ANTIZIGANISMUS IN DEUTSCHLAND UND EUROPA - DOKUMENTATION DES FACHGESPRÄCHS VOM 4. SEPTEMBER 2018 IN BERLIN - GRÜNE Bundestagsfraktion

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ANTIZIGANISMUS IN
DEUTSCHLAND UND EUROPA
DOKUMENTATION DES FACHGESPRÄCHS
VOM 4. SEPTEMBER 2018 IN BERLIN
IMPRESSUM
Herausgeberin       Bündnis 90/Die Grünen
                    Bundestagsfraktion
                    Platz der Republik 1
                    11011 Berlin
                    www.gruene-bundestag.de

Verantwortlich      Filiz Polat MdB
                    Sprecherin für Migrations- und Integrationspolitik
                    Bündnis 90/Die Grünen
                    Bundestagsfraktion
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                    E-Mail: filiz.polat@bundestag.de

Redaktion           Hannah Ferlemann und Jerzy Szczesny

Bezug               Bündnis 90/Die Grünen
                    Bundestagsfraktion
                    Info-Dienst
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Redaktionsschluss   Februar 2019

                            | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
INHALT |
Vorwort .........................................................................................3

Antiziganismus in Deutschland und Europa .............................................4
      Dokumentation des Fachgesprächs vom 4. September in Berlin ............... 4

                                 02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion |
VORWORT
Die vorliegende Broschüre fasst die Ergebnisse des            Antiziganismus ist ein breites gesellschaftliches
ersten Fachgesprächs im Deutschen Bundestag                   Problem. Umso wichtiger ist es, auf die Stimmen
zum Thema Antiziganismus zusammen, das am 04.                 jener zu hören und Erfahrungen jener anzuerken-
September 2018 stattgefunden hat. Ich freue                   nen, die von antiziganistischen Diskriminierungen
mich, dass wir Ihnen im Anschluss an das Fachge-              und systematischen Ausgrenzungen betroffen sind
spräch diese Publikation vorlegen können. Mein                Dafür tragen wir n der Bundesrepublik Deutsch-
Dank gilt allen Beteiligten, die die Veranstaltung            land auch durch die nationalsozialistische Verfol-
durch die Diskussionsbeiträge mit Leben gefüllt               gung von Angehörigen der Sinti und Roma und
haben.                                                        deren weitreichenden und weiterhin anhaltenden
                                                              Folgen i eine besondere Verantwortung.
Antiziganismus ist in unseren Gesellschaften und
Institutionen nach wie vor tief verankert. Men-               Der Umgang mit Angehörigen der Roma und Sinti
schen mit Romno-Hintergrund gehören zu einer                  ist ein Seismograf für die Freiheit und Menschen-
Minderheit, die wie keine andere in Europa von                würde in unserer Gesellschaft. Demokratie, Frei-
Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen ist.                heit und Menschenwürde sind auch im 21. Jahr-
Antiziganismus bezeichnet eine spezielle Form ei-             hundert keinesfalls Selbstverständlichkeiten, son-
nes historisch gewachsenen, strukturellen Rassis-             dern müssen täglich erkämpft werden. Die Aufklä-
mus, der sich in vielfältigen Erscheinungsformen              rung über und die Bekämpfung des Antiziganismus
gegenüber Angehörigen der Roma und Sinti rich-                sind zentrale Aufgaben, um die gesellschaftliche
tet. Im öffentlichen Diskurs ist Antiziganismus eher          und politische Teilhabe von Menschen mit Romno-
die Regel als die Ausnahme. Menschen mit                      Hintergrund in Deutschland und Europa zu fördern
Romno-Hintergrund werden oft als homogene                     und zu sichern. Dieses Fachgespräch im Deutschen
Gruppe wahrgenommen und mit stereotypen,                      Bundestag soll einen Beitrag dafür leisten.
stigmatisierenden Eigenschaften beschrieben. Vor
                                                              Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen
diesem Hintergrund entfalten und reproduzieren
sich diskriminierende soziale und gesellschaftliche           Filiz Polat
Strukturen und Praxen sowie soziale Ungleichheit.
                                                              Bundestagsabgeordnete und Sprecherin der Frak-
Dieses Fachgespräch widmete sich den unter-                   tion Bündnis 90/Die Grünen für Migration und In-
schiedlichen Erscheinungsformen und der Be-                   tegration
kämpfung des Antiziganismus. Nur wenn wir Anti-
ziganismus in seinen unterschiedlichen Erschei-               Obfrau im Innenausschuss
nungsformen verstehen und erkennen, können wir
                                                              Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Men-
erfolgreiche Strategien zur Bekämpfung entwi-
                                                              schenrechte und humanitäre Hilfe
ckeln. Dabei geht es sowohl um Bekämpfung der
Auswirkungen von Antiziganismus – wie u.a. Dis-               Mitglied im Beratenden Ausschuss für Fragen der
kriminierungen, Armut, schlechte Wohnverhält-                 Sinti und Roma, im Beratenden
nisse oder unzureichende Bildungsteilhabe – als
auch um die Bekämpfung rassistischer Stereotype               Ausschuss für die Fragen der niederdeutschen
                                                              Sprachgruppe und im Beratenden
und Praktiken, die nicht verschleiert, sondern in
all diesen Feldern explizit adressiert werden müs-            Ausschuss für die Fragen der friesischen Volks-
sen.                                                          gruppe

                                                02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 3
ANTIZIGANISMUS IN DEUTSCHLAND UND EUROPA
FACHGESPRÄCH VOM 4. SEPTEMBER IN BERLIN
Claudia Roth:                                                         Derweil hat erst kürzlich in Italien, immerhin
                                                                      Gründerstaat der Europäischen Union, eine so ge-
Sehr geehrte Gäste, sehr geehrte Damen und Her-                       nannte Roma-Zählung begonnen. Mitten in Eu-
ren, werte Freundinnen und Freunde, ich freue                         ropa werden wieder Menschen entlang ihrer eth-
mich, Sie heute begrüßen zu dürfen zu unserem                         nischen Herkunft „katalogisiert“. Wenn uns der
Fachgespräch „Antiziganismus in Deutschland und                       bisherige Antiziganismus im Alltag kein Grund zur
Europa“ - bei aller Ernsthaftigkeit, die unser heu-                   Sorge war, sollten wir spätestens durch die jüngs-
tiges Thema mit sich bringt. Wir treffen uns heute                    ten Vorkommnisse in Italien aufgeweckt und
in den Räumlichkeiten des Deutschen Bundesta-                         wachsam sein.
ges, ein Parlament, das zwar immer wieder über
Sinti und Roma debattiert, im Gegensatz zum eu-                       Der Blick in den Süden unseres Kontinents darf al-
ropäischen Parlament jedoch keinen Vertreter oder                     lerdings nicht davon ablenken, was vor unserer
keine Vertreterin der Sinti oder Roma in seinen                       eigenen Haustür, was auch in diesem hohen Hause
Reihen weiß, zumindest von denen ich oder wir                         tagtäglich geschieht. In meiner Heimat gab es vor
wüssten. Dass wir davon nicht wissen und es wo-                       Jahren eine Kampagne der CSU unter der Über-
möglich doch jemanden gibt, ist auch schon Teil                       schrift: „Wer betrügt, der fliegt“. Das war bedau-
des Problems und der Angst, die eigene Identität                      erlicherweise gar kein Zufall, sondern ganz offen-
preiszugeben.                                                         sichtlich der Versuch, Vorurteile und Erzählungen
                                                                      in der deutschen Gesellschaft aktiv zu bespielen
Ohnehin scheint die Mehrheit in diesem Haus der                       und hat – und das ist nachgewiesen worden – zu
Meinung zu sein, Antiziganismus sei keine zentrale                    einem sprunghaften Anstieg von Antiziganismus
Herausforderung in diesem Land und die Umset-                         geführt.
zung der EU-Roma-Strategie sei vielleicht etwas
für andere Länder, nicht aber für Deutschland. Wir                    Jüngst ließ sich der Oberbürgermeister von Duis-
laden heute zu diesem Fachgespräch ein, weil wir                      burg – wohlgemerkt ein SPD-Mitglied – zu der
dezidiert anderer Meinung sind. Vorurteile gegen                      Aussage hinreißen, „Er müsse sich bedauerlicher-
Sinti und Roma nämlich, ihre Diskriminierung in                       weise mit Menschen beschäftigen, die ganze Stra-
Schulen, in Behörden, auf dem Wohnungs- und                           ßenzüge vermüllen und das Rattenproblem ver-
Arbeitsmarkt, in den Medien, das ist immer noch                       schärfen.“ Hier waren Sinti und Roma gemeint.
Alltag in unserem Land, in Europa sowieso. Wie wir                    Nicht etwa in ihrer spezifischen Situation, in den
bei einem Empfang im Bayerischen Landtag von                          Wohnvierteln von Duisburg, sondern pauschal,
Vertretern der Sinti und Roma gehört haben, wird                      stereotyp, und zwar wissentlich.
die Situation sogar schlimmer, statt sich zu verbes-
                                                                      Auch für die völkische Bewegung in Deutschland
sern. Noch immer trauen sich viele Menschen hier
                                                                      ist offener, unverhohlener Antiziganismus eines
in Deutschland nicht zu sagen, dass sie Sinti oder
                                                                      von vielen Mitteln, um Menschen zu verachten. Es
Roma sind. Es ist für mich sehr bedrückend, dass
                                                                      ist ein gezielter Angriff auf die Grundlagen unserer
Menschen nicht zu ihrer Identität stehen können,
                                                                      Demokratie, ein gezielter Angriff auf Moral und
weil sie berechtigte Sorgen haben vor den Konse-
                                                                      Ethik und auf den Zusammenhalt unserer Gesell-
quenzen, die das bedeuten würde. Sie sprechen
                                                                      schaft. Auf diesem Wege wird auch die Entgren-
Romanes nur im Verborgenen, sie bringen ihren
                                                                      zung von Sprache vorangetrieben, zusammen mit
Kindern bei, lieber gar nicht erst zu erwähnen,
                                                                      dem Versuch, Geschichte umzudeuten und zu ver-
dass sie der größten Minderheit Europas angehö-
                                                                      harmlosen. Eine Geschichte - unserer Geschichte -
ren, dass auch sie zu den Sinti in Deutschland oder
                                                                      die auch den Porajmos, also die Ermordung von
zu den rund 12 Millionen Roma in der Europäi-
schen Union gehören.

    4 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
bis zu fünfhunderttausend Sinti und Roma durch                 bereit zu den überfälligen Veränderungen im Ge-
die NS-Diktatur bedeutet.                                      setz und Gesellschaft beizutragen.

Wort für Wort, Satz für Satz versuchen die Hetzer in           Entsprechend wünsche ich Ihnen und uns be-
diesem Land erneut die Grenze des Sagbaren zu                  dachte und mutige Gespräche, offene Gespräche,
verschieben. Nach dem Sagbaren aber kommt das                  ein Erinnern in Gegenwart und Zukunft, vor allem
Machbare, dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt             aber Kraft und Mut für den Einsatz gegen Antiziga-
der Angriff auf den Menschen.                                  nismus, gegen die Menschenfeindlichkeit, gegen
                                                               Diskriminierung, Ausgrenzung, Hass, Androhung
Dem wollen wir etwas entgegen setzen, auch in
                                                               von Gewalt, weit über diesen Tag hinaus. Wir sind
Form dieses Fachgesprächs, sachlich ohne billigen
                                                               mehr. Vielleicht aber müssen wir noch mehr wer-
Populismus, dafür mit sehr vielen klugen Köpfen
                                                               den und auch noch lauter. Die Kraft dazu lauter zu
und großen Herzen. Es braucht mehr Kopf und
                                                               werden, gibt mir immer wieder Musik, zumal
mehr Herz, wenn rund die Hälfte der Befragten der
                                                               wenn sie von großartigen Musikern kommt. Im
Aussage zustimmte, Sinti und Roma sollten aus
                                                               Anschluss an das Fachgespräch werden wir großar-
den Innenstädten verbannt werden. Es braucht sie
                                                               tige Musik von Sandro Roy hören. Herzlichen Dank,
umso mehr, wenn 58,5 Prozent glauben, Sinti und
                                                               dass Sie alle gekommen sind. Ich freue mich sehr,
Roma neigten eher zu Kriminalität als Nicht-Sinti
                                                               dass Sie da sind und ich wünsche uns und Ihnen
und Nicht-Roma.
                                                               eine sehr spannende und gute Veranstaltung.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundin-
                                                               Filiz Polat:
nen und Freunde, nie wieder. Diese neunbuchsta-
bige Staatsräson findet ihren Ursprung auch in un-             Von meiner Seite auch ein herzliches Willkommen
serem kollektiven Versprechen, dass die Verfolgung             zu unserem Fachgespräch. Für unsere Fraktion bin
und Diskriminierung von Sinti und Roma ein Ende                ich zuständig für die nationalen Minderheiten,
haben muss. In Zeiten aber, da „Zigeuner“ wieder               insbesondere für alle Fragen, die Sinti*ze und
Schimpfwort auf den Schulhöfen ist, braucht es                 Rom*nja betreffen. Zwei Menschen haben sich in
Tage wie diesen umso mehr. Wir Demokratinnen                   ihrer Tätigkeit im Deutschen Bundestag diesem
und Demokraten müssen Gesicht zeigen, wir müs-                 Thema in der Vergangenheit ganz besonders ge-
sen laut widersprechen, Verantwortung einfordern               widmet: Unsere Vizepräsidentin Claudia Roth von
und Verantwortung übernehmen. Wir dürfen nicht                 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und unsere
zögern im Einsatz gegen Menschenfeindlichkeit,                 Vizepräsidentin Petra Pau von der Fraktion Die
gegen Antisemitismus, gegen Antiziganismus in                  LINKE. Es war für uns deshalb selbstverständlich
unserer Gesellschaft, nicht in Chemnitz, nicht an-             beide einzuladen und um ein Grußwort zu bitten.
derswo in unserer Republik, nicht im Bundestag.                Ich freue mich sehr, Petra, dass Du gekommen bist
                                                               und übergebe Dir gern das Wort.
Vor allem aber müssen wir einstehen für ein mo-
dernes, ein weltoffenes, ein buntes Deutschland,               Petra Pau:
ein Deutschland, das deshalb nach vorn blicken
                                                               Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
kann, weil es nicht vergisst, sondern erinnert. Die
                                                               und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde,
Geschichte hat gezeigt, Menschenfeindlichkeit be-
                                                               meinen kurzen Beitrag möchte ich mit einem Aus-
ginnt oft bei einer Gruppe, am Ende aber richtet
                                                               zug aus meinem Buch „Gottlose Type – meine un-
sie sich gegen alles, was vermeintlich anders ist. Es
                                                               frisierten Erinnerungen“ beginnen. Es enthält 53
ist Aufgabe der gesamten Bevölkerung, dagegen
                                                               Episoden aus 25 Jahren, heiter, überraschend,
anzugehen. Es ist auch besondere Anforderung an
                                                               aber auch ernst. Diese Episode aus dem Jahr 2010
die Politik. Mit diesem Fachgespräch setzen wir ein
                                                               ist bitterernst und überschrieben mit „Fußball für
Zeichen und signalisieren: Wir nehmen den Anti-
                                                               Roma“: „Die Meldung ging international durch die
ziganismus in Deutschland und Europa ernst. Wir
                                                               Medien. Nazis haben in einem ungarischen Dorf
solidarisieren uns mit den Betroffenen und sind
                                                               das Haus einer Roma-Familie angezündet. Als der

                                                 02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 5
Vater mit seinem dreijährigen Sohn dem Inferno                        zes sind: „Die Würde des Menschen ist unantast-
entkommen wollte, wurden beide erschossen. Ich                        bar“, aller Menschen. Zweitens, wer Sinti und
wollte schon länger nach Ungarn reisen, zumal                         Roma herabsetzt, weil sie Sinti und Roma sind,
damals gerade eine neue linke Bürgerrechtspartei                      muss geächtet werden. Das beginnt bei der Diffa-
gegründet wurde. Aber nun fuhren wir gemeinsam                        mierung als „Zigeuner“, bis hin zur aktuellen AfD-
in das Dorf, um uns mit den Hinterbliebenen, ja                       Forderung, Sinti und Roma zu registrieren. Und
überhaupt mit Sinti und Roma zu solidarisieren:                       drittens, das Gros der Allgemeinheit weiß zu wenig
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti                   über Sinti und Roma, über ihre Geschichte, über
und Roma in Deutschland, Theo Zwanziger, damals                       ihre Kultur, über ihr Selbstverständnis. Das macht
Chef des Deutschen Fußballbundes, und ich.                            anfällig für Vorurteile und Antiziganismus.
Abends waren wir im Nep-Stadion beim Fußball-
                                                                      Wenn Ihnen diese drei Punkte so oder so ähnlich
Länderspiel Ungarn gegen Deutschland. Vor dem
                                                                      aus dem Bericht der unabhängigen Expertenkom-
Anpfiff warb eine antirassistische Initiative für De-
                                                                      mission zum Antisemitismus bekannt vorkommen,
mokratie und Toleranz. Deutschland gewann das
                                                                      dann ist das richtig und kein Zufall. Überall dort
Match vor 8.000 Zuschauern. Das waren sehr we-
                                                                      wo im Alltag Diskriminierung, Ausgrenzung be-
nige im eigentlich fußballverrückten Budapest.
                                                                      ginnt müssen wir ein Stoppschild aufstellen. Es
Nahezu zur selben Zeit wurde die neue Regierung
                                                                      wird allerhöchste Zeit für eine entsprechende Be-
vereidigt, unter freiem Himmel, bejubelt von
                                                                      richterstattung zu den tatsächlichen Zuständen in
80.000 Ungarn. Sie gilt als rechtskonservativ-
                                                                      unserer Gesellschaft und eine gemeinsame Bera-
rechtspopulistisch und wird durch militante, ne-
                                                                      tung, was dagegen zu tun ist, bevor es zu spät ist,
ofaschistische Organisationen gestützt. Auf ihr
                                                                      bevor es zum Angriff kommt. In diesem Sinne
Konto gingen regelrechte Feldzüge gegen Sinti und
                                                                      herzlichen Dank für die Einladung und für die gu-
Roma.“
                                                                      ten Gespräche, die wir sicherlich heute hier ge-
Die Geschichte geht noch weiter, im Holocaustmu-                      meinsam führen werden.
seum in Budapest und in die Geschichte des
                                                                      Filiz Polat:
Horthy-Faschismus. Aber das spare ich jetzt mal
aus. Wesentlicher ist, 1) Antiziganismus ist Jahr-                    Vielen Dank, liebe Petra Pau. Nun freue ich mich,
hunderte alt, 2) erscheint unausrottbar und 3) ist                    Romeo Franz um ein Grußwort zu bitten. Romeo
in Europa weit verbreitet. Das entschuldigt nichts                    Franz ist Mitglied des Europäischen Parlamentes
und das relativiert nichts. Angriffe gegen Sinti und                  und damit erster Sinto, der in dieser Legislaturpe-
Roma sind nirgendwo hinnehmbar. In Deutschland                        riode und hoffentlich auch darüber hinaus unter
sind sie angesichts der Nazigeschichte schon vom                      anderem die Interessen der Sinti*ze und Rom*nja
Ansatz her schlicht inakzeptabel. Wir wissen, wo                      vertreten wird. Lieber Romeo, ich freue mich, dass
das endet.                                                            wir zukünftig dieses Thema nicht nur von Berlin
                                                                      aus, sondern gemeinsam mit Dir auch in Brüssel
Und so danke ich Bündnis 90/Die Grünen für die-
                                                                      und Straßburg bearbeiten können.
ses Fachgespräch und für die Einladung dazu. In
meinem Wahlkreis gibt es übrigens eine Gedenk-                        Romeo Franz:
stätte. Sie erinnert am authentischen Ort daran,
dass Berlin zu den Olympischen Spielen 1936 frei                      Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
von „Zigeunern“ sein sollte, wie diese im Marzah-                     und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde, ich
ner Lager interniert, später in KZs deportiert und                    freue mich heute sehr, hier zu sein, um mit Ihnen
dort vernichtet wurden.                                               und mit Euch gemeinsam über dieses dringliche
                                                                      Thema Antiziganismus zu reden. Dass dieses Fach-
Deshalb zum Schluss noch drei Anmerkungen: Ers-                       gespräch heute stattfindet, haben wir Filiz Polat,
tens, kein Angriff gegen Sinti und Roma darf unter                    Abgeordnete im Bundestag für Bündnis 90/Die
den Tisch fallen. Zumal es immer auch Angriffe auf                    Grünen, Obfrau im Innenausschuss, Sprecherin für
unsere Demokratie und Artikel 1 des Grundgeset-                       Migrations- und Integrationspolitik sowie Mitglied

    6 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
im Beratenden Ausschuss für Fragen der Sinti und             einer französischen Stiftung gebaut, mit Wasch-
Roma, zu verdanken.                                          maschinen, Duschen, Toiletten und Aufenthalts-
                                                             raum machte einen unbenutzten, fast neuwerti-
Filiz Polat ist seit Jahren für Menschen mit Romno-
                                                             gen Eindruck. Auf meine Frage hin antworteten
Hintergrund aktiv. Wir haben uns kennen und
                                                             mir die Roma, dass ihnen der Zutritt und die Be-
schätzen gelernt als Filiz noch Landtagsabgeord-
                                                             nutzung nicht gestattet seien. Der Bürgermeister
nete in Niedersachsen war und wir über die Mög-
                                                             dieser kleinen Stadt, der seit zehn Jahren dieses
lichkeiten der Einbeziehung der Menschen mit
                                                             Amt innehat, war mit mir das erste Mal in dieser
Romno-Hintergrund in Niedersachsen diskutiert
                                                             Straße und bei diesen Menschen. Er war der Mei-
haben. Ich bin überzeugt, dass die Thematik bei
                                                             nung, dass die Mentalität der Roma Grund für die-
ihr in den richtigen Händen liegt. Dafür möchte ich
                                                             ses Elend sei. Sie seien selbst schuld an ihrer ver-
Dir danken, liebe Filiz.
                                                             heerenden Lebenssituation, denn würden sie als
Antiziganismus ist wohl die markanteste Facette              Tagelöhner für 1,20 Euro die Stunde arbeiten, hät-
des Rassismus in Europa. Seit Jahrhunderten ist              ten sie doch Geld zum Leben.
diese Art der Diskriminierung Realität. Sie führt
                                                             Diese Formen der Ausbeutung, Ausgrenzung, Igno-
nicht nur zu Ausgrenzung und verhinderter Teil-
                                                             ranz und Verachtung sind Beispiele dafür, wie tief
habe, sondern auch zu einer Entmenschlichung,
                                                             Antiziganismus in der europäischen Gesellschaft
auch zum Tode. Selbst heute werden Menschen auf
                                                             verwurzelt ist. Dieses Elend, das ich dort sehen
Grund ihrer Herkunft ausgegrenzt, für wertlos er-
                                                             musste, ist eigentlich unvorstellbar. Ich schäme
klärt und behandelt oder, wie es vor einigen Wo-
                                                             mich als Politiker, Europäer und als Mensch. Die
chen in der Ukraine geschehen ist, von Rassisten
                                                             Tabuisierung des Antiziganismus führt maßgeblich
ermordet.
                                                             zu diesen entmenschlichten Lebenssituationen.
Als ich am 3. Juli 2018 mein Mandat als Europaab-            Auch in unserem Land, in Deutschland, streichen
geordneter annahm, entschied ich mich auf Grund              politische Verantwortliche den Begriff des Anti-
der rassistischen Forderung des italienischen In-            ziganismus aus wichtigen Vorgaben und auch Ge-
nenministers Matteo Salvini, in Italien lebende              setzen – oft mit der Begründung, dass das Wort
Roma und Sinti zu erfassen, nach Mailand zu fah-             Rassismus völlig ausreichen würde.
ren, um Menschen mit Romno-Hintergrund, Zuge-
                                                             Mittlerweile hat sich die Nichtbenennung des
wanderte, illegale und alteingesessene Roma und
                                                             jahrhundertealten und in der Dominanzgesell-
Sinti zu besuchen. Diese Menschen erleben eine
                                                             schaft tradierten Antiziganismus aus dem rechten
systematische Integrationsverweigerung und Aus-
                                                             Spektrum in die Mitte der Politik verbreitet. Rassis-
grenzung durch staatliche Behörden. Menschen-
                                                             tische Bemerkungen werden immer mehr zum
rechte und die Kinderrechtskonvention werden für
                                                             Mainstream. Diejenigen, die diese Entwicklungen
Angehörige der Roma systematisch verletzt.
                                                             verurteilen und davor warnen, werden belächelt –
Danach besuchte ich Tinka, eine kleine Gemeinde              oder beschimpft und beleidigt. Wir müssen uns
im Westen von Rumänien, direkt an der ungari-                nur Kommentare auf Facebook durchlesen, um zu
schen Grenze, in der ca. 1000 bis 1500 Roma le-              erkennen, wie wichtig der Kampf gegen Rassismus
ben. 150 Kinder, Frauen und Männer, davon ein                und Diskriminierung ist.
Teil schwerstbehindert, leben in einer Situation,
                                                             Die Tabuisierung des Antiziganismus hat dazu ge-
die nicht mehr menschlich zu nennen ist. Ich sah
                                                             führt, dass dieser auch nicht als Fluchtgrund aner-
kleine Menschen mit schweren Behinderungen in
                                                             kannt ist und Länder, in denen eine massive Dis-
ihren eigenen Exkrementen liegen, von Flöhen
                                                             kriminierung gegenüber Roma stattfindet, als si-
und Wanzen zerbissen, zum Teil nackt oder mit
                                                             cher eingestuft werden. Obwohl ein großer Teil der
Lumpen bedeckt. Mehrere Kinder haben Hepatitis.
                                                             Menschen, die der Ethnie der Roma angehören,
Es gibt kaum ärztliche Versorgung für diese Bürger.
                                                             kaum Chancen auf ein menschenwürdiges Leben
Ein Waschhaus, etwa fünfzig Meter entfernt, von
                                                             oder auf eine gleichberechtigte Teilhabe haben.

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Den Kampf gegen Rassismus will ich mit Euch ge-                       und Roma-Frauen in Deutschland. Ein Ziel Ihrer
meinsam an unterschiedlichen Fronten führen.                          politischen Arbeit ist es, die Vielfalt von Sintize
Dazu müssen auch endlich Strukturen gefördert                         und Romnja sichtbar zu machen, in die Öffentlich-
werden, unter Einbeziehung der Betroffenen von                        keit und in den Dialog zu bringen. Im Jahr 2015
Antiziganismus, gleichberechtigt auf jeder Ebene.                     haben der Verein und Sie ein Buch mit dem Titel
Lasst uns gemeinsam einstehen für eine solidari-                      „Empowerment, Partizipation, Feminismus der
sche Gemeinschaft über ethnische Grenzen hin-                         Roma-Frauen“ veröffentlicht. Herzlich willkom-
weg. Damit uns das gelingt, brauchen wir Diplo-                       men!
matie, eine mutige Politik und Menschen, die den
                                                                      Auf der anderen Seite sitzt Prof. Dr. Elizabeta
Zugang zu den Betroffenen haben. Wir brauchen
                                                                      Jonuz. Frau Jonuz ist Soziologin und Professorin an
eine Regierung, die sich endlich zu ihrer Minder-
                                                                      der Hochschule Hannover in der Abteilung für So-
heit, den Menschen mit Romno-Hintergrund, be-
                                                                      ziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Migration und
kennt, sie respektiert und auf Augenhöhe in Lö-
                                                                      Internationales. Frau Jonuz hat im Jahr 2009 ihre
sungskonzeptionen miteinbezieht. Wir wollen
                                                                      Dissertation geschrieben zu der Frage, wie Roma-
keine Lippenbekenntnisse und keine Sonntagsre-
                                                                      Familien der Ethnisierungsfalle begegnen. Im Jahr
den mehr.
                                                                      2012/2013 war sie außerdem Projektleiterin in ei-
Wir erinnern uns noch gut an die Geschehnisse,                        ner interkommunalen Kooperation zur Entwicklung
die rund um die Realisierung des Denkmals für die                     eines Handlungskonzeptes bezüglich der Zuwan-
ermordeten Sinti und Roma in Europa praktiziert                       derung aus Südosteuropa mit den Städten Dort-
wurden. Zwanzig Jahre lang zögerte sich die Ein-                      mund und Duisburg tätig. Derzeit entwickeln Frau
weihung des Denkmals hinaus. Wir wollen uns                           Jonuz und Frau Dr. Jane Weiß von der Humboldt-
nicht mehr schwächen lassen, auch nicht mit der                       Universität Berlin gemeinsam eine Studie zu er-
Aussage, dass wir uns erstmal einig werden und                        folgreichen Bildungs- und Berufswegen von
mit einer Stimme reden müssen. Wir Roma und wir                       Sinti*ze und Rom*nja in Deutschland. Ein herzli-
Sinti sind eine vielfältige Gesellschaft. Jede und                    ches Willkommen an Frau Jonuz.
jeder von uns hat die Freiheit, eine eigene Mei-
                                                                      Dr. Markus End ist promovierter Sozialwissen-
nung zu bilden und zu vertreten. Liebe Freundin-
                                                                      schaftler und als selbstständiger wissenschaftlicher
nen und Freunde, liebe Geschwister, lasst uns aus
                                                                      Autor und Referent tätig. Herr End ist Vorsitzender
diesen Erfahrungen lernen und uns nicht ent-
                                                                      der Gesellschaft für Antiziganismusforschung.
zweien. Es würde uns keinen Schritt weiterbringen
                                                                      Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Theorien des
im Kampf gegen diese Pest des Rassismus, die
                                                                      Antiziganismus, antiziganismus-kritische Bil-
Menschen entrechtet, unseren Kindern die Chance
                                                                      dungsarbeit und vor allem Antiziganismus in den
auf ein lebenswertes Leben nimmt, nur weil sie
                                                                      Medien, bei Polizei und Sicherheitsbehörden und
einen Romno-Hintergrund haben. Lasst uns ver-
                                                                      in der Sozialen Arbeit. Herzlich willkommen!
binden und auch neue Verbündete suchen, damit
wir dieses Mal unsere Zukunft mitgestalten für uns                    Wir dürfen außerdem Sandra Selimović begrüßen.
und unsere Kinder. Zusammen sind wir stark. Vie-                      Frau Selimović wurde in Serbien geboren und emi-
len Dank!                                                             grierte mit ihrer Familie im Alter von 5 Jahren nach
                                                                      Wien. Sie ist Schauspielerin, Regisseurin, Produ-
Filiz Polat:
                                                                      zentin, Filmemacherin, Rapperin und Aktivistin.
Vielen Dank, Romeo. Wir steigen nun ein in die                        2010 gründete Sandra Selimović den ersten femi-
Panels. Erst werden wir auf dem Podium die Dis-                       nistischen und professionellen Rom*nja-Theater-
kussion führen und dann später Sie herzlich dazu                      verein mit Ihrer Schwester Simonida Selimović.
einladen, mit uns gemeinsam zu diskutieren. Zu                        Derzeit sind beide mit dem erfolgreichen Stück
meiner Linken sitzt Gordana Herold. Wir freuen                        Roma-Armee im Maxim-Gorki-Theater in Berlin zu
uns sehr, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind.                    sehen. Herzlich willkommen!
Gordana Herold ist die Initiatorin der Initiative Ro-
mane Romnja und des AGORA-Netzwerks für Sinti-

    8 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
Die Diskussion beginne ich mit einem Zitat von                dafür gute, kluge Strategien. Wir brauchen Solida-
Zoni Weisz, der im Jahr 2011 eine beeindruckende              rität untereinander, wir brauchen Solidarität von
Rede im Deutschen Bundestag gehalten hat: „Wir                der Politik, so wie sie uns das heute zeigt, und wir
sind doch Europäer und müssen dieselben Rechte                brauchen Solidarität in der gesamten Bevölkerung.
wie jeder andere Einwohner haben, mit gleichen
                                                              Die politische Bürgerrechtsbewegung der Sinto und
Chancen, wie sie für jeden Europäer gelten. Es
                                                              Roma ist bereits seit 1945 aktiv. Die Anerkennung
kann und darf nicht sein, dass ein Volk, dass durch
                                                              der Opfer des Holocaust erfolgte aber erst 40 Jahre
die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und ver-
                                                              später. 1985 wurden Sinti und Roma im Deutschen
folgt worden ist, heute immer noch ausgeschlos-
                                                              Bundestag offiziell als Opfer des Nationalsozialis-
sen und jeder ehrlichen Chance auf eine bessere
                                                              mus anerkannt. Die Anerkennung als nationale
Zukunft beraubt wird.“ Frau Herold, können Sie
                                                              Minderheit erfolgte 1995. Das Denkmal für die im
uns dazu Ihre Eindrücke schildern, wie sich in den
                                                              Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma
letzten zehn Jahre die Erfassung und Bearbeitung
                                                              wurde 2012 fertig gestellt. Die Jahreszahlen zeigen
von Antiziganismus in Deutschland entwickelt hat?
                                                              deutlich, wie mühsam die Arbeit der Bürgerrechts-
Gordana Herold:                                               bewegung war. Trotz der politischen und zivilge-
                                                              sellschaftlichen Hindernisse hat die Bürgerrechts-
Zunächst möchte ich die Aussagen von Romeo
                                                              arbeit nicht aufgegeben. Die Jahreszahlen zeigen
Franz bestätigen. Diese furchtbaren Zustände gibt
                                                              deutlich, welche hohen Anstrengungen notwendig
es natürlich in vielen Dörfern und Städten in Ru-
                                                              sind, vor allem für eine Gruppe, die in der Zivilge-
mänien, auf dem Balkan und in anderen ehemali-
                                                              sellschaft ein schlechtes Image hat.
gen Ostblockstaaten. Die Situation ist sehr fatal.
Andererseits muss man aber auch sagen, dass sich              In den letzten fünf Jahren hat sich auf der politi-
in den letzten fünf Jahren auf politischer Ebene              schen Ebene einiges bewegt. Es wird versucht, das
einiges getan hat im Vergleich zu den letzten zehn            Thema Sinti und Roma auf positive Art und Weise
bis zwanzig Jahren. Debatten über Antiziganismus              ins Zentrum zu rücken. Es gibt immer mehr Debat-
hatten wir in der Vergangenheit nicht so häufig               ten mit Sinti*ze und Rom*nja, Sinti*ze und
und wir wurden auch nicht in solche Häuser wie                Rom*nja sind Veranstalter und Gastgeber gewor-
den Deutschen Bundestag eingeladen. Dazu haben                den, Sinti*ze und Rom*nja werden wie z.B. heute
wir heute die Gelegenheit, wir haben heute mit                in den Bundestag eingeladen, immer mehr
Romeo Franz auch unseren ersten Sinto als Abge-               Sinti*ze und Rom*nja betätigen sich in der Politik.
ordneten im Europäischen Parlament.                           Die Strukturen öffnen sich immer mehr gegenüber
                                                              Sinti*ze und Rom*nja. Diese Öffnung sollten wir
Meiner Einschätzung nach müssen wir versuchen
                                                              nutzen, um uns zu professionalisieren, damit wir
die Debatte mehr und mehr positiv zu belegen. Wir
                                                              gemeinsam mit anderen Bürgern für Menschen-
dürfen Vorurteile und Stereotype nicht auf die ge-
                                                              rechte und Demokratie streiten können und immer
samte Minderheit übertragen. Das passiert zum
                                                              mehr zu Changemakern werden.
Teil in der medialen Berichterstattung, aber auch
in politischen Gremien. Die Aussage des italieni-             Die große Herausforderung ist und wird sein, ge-
schen Innenministers ist da nur das jüngste Bei-              gen die Vorurteile, Ausgrenzungen, Benachteili-
spiel. Die aktuelle Situation ist uns allen bekannt.          gungen, gegen Hass und Hetze, Diskriminierungen
Darüber müssen wir nicht lange mehr debattieren,              und Rassismus anzugehen. Dafür benötigt es viel
das haben wir in den letzten Jahrzehnten genug                Geduld, kluge Strategien, viel Solidarität und Sym-
getan.                                                        pathisanten in der Politik und in der modernen,
                                                              demokratischen Zivilgesellschaft. Die letzten Jahr-
Es ist an der Zeit, dass wir über die Bekämpfung
                                                              zehnte der Bürgerrechtsarbeit haben deutlich ge-
debattieren, und zwar ganz stark mit lauter
                                                              zeigt, dass Antiziganismus einer von vielen Rassis-
Stimme. Wie bekämpfen wir den Antiziganismus?
                                                              men ist, aber eben einer, der am stärksten in der
Antiziganismus ist seit Jahrhunderten historisch
                                                              Zivilgesellschaft verwurzelt ist – und das seit Jahr-
gewachsen, und ist stark verwurzelt. Wir brauchen
                                                              hunderten, in ganz Europa. Deshalb ist es wichtig,

                                                02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 9
Debatten darüber zu führen, welche Strategien                         an unsere Roma und Sinti, dass sie sich gegenüber
dagegen ankommen können. Die IST-Situation ist                        der Zivilgesellschaft in den jeweiligen Ländern,
uns allen gut bekannt.                                                Regionen, Städten und Stadtquartieren öffnen und
                                                                      sich als Teil der Gesellschaft verstehen.
Filiz Polat:
                                                                      Filiz Polat:
Frau Herold, mir haben Sie auf meine Frage, was
gegen Diskriminierung hilft, erzählt, dass es ein                     Frau Selimović, Sie haben ein Interview in der taz
großes Informationsdefizit gegenüber Sinti*ze und                     gegeben, in dem Sie sagen: Wir wollen raus aus
Rom*nja gibt. Häufig entsteht aus einem solchen                       der Opferrolle. Sehen Sie da einen Widerspruch zu
Defizit eine völlig falsche Wahrnehmung. Wie kön-                     den Aussagen von Frau Herold? Was ist Ihr Umgang
nen wir dem begegnen?                                                 mit dem Thema?

Gordana Herold:                                                       Sandra Selimović:

Es muss in zwei Richtungen appelliert werden:                         Nein, überhaupt nicht. Als Künstlerin geht es mir
Einmal natürlich den Appell an die Mehrheitsbe-                       vor allem darum, was für Rollenbilder und Stereo-
völkerung, die sehr wenig – wie schon von Petra                       typen wir schaffen, im Theater oder auch in Film
Pau erwähnt – über Sinti und Roma und über de-                        und Fernsehen. Uns geht es vor allem darum, uns
ren Geschichte weiß. Das Thema der Sinti wird au-                     selbst zu ermächtigen. Zusammen mit meiner
ßerdem häufig zu Unrecht und aus Unwissenheit                         Schwester habe ich in Wien den ersten feministi-
in der Migrationspolitik verortet. Angehörige der                     schen Roma-Theaterverein gegründet. Wir wollen
Sinti*ze sind aber keine Migranten. Diese Men-                        Klischees aufbrechen, aber auch andere Rollenbil-
schen leben seit fast 700 Jahren in Deutschland.                      der zeigen. Wir wollen starke Rom*nja zeigen, vor
1995 gab es die Anerkennung als nationale Min-                        allem auch aus einem feministischen Aspekt. Es
derheit. Gleichzeitig haben wir auch viele Angehö-                    geht nicht nur um Antiziganismus, sondern auch
rige der Roma in Deutschland mit Flüchtlingssta-                      um eine Übersexualisierung der Frau, die bei-
tus, das ist eine besondere Facette der Migrations-                   spielsweise in einer Exotisierung bei Roma-Frauen
politik. In Debatten über Sinti und Roma brauchen                     sichtbar wird.
wir konkrete Fachbereiche und Zuständigkeiten,
                                                                      Wir wollen diese Klischees aufbrechen und zeigen,
die die jeweiligen Themen konkret verorten.
                                                                      dass wir einfach normale Bürger und Bürgerinnen
Es muss endlich in der Politik und in der Zivilge-                    dieser Gesellschaft sind. Es gibt kein Roma-Prob-
sellschaft ankommen, dass deutsche Sinti und                          lem, sondern ein Rassismusproblem. Wir kritisie-
Roma national anerkannte Minderheiten sind. Aus                       ren auch andere Medien, die Rom*nja nur in Ste-
dem Status einer national anerkannten Minderheit                      reotypen darstellen – manchmal auch versteckt.
erwachsen ganz andere Rechten, Pflichten und                          Zum Beispiel spricht man nicht nur von Roma und
Ansprüche, auch andere Zugänge im Vergleich zu                        Sinti, sondern von „Armutszuwanderung“ aus
Migrantinnen und Migranten oder Geflüchteten.                         südosteuropäischen Ländern oder von „Familien-
Wenn wir die Angehörigen unterschiedlicher Grup-                      banden“ oder „Clans“. Im Theater beschäftigen
pen und Herkunft gemeinsam in der Migrations-                         wir uns viel mit Sprache, die wir aufbrechen wol-
politik verorten, fehlt das Verständnis für die un-                   len.
terschiedlichen Zugänge z.B. zum Erwerbsarbeits-
                                                                      Uns war es auch wichtig, dass wir eine Institution
oder Wohnungsmarkt. Das dürfen wir nicht weiter
                                                                      haben oder einen Verein, den wir leiten und in
zulassen und klar und deutlich die Unterschiede
                                                                      dem wir unsere eigenen Geschichten erzählen
benennen. Dafür brauchen wir natürlich auch In-
                                                                      können. Ich habe oft Rollen gespielt unter Anlei-
formationsportale und Menschen, die solche Prob-
                                                                      tung von Gadsche, also Nicht-Roma, die ihre eige-
lematiken im gesellschaftlichen Diskurs kommuni-
                                                                      nen Vorstellungen hatten, welche Geschichten sie
zieren können. Darüber hinaus brauchen wir na-
                                                                      über Rom*nja erzählen oder welche Klischees sie
türlich auch einen Appell an unsere eigenen Leute,

    10 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
reproduzieren wollen. Das hat mir irgendwann ge-              Markus End:
reicht, auch als Künstlerin, weshalb es mir sehr
                                                              Es gibt ganz klar ein strukturelles Ungleichgewicht
wichtig war, einen eigenen Verein zu gründen und
                                                              in diesen Stimmen. Das liegt, glaube ich, auch an
eigene Ideen zu liefern für Roma-Armee im Ma-
                                                              der Perspektive dieser Medien. Die sehen sich
xim-Gorki-Theater.
                                                              nicht als Vertreter*innen von Rom*nja, sondern als
Filiz Polat:                                                  Vertreter*innen dieser Dominanzgesellschaft. Na-
                                                              türlich machen einzelne Medien hier und da mal
Das Thema können wir gleich auch noch mal mit
                                                              einen Fehler. Worum es mir aber geht, ist ein biss-
Dr. Markus End besprechen, der zu Antiziganismus
                                                              chen grundsätzlicher. Es geht mir um die grund-
in der deutschen Öffentlichkeit und den Strategien
                                                              sätzliche Wahrnehmung dieser damaligen Migrati-
und Mechanismen medialer Kommunikation wis-
                                                              onsbewegung. Mit dem Begriff der „Armutszuwan-
senschaftlich arbeitet. Frau Selimović, wie gehen
                                                              derung“ ist die Vorstellung verbunden, da würden
die Medien mit Ihnen und Ihrer Arbeit in dem Ver-
                                                              Menschen hierher kommen, die nicht arbeiten,
ein oder am Theater um?
                                                              sondern auf unsere Kosten leben wollen. Diese
Sandra Selimović:                                             scheinbare Bedrohung wird dann auch noch eth-
                                                              nisiert. Die Begriffe „Roma“ und „Armutszuwan-
Es gab viel positiven Anklang. Wir haben aber auch            derer“ waren in der medialen Berichterstattung
Kritik bekommen, dass wir keine Kunst machen,                 eigentlich gleichgesetzt und das nicht nur in der
sondern nur Opfergeschichten produzieren. Wir                 Bild-Zeitung oder dem Explosiv-Magazin, sondern
wurden nicht als professionelles Theaterstück ein-            auch in ARD, ZDF und den großen Zeitungen. Wir
gestuft, vor allem, weil die meisten Mitspieler und           sollten nicht nur die ganze Zeit über die AfD spre-
Mitspielerinnen tatsächlich Roma sind. In Wien                chen oder nach Ungarn schauen, sondern müssen
haben wir beispielsweise auch durch die mediale               uns bewusst machen, dass es hier, in der Mitte der
Berichterstattung im Vorfeld der Aufführung auch              Gesellschaft, ganz massiv diese verzerrte Wahr-
viele Drohungen oder Anfeindungen bekommen.                   nehmung gibt. Eben auch bei ganz vielen Wohl-
Wir waren uns auch nicht sicher, ob es Angriffe               meinenden. Das zeigt sich dann auch in so kleinen
geben könnte. Es war uns am Anfang auch nicht                 Formulierungen, beispielsweise hieß es bei der
klar, wie die Leute reagieren werden am Maxim-                Räumung der Gerhart-Hauptmann-Schule in Ber-
Gorki-Theater, ob es negative Resonanz gibt oder              lin, in dem Haus wohnten „Aktivisten, Obdachlose
sogar Droh-Mails. Das war ziemlich durchwachsen.              und Roma“. Bei den „Aktivisten“ ist klar, warum
                                                              die da wohnten, bei den „Obdachlosen“ kann
Filiz Polat:
                                                              man es sich aus dem Wort quasi auch erschließen
Herr Dr. End, Sie haben über diese Themen sehr                – die wollten da ein Obdach haben – aber bei den
viel geschrieben und recherchiert. Sie konstatie-             „Roma“? Sind das jetzt Anwält*innen oder sind es
ren, dass sich Reportagen, Nachrichten und Maga-              die Aktivist*innen, oder vielleicht auch Obdach-
zinbeiträge in der Darstellung von Romno-Perso-               lose? Aus irgendeinem Grund werden sie aber
nen häufig einer stereotypen Bildsprache bedie-               nicht unter die Obdachlosen gezählt, weil das
nen. Es gibt beispielsweise Medienbeiträge in                 quasi bei dem Wort „Roma“ schon mitschwingt,
Stadtteilen in Duisburg oder Dortmund zum Thema               weil da ein Bedeutungsüberschuss besteht. Das ist
Zuwanderung aus Osteuropa, in denen empörte                   jetzt eine subtile Variante, aber man muss sich be-
Anwohner*innen, aber keine einzigen Rom*nja                   wusst machen, dass diese Worte in den Medien
interviewt werden. Empörte Bürger*innen und                   nicht ohne diesen antiziganistischen Vorstellungs-
Kommunalpolitiker*innen äußern sich, während                  gehalt verwendet werden.
die Vertreter*innen der örtlichen Selbstorganisati-
                                                              Filiz Polat:
onen nicht befragt werden. Was schließen Sie dar-
aus, auch in Hinblick auf die Arbeit einer zukünfti-          Frau Jonuz, Sie haben als Projektleiterin in einer
gen Expertenkommission Antiziganismus?                        interkommunalen Kooperation mit der Stadt Dort-

                                               02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 11
mund an einem Handlungskonzept für Zuwande-                           selbstkritisch sehen muss, wo über Jahrzehnte
rung aus Südosteuropa mitgearbeitet. Hat diese                        diese Quartiere vernachlässigt wurden.
Thematik, der Umgang mit Stereotypen, auch eine
                                                                      Dennoch war es schwierig und es ist nach wie vor
Rolle gespielt? Oder gab es einen anderen Schwer-
                                                                      der Fall, dass für gesellschaftliche Strukturen letzt-
punkt?
                                                                      endlich bestimmte Bevölkerungsgruppen, ob
Elizabeta Jonuz:                                                      Roma, Sinti oder Muslime, in Verantwortung ge-
                                                                      nommen werden für Misslagen in der Gesellschaft,
Ja, die Stadt Dortmund, die Stadt Duisburg, gefolgt
                                                                      die diese Menschen nicht zu verantworten haben.
von der Stadt Hannover und der Stadt Hagen sowie
weitere Städte haben hier unterschiedliche Spiel-                     Lassen Sie mich eins noch sagen, ich bin hier in
arten des Antiziganismus angewandt. Zu den un-                        diese Veranstaltung gekommen, weil wir über An-
terschiedlichen Spielarten des Antiziganismus ge-                     tiziganismus sprechen wollen. Die Zielgruppe ist
hören der rassistische Antiziganismus, sexistischer                   hier Dominanzgesellschaft, nicht Sinti, Roma, Calle
Antiziganismus, struktureller Antiziganismus usw.                     oder wer auch immer darunter zu verstehen ist.
Zunächst wurde für das Handlungskonzept der                           Also ich finde, dass wir eigentlich über Antiziga-
Städte Dortmund und Duisburg davon ausgegan-                          nismus bzw. Rassismus sprechen müssen, über die
gen, dass wir die wissenschaftliche Begleitung als                    Spielarten von Antiziganismus und die Spielarten
Auftragsforschung betreiben, was wir selbstver-                       von Rassismus und nicht über Roma, Sinti und an-
ständlich nicht gemacht haben.                                        dere Bevölkerungsgruppen, denen schlichtweg im
                                                                      gesamten Kontext Menschenrechte abgesprochen
Und auch die Städte Dortmund und Duisburg gin-
                                                                      werden. Wir müssen über institutionellen Rassis-
gen innerhalb ihrer rassistischen Ideologien – wie
                                                                      mus sprechen, wir müssen über strukturellen Ras-
Klaus Bade sagt – vom antiziganistischen Gespenst
                                                                      sismus sprechen und wie dieser unterschiedliche
der Armutsmigration aus. Es gab ein großes Inte-
                                                                      Menschengruppen, auch Sinti, auch Roma, aber
resse an den Migrantinnen und Migranten, die aus
                                                                      auch andere Menschengruppen mit voller Härte
Rumänien und Bulgarien insbesondere in die
                                                                      trifft.
Dortmunder Nordstadt gezogen sind und hier in
den über Jahrzehnte von der Stadtpolitik verwahr-                     Markus End:
losten Häusern wohnten. Sehr schnell wurde von
                                                                      Die Unterscheidung zwischen der Bekämpfung der
Roma gesprochen, wo wir in unserer Rolle als Wis-
                                                                      Effekte des Antiziganismus, also der schlechten Le-
senschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Stadt
                                                                      benssituation vieler Betroffener, und die Bekämp-
Dortmund sehr deutlich sagen mussten, dass auf-
                                                                      fung des Antiziganismus sind erstmal ganz unter-
grund der nationalsozialistischen Vergangenheit
                                                                      schiedliche Bereiche. In einem Bereich braucht es
die „ethnische“ Herkunft in statistischen Erhebun-
                                                                      tatsächlich konkrete Fördermaßnahmen, aber nur
gen nicht erhoben werden darf. Trotzdem gab es
                                                                      weil quasi Leuten geholfen wird, ist der Rassismus
ein großes Interesse an der Herkunft dieser Men-
                                                                      noch nicht bekämpft. Das wäre so ein wichtiger
schen und ihrer „Identität“ als Roma. Wir mussten
                                                                      gedanklicher Unterschied für mich.
als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klar
benennen, dass hier struktureller Rassismus be-                       Filiz Polat:
trieben wird.
                                                                      Frau Jonuz, die Bundesregierung hat im Koaliti-
Mittlerweile hat, das muss ich insbesondere Herrn                     onsvertrag die lang geforderte Expertenkommis-
Stüdemann, Stadtdirektor und Kämmerer von                             sion Antiziganismus verankert. Was erwarten Sie
Dortmund, zugutehalten, ein Perspektivwechsel                         von dieser Expertenkommission? Wo soll sie ihre
stattgefunden. Die Verantwortung der maroden                          Schwerpunkte setzen? Haben Sie konkrete Forde-
Quartiere und der schlechten Wohnbedingungen                          rungen, die Sie an eine Expertenkommission rich-
wird nicht den Zugewanderten aufoktroyiert.                           ten?
Stattdessen ist man sich mittlerweile im Klaren,
dass man Strukturen schaffen muss und auch

    12 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
Elizabeta Jonuz:                                             Community Biographien von Frauen und Mädchen
                                                             wahrnehmen können.
Also was ich mir von dieser Expertenkommission
oder Expertinnenkommission wünschen würde,                   Die Romane Romnja-Initiative bereitet gerade eine
ist, dass sie eine Diskussion über die unterschied-          Publikation namens „Romnja in Bildung und Be-
lichen Rassismen, worunter ich Antiziganismus,               ruf. Frauen schaffen es trotzdem“ vor. Der Weg ei-
Antisemitismus, Sexismus, antimuslimischer Ras-              ner jeden Sintizza und Romnji ist nicht einfach,
sismus zähle, öffnet. Was ich auch für wesentlich            sondern mit vielen Hindernissen und hohen An-
halte, sind Maßnahmen, die tatsächlich institutio-           strengungen verbunden, gerade wenn man im Bil-
nellen Rassismus, institutionelle Diskriminierung            dungs- und Berufskontext weiter vorankommen
beseitigen und nicht nur einzelne Projekte för-              möchte. Manche kommen nicht weiter als bis zur
dern. Nur dann kommen wir tatsächlich weiter.                Grundschule, da es ohne ein engagiertes Eltern-
                                                             haus und unterstützende Lehrerschaft wirklich
Filiz Polat:
                                                             schwierig ist eine Empfehlung für die Realschule
Frau Herold, was wären Ihre Punkte? Sie haben ein            oder das Gymnasium zu bekommen. Bildung ist
Netzwerk gegründet, was speziell auch feministi-             eine große Herausforderung, insbesondere für Sinti
sche Aspekte berücksichtigt. Wäre das auch ein               und Roma, die mit einem negativen Image in Bil-
Punkt, den Sie einbringen wollen würden?                     dung und Beruf einsteigen. Daran scheitern viele.
                                                             Jede und jeder hat aber natürlich selbst die Hoheit
Gordana Herold:                                              darüber zu entscheiden, inwieweit er oder sie sich
                                                             sichtbar macht. Es ist aus verschiedenen Biogra-
Von sexistischen Rassismus sind wir Romnja und
                                                             phien bekannt, wie schwer es ist, sich dieser Her-
Sintize sehr stark betroffen – sowohl von der
                                                             ausforderung zu stellen und sich im Kontext Bil-
Mehrheitsbevölkerung bzw. der Zivilgesellschaft als
                                                             dung und Beruf zu outen und danach weiter vo-
auch aus unseren eigenen Gruppen. Es sollte nicht
                                                             ranzukommen.
der Schwerpunkt der Expertenkommission sein,
aber durchaus breit thematisiert werden. Frauen              Romane Romnja hat für die Publikation „Romnja
und Mädchen aus der Sinti und Roma Community                 in Bildung und Beruf. Frauen schaffen es trotz-
müssen immer noch viel zu häufig ihre Belange,               dem“ mit großen Anstrengungen acht Frauen ge-
ihren Ehrgeiz, ihre Lebensentwürfe und Vorstel-              winnen können, die aus ihren Erfahrungen erzäh-
lungen verbergen, wenn sie in Bildung und Beruf              len und berichten, wie sie es doch geschafft ha-
einsteigen oder sich politisch engagieren wollen,            ben, in Bildung und Beruf erfolgreich zu sein.
genauso beim Thema Heiraten und Scheidung. Das               Diese Frauen haben sich nicht zu Beginn geoutet,
gilt ebenso für das Thema der sexuellen Orientie-            sondern erst als sie Anerkennung für ihre Leistun-
rung.                                                        gen erfahren haben. Wir haben für diese Publika-
                                                             tion aber noch keine ausreichenden Fördermittel.
An dieser Stelle möchte ich gern allen Frauen und
                                                             Wir hoffen auf Fördergelder, um die Publikation
Mädchen für ihren Mut danken, die als Vorreite-
                                                             drucken und veröffentlichen zu können.
rinnen das Thema der sexuellen Orientierung in
der Community platziert haben. Ich hoffe, dass das           Filiz Polat:
eine Motivation für viele andere Frauen und Mäd-
chen ist, Courage zu zeigen und Changemakerin-               Frau Selimović, in der Vergangenheit gab es eine
nen zu werden. Die Menschen, die sich sichtbar               Expertenkommission Antisemitismus, die wirklich
zeigen und die aktiv sind, die bereit sind, ihre             auch nur zum Kontext Antisemitismus gearbeitet
Herkunft, ihre Biographie und Expertise darzustel-           haben. Sollten wir eine Expertenkommission Anti-
len, brauchen ideelle und materielle Unterstüt-              ziganismus sozusagen öffnen oder glauben Sie,
zung. Das ist ein weiteres Mosaikteilchen, um ge-            dass dann der Fokus verloren geht? Zumal beim
gen Diskriminierung und Rassismus anzugehen.                 Thema Antiziganismus die Vorbehalte und Stereo-
Wir brauchen positive Unterstützung, damit die               type in der Mehrheitsgesellschaft weit größer sind
Mehrheitsgesellschaft und auch die Sinti und Roma

                                              02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 13
als bei anderen Ausprägungen der gruppenbezo-                         Zu häufig wird es auf individueller Ebene verhan-
genen Menschenfeindlichkeit?                                          delt, dabei beziehen sich Rassismen immer auf
                                                                      rassistische Ideologien, die in den gesamten
Sandra Selimović:
                                                                      Strukturen, im Bildungssystem, im Arbeitssystem,
Also für mich geht es vor allem um das Thema Bil-                     in Wohnsystemen, im Recht verankert sind. Und da
dung. Meiner Meinung nach sollte das Thema An-                        müssen wir hingucken. Deshalb würde ich Anti-
tiziganismus verpflichtend in die Lehrpläne aufge-                    ziganismus mit anderen Rassismen verbinden, es
nommen werden. In Österreich habe ich die Erfah-                      ist wesentlich fruchtbarer. Meine Sorge wäre, dass
rung gemacht, dass beispielsweise beim Thema                          durch die ausschließliche Fixierung auf Antiziga-
Holocaust Roma und Sinti nicht erwähnt werden.                        nismus gegebenenfalls eine Exotisierung stattfin-
Man spricht hauptsächlich über Antisemitismus,                        det, die ich verneine. Die Diskussionen über Ras-
wodurch eine ganz andere Sensibilisierung ent-                        sismen sind in der Bundesrepublik längst überfäl-
steht. Heutzutage würde sich kaum jemand trauen                       lig sind.
in der Öffentlichkeit antisemitische Thesen zu ver-
                                                                      Sandra Selimović:
treten. Daher wäre mein Appell, die Geschichte des
Antiziganismus als Unterrichtsstoff aufzunehmen.                      Meine Frage ist auch, wer an der Expertenkommis-
                                                                      sion überhaupt beteiligt ist. Wir müssen die Frage
Gleichzeitig müsste man aber auch das Lehrperso-
                                                                      stellen, wer überhaupt über dieses Problem
nal besser überprüfen. Ich habe die Erfahrung ge-
                                                                      spricht. Ich würde vor allem für eine stärkere Be-
macht, dass der Rassismus gegen Roma vor allem
                                                                      teiligung und auch Quotierung in solchen Kommis-
gegenüber den Kindern ziemlich groß ist. Da be-
                                                                      sionen appellieren. Ich finde, dass es da noch viel
gegnen einem häufig Vorurteile, beispielsweise
                                                                      zu wenig Repräsentation von unserer Seite in den
dass diese Kinder generell einfach dümmer wären
                                                                      gesellschaftlich relevanten Schlüsselstellen, vor al-
und sich schlechter benehmen, dass ihre Eltern
                                                                      lem im Bereich der Forschung gibt. Das muss auf
kein Interesse an der Bildung ihrer Kinder hätten,
                                                                      jeden Fall berücksichtigt werden. Es ist eine wich-
dass diese Kinder in Sonderschulen gehören usw.
                                                                      tige Frage, wer für uns spricht und welche Leute
Daran sieht man, dass vor allem im Bereich Bil-
                                                                      eingeladen werden. Man macht sich dann auch oft
dung die Partizipation bzw. die Chancengleichheit
                                                                      nicht die Mühe, kompetente Rom*nja zu finden,
überhaupt nicht ausgeglichen ist.
                                                                      die vielleicht viel mehr Wissen und Erfahrung ein-
Filiz Polat:                                                          bringen können. Solange es keine positiven Rol-
                                                                      lenbilder gibt oder gebildete Menschen, die für
Frau Jonuz, vielleicht können Sie auch noch mal                       uns sprechen, wird sich auch immer wieder bestä-
kommentieren, ob der Fokus verloren geht, wenn                        tigen, dass quasi Nicht-Roma – Gadsche – immer
man die Expertenkommission Antiziganismus für                         noch glauben, dass sie mehr wissen oder uns ir-
weitere Formen der gruppenbezogenen Menschen-                         gendwie retten müssen, anstatt uns die Möglich-
feindlichkeit öffnen würde.                                           keit geben, uns selbst zu ermächtigen und für uns
                                                                      zu sprechen.
Elizabeta Jonuz:
                                                                      Filiz Polat:
Ich würde das nicht als eine Verengung sehen,
sondern als eine Erweiterung. Politischer Antiziga-                   Das ist ja auch eine Ihrer zentralen Forderungen,
nismus wird ganz offen betrieben und ist auch                         Herr Dr. End, und auch eine Ihrer Empfehlungen,
hier im Haus salonfähig. Bei politischen Antiziga-                    dass keine Entscheidung ohne Sinti*ze und
nismus gibt es kaum Konsequenzen. Bei der Er-                         Rom*nja getroffen werden darf. Sie fordern auch,
weiterung des Antiziganismus um den Kontext des                       ähnlich wie Frau Dr. Jonuz, den Kampf gegen Anti-
Rassismus werden aber auf einmal alle ganz hell-                      ziganismus zu einem Projekt der Mehrheitsgesell-
hörig und weisen den Vorwurf, Rassistin oder ein                      schaft zu machen. Das ist auch unsere Erfahrung in
Rassist zu sein, von sich.                                            Niedersachsen. Die Verbände mussten die Klinken
                                                                      immer selber putzen, um Geld zu bekommen, um

    14 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
Bildungsarbeit zu machen. Allein in der Gedenk-               erfasst werden. Das ist nicht aus der Vergangen-
stättenarbeit war viel Eigeninitiative gefragt. Mit           heit, sondern das wird bis in die Gegenwart ge-
welchen strategischen Maßnahmen können wir die                macht und das wäre natürlich auch was, was poli-
Bekämpfung des Antiziganismus zum Projekt der                 tisch anzugehen wäre. Die Studien werden häufig
Mehrheitsgesellschaft machen? Da wäre ja zum ei-              von den Selbstorganisationen quasi der Öffentlich-
nen die Expertenkommission, die natürlich – da-               keit zur Verfügung gestellt, aber erfahren von den
von gehe ich aus – zu weiten Teilen auch entspre-             Parteien, Verbänden, Gewerkschaften nicht viel
chend mit Sinti*ze und Rom*nja besetzt wird.                  Aufmerksamkeit.

Die Frage bleibt: Wie machen wir die Bekämpfung               Im Gegenteil verschwinden diese Studien häufig in
des Antiziganismus zum Projekt der Mehrheitsge-               der Versenkung. Die Selbstorganisationen haben
sellschaft? Dieses Problem haben wir insgesamt                häufig nicht die Ressourcen die Ergebnisse dieser
beim Thema Rassismus. Oft finden vermeintliche                kritischen Studien noch entsprechend zu bearbei-
Integrationsprojekte statt, die sich aber an Immig-           ten und in die Öffentlichkeit zu bringen. Aus den
ranten und nicht an die Mehrheitsgesellschaft                 verschiedensten Studien ließen sich eigentliche
richtig. Häufig geht man auch über die klassische             hunderte Kleine Anfragen machen, die aber nicht
Bildungsarbeit, die dann an junge Menschen ge-                kommen. Oder die nur kommen, wenn die Selbst-
richtet ist, aber gerade der Rassismus in der Mitte           organisationen wiederum über persönliche Kon-
der Gesellschaft ist ja in allen Altersschichten und          takte in den Parteien irgendwo nachhaken, das ist
in allen Bildungsschichten zu finden.                         ja aber auch alles Arbeitszeit und Lobbyaufwand
                                                              usw. D.h. da ist tatsächlich auch eine Ressour-
Markus End:
                                                              cenverschiebung und auch eine Perspektivierung
Für mich aus meiner Forschungsperspektive heißt               notwendig, damit die Institutionen der Mehrheits-
meine Positionierung von Anfang an, dass ich                  gesellschaft den Kampf gegen strukturellen Rassis-
eben nicht über Rom*nja spreche, sondern die                  mus zu ihrem eigenen Projekt machen. Die Abge-
Mehrheitsgesellschaft erforsche und dementspre-               ordneten beispielsweise haben ja wissenschaftli-
chend auch Interviewanfragen oder sonstige Fra-               che Mitarbeiter*innen und so könnte eine Res-
gen zu dem Thema auch generell ablehne. Ich er-               sourcenumkehr stattfinden. Die Mitarbeiter*innen
forsche gar nicht Rom*nja, ich erforsche eigentlich           könnten sich in den Dienst dieser Sache stellen,
die Nicht-Rom*nja, das ist mein Forschungs-                   den strukturellen Rassismus eben angreifen und
schwerpunkt und das finde ich eine ganz wichtige              bekämpfen, auf unterschiedlichsten Ebenen.
Perspektive. Im Jahr 2014 habe ich eine Medienst-
                                                              Filiz Polat:
udie im Auftrag des Dokumentations- und Kultur-
zentrums gemacht. Im Jahr 2017 dann eine Kurz-                Vielen Dank. Frau Jonuz, was sagen Sie zum Stand
expertise zur Polizei im Auftrag des Zentralrats und          der wissenschaftlichen Forschung zum Thema An-
bereits davor, im Jahr 2013, eine Studie für Rom-             tiziganismus? Es existieren nach wie vor zu wenige
nokher. Das sind ja alles Selbstorganisationen, die           Lehrstühle und Institute, die sich mit dem Thema
ihre Ressourcen in die Hand nehmen und Leute                  befassen, schon gar selbst durch Sinti*ze oder
beauftragen, nicht nur mich, auch viele andere                Rom*nja. Frau Jonuz, Sie sind in der Hochschul-
Leute, um Content und Wissen zu produzieren. Das              landschaft in Hannover verankert, können Sie uns
ist ja eigentlich schon eine Verkehrung: Die Be-              aus Ihrer Perspektive einen Einblick geben in die
troffenen müssen sich darum kümmern, dass die                 Diskurse auch mit den verschiedenen Wissen-
Mehrheitsgesellschaft aufhört, sie weiter rassis-             schaftsministerien oder auch innerhalb der Hoch-
tisch zu diskriminieren. Diese Studien sowohl über            schullandschaft? Gibt es in der Hinsicht Bemühun-
Medien als auch über die Polizei betrachten Phä-              gen, ein größeres Netzwerk aufzubauen?
nomene von strukturellem Rassismus. Wenn Sie in
diese Kurzexpertise reinschauen, sehen Sie, dass
Rom*nja in Deutschland weiterhin von der Polizei

                                               02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 15
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