Andreas Umland Orange Revolution als Scheideweg

 
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Andreas Umland

          Orange Revolution als Scheideweg
          Demokratisierungsschub in der Ukraine,
          Restaurationsimpuls in Russland
          Die Orange Revolution, die sich am 21. November 2009 zum fünften Mal
          jährt, war ein bedeutender Schritt zur Demokratisierung der Ukraine. Dies
          betrifft insbesondere die Emanzipation der Massenmedien, Stärkung der
          Zivilgesellschaft und Institutionalisierung fairer Wahlen. Russlands Führung
          hingegen reagierte mit weiteren Regressionen in ihrer Innen- und Außenpo-
          litik. Einige neue Elemente des russländischen Autoritarismus können als
          „paratotalitär“ bezeichnet werden. Die westliche Unterstützung der Farbre-
          volutionen kann allerdings nicht für die Verstärkung autokratischer Tenden-
          zen im postsowjetischen Raum verantwortlich gemacht werden.

Ein affirmativer Rückblick auf die bewegenden Spätherbst- und Winterwochen in
Kiew 2004 erscheint heute als naiv. Die für klassische Revolutionen typische postre-
volutionäre Desillusionierung war auch nach der Orange Revolution tief. Ob nun in
politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht – das einstige orange Lager steht
heute vor einem Scherbenhaufen. Die Koalition des Blocks „Unsere Ukraine“ und
dem Julia Tymošenkos mit der Sozialistischen und anderen prowestlichen Parteien ist
zerfallen, das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung in die Anführer der Wahlrebel-
lion durch bizarre Politspektakel weitgehend zerstört.1
Die Ukraine gehört zu jenen Ländern, die von der weltweiten Finanzkrise seit 2008
am schwersten in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der Staat ist im Prinzip zahlungs-
unfähig und wird mit westlichen Krediten über Wasser gehalten. Die bezwungen
geglaubte hohe Inflation mit ihren schwerwiegenden sozialen Folgen ist zurückge-
kehrt. Angesichts der Energieabhängigkeit der Ukraine von Russland wirft dieser
Zustand weitergehende Fragen zur gesellschaftlichen Stabilität, territorialen Integrität
und außenpolitischen Orientierung des Landes auf. Weder die bekannten Wahlbetrü-
ger von 2004 noch die mutmaßlichen Mörder des Journalisten Georgij Gongadze von
2000 sind bestraft worden. Wie in der Kučma-Periode ist Korruption allgegenwärtig.
Diese Liste ließe sich fortsetzen.

———
  Andreas Umland (1967), Dr. phil., Ph.D., Politologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
  Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
  Alexander Belyakov (Kiew), Wilfried Jilge (Leipzig), Mariya Kopylenko (Kiew) und Leonid
  Luks (Eichstätt) gaben wertvolle Hinweise bei der Erstellung dieses Beitrages.
1
  Stephen White and Ian McAllister: Rethinking the „Orange Revolution“, in: The Journal of
  Communist Studies and Transition Politics, 2–3/2009, S. 227–254.
OSTEUROPA, 59. Jg., 11/2009, S. 109–120
110                                   Andreas Umland

Postsowjetische Zeitgeschichte und Orange Revolution
Sowohl aus vergleichend-politikwissenschaftlicher als auch aus historisch-demokra-
tietheoretischer Sicht erscheint die Orange Revolution nichtsdestoweniger als Wen-
depunkt in der Geschichte der Ukraine sowie des postsowjetischen Raums.2 Bis 2004
waren in jenen Staaten, die zu den Gründern der UdSSR 1922 gehört hatten, weitge-
hend parallele Entwicklungen zu beobachten. Nach einer mehr oder minder starken
Liberalisierung und Demokratisierung Anfang der 1990er Jahre machten sich hier
zunehmend restaurative Tendenzen bemerkbar.3
Dies spiegelt sich etwa in den jährlichen Ratings von Freedom House wider, in denen
u.a. die Qualität der Wahlen und die Unabhängigkeit bedeutender Massenmedien
bewertet sowie ein Gesamtindex für den Demokratisierungsgrad der Länder ermittelt
wird.4 Demnach sind in den vergangenen zehn Jahren im Kaukasus sowie in Zentral-
asien, Belarus und Russland antidemokratische Trends zu beobachten. Mit der Oran-
gen Revolution scheint die Ukraine als einzige UdSSR-Gründungsrepublik nachhaltig
aus diesem Muster ausgebrochen zu sein. Allerdings gab es mit der Rosenrevolution
in Georgien 2003 und der Tulpenrevolution in Kirgisistan 2005 vergleichbare Erhe-
bungen.5
Anders als seinerzeit erhofft, weitete sich die Rückbesinnung dieser drei Nationen auf
die demokratischen Anfänge der frühen 1990er Jahre jedoch nicht zu einer län-
derübergreifenden Demokratisierungswelle im postsowjetischen Raum aus. Die poli-
tischen Reformen in Kirgisistan und Georgien versandeten. Dort dominiert inzwi-
schen wieder die Exekutive, d.h. der Präsident. Lediglich die Zusammensetzung des
Regierungspersonals sowie einzelne Aspekte im Habitus und Image der Herrschenden
änderten sich, kaum jedoch ihr Selbstverständnis und die grundsätzlichen Mechanis-
men, Macht zu erlangen, zu sichern und auszuüben.
Im Rückblick erscheint der kirgisische Aufstand, teilweise aber auch die Wahlrebelli-
on der Georgier eher als ein partieller Elitenaustausch denn als genuine Rückkehr auf
den 1991 eingeschlagenen Demokratisierungsweg. Im Gegensatz dazu waren die
Veränderungen durch die Orange Revolution in der Ukraine in zumindest dreierlei
Hinsicht tiefgreifend.

———
2
  Ingmar Bredies (Hg.): Zur Anatomie der Orange Revolution. Wechsel des Elitenregimes
  oder Triumph des Parlamentarismus? Stuttgart 2005. – Andrew Wilson: Ukraine’s Orange
  Revolution. New Haven 2005. – Taras Kuzio (Hg.): Democratic Revolution in Ukraine.
  From Kuchmagate to Orange Revolution. London 2009.
3
  Dmitrij Furman: Ursprünge und Elemente imitierter Demokratien. Zur politischen Entwick-
  lung im postsowjetischen Raum, in: OSTEUROPA, 9/2006, S. 3–24. – Andreas Umland: Elekto-
  ral’nyj avtoritarizm na postsovetskom prostranstve, in: Sravnitel’noe konstitucionnoe obozre-
  nie, 1/2008, S. 191–195.
4
  Freedom House (Hg.): Nations in Transit 2009. Washington 2009, Tab. 1, 2 und 4.
5
  Mark R. Beissinger: Structure and Example in Modular Political Phenomena. The Diffusion
  of Bulldozer/Rose/Orange/Tulip Revolutions, in: Perspectives on Politics, 2/2007, S. 259–
  276. – Taras Kuzio (Hg.): Aspects of the Orange Revolution VI. Post-Communist Democra-
  tic Revolutions in Comparative Perspective. Stuttgart 2007.
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Der demokratische Nachlass der Orangen Revolution
Erstens emanzipierten sich die Massenmedien, Journalisten und politischen Kommen-
tatoren 2004 weitgehend von staatlicher Bevormundung. Die politische Berichterstat-
tung in der Ukraine wurde dezentralisiert und pluraler. Zwar wäre es übertrieben, die
ukrainischen Massenmedien bereits als Vierte Macht zu bezeichnen; hierfür fehlt es
den Journalisten noch an entsprechenden Standesstrukturen, übergreifendem Corps-
geist und gesellschaftlichem Gewicht.
Was die Freiheit und Unabhängigkeit von staatlicher Gängelung der wichtigsten In-
formationskanäle anbelangt, wirkt das radikaldemokratische Pathos der Orangen
Revolution jedoch nach. Viele Fernseh- und Zeitungsredaktionen reagieren heute
sensibel auf Versuche präsidialer oder ministerieller Einmischung. Zwar ist richtig,
dass die Manipulation des Rundfunks und der Presse durch die Politik von einer teil-
weisen Entprofessionalisierung journalistischer Tätigkeit durch „Politainment“ und
eine Verzerrung des Informationsflusses durch das Einwirken mächtiger Wirt-
schaftsmagnaten abgelöst wurde.6 Doch sind die ukrainischen Medien nach der Oran-
gen Revolution wichtige Schritte hin zu einer offenen Gesellschaft gegangen, die vor
dem Hintergrund gegenläufiger Entwicklungen in den Medienlandschaften anderer
postsowjetischer Staaten eindeutiger kaum sein könnten.
Zweitens war die Orange Revolution ein Katalysator für die Herausbildung der Zivil-
gesellschaft.7 Das ukrainische Vereinswesen leidet zwar nach wie vor an Nachwir-
kungen des sowjetischen Totalitarismus. Die Möglichkeiten von Bürgerinitiativen,
auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen, sind immer noch beschränkt.
Trotzdem sind Fortschritte gegenüber der Kučma-Periode unübersehbar. Abel Polese
zufolge hat sich das Sozialkapital der ukrainischen Gesellschaft 2004 qualitativ ver-
ändert. Aus eher informell existierenden Nichtregierungsstrukturen ist ein Netz mehr
oder minder formell integrierter Teilnehmer gesellschaftlicher Prozesse in der Ukrai-
ne entstanden.8
Ob man Poleses Bewertung teilt oder nicht: Unzweifelhaft scheint, dass sich durch die
aktive Beteiligung diverser NGOs an der Orangen Revolution das organisatorische
Selbstbewusstsein der Akteure erhöht und ihre Rolle in der Gesellschaft verändert ha-
ben. Diese andere Stellung bestimmter Nichtregierungsorganisationen in der Gesell-
schaft dürfte ein irreversibles Erbe der Orangen Revolution sein. Heute ist davon auszu-
gehen, dass sich zumindest Teile der ukrainischen Gesellschaft hartnäckig gegen even-
tuelle staatliche Vereinnahmungs- oder Unterdrückungsversuche zur Wehr setzen
würden.
Drittens verlaufen die politische Willensbildung, die Parteienbildung und die Wahlen
zumindest auf nationaler Ebene nur noch unter geringer direkter Anleitung der Exeku-
———
6
  Alexander Belyakov: The Influence of the „Censorship of Money“ on Freedom of Speech in
  Ukraine, in: Critique, 4/2009, S. 601–617.
7
  Florian Strasser: Zivilgesellschaftliche Einflüsse auf die Orange Revolution. Die gewaltlose
  Massenbewegung und die ukrainische Wahlkrise 2004. Stuttgart 2006.
8
  Polese kommt auf Grundlage einer Analyse der Entstehung und Tätigkeit der PORA-
  Bewegung zu diesem Schluss; Abel Polese: Ukraine 2004. Informal Networks,
  Transformation of Social Capital and Coloured Revolutions, in: The Journal of Communist
  Studies and Transition Politics, 2–3/2009, S. 225–277.
112                                 Andreas Umland

tive. Zwar existieren in der Ukraine nach wie vor „administrative Ressourcen“. Auch
ist der Einfluss diverser „Oligarchen“ auf die Parteien und Fraktionen der Verchovna
Rada groß. Zudem ist das Wahlsystem keineswegs perfekt – ja, es scheint Korruption
und Vetternwirtschaft geradezu zu fördern.
Die Wählkämpfe der wichtigsten politischen Kräfte und die Parlamentswahlen von
2006 und 2007 verliefen jedoch relativ frei und fair sowie ohne nennenswerte Zwi-
schenfälle.9 Beobachtermissionen des Europarates und der OSZE lobten die Wahlen.
Anders als in Russland, wo regierungstreue PR- und Politmanager den Informations-
raum und den politischen Prozess immer feiner steuern, kann von solch massiver
politischer Lenkung durch Präsident oder Regierung in der Ukraine keine Rede mehr
sein. Vielmehr ist das demokratische Wahlprozedere durch mehrfache Wiederholung
nunmehr in einem Maße institutionalisiert worden, dass von einer Teilkonsolidierung
der ukrainischen Demokratie gesprochen werden kann.
Freilich kamen auch im Vorfeld der Parlaments- und Regionalwahlen der letzten
Jahre Dutzende von „Polittechnologen“ mit ihren zweifelhaften Strategien zum Ein-
satz.10 Aber in der Ukraine „fehlt“ ein zentraler Dirigent solcher Manipulationsversu-
che. Die politische Landschaft verändert sich ständig, bleibt jedoch unverändert bunt.
Der wöchentlich von den Fernsehkanälen im ganzen Land übertragene Wortschwall
konkurrierender Politiker hat vielmehr eine Vielstimmigkeit erreicht, die an Kako-
phonie grenzt.

Der nur quasi-revolutionäre Charakter der Orangen Revolution
Trotz aller späteren Enttäuschungen war die Orange Revolution damit unter histori-
schen Gesichtspunkten bedeutsam und im postsowjetischen Umfeld beachtenswert.
Nichtsdestoweniger bleibt zweifelhaft, ob es sinnvoll ist, dieses Ereignis als „Revolu-
tion“ zu klassifizieren. Zwar wurde ein Teil der Ziele der „Revolutionäre“ von 2004 –
ungeachtet der heutigen Desillusionierung vieler damaliger Demonstranten und Akti-
visten – erreicht. Dadurch unterscheiden sich die Resultate dieser Aktion prinzipiell
von denen der Rosen- oder Tulpenrevolution. Auch ist nicht auszuschließen, dass
sich die Protagonisten jener November- und Dezembertage seinerzeit in einem
mentalen Zustand befanden, der jenem von Teilnehmern tatsächlicher Revolutionen
ähnelte.11
Der erfolgreiche Einsatz des orangen Lagers für die Freiheit der Medien, Zivilgesell-
schaft und Wahlen stellte jedoch letztlich „nur“ eine Aktion zur Durchsetzung von in
Verfassung und Gesetzen der Ukraine ohnehin festgeschriebenen Grundsätzen bzw.
eine Rückeroberung von bereits in der wirklichen Revolution 1989–1991 erkämpften
Rechten dar. Damit war die Orange Revolution in ihren Forderungen eher wiederho-

———
9
   Vicken Cheterian: From Reform and Transition to „Coloured Revolutions“, in: The Journal
   of Communist Studies and Transition Politics, 2–3/2009, S. 136–160.
10
   Andrew Wilson: Virtual Politics. Faking Democracy in the Post-Soviet World. New Haven
   2005.
11
   Anton Shekhovtsov: The Feast of Disobedience. Orange Gifts and the Sacred Birth of a
   Modern Ukrainian Nation. Vortrag auf der Tagung „Sacred Modernities: Rethinking
   Modernity in a Post-Secular Age“. Oxford, 18.9.2009.
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lend als innovativ sowie in ihrem Ergebnis eher revitalisierend als originär. Eine
Klassifikation als wirkliche Revolution scheint daher übertrieben.
In gewisser Hinsicht stellt die Orange Revolution eine Art „Konter-Konterrevolution“
dar: Sie verhinderte eine Teilrestauration vordemokratischer Zustände bzw. eine
schleichende antidemokratische „Konterrevolution“ in der Ukraine. Eine solche par-
tielle oder weitgehende Wiederherstellung autokratischer Herrschaftsformen war seit
den 1990er Jahren in allen postsowjetischen Staaten – die baltischen Länder ausge-
nommen – im Gange oder bereits vollzogen worden. Mit ihrer Protestbewegung
schafften es die Ukrainer als einzige, sich dem regionalen Trend in wichtigen, wenn
nicht entscheidenden Bereichen zu widersetzen.
Vor diesem Hintergrund war es nicht die Orange Revolution, die einen tiefgreifenden
Wandel eines postsowjetischen politischen Systems bewirkte. Im Gegenteil, in den
anderen postsowjetischen Staaten, die Anfang der 1990er Jahre begonnen hatten sich
zu liberalisieren und pluralisieren, kam es zu einer zweiten politischen Umwandlung
– einer Art „Entdemokratisierung“ oder „negativer“ Transformation. Je nach Sicht-
weise und Land kann dies als partielle oder vollständige Restauration und verkappte
Rückkehr zu sowjetischen Zuständen verstanden werden. In Bezug auf die südkauka-
sischen Staaten könnte man davon sprechen, dass der spätsowjetische Posttotalitaris-
mus nach einem nationalliberalen Strohfeuer in elektorale Autokratien überging. In
Belarus kam es nach ersten Demokratisierungsschritten zur Revanche der alten Eliten
und schrittweisen Rezentralisierung der politischen Macht.

Die Ukraine und Russland im Vergleich
Was die Entwicklung der beiden größten postsowjetischen Staaten, der Russländi-
schen Föderation und Ukraine, betrifft, erscheint in der Bewertung von Freedom
House das Jahr 2004 als Scheidepunkt. Nach dem Rating der amerikanischen NGO
war die Orange Revolution nicht nur für die Ukraine politisch bedeutsam. Auch die
Einstufung der Qualität des politischen Systems Russlands durch Freedom House
veränderte sich in jenem Jahr bis dato am stärksten – wenn auch in entgegengesetzte
Richtung. Die 2005 durchgeführte und sich auf die Zeit von 1. Januar bis 31. Dezem-
ber 2004 beziehende Bewertung des Demokratisierungsgrades ergibt – auf einer Skala
von 1,0 bis 7,0 – für die Ukraine eine Differenz von – 0,38 zum Vorjahr 2003
(s. Tabelle). Dabei bedeutet das Minuszeichen hier eine Zunahme an Demokratie
(weshalb es weniger missverständlich wäre, wenn dieser Indikator „Authoritarianism
Score“ heißen würde). Dies war die größte Veränderung im Falle der Ukraine zwi-
schen Ende 1998 und Ende 2008.
Für Russland wies Freedom House 2005 eine Veränderung des Democracy Score von
+0,36 für 2004 gegenüber 2003 aus. Das bedeutete ebenfalls die größte Veränderung
im Berichtszeitraum. Hier ist zu betonen, dass das Pluszeichen eine signifikante Ab-
nahme von Demokratie in Russland bedeutet. Hinzuzufügen wäre, dass auch die Ver-
änderung des Ratings zum Ende des Vorjahres 2003 mit +0,29 gegenüber Ende 2002
(in der Tabelle unter „2004“ aufgelistet) für Russland relativ groß war. Letztere Be-
wertung von Freedom House bezog sich vor allem auf das Verhalten von Präsident
Putin und seinem Umfeld vor und während der Parlaments- und Präsidentschaftswah-
114                                    Andreas Umland

len 2003 und 2004. Die Veränderung des Ratings spiegelt die Zunahme zwar subtil
ausgeführter, aber zunehmend effektiver Einschränkungen politischer Rechte wider.

Konsolidierte „Democracy Scores“ von Freedom House für 2000–2008 (erhoben
2001 bis 2009) sowie Differenz zum Vorjahr
Ukraine
                  2001     2002     2003      2004     2005      2006     2007     2008      2009
 Rating           4,71     4,92     4,71      4,88     4,50      4,21     4,25     4,25      4,39
 Differenz
                 +0,08     +0,21    –0,21    +0,17     –0,38    –0,29     +0,04      –      +0,14
 z. Vorjahr

Russland
                 2001     2002      2003     2004     2005     2006      2007     2008     2009
 Rating          4,88     5,00      4,96     5,25     5,61     5,75      5,86     5,96     6,11
 Differenz
                 +0,30    +0,12     –0,04    +0,29    +0,36    +0,14     +0,11    +0,10    +0,15
 z. Vorjahr
Quelle: Table 9. Democracy Score: Year-To-Year Summaries by Region, in: Freedom House
(Hg.): Nations in Transit 2009. Washington 2009.

Zu Beginn von Putins erster Amtsperiode als Präsident gab es trotz bereits erkennbarer
autoritärer Tendenzen noch eine sinnvolle wissenschaftliche und publizistische Dis-
kussion im In- und Ausland um die tiefere Bedeutung seiner Präsidentschaft für Russ-
lands Modernisierung sowie seine innen- und außenpolitischen Ziele, die Funktion
seiner Innovationen für Politik und Gesellschaft sowie die Stellung seiner Herrschaft
in der russländischen Nationalgeschichte.12 Bereits während der Regressionen
2003/2004 verlor die apologetische Interpretation von Putins Politik jedoch – zumin-
dest aus demokratietheoretischer Perspektive – an Plausibilität. Mit jedem Jahr wurde
klarer, dass Putins Rezentralisierung keine partielle und vorübergehende Maßnahme
ist, sondern einen tiefgreifenden und auf Dauer angelegten Wandel des politischen
Systems der Russländischen Föderation bedeutet.
Diese Prozesse sind in der akademischen und publizistischen Literatur zu Russland aus-
führlich dargelegt.13 Weniger wurde bislang diskutiert, ob und inwiefern die Orange
Revolution Auswirkungen auf die politische Entwicklung in Russland gehabt hat. Der
Verdacht derartiger grenzüberschreitender Rückwirkungen drängt sich auf, trat doch das
Putin-Regime in der ersten Jahreshälfte 2005, also unmittelbar nach dem Erfolg der O-
rangen Revolution, in eine neue Entwicklungsperiode ein. Ende 2004 kam die lediglich
restriktiv-reaktive Phase der Sinnentleerung demokratischer Prozeduren durch das Putin-
———
12
   „Russlanddebatte“ in: Eurasisches Magazin, 11/2008 und 1–3/2009,
   , fortgeführt in: Zeithistorische Streitfragen, Sommer 2009,
   .
13
   Margarete Mommsen: Rußland unter Putin. Von der gelenkten zur imitierten Demokratie, in:
   OSTEUROPA, 10/2005, S. 160–164. – Dies.: Putins „gelenkte Demokratie“. „Vertikale der Macht“
   statt Gewaltenteilung, in: Matthes Buhbe, Gabriele Gorzka (Hg.): Russland heute. Rezentralisie-
   rung des Staates unter Putin. Wiesbaden 2007, S. 235–252. – Andreas Heinemann-Grüder: Kon-
   trollregime. Russland unter Putin & Medvedev, in: OSTEUROPA, 9/2009, S. 27–48.
Orange Revolution als Scheideweg                              115

Regime zum Abschluss. 2005 begann ein neues Stadium, das als „paratotalitär“ bezeich-
net werden kann.14 Mit dem Terminus „paratotalitär“ soll weniger eine tatsächliche Wie-
derherstellung sowjetischer Zustände angedeutet als vielmehr auf einige bedeutsame
Modifikationen im Inhalt und Stil der Steuerung politischer Prozesse durch die „Polit-
technologen“ des Kreml abgehoben werden. Was ist mit „paratotalitär“ gemeint?

Vom klassischen zum „paratotalitären“ Neoautoritarismus
Das Gros der Maßnahmen Putins und seiner Gehilfen zur Unterwanderung demokra-
tischer Prozesse war bis 2004 repressiver Natur. Dies betraf z.B. die Behinderung
bzw. Unterwanderung pluraler Massenmedien (z.B. des Fernsehkanals NTV) oder
oppositioneller Parteien (z.B. der Union Rechter Kräfte). Dagegen gewannen ab 2005
mobilisierende Maßnahmen an Bedeutung, die darauf zielen, den öffentlichen Diskurs
und politischen Scheinwettbewerb nicht nur zu kontrollieren, sondern gezielt mit klar
definierten Inhalten zu füllen.
Derlei staatliche Aktivitäten sind mit dem klassischen Instrumentarium zur Messung
des Demokratisierungsgrades eines Regimes nur schwer zu erfassen. Während Putin
in seiner ersten Amtsperiode als Präsident lediglich die Möglichkeiten, politische
Grundrechte tatsächlich wahrzunehmen, schrittweise einschränkte und demokratische
Prozesse obstruierte, griffen seine „Polittechnologen“ ab 2005 ein, um den öffentli-
chen politischen Prozess zu gestalten – zumindest bis zu Dmitrij Medvedevs Amtsan-
tritt als Präsident 2008. Unter impliziter Verletzung der Art. 13 und 14 der Verfassung
der Russländischen Föderation hat der Zirkel um Putin weitgehend erfolgreich eine
neue Staatsideologie mit dazu gehöriger Einheitspartei aufgebaut sowie eine De-
Facto-Nationalkirche etabliert. Letztlich läuft das Ziel dieser Initiativen – wenn auch
kaum deren reale Tragweite – darauf hinaus, die Gesellschaft, ja in gewisser Hinsicht
sogar die Menschen auf staatlichem Wege neu zu prägen und zu uniformieren. Der
mutmaßliche Chefideologe des ruissländischen Neoautoritarismus, Vladislav Surkov,
ließ an der anvisierten „Nationalisierung der Zukunft“ keinen Zweifel. Ziel sei es,
          eine neue Gesellschaft, eine neue Ökonomie, eine neue Armee, einen neuen
          Glauben zu schaffen sowie zu beweisen, dass man über Freiheit und Ge-
          rechtigkeit auf Russisch denken und sprechen kann und muss.15
Eine solche Intention und die damit verbundenen Maßnahmen erinnern entfernt an
den palingenetischen, d.h. auf eine Neugeburt der Gesellschaft zielenden Impuls, der
alle revolutionären und Entwicklungsdiktaturen antreibt. Solche Regime suggerieren
eine umfassende Wiedererweckung und Reinigung der Nation; sie versuchen, eine
kulturelle und anthropologische Revolution herbeizuführen.16 Mit „paratotalitär“ soll
———
14
   Die Verwendung des Präfixes „para“ an dieser Stelle ist inspiriert vom Gebrauch des Termi-
   nus „parafaschistisch“ für bestimmte autoritäre, nur scheinbar faschistische Regime bei Ro-
   ger Griffin: The Nature of Fascism. London 1993.
15
   Vladislav Surkov: Nacionalizacija buduščego, in: Ekspert, 20.11.2006,
   .
16
   Rodžer Griffin: Palingenetičeskoe političeskoe soobščestvo. Pereosmyslenie legitimacii
   totalitarnych režimov v mežvoennoj Evrope, in: Forum novejšej vostočnoevropejskoj istorii i
   kul’tury, 2/2007, .
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einerseits die Präsenz derartiger neuer, beunruhigender Tendenzen in Russland seit
2005 anerkannt werden. Andererseits soll die Qualifizierung „para“ deutlich machen,
dass dramatisierende Bewertungen voreilig wären. Letzteres war jüngst in OSTEUROPA
geschehen, als ein amerikanischer Politologe so weit ging, von der Entstehung eines
„protofaschistischen“, „faschistoiden“ oder gar „faschistischen“ politischen Systems
in Russland zu sprechen.17
Die Innovationen der letzten Jahre unter Putin sind insofern von Interesse, als ihr
Charakter und der Zeitpunkt, an dem sie einsetzen, den Eindruck erwecken, dass es
sich um eine Reaktion auf die Orange Revolution gehandelt habe.18 Einen ersten Hin-
weis darauf, welches Reizpotential die Ereignisse in der Ukraine für den Kreml hat-
ten, lieferte Vladimir Putin bereits während der Orangen Revolution am 6. Dezember
2004. Auf einer Pressekonferenz in Ankara ritt er einen seiner ersten, mit Metaphern
gespickten markigen rhetorischen Angriffe auf den Westen:
          Wissen Sie, was mich bezüglich der Situation, die sich in der Ukraine ent-
          wickelt, besonders beunruhigt? [. . .] Ich möchte nicht, dass wir, wie im Fal-
          le Deutschlands, Europa in Ost und West teilen, in Menschen erster und
          zweiter Kategorie, erster und zweiter Sorte – [eine Situation, in der] die
          Menschen erster Sorte die Möglichkeit haben, unter demokratischen, stabi-
          len Gesetzen zu leben, während Menschen der zweiten Sorte, solche mit –
          im übertragenen Sinne – dunkler politischer Hautfarbe von einem guten, je-
          doch strengen Onkel mit Pickelhaube gesagt bekommen, welches die politi-
          sche Zielrichtung ist, nach der sie leben sollen. Und wenn der undankbare
          Eingeborene nicht einverstanden ist, wird er mit Hilfe eines Bomben- bzw.
          Raketenknüppels bestraft, wie dies in Belgrad geschah.19
Bis 2008 folgte eine Reihe ähnlicher Attacken Putins auf die USA („Genosse Wolf
weiß, wen er frisst“20), den Westen sowie die russländischen Demokraten, die Putin
auf einer Wahlkampfrede Ende 2007 als Hochverräter brandmarkte und mit „Schaka-
len“ verglich, die westliche „Botschaften umschleichen“.21

———
17
   Alexander Motyl: Russland – Volk, Staat und Führer. Elemente eines faschistischen Systems,
   in: OSTEUROPA, 1/2009, S. 109–124. – Leonid Luks: Irreführende Parallelen. Das autoritäre
   Russland ist nicht faschistisch, in: OSTEUROPA, 4/2009, S. 119–128. – Andreas Umland: Is Pu-
   tin’s Russia really „fascist“? A response to Alexander Motyl, in: Global Politician, 26.3.2008.
18
   Zur Reaktion der russländischen Führung auf die Orange Revolution: Taras Kuzio: Russian
   Policy toward Ukraine during the Elections, in: Demokratizatsiya, 4/2005, S. 491–517. – Ni-
   kolai Petrov, Andrei Ryabov: Russia’s Role in the Orange Revolution, in: Anders Aslund,
   Michael McFaul (Hg.): Revolution in Orange. The Origins of Ukraine’s Democratic
   Breakthrough. Washington 2006, S. 145–164. – Ingmar Bredies, Paul D’Anieri, Bohdan
   Harasymiw, Oleh S. Ilnytzkyj, Taras Kuzio, Andreas Umland, Valentin Yakushik
   (Hg.): Aspects of the Orange Revolution. 6 Bde. Stuttgart 2007. – Jeanne L. Wilson:
   Coloured Revolutions. The View from Moscow and Bejing, in: The Journal of Communist
   Studies and Transition Politics, 2–3/2009, S. 369–395.
19
   .
20
   Moritz Gathmann: „Ich will noch erleben, dass Chodorkowskij aus dem Lager kommt.“ Interview
   mit Jurij Schmidt, in: Berliner Zeitung, 14.10.2006; siehe auch: Novye izvestija, 11.5.2006.
21
   Andreas Umland: Russland vorm Abgrund? Putins Wahlkampfrede vom November 2007 als
   Gezeitenwechsel der postsowjetischen Politik, in: Russland-Analysen, 151/2007, S. 15.
Orange Revolution als Scheideweg                              117

Neue Elemente der Herrschaftssicherung nach 2004
Bereits im Februar 2005, also einen Monat nach der Inauguration von Viktor Juščen-
ko als neuer Präsident der Ukraine, wurden die sogenannte Demokratisch-Antifa-
schistische Jugendbewegung Naši (Die Unsrigen)22 sowie der weniger bekannte, al-
lerdings noch aggressivere Evrazijskij sojuz molodeži (Eurasischer Jugendbund),
gegründet. Seine Programmatik ist von den Ideen des neofaschistischen Intellektuel-
len Aleksandr Dugin inspiriert.23 Im selben Jahr formierten sich zwei weitere derartige
Organisationen – die Bewegung Junger Politischer Ökologen der Moskauer Umge-
bung Mestnye (Die Örtlichen) sowie die landesweite Organisation Molodaja gvardija
Edinoj Rossii (Junge Garde des Einheitlichen Russland), die offizielle Jugendorgani-
sation der Staatspartei unter der Leitung von Ivan Demidov – einem bekannten TV-
Journalisten, der sich selbst als Anhänger des „Eurasismus“ in der Auslegung des
erwähnten Dugin bezeichnet.24
Im Mai 2005 stellte der erwähnte Präsidialamtsangestellte und offenbar Ideengeber
Putins, Vladislav Surkov, auf einer halboffiziellen Rede vor dem Generalrat des Un-
ternehmerverbands Delovaja Rossija in Moskau erstmals sein Konzept einer „Souve-
ränen Demokratie“ vor.25 In den Worten von Thomas Ambrosio kann
          diese Rede Surkovs als ideologische Antwort auf die Ereignisse in Georgien
          [2003] und der Ukraine [2004] betrachtet werden. Seine Erwähnung der Oran-
          gen Revolution wies auf die Angst des Kreml hin, dass sich der Sturz autoritä-
          rer Regime durch Volksaufstände in der [postsowjetischen] Region – mit ent-
          sprechender Hilfe und/oder unter Anleitung des Westens – weiter verbreiten
          könne. [. . .] Die Sorge darüber, dass Kritik von Außen zur Schwächung der
          russländischen Führung und damit zur Möglichkeit einer äußeren Kontrolle
          [Russlands] führen könne, basierte teilweise auf der [russländischen] Perzepti-
          on westlicher Einmischung in die Orange Revolution. Die Idee, dass der Wes-
          ten versuchen könnte, seine früheren Erfolge durch Untergrabung der Legitimi-
          tät des Kreml und Schürung eines Volksaufstandes zu wiederholen, fand in
          russischen politischen Kreisen [im Gefolge der ukrainischen Massenaktion zi-
          vilen Ungehorsams] weite Verbreitung.26

———
22
   Ulrich Schmid: Naši – Die Putin-Jugend. Sowjettradition und politische Konzeptkunst,
   in: OSTEUROPA, 5/2006, S. 5–18.
23
   Andreas Umland: Fascist Tendencies in Russia’s Political Establishment. The Rise of the
   International Eurasian Movement, in: Russian Analytical Digest, 60/2009, S. 13–17.
24
   Andreas Umland: Moscow’s New Chief Ideologist – Ivan Demidov, in: OpEdNews,
   26.8.2008.
25
   N. Melikova: Suverenitet važnee demokratii. Obnarodovany osnovnye položenija reči
   kremlevskogo ideologa, in: Nezavisimaja gazeta, 13.7.2005. – Andrej Kazancev:
   „Suverennaja demokratija“. Struktura i social’no-političeskie funkcii koncepcii, in: Forum
   novejšej vostočnoevropejskoj istorii i kul’tury, 1/2007, . – Peter W. Schulze: Souveräne Demokratie. Kampfbegriff oder Hilfskon-
   struktion für einen eigenständigen Entwicklungsweg? Die Ideologische Offensive des
   Vladislav Surkov, in: Buhbe, Gorzka, Russland heute [Fn. 13], S. 293–312. – Philipp Casula,
   Jeronim Perovic (Hg.): Identities and Politics During the Putin Presidency. The Discursive
   Foundations of Russia’s Stability. Stuttgart 2009.
26
   Thomas Ambrosio: Authoritarian Backlash. Russian Resistance to Democratization in the
   Former Soviet Union. Farnham 2009. S. 72, 76.
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Ähnliche Neuerungen des Jahres 2005, welche den Innovationsdrang des neoautoritä-
ren Regimes in Russland unmittelbar nach der Orangen Revolution illustrieren, waren

      •   die Einrichtung der Gesellschaftskammer als des zentralen Transmissions-
          riemens zwischen der teilautonomen intellektuellen und kulturellen Elite so-
          wie dem Obrigkeitsstaat,
      •   die Einführung eines antipolnisch und damit xenophob konnotierten Natio-
          nalfeiertages, des Tages der Volkseinheit am 4. November, sowie
      •   die Gründung zweier zusätzlicher staatlicher TV-Propagandasender, des rus-
          sisch-orthodoxen Kabelkanals Spas (Retter) mit Ivan Demidov als erstem
          Chefredakteur sowie des englischsprachigen Fernsehsenders Russia Today.

Im Weiteren unternahm der Kreml eine Reihe ähnlicher Schritte, die auf die Heraus-
bildung einer „unzivilen Gesellschaft“ und nationalistischen Massenkultur zielten.27
So initiierte oder unterstützte die Präsidialadministration offensichtlich die Produktion
zahlreicher antiwestlicher Spiel- und Dokumentarfilme oder die Verbreitung von
Geschichtslehrbüchern, die den Stalinismus beschönigen.28 Für sich genommen ist
keine dieser Maßnahmen „totalitär“. Allerdings wird an der hohen Dichte und einheit-
lichen Ausrichtung der Initiativen deutlich, dass es sich hier um Bestandteile eines
Programms der russländischen Führung handelt, das auf Gehirnwäsche zielt.
Eine Art Höhepunkt in der Serie „paratotalitärer“ Einsprengsel in Putins Regime nach
der Orangen Revolution war der Dumawahlkampf vom Herbst 2007, als Putin zum
„nationalen Leader“ ausgerufen und Russland de facto wieder zu einem Einparteien-
staat wurde.29 Als Resultat des eskalierenden Personenkultes um Putin, der als Spit-
zenkandidat für „Einiges Russland“ fungierte (ohne Mitglied zu sein), wandelte sich
die „Partei der Macht“ (partija vlasti – so der russische Terminus technicus), von
einer hegemonialen zur alles beherrschenden politischen Organisation in der Legisla-
tive (die zu diesem Zeitpunkt freilich bereits weitgehend bedeutungslos geworden
war). Die Machtpartei wird in der Staatsduma und den Regionalparlamenten lediglich
von einigen geduldeten, mehr oder minder regierungsfreundlichen bzw. politisch
harmlosen Parteien dekoriert. Deren Funktion erinnert an die Rolle der „Blockflöten“
in der DDR, die Putin aus Dresdner Zeiten wohlbekannt sind.30
———
27
   Andreas Umland: Das Konzept der „unzivilen Gesellschaft“ als Instrument vergleichender
   und russlandbezogener Rechtsextremismusforschung, in: Forum für osteuropäische Ideen-
   und Zeitgeschichte, 1/2009, S. 129–147.
28
   Elfi Siegl: Von Stalins Sieg zum Sieg Putins. Der Kreml und sein Geschichtsbild, in: Russ-
   land-Analysen, 148/2007, S. 2–4. – Tamara Ejdelman: War Stalins Politik „effektiv“? Skan-
   dale um neue Geschichtsbücher in Russland, in: kultura, 1/2008, S. 3–8.
29
   Andreas Umland: Back in the USSR? In: The National Interest Online, 10.12.2007.
30
   Matthes Buhbe, Boris I. Makarenko: Das Mehrparteiensystem im neuen Russland, in: Buh-
   be, Gorzka, Russland heute [Fn. 13], S. 273–291. – Vladimir Gelman: Party Politics in Rus-
   sia. From Competition to Hierarchy, in: Europe-Asia Studies, 6/2008, S. 913–930. Ironi-
   scherweise ist die Nachfolgepartei der KPdSU, die Kommunistische Partei der Russländi-
   schen Föderation, unter diesen Parteien die am wenigsten regierungsfreundliche. Ihre sozial-
   und wirtschaftspolitischen Beiträge zu den Parlamentsdebatten verleihen der öffentlichen po-
   litischen Auseinandersetzung in Russland wenigstens einen Hauch von Kontroverse. Dar-
   über darf allerdings nicht vergessen werden, dass auch die KPRF die Kremlführung in wich-
   tigen – so etwa außenpolitischen – Fragen weitgehend unterstützt.
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Unter den späteren Neuschöpfungen sind noch erwähnenswert: das im Januar 2008
gegründete Institut für Demokratie und Kooperation unter der Leitung der radikal
antiwestlichen MGIMO-Professoren Natal’ja Naročnickaja und Andranik Migranjan
sowie die von Präsident Dmitrij Medvedev im Mai 2009 gebildete Kommission zur
Verhinderung von Versuchen einer Falsifizierung der Geschichte zum Nachteil der
Interessen Russlands, deren Verantwortlicher Sekretär wiederum der erwähnte Dugin-
Jünger Demidov wurde.31 Auch die Tätigkeit dieser beiden Institutionen dient offen-
sichtlich dazu, den politischen und intellektuellen Diskurs in Russland im Sinne der
Machthaber zu vereinheitlichen, zu radikalisieren und zu instrumentalisieren.

Ambivalente Hinterlassenschaft der Orangen Revolution?
Betrachtet man die ukrainischen Ereignisse von 2004 als einen Impuls für die Verän-
derungen in der Innen- und Außenpolitik Russlands, stellt sich das Erbe der Orangen
Revolution womöglich als uneindeutig, wenn nicht negativ dar. David Lane etwa
interpretiert die Farbenrevolutionen nicht nur als „revolutionäre Staatsstreiche“. Lane
betont auch die unbeabsichtigten Rückwirkungen derartiger Umsturzversuche auf die
gesamte Region. Er sieht die reaktive Verhärtung der verbleibenden autoritären Re-
gime als so gravierend an, dass er Versuche des Westens, zivilen Ungehorsam und
demokratische Aufstände zu fördern, für kontraproduktiv hält.32

         [D]ie amtierenden Regierungen lernen die Methoden ihrer Opponenten und
         deren Verwendung von Medientechnologie [. . .]. [S]ie kreieren ihre eigenen
         Jugend- und Studentenorganisationen, und sie definieren ihr „feindliches
         Gegenüber“ mit Hinweis auf habgierige westliche Interessen und aggressi-
         ve, US-geführte militärische Angriffe. Eine Folge der Farbenrevolutionen
         war, die Entwicklung von genuin wohltätigen, positiven und nichtkonfronta-
         tiven Formen von Zivilgesellschaft zu verhindern sowie offene Presse- und
         TV-Berichterstattung zu beschneiden. [. . .] Amtsinhaber ersinnen ihre eige-
         nen Gegenideologien: Sie verurteilen die globale Hegemonie des Westens
         und propagieren ihre selbstentworfenen Interpretationen von Souveränität,
         Demokratie und Zivilgesellschaft.33

Die Modifizierungen des Autoritarismus unter Putin legen nahe, dass es tatsächlich
eine teilweise Verkettung der politischen Ereignisse in der Ukraine 2004 mit jenen in
Russland ab 2005 gab. Dennoch bleibt fraglich, ob man hier von einer Kausalität
sprechen kann. Zivilen Ungehorsam in der Ukraine für autoritäre Entwicklungen in
Russland verantwortlich zu machen, wäre irreführend. Und der Einsatz von EU und

———
31
   Russland kämpft. Gesetz und Kommission gegen Geschichtsfälscher sowie die Erklärung
   der Gesellschaft Memorial zur neuen Kommission beim Präsidenten der Russländischen Fö-
   deration in: Der Hitler-Stalin-Pakt. Der Krieg und die europäische Erinnerung
   [= OSTEUROPA, 7–8/2009]. Berlin 2009, S. 273–278.
32
   David Lane: „Coloured Revolution“ as a Political Phenomenon, in: The Journal of Commu-
   nist Studies and Transition Politics, 2–3/2009, S. 113–135.
33
   Ebd., S. 132.
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USA in Kiew vor und während der Wahlrebellion löste die Orange Revolution nicht
aus, sondern begünstigte sie allenfalls.34
Die Orange Revolution mag dazu beigetragen haben, dass die antidemokratischen
Tendenzen des Putin-Regimes sich beschleunigt haben und das System „paratotalitä-
re“ Züge angenommen hat. Die tieferen Ursachen der jüngsten Regressionen in Russ-
land liegen allerdings eher in den Biographien der Entscheidungsträger, Pathologien
der politischen Massenkultur, Erblasten der imperialen Vergangenheit und Defekten
der 1991 geerbten bzw. 1993 teilerneuerten politischen Institutionen.35
Diese oder jene äußere Einwirkung – ob aus dem Westen oder postsowjetischen Um-
feld – mag als Katalysator für Trends in Russland gewirkt haben. Doch der Nährbo-
den für autoritäre Tendenzen existierte früher. Spätestens seit dem Jahr 2000 verstärk-
ten sie sich. Der reale Beitrag der Orangen Revolution zur Verhärtung des Autorita-
rismus ist daher als sekundär zu beurteilen. Vielmehr könnte eine Konsolidierung der
jungen ukrainischen Demokratie – eine momentan nicht eben nahe liegende Entwick-
lung – eine Beispielwirkung auf die umliegenden Staaten, insbesondere Russland und
Belarus, ausüben. Im günstigsten Fall würde die Ukraine vorführen, wie sich ein
postsowjetisches Land auch ohne „Machtvertikale“ und internationale Abschottung
erfolgreich entwickeln kann.
Aus dieser Sicht stellt die aktive Unterstützung demokratischer Tendenzen auf dem
Territorium der ehemaligen UdSSR – z.B. durch die offizielle Eröffnung einer lang-
fristigen EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Ukraine – weiterhin die vielverspre-
chendste Ostpolitik für die europäische Staatengemeinschaft dar.

———
34
   Michael McFaul: Ukraine Imports Democracy. External Influences on the Orange
   Revolution, in: International Security, 2/2007, S. 45–83. – Andreas Umland: Westliche
   Förderprogramme in der Ukraine. Einblicke in die europäisch-nordamerikanische Unterstützung
   ukrainischer Reformbestrebungen seit 1991. Bremen 2004.
35
   Leonid Luks: „Vejmarskaja Rossija?“ – Zametki ob odnom spornom ponjatii, in: Forum
   novejšej vostočnoevropejskoj istorii i kul’tury, 2/2007,
   .
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