Ambivalent und innovativ - Reformierte Stadtkirche
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ambivalent und innovativ Die Freiheit der Betrachtung ist in der Kunst unbestritten. Andernfalls wäre es Propaganda wie sie die „Kunst“ in den Diktaturen leisten musste. Die Freigabe der Sichtweise entartet aber auch gerne zur Koketterie, wenn Künstler und Künstlerinnen ihre Werke O.T. (ohne Titel) markieren, obwohl sie durchaus wissen, was sie tun. Anders verhält es sich, wenn in sich verschiebenden ge- sellschaftlichen Entwicklungen und Diskursen Werke in ein anderes Licht gera- ten, siehe die Politisierung des künstlerischen Ausdrucks oder die moralische Disqualifizierung der Kunstschaffenden. Lennart Nilsson ist mit seinen Bildern unfreiwillig in die Abtreibungsde- batte geraten. Der schwedische Fotojournalist und Wissenschaftsfotograf lan- dete mit dem Coverbild des Live-Magazins Ende April 1965 einen sensationel- len Erfolg. „Fötus, 18 Wochen“ erschloss der allgemeinen Öffentlichkeit eine bis dahin verborgene Welt vergleichbar den ersten Fotos von der Rückseite des Mondes. © Life Magazine / Lennart Nilsson 8 Millionen Exemplare sofort vergriffen, weltweit von den führenden Ma- gazinen nachgedruckt. Fotoserien der vorgeburtlichen Entwicklung in wieder- holten Auflagen inzwischen über 50 Millionen Stück verkauft und als Begleit- buch von werdende Eltern geschätzt. Die Galerie WestLicht zeigt mit LENN- ART NILSSON. THE BEGINNING bis Anfang Mai ca. 100 Fotos seiner akribi-
schen Suche nach der bildlichen Erfassung der Entstehung menschlichen Le- bens einschließlich seiner frühen Werke wie die Reportage über eine schwedi- sche Hebamme in Lappland, Eisbärenjagd in der Arktis oder Fischerei im Kongo sowie Porträts von Hollywoodstars. Dort hat er auch Stanley Kubrick mit den Fotografien der Föten in der Plazenta zu dessen Bildsprache in „2001: Odyssee im Weltraum“ animiert. Vergeblich hat er sich gegen die Vereinnahmung seiner Bilder von unge- borenem Leben durch die Pro-Life-Bewegung gewehrt und jedes Bekenntnis pro und kontra verweigert. Auf die Frage, wann seiner Meinung nach das Le- ben beginne, hat er lapidar und in der ihm eigenen und seinen Bildern unver- kennbaren Empathie geantwortet: „… mit einem Kuss.“ Für das gewollte Spiel mit der Uneindeutigkeit und Ambivalenz steht in besonderer Weise Cindy Sherman, die nicht nur Rollenklischees hinterfragt, sondern darüber hinaus mit den Möglichkeiten ihrer Selbstdarstellung gespielt hat. Das Kunstforum Wien ist ihr gefolgt und hat Werke von Künstlerinnen und einigen Künstlern zusammengestellt, deren Rollen- und Identitätsspiele- reien dazu passen: THE CINDY SHERMAN EFFECT. IDENTITÄT UND TRANSFORMATION IN DER ZEITGENÖSSISCHEN KUNST (bis Mitte Juni). Verunsicherungen und Infragestellungen, die für das Anderssein sensibilisieren, die Normen und Mehrheitsklischees angreifen, die Last der Rollenfestlegung und Chance des Ausbruchs auf ganz unterschiedliche Weise demonstrieren. Samuel Fosso, The Liberated American Woman of the 70s, 1997 aus der Serie Tati © Samuel Fosso, courtesy Jean Marc Patras, Paris Während Genmanipulation, Designerbabys und Klone eine neue heile und schönere Welt suggerieren, bieten Social Medias und Reality-Shows offene Fo- ren der Selbstoptimierung, wobei die Grenzen zwischen dem eigenen Auspro-
bieren und der freiwilligen Unterwerfung zur Manipulation und Fremdbestim- mung verschwimmen. Der künstlerische Blick als Spiegel und Menetekel. Gleich gegenüber Am Hof zeigt die Sammlung Verbund im Stiegenhaus (Vertikale Galerie) der Verwaltungszentrale des Energiekonzerns FEMINISTI- SCHE AVANTGARDE - MADE IN AUSTRIA (bis Anfang Juni – Gratisführun- gen nach Voranmeldung mittwochs und freitags). Keine Frauenausstellung, auch wenn nur Künstlerinnen gezeigt werden, so die Kuratorin und Samm- lungsleiterin Gabriele Schor, sondern eine Schau auf die Feministische Avant- garde der 70-er Jahre. Zur Präsentation konnte sie sogar die meisten von ihnen versammeln und eine muntere Gesprächsrunde der zumeist um die 80 Jahre jungen Vorkämpferinnen auslösen, die ihre Erfahrungen auch gerne an die aktuellen jungen Künstlerinnen weitergeben möchten. von links nach rechts: Brigitte Lang, Margot Pilz, Linda Christanell, Anita Münz, Ingeborg G. Pluhar, Gerda Fassel, Michael Strugl (Stellv. Vorstandsvorsitzender VERBUND AG), Gabriele Schor, Renate Bertlmann, Karin Mack und Veronika Dreier. ©Redtenbacher Gabriele Schor ist es gelungen mit ca. 1000 Werken von 144 Künstlerin- nen eine besondere Sammlung aufzubauen, mit der sie weltweit unterwegs ist und einen wesentlichen Schub für den Kunsthandel, die Ausstellungsprofile der großen Häuser und auch für die Kunstgeschichte geleistet hat. Nach Valie Ex- port ist inzwischen Renate Bertlmann groß gefragt. Ihre Installation für den österreichischen Pavillon der Biennale von Venedig im vergangenen Jahr „ein Feld roter Messer-Rosen“ hat sie derzeit in einer Variation im Oberen Bel- vedere aufgebaut. Linda Christanell berichtet von einem Besuch von Mitar- beiterinnen der Albertina, die sich bei ihr Werke ausgesucht und für die AL- BERTINA modern angekauft haben. Ein Rundgang durch das Stiegenhaus der Konzernzentrale lohnt nicht nur für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses.
Die ALBERTINA modern, die am 12. März unter dem Titel THE BE- GINNING (Kunst in Österreich 1945-1980) in dem vom Großmäzen Hans Peter Haselsteiner sanierten Künstlerhaus mit der Sammlung Essl und Neuerwerbungen neben der verbleibenden „Gesellschaft bildender Künstler Ös- terreichs, Künstlerhaus“ eingezogen ist, hat ihre Bestände aufgefrischt. Darun- ter die im letzten Jahr der Albertina vom Galeristen-Ehepaars Dagmar und Manfred Chobot geschenkten Werke, die bereits zuvor im Haupthaus bis vor kurzem als Sammlung Chobot auszugsweise gezeigt wurden und einen Vorge- schmack auf den Neuaufbruch am zweiten Standort bieten konnte. Damit ist auch der von der Kulturkritik als „Geheimtipp und eine Wiederentdeckung“ ti- tulierte Erhard Stöbe in dem Musentempel mit dem Sammlungsauftrag des Bundes angekommen. Erhard Stöbe, Kaffeehaus, Aquarell auf Papier, 1972 © JL Derweil bietet das Haupthaus der Albertina dem Kunst-Museum- Winterthur mit Der Sammlung Hahnloser eine Bühne für die Moderne Van Gogh, Cézanne, Matisse, Hodler (bis Ende Mai). Doch eine bahnbrechende Innovation stellt sie in Kooperation mit dem Metropolitan Museum in New York mit einer feinen und instruktiven Aus- stellung vor: Die frühe Radierung. Von Dürer bis Bruegel (bis Anfang Mai). Ende des 15. Jahrhunderts wurde nach der bis dato vornehmlich als Holzschnitt praktizierten Technik der Druckgrafik die Radierung entwickelt, um aber nach wenigen Jahrzehnten durch den Kupferstich abgelöst zu werden. Letzteres Ver- fahren, das langlebigere Druckplatten ermöglichte, verdankt sich den nach der Eroberung Südamerikas einsetzenden Salpeterimporten, dessen Säure auf Kupfer verwendbar war. Die Radierung auf Stahl musste die Korrosion in Kauf nehmen und war deshalb von geringerer Lebensdauer. Spätabzüge zeigen
Fehlfelder und Blässe. Andererseits konnten Platte und Griffel lockerer gehand- habt werden als später beim Kupferstich und erlaubte einen „zeichnerischen“ Charakter, mit dem die Künstler experimentiert und gespielt haben. Neben vielverkäuflichen Andachtsbildern auch solche für die heimische Schublade mit anrüchigen oder „moralisierenden“ Sujets. Daniel Hopfer, Tod und Teufel überraschen zwei Frauen, ca. 1510–1515, Radierung © The Metropolitan Museum of Art, New York Das Leopoldmuseum thematisiert eine Künstlergemeinschaft, die es als solche nie gegeben hat: HUNDERTWASSER – SCHIELE. IMAGINE TOMOR- ROW (bis Ende August). Friedensreich Hundertwasser (Friedrich Stowasser) wird 10 Jahre nach dem Tod von Egon Schiele geboren. Doch als 20-jähriger Akademiestudent entdeckte er in Ausstellungen und Büchern die Kunst der Wiener Moderne für sich. Dabei gewinnt er eine besondere Nähe und Wahlver- wandtschaft zu Schiele, dessen Schaffen und Werk er teilweise sogar nach- ahmt. Kurios die Ereignisse um die „Linie von Hamburg“. Während seiner dorti- gen Gastprofessur hatte Hundertwas- ser die „vegetative Spirale“ in den Le- bensraum bringen wollen. Bei der Per- formance, die nach 3 Tagen von der Uni-Leitung vorzeitig abgebrochen wurde, haben die Beteiligten abwech- selnd die ununterbrochene farbige Li- nie über Wände und Fenster gezogen. Bazon Brock (2.v.r.), der in Hamburg betei- ligt war, erklärt vor der Presse die damaligen Erfahrungen und die Wiederholung der „end- losen Linie“ mit Studierenden der Angewand- ten Wien in einer 36 stündigen Reinszenie- rung. © JL
Hundertwasser buhlte damals mit Schreiben an die Behörden geradezu darum, wie Schiele einst verhaftet, bestraft und eingesperrt zu werden. Er ver- sprach sich und der Welt davon die Erschaffung bedeutender Werke. Der in Zusammenarbeit mit der „Hundertwasser gemeinnützigen Privat- stiftung Wien“ entstandenen Ausstellung (Kurator Robert Fleck) gelingt über- zeugend, die Fernwirkung Schieles auf Hundertwasser bis in gestalterische De- tails aufzuzeigen und dabei die thematische und motivische Nähe nicht nur in dessen schriftlichen Bekenntnissen zu dem Altmeister, sondern in seinen Wer- ken und seinem Lebensansatz zu verdeutlichen. Der überflüssigerweise eng- lisch gefasste Untertitel zur Ausstellung deutet den beide verbindenden visio- nären Charakter an. Aktuelle Beobachtung am Rande: Die vielfache experimentelle Selbstbe- trachtung und Selbstinszenierung bei Egon Schiele und ihm folgend Friedens- reich Hundertwassers erscheinen wie ein anachronistisch vorweggenommener Cindy Sherman- Effekt. Das mumok lockt mit einer Retrospektive: Gelebt - Ingeborg Strobl (bis Ende Juli). An der Vorbereitung der Ausstellung hat die vor zwei Jahren verstorbene Künstlerin noch direkt teilgenommen, sie maßgeblich bestimmt. Dabei hat sie sich vertrauensvoll auf den Chefkurator des Hauses verlassen, dem sie über den Titel und das Ausstellungsplakat auch fixe Arrangements der Vitrinen und Installationen auferlegt hat. Dem ist Rainer Fuchs aus Überzeu- gung und mit großem Einfühlungsvermögen gefolgt und hat mit diesem dem mumok geschenkten Nachlass Ingeborg Strobls vielfältiges und vielschichtiges Oeuvre ins rechte Licht gerückt. Methodisch vielseitig in Objekten, Installatio- nen, Collagen, Malereien, Fotografien, Filmen und Publikationen hat sie medi- enübergreifend ihre Konzepte umgesetzt und mit Birgit Jürgenssen u.a. einige Jahre die feministische Künstlerinnengruppe DIE DAMEN gebildet. Ausstellungsansicht © Klaus Pichler, mumok
Sie war durchaus eindeutig, aber nicht auf die Auslegung oder Botschaft fixiert, sondern als provokante Wahrnehmung der Aufmerksamkeit, dem Inne- halten, Nachdenken und Umdenken verpflichtet. Der Umgang mit den Tieren und der Natur an sich und für den Produktions- und Konsumwahn wie zugleich als Metaphern der Gesellschaft. Der Blick auf die Ränder, das Verborgene, Ver- drängte und Übersehene. Dabei unterhaltsam heiter, dem Positiven zuge- wandt. Spielereien in Keramik als Scherbeninstallationen mit Nippes Figuren. Der Reminiszenz einer kurzlebigen, aber nachhaltigen und inzwischen nostalgiegeladenen Innovation hat sich das Untere Belvedere mit der Oran- gerie gewidmet: INTO THE NIGHT: Die Avantgarde im Nachtcafé (bis 1. Juni). Die alternative Szene, das künstlerische Nachtleben Ende des 19. Jahr- hunderts bis Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vom Chat Noir und dem Folies Bergère in Paris seit den 1880ern und 90ern über die Fle- dermaus in Wien bis zum Rasht 29 in Teheran (nur von 1966 bis 69) und The Mbari Artists and Writers Club und Mbari Mbayo im Nigeria der post- kolonialen 1960er. Fotos, Interieurs, Texte und Pressemeldungen in jedem Raum fangen das Charakteristische atmosphärisch ein. Ton- und Bildbeispiele erinnern an die Geburt des legendären Dada im Cabaret Voltaire in Zürich 1916 und zeigen diesen Schmelztiegel der Künstlerbars für Kreativität, Extra- vaganz, Tabubrüche, grenzenlose Experimentierfreude und vielfältige Innovati- onen. Das Beiprogramm der in Kooperation mit dem Barbican (London) ent- standenen Ausstellung bietet Tanz, Musik, Vortrags- und Kabarettabende an, wobei Hugo Balls Krippenspiel in der Aufführung des Kabinetttheaters den Auf- takt machte. Als besonderen Rahmen bietet sich dafür die rekonstruierte Bar der Fledermaus an. © JL
Das sensationelle Prunkstück der Ausstellung. In einem außerordentli- chen und langwierigen Forschungsprogramm haben Cosima Rainer (Archiv der Universität für angewandte Kunst) und Kuratorin Florence Ostende mit Keramikspezialisten an Hand von erhaltenen Schwarzweiß-Fotos und Produkti- onsdaten der Wiener Werkstätten den einst von Michael Powolny geschaffe- nen Kabarettraum beinahe originalgetreu rekonstruiert. Die früheren Farbmi- schungen mussten neu konzipiert werden, weil Blei und andere damals ver- wendete giftige Materialien nicht mehr zulässig sind. Ein Nostalgieort, der am 16.April noch einmal mit Leben erfüllt werden soll. Zum Abschluss noch ein Hinweis auf die quasi Neueröffnung der Kunst- halle unter der neuen Direktion, dem kroatischen Kuratorinnen-Kollektiv WHW (What, How & for Whom) Ivet Ćurlin, Nataša Ilić und Sabina Sabo- lović. Den Einstand im Haupthaus im Museumsquartier stellt eine Schau dar, die programmatisch angelegt sein soll und Zukünftiges andeuten möchte. Marina Naprushkina, Jetzt! Alles für Alle!, 2019 © JL Der Rundumschlag, der alle Räumlichkeiten einschließlich Wänden, Ein- gangstitel, Treppenhaus und die Fußböden betrifft, thematisiert alles und…: … von Brot, Wein, Autos, Sicherheit und Frieden (bis Anfang Mai). Innovati- on ist das nach den vorzeitig beendeten Jahren unter Nicolaus Schafhausen noch nicht wirklich. Dafür schleicht sich eher ein ambivalentes Gefühl ein bei dieser „feministisch“, antikapitalistischen Heerschau (Eröffnungstermin dem- entsprechend der Internationale Frauen-kampf-tag). Die kroatische Perspekti- ve auf den politischen Diskurs, die auch Oliver Frljić in den letzten Wochen (und in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle) als EUROPAMASCHINE im Ka- sino des Burgtheaters aufgelegt hat, wirkt altbacken und ist hierzulande über-
holt, wo es nicht die Folgen der kommunistischen Diktatur sind, die abzuarbei- ten bzw. aufzuarbeiten sind. Wirklich ärgerlich ist der Tabubruch, dass Brote mit Törtchen oder Pflastersteinen bekrönt am Boden liegend den Weg weisen. Selbst oder erst recht die Anlehnung an Marie-Antoinette verbietet solcherart Umgang mit Brot. Bei der Masse der großteils aktuellen Werke wird sich aber für jede und jeden etwas finden. Die Freiheit der Betrachtung in der Kunst bleibt unbestrit- ten. Demonstrieren oder aufs Aug drücken lässt sich gegen alles und jeden et- was. Johannes Langhoff
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