezwungen, ihre Karriere zu Leukämie durch 1,3-Butadien Nachweis der Einwirkung einer kumu- beenden. Als Einwirkung gilt ein lang- Die chemische Substanz 1,3-Butadien lativen Dosis von mindestens 100 jähriges repetitives und intensives Musi- wird vor allem bei der Herstellung be- Benzo(a)pyren-Jahren [(µgm3) x Jahre]“, zieren auf professionellem Niveau. Ein stimmter Kautschukarten und Kunstfa- • „Schleimhautveränderungen, Krebs, solches Niveau kann bei mehr als 5.000 sern verwendet. 1,3-Butadien dient unter oder andere Neubildungen der Harn- Stunden, in der Regel bei rund 10.000 anderem als Ausgangsstoff für (Teppich) wege durch polyzyklische aromatische Stunden nach dem 18. Lebensjahr er- Kleber und (Papier)Beschichtungen. Die Kohlenwasserstoffe bei Nachweis der reicht sein. Für die wissenschaftlich trag- Exposition durch 1,3-Butadien muss lange Einwirkung einer kumulativen Dosis fähige Ableitung einer „Abschneide- und regelmäßig erfolgt sein. Die Wissen- von mindestens 80 Benzo(a)pyren- schwelle“ fehlt es an entsprechenden, schaftliche Begründung legt insoweit eine Jahren [(µgm3) x Jahre]“. gesicherten medizinisch-wissenschaftli- chen Erkenntnissen. Autorinnen In der Wissenschaftlichen Begründung wird die Berufskrankheit als „Erkrankung Patricia Heinisch Stefanie Palfner des zentralen Nervensystems bei Instru- Referat Berufskrankheiten der DGUV Referat Berufskrankheiten der DGUV mentalmusikern durch feinmotorische E-Mail: patricia.heinisch@dguv.de E-Mail: stefanie.palfner@dguv.de Tätigkeiten hoher Intensität“ bezeichnet. ▸ DGUV Forum 12/2016 13
Titelthema Foto: Mr Twister/fotolia.com Fokale Dystonien können zum Beispiel bei Geigerinnen und Geigern auftreten. Berufskrankheit Nummer 1301: (in der Regel länger als zehn Jahre) und eine Berufskrankheit nach § 9 Absatz 2 SGB Schleimhautveränderungen, Krebs Verrichtung der Arbeit ohne Handschuhe VII anerkannt werden können, keine ge- oder andere Neubildungen der eine Anerkennung der Erkrankung als ar- setzliche Anzeigepflicht im Sinne der § 193 Harnwege durch aromatische Amine beitsbedingt nach Berufskrankheit-Num- Absatz 2 und § 202 SGB VII. • Zu dieser Berufskrankheit hat der Ärztli- mer 1301 erfolgen. che Sachverständigenbeirat auf Basis der aktuellen medizinischen Erkenntnisse Ausblick Fußnoten festgestellt, dass Azofarbstoffe, aus denen Die Anzahl der gemeldeten Neuerkrankun- humankanzerogene aromatische Amine gen nach der Veröffentlichung der Wissen- [1] Die Wissenschaftlichen Begrün- freigesetzt werden können, sowie der Her- schaftlichen Begründung bleibt abzuwar- dungen und die Wissenschaft- stellungsprozess für Auramin geeignet ten. Eine Prognose dazu ist schwierig, liche Stellungnahme wurden am 26.8.2016 im Gemeinsamen sind, Krebs der Harnwege im Sinne der denn nicht selten erhalten Ärzte und Ärz- Ministerialblatt Ausgabe 33/34 Berufskrankheit-Nummer 1301 hervorzu- tinnen erst durch die Aufnahme von Er- veröffentlicht. rufen. Außerdem kann bei langjähriger krankungen in die Berufskrankheitenliste [2] www.baua.de/de/Themen- intensiver Verwendung von permanenten Kenntnis von der arbeitsbedingten Ver von-A-Z/Berufskrankheiten/ Haarfarben im Rahmen der Tätigkeit als ursachungsmöglichkeit der Erkrankung. Dokumente/Merkblaetter.html Friseur oder Friseurin vor dem Jahr 1977 Zudem besteht für Erkrankungen, die wie 14 DGUV Forum 12/2016
Titelthema Kostenträger Krankenkasse oder Berufsgenossenschaft? CI-Implantation bei anerkannter Lärmschwerhörigkeit und nachfolgender lärmunabhängiger Ertaubung Wer trägt die Kosten für eine CI-Implantation, wenn Personen mit anerkannter Lärmschwerhörigkeit später aus anderer Ursache ertauben? Im Folgenden werden drei Fallbeispiele aus der Gutachtenpraxis vorgestellt. Einleitung Als Richtmaß gilt ein Hörverlust von 90 dB 1. Fallbericht Schwerhörige Patientinnen und Patienten oder mehr ab 1.000 Hz und höher. Dies be- Der damals fast 27-jährige Pressenarbeiter werden heute sehr viel häufiger mit Coch- deutet, dass nicht nur bei der vollständigen wurde das erste Mal 1995 nach einer zehn- lea-Implants (CI) versorgt als noch vor Jah- Taubheit, sondern auch bei der an Taubheit jährigen Lärmexpositionsdauer gutachter- ren. Zurzeit werden in Deutschland jährlich grenzenden Schwerhörigkeit eine CI-Im- lich untersucht. Er hatte seit drei bis vier rund 4.000 bis 5.000 CI-Implantationen plantation sinnvoll sein kann. Bei tauben Jahren eine zunehmende Schwerhörigkeit durchgeführt. Vor Jahren war die Indikati- Erwachsenen, die schon vor oder während mit einem beiderseitigen hochfrequenten on für ein Implantat auf eine vollständige des Spracherwerbs ertaubt waren, kann ei- Tinnitus bemerkt. Bei der tonaudiometri- beiderseitige Ertaubung begrenzt und nur, ne CI-Versorgung heute in ausgewählten schen Untersuchung fand sich ein Hoch- wenn diese nach erfolgtem Spracherwerb Fällen ebenfalls indiziert sein. Seit Jahren tonsteilabfall mit Plateaubildung, aber oh- eingetreten war. Nach der aktuellen Leit gehört nun auch die einseitige Ertaubung, ne richtigen Wiederanstieg der Kurve, also linie der Deutschen Gesellschaft für selbst bei Normalhörigkeit des Gegenohres, keine ganz typische c5-Senke. Trotz seiner HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie zu den Indikationen für eine Implantation. Bedenken ging der Gutachter vom Vorlie- „Cochlea-Implant Versorgung und zentral- gen einer beruflichen Lärmschwerhörigkeit auditorische Implantate“ (Stand 05/2012) Da CI-Implantationen häufig durchgeführt aus und schätzte die Minderung der Er- ist eine CI-Versorgung heute dann ange- werden, kommt es hin und wieder zu Streit- werbsfähigkeit (MdE) auf 10 Prozent, was zeigt, wenn mittels bester herkömmlicher fragen, die gutachterliche Stellungnahmen zur Anerkennung führte. Außerdem schlug schallverstärkender Hörgeräte kein ausrei- erfordern. Ein Behandlungsfehler wird zum er einen Arbeitsplatzwechsel vor, der im chendes Sprachverstehen mehr erzielt wer- Beispiel vermutet, wenn die Elektrode bei gleichen Jahr erfolgte. Acht Jahre später den kann. Generell gilt die Empfehlung, der Nachbehandlung versehentlich etwa fand der Gutachter – trotz fehlender Lärm- dass Patientinnen und Patienten mit nur 30 aufgrund unübersichtlicher Verhältnisse belastung – bereits eine mittelgradige Prozent und weniger Einsilberverstehen für entfernt wurde (Didczuneit-Sandhop 2013). Schwerhörigkeit und schätzte die lärmun- eine CI-Implantation geeignet sind. Bei Manche Krankenkassen weigern sich nach abhängige MdE einschließlich Tinnitus auf kleinen Kindern, bei denen eine sprachau- wie vor, die Kosten bei einer einseitigen CI- 40 Prozent. 2015 wurde im Alter von 47 Jah- diometrische Untersuchung noch nicht Implantation zu übernehmen. Als Gegen- ren beiderseits eine an Taubheit grenzende möglich ist, wird aufgrund der tonaudio- argument verweisen sie auf frühere Leitli- Schwerhörigkeit festgestellt (siehe Abbil- metrischen Hörschwelle entschieden. nien, die zum Operationszeitpunkt gültig dung 1). Der Gutachter ging davon aus, waren, hin oder auf eine hauseigene, inter- dass die Möglichkeiten einer Hörgerätever- ne Richtlinie (Michel/Brusis 2013). Oder der sorgung ausgereizt seien und schlug eine Autoren Medizinische Dienst der Krankenkassen CI-Versorgung vor. (MDK) nimmt Bezug auf die unrealistische Prof. Dr. Tilman Brusis WHO 4-Tabelle. Beurteilung: Im Nachhinein ist davon aus- Institut für Begutachtung, Köln zugehen, dass es sich insgesamt um eine E-Mail: prof-brusis@t-online.de In letzter Zeit gibt es immer wieder ge- außerberufliche Schwerhörigkeit mit einer richtliche Auseinandersetzungen, ob die Gesamt-MdE von 70 Prozent handelt. Da Prof. Dr. Jürgen Alberty Kosten einer CI-Implantation von der Be- jedoch 1995 eine berufliche Lärmschwer- HNO-Gemeinschaftspraxis Aachen rufsgenossenschaft oder der gesetzlichen hörigkeit dem Grunde nach mit einer MdE E-Mail: j.alberty@arcor.de Krankenkasse übernommen werden müs- von 10 Prozent anerkannt war, besteht be- sen, wenn der Patient oder die Patientin züglich dieses Verwaltungsaktes ein Be- Prof. Dr. Eberhard F. Meister mit einer anerkannten Lärmschwerhörig- standsschutz. Dennoch ist die an Taubheit Institut für Medizinische keit später aus anderer Ursache ertaubt. grenzende Schwerhörigkeit ganz bezie- Gutachten, Leipzig Im Folgenden soll über drei derartige Fäl- hungsweise fast ganz außerberuflich be- E-Mail: prof-meister@t-online.de le berichtet werden: dingt (Gesamt-MdE 70 Prozent). Die Kosten ▸ DGUV Forum 12/2016 15
Titelthema 0,125 0,25 0,5 0,751 1,52 3 4 6 8 12 0,125 0,25 0,5 0,751 1,52 3 4 6 8 12 -10 SISI rechts -10 normal normal 0 kHz dB 0 10 1995 10 1995 20 20 SISI links 30 30 kHz dB 40 40 50 50 60 Lüscher rechts 60 70 2015 kHz dB 70 2015 80 80 Hörpegel in dB Hörpegel in dB 90 90 Lüscher links 100 100 kHz dB Quelle: T. Brusis 110 110 120 120 rechtes Ohr Frequenz in kHz linkes Ohr Frequenz in kHz Abbildung 1: 1995 wurde eine knapp geringgradige Lärmschwerhörigkeit mit einer MdE von 10 Prozent anerkannt. Trotz Arbeitsplatzwech- sel nahm die bis zur an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit nicht lärmbedingt beiderseits 2015 zu. MdE nun insgesamt 70 Prozent. 0,125 0,25 0,5 0,751 1,52 3 4 6 8 12 0,125 0,25 0,5 0,751 1,52 3 4 6 8 12 -10 SISI rechts -10 normal normal 0 kHz dB 0 1997 1997 10 10 F 20 20 SISI links 30 30 kHz dB 40 40 F 50 F F 50 F 60 Lüscher rechts 60 70 kHz dB 70 80 80 Hörpegel in dB Hörpegel in dB 90 2016 90 Lüscher links 100 100 kHz dB Quelle: T. Brusis 110 110 2016 120 120 rechtes Ohr Frequenz in kHz linkes Ohr Frequenz in kHz Abbildung 2: 1997 lag eine lärmtypische Hochtonsenke geringen Grades mit einer MdE von 15 Prozent vor, 20 Jahre später eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit rechts und eine vollständige Taubheit links (MdE 70 bis 80 Prozent). für eine einseitige oder doppelseitige gleiche Gutachter eine Zunahme der beigeladen. Weiterhin bestand eine aner- CI-Versorgung einschließlich der Kosten Schwerhörigkeit beiderseits und schätzte kannte BK 2301 mit einer MdE von 20 Pro- für die entsprechenden Rehamaßnahmen die MdE bei dem 62-Jährigen nun auf 20 zent. Die Gesamt-MdE betrug nun 70 Pro- sind daher nicht von der Berufsgenossen- Prozent, sodass eine Rente bezahlt wurde. zent. Damit ist der weit überwiegende Teil schaft zu tragen, sondern von der gesetzli- In den folgenden Jahren war die Lärmbe- der Schwerhörigkeit degenerativ-progre- chen Krankenkasse. lastung bei dem inzwischen Selbstständi- dient verursacht und nicht auf die frühere gen stark reduziert. Unabhängig davon Lärmexposition zurückzuführen. Bereits 2. Fallbericht verschlechterte sich das Hörvermögen bei- das Zahlenverhältnis MdE 20 Prozent zu Der 73-jährige Gas- und Wasserinstallateur derseits dramatisch. 2006 wurde rechts ei- MdE 70 Prozent spricht dafür, dass der au- hatte über mehr als 50 Jahre gearbeitet, zu- ne an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit ßerberufliche Anteil wesentlich ist und die letzt selbstständig. Aufgrund von häufigen und links eine vollständige Taubheit fest- beigeladene Krankenkasse die Kosten über- Stemmarbeiten war er einem Lärmexposi- gestellt (siehe Abbildung 2). 2011 erfolgte nehmen muss. Im Übrigen führt beruflicher tionspegel von 89 dB(A) ausgesetzt. Erste eine CI-Implantation auf der linken Seite Lärm anerkanntermaßen nicht zu einer Hörgeräte hatte er 1995 erhalten. 1997 war mit einem sehr guten Ergebnis. Taubheit und auch nicht zu einer an Taub- eine erste Begutachtung für die Berufsge- heit grenzenden Schwerhörigkeit. nossenschaft durchgeführt worden. Es Beurteilung: Das operierende Krankenhaus wurde beiderseits eine geringgradige verlangte die Kosten der CI-Implantation 3. Fallbericht Lärmschwerhörigkeit mit einer MdE von von der Berufsgenossenschaft. In dem Der 1947 geborene Schlosser hatte von 15 Prozent festgestellt; damals war der Ver- Streitverfahren vor dem Sozialgericht wurde 1963 bis 1986 als Grubenelektroschlosser sicherte 55 Jahre alt. Im Jahr 2004 fand der auch die gesetzliche Krankenversicherung und Montagearbeiter im Landmaschi- 16 DGUV Forum 12/2016
CI-Implantation 0,125 0,25 0,5 0,751 1,52 3 4 6 8 12 0,125 0,25 0,5 0,751 1,52 3 4 6 8 12 -10 SISI rechts -10 normal normal 0 kHz dB 0 1996 1996 10 10 20 20 1974 SISI links 1974 30 30 kHz dB 40 40 50 50 60 Lüscher rechts 60 70 kHz dB 70 80 80 Hörpegel in dB Hörpegel in dB 90 90 Lüscher links 100 100 2010 kHz dB 2010 Quelle: T. Brusis 110 110 120 120 rechtes Ohr Frequenz in kHz linkes Ohr Frequenz in kHz Abbildung 3: Nach nur fünfjähriger Lärmexposition fand sich 1966 bereits eine lärmtypische Hochtonsenke auf beiden Ohren, 2004 Anerkennung der Schwerhörigkeit als Berufskrankheit mit einer MdE von 15 Prozent. Bis 2010 weitere Verschlechterung ohne weitere Lärmbelastung. Beiderseits lag nun eine Taubheit mit Hörresten vor (MdE nun insgesamt 80 Prozent). nenbau lärmexponiert gearbeitet. Bei der müht, weitere CIs über andere Kostenträ- nach BK 2301 anerkannt ist. Entscheidend ersten audiometrischen Untersuchung ger abzurechnen. Wenn es sich um eine bi- ist, welcher Ursachenbeitrag der verschie- war 1966 im Alter von 21 Jahren bereits faktorielle Schwerhörigkeit handelt, für die denen Schwerhörigkeitskomponenten im eine lärmtypische Hochtonsenke aufge- verschiedene Versicherungsträger zustän- unfallversicherungsrechtlichen Sinn „we- fallen. 1975 erfolgte die Anerkennung ei- dig sind, ist die Kostenfrage häufig proble- sentlich“ ist. Allerdings wird es bei einer Er- ner Lärmschwerhörigkeit mit einer MdE matisch. Dies trifft insbesondere auf die taubung durch einen Arbeitsunfall anders von 15 Prozent. Dann wurde der Versi- Fälle zu, bei denen die Indikation auf einer sein. In einem solchen Fall wäre eindeutig cherte mehrfach mit Hörgeräten versorgt, vollständigen Taubheit beruht, aber ein ge- die Berufsgenossenschaft der Kostenträger. zuletzt 2004 mit Kategorie 3. 2010 hatte ringer Anteil am Gesamtschaden als beruf- sich das Hörvermögen progredient – liche Lärmschwerhörigkeit anerkannt ist. Nachdruck aus Laryngo-Rhino-Otol 2016; trotz fehlender Lärmbelastung – bis zu Bei derartigen Fällen versuchen die Kran- 95(07): 494-496, DOI: 10.1055/s-0042- einer Taubheit mit Hörresten beiderseits kenkassen häufig, die Berufsgenossen- 109689 mit freundlicher Genehmigung der verschlechtert, entsprechend einer Ge- schaft in die Pflicht zu nehmen. Georg Thieme Verlag KG • samt-MdE von rund 80 Prozent (siehe Abbildung 3). 2011 wurde zunächst das Erschwert wird die Entscheidung dadurch, linke Ohr mit einem CI versorgt. dass es eine Kostenteilung zwischen Kran- Literatur kenkasse und Berufsgenossenschaft nicht Brusis, T.: Aus der Gutachtenpraxis: Beurteilung: Da seit 1987 keine Lärmexpo- gibt. Schwierig ist die Beurteilung auch Festbeträge für Hörgeräte in der gesetz- sition mehr vorlag, ist die rechtlich wesent- deswegen, weil die CI-Versorgung nicht in lichen Krankenversicherung, Laryngo- liche Ursache der erheblichen Verschlim- der Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsa- Rhino-Otol 2015. 94: 184–188 merung auf eine „Degeneration“ der men Bundesausschusses vom 29. Oktober Didczuneit-Sandhop, B.; Brusis, T.: Aus Innenohren zurückzuführen. Somit ist die 2014 reguliert ist. Da ein Cochlea-Implant der Gutachtenpraxis: Iatrogene CI-Dis- Berufsgenossenschaft für die Kostenüber- kein Hilfsmittel ist, sondern ein in den Kör- lokation bei drei Fällen: Komplikationen bei der Nachbehandlung oder Behand- nahme des CI nicht zuständig. per eingebrachtes Implant, gehört es auch lungsfehler? Laryngo-Rhino-Otol 2013, nicht in die Aufstellung der in der Medizin 92: 41–43 Fazit verordneten Hilfsmittel (Brusis 2015). Die Koch, J.; Wagemann, W.: Gibt es eine Die Versorgung eines schwerhörigen oder Rahmenvereinbarung zwischen Berufsge- Taubheit durch Lärm? Arbeitsmed. ertaubten Menschen mit einem CI ist heute nossenschaften und Hörgeräteakustikern Sozialmed. Arbeitshyg. 1967, 1: 27 eine sehr effektive Behandlungsmaßnah- macht dazu ebenfalls keine Aussage (Mi- Michel, O.; Brusis, T.: Aus der Gutach- me, die allerdings sehr kostenintensiv ist. chel, Brusis und Wolf 2015). Zu berücksich- tenpraxis: CI-Implantation bei einseitig Die Kosten für eine stationäre CI-Implanta- tigen ist außerdem, dass es eine Taubheit Ertaubten. Muss die Krankenkasse tion liegen bei 30.000 Euro, hinzu kommen oder an Taubheit grenzende Schwerhörig- die Kosten übernehmen? Laryngo-Rhino- Otol 2013, 92: 479–481 die Kosten für eine ambulante oder statio- keit durch berufliche Lärmeinwirkung nicht näre Rehabilitation mit noch einmal gibt (Koch und Wagemann 1967). Michel, O.; Brusis, T.; Wolf, U.: Aus der 10.000 Euro. Aufgrund von Vereinbarun- Gutachtenpraxis: Die neue Rahmenver- einbarung über die Versorgung mit Hör- gen mit den Krankenkassen haben die Wie die drei referierten Fälle zeigen, hat die systemen (VbgHG) in der gesetzlichen meisten Krankenhäuser ein Budget, zum Kostenübernahme durch die zuständige Unfallversicherung vom 01.01.2015, Beispiel 50 CI pro Jahr, welches sie nicht Krankenkasse zu erfolgen, auch wenn ein Laryngo-Rhino-Otol 2015, 94: 328–330 überschreiten dürfen. Daher sind sie be- geringer Anteil als Lärmschwerhörigkeit DGUV Forum 12/2016 17
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