ANTIZIGANISMUS IN DEUTSCHLAND UND EUROPA - DOKUMENTATION DES FACHGESPRÄCHS VOM 4. SEPTEMBER 2018 IN BERLIN - GRÜNE Bundestagsfraktion
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ANTIZIGANISMUS IN DEUTSCHLAND UND EUROPA DOKUMENTATION DES FACHGESPRÄCHS VOM 4. SEPTEMBER 2018 IN BERLIN
IMPRESSUM Herausgeberin Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion Platz der Republik 1 11011 Berlin www.gruene-bundestag.de Verantwortlich Filiz Polat MdB Sprecherin für Migrations- und Integrationspolitik Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion Platz der Republik 1 11011 Berlin E-Mail: filiz.polat@bundestag.de Redaktion Hannah Ferlemann und Jerzy Szczesny Bezug Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion Info-Dienst Platz der Republik 1 11011 Berlin Fax: 030 / 227 56566 E-Mail: versand@gruene-bundestag.de Redaktionsschluss Februar 2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
INHALT | Vorwort .........................................................................................3 Antiziganismus in Deutschland und Europa .............................................4 Dokumentation des Fachgesprächs vom 4. September in Berlin ............... 4 02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion |
VORWORT Die vorliegende Broschüre fasst die Ergebnisse des Antiziganismus ist ein breites gesellschaftliches ersten Fachgesprächs im Deutschen Bundestag Problem. Umso wichtiger ist es, auf die Stimmen zum Thema Antiziganismus zusammen, das am 04. jener zu hören und Erfahrungen jener anzuerken- September 2018 stattgefunden hat. Ich freue nen, die von antiziganistischen Diskriminierungen mich, dass wir Ihnen im Anschluss an das Fachge- und systematischen Ausgrenzungen betroffen sind spräch diese Publikation vorlegen können. Mein Dafür tragen wir n der Bundesrepublik Deutsch- Dank gilt allen Beteiligten, die die Veranstaltung land auch durch die nationalsozialistische Verfol- durch die Diskussionsbeiträge mit Leben gefüllt gung von Angehörigen der Sinti und Roma und haben. deren weitreichenden und weiterhin anhaltenden Folgen i eine besondere Verantwortung. Antiziganismus ist in unseren Gesellschaften und Institutionen nach wie vor tief verankert. Men- Der Umgang mit Angehörigen der Roma und Sinti schen mit Romno-Hintergrund gehören zu einer ist ein Seismograf für die Freiheit und Menschen- Minderheit, die wie keine andere in Europa von würde in unserer Gesellschaft. Demokratie, Frei- Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen ist. heit und Menschenwürde sind auch im 21. Jahr- Antiziganismus bezeichnet eine spezielle Form ei- hundert keinesfalls Selbstverständlichkeiten, son- nes historisch gewachsenen, strukturellen Rassis- dern müssen täglich erkämpft werden. Die Aufklä- mus, der sich in vielfältigen Erscheinungsformen rung über und die Bekämpfung des Antiziganismus gegenüber Angehörigen der Roma und Sinti rich- sind zentrale Aufgaben, um die gesellschaftliche tet. Im öffentlichen Diskurs ist Antiziganismus eher und politische Teilhabe von Menschen mit Romno- die Regel als die Ausnahme. Menschen mit Hintergrund in Deutschland und Europa zu fördern Romno-Hintergrund werden oft als homogene und zu sichern. Dieses Fachgespräch im Deutschen Gruppe wahrgenommen und mit stereotypen, Bundestag soll einen Beitrag dafür leisten. stigmatisierenden Eigenschaften beschrieben. Vor Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen diesem Hintergrund entfalten und reproduzieren sich diskriminierende soziale und gesellschaftliche Filiz Polat Strukturen und Praxen sowie soziale Ungleichheit. Bundestagsabgeordnete und Sprecherin der Frak- Dieses Fachgespräch widmete sich den unter- tion Bündnis 90/Die Grünen für Migration und In- schiedlichen Erscheinungsformen und der Be- tegration kämpfung des Antiziganismus. Nur wenn wir Anti- ziganismus in seinen unterschiedlichen Erschei- Obfrau im Innenausschuss nungsformen verstehen und erkennen, können wir Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Men- erfolgreiche Strategien zur Bekämpfung entwi- schenrechte und humanitäre Hilfe ckeln. Dabei geht es sowohl um Bekämpfung der Auswirkungen von Antiziganismus – wie u.a. Dis- Mitglied im Beratenden Ausschuss für Fragen der kriminierungen, Armut, schlechte Wohnverhält- Sinti und Roma, im Beratenden nisse oder unzureichende Bildungsteilhabe – als auch um die Bekämpfung rassistischer Stereotype Ausschuss für die Fragen der niederdeutschen Sprachgruppe und im Beratenden und Praktiken, die nicht verschleiert, sondern in all diesen Feldern explizit adressiert werden müs- Ausschuss für die Fragen der friesischen Volks- sen. gruppe 02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 3
ANTIZIGANISMUS IN DEUTSCHLAND UND EUROPA FACHGESPRÄCH VOM 4. SEPTEMBER IN BERLIN Claudia Roth: Derweil hat erst kürzlich in Italien, immerhin Gründerstaat der Europäischen Union, eine so ge- Sehr geehrte Gäste, sehr geehrte Damen und Her- nannte Roma-Zählung begonnen. Mitten in Eu- ren, werte Freundinnen und Freunde, ich freue ropa werden wieder Menschen entlang ihrer eth- mich, Sie heute begrüßen zu dürfen zu unserem nischen Herkunft „katalogisiert“. Wenn uns der Fachgespräch „Antiziganismus in Deutschland und bisherige Antiziganismus im Alltag kein Grund zur Europa“ - bei aller Ernsthaftigkeit, die unser heu- Sorge war, sollten wir spätestens durch die jüngs- tiges Thema mit sich bringt. Wir treffen uns heute ten Vorkommnisse in Italien aufgeweckt und in den Räumlichkeiten des Deutschen Bundesta- wachsam sein. ges, ein Parlament, das zwar immer wieder über Sinti und Roma debattiert, im Gegensatz zum eu- Der Blick in den Süden unseres Kontinents darf al- ropäischen Parlament jedoch keinen Vertreter oder lerdings nicht davon ablenken, was vor unserer keine Vertreterin der Sinti oder Roma in seinen eigenen Haustür, was auch in diesem hohen Hause Reihen weiß, zumindest von denen ich oder wir tagtäglich geschieht. In meiner Heimat gab es vor wüssten. Dass wir davon nicht wissen und es wo- Jahren eine Kampagne der CSU unter der Über- möglich doch jemanden gibt, ist auch schon Teil schrift: „Wer betrügt, der fliegt“. Das war bedau- des Problems und der Angst, die eigene Identität erlicherweise gar kein Zufall, sondern ganz offen- preiszugeben. sichtlich der Versuch, Vorurteile und Erzählungen in der deutschen Gesellschaft aktiv zu bespielen Ohnehin scheint die Mehrheit in diesem Haus der und hat – und das ist nachgewiesen worden – zu Meinung zu sein, Antiziganismus sei keine zentrale einem sprunghaften Anstieg von Antiziganismus Herausforderung in diesem Land und die Umset- geführt. zung der EU-Roma-Strategie sei vielleicht etwas für andere Länder, nicht aber für Deutschland. Wir Jüngst ließ sich der Oberbürgermeister von Duis- laden heute zu diesem Fachgespräch ein, weil wir burg – wohlgemerkt ein SPD-Mitglied – zu der dezidiert anderer Meinung sind. Vorurteile gegen Aussage hinreißen, „Er müsse sich bedauerlicher- Sinti und Roma nämlich, ihre Diskriminierung in weise mit Menschen beschäftigen, die ganze Stra- Schulen, in Behörden, auf dem Wohnungs- und ßenzüge vermüllen und das Rattenproblem ver- Arbeitsmarkt, in den Medien, das ist immer noch schärfen.“ Hier waren Sinti und Roma gemeint. Alltag in unserem Land, in Europa sowieso. Wie wir Nicht etwa in ihrer spezifischen Situation, in den bei einem Empfang im Bayerischen Landtag von Wohnvierteln von Duisburg, sondern pauschal, Vertretern der Sinti und Roma gehört haben, wird stereotyp, und zwar wissentlich. die Situation sogar schlimmer, statt sich zu verbes- Auch für die völkische Bewegung in Deutschland sern. Noch immer trauen sich viele Menschen hier ist offener, unverhohlener Antiziganismus eines in Deutschland nicht zu sagen, dass sie Sinti oder von vielen Mitteln, um Menschen zu verachten. Es Roma sind. Es ist für mich sehr bedrückend, dass ist ein gezielter Angriff auf die Grundlagen unserer Menschen nicht zu ihrer Identität stehen können, Demokratie, ein gezielter Angriff auf Moral und weil sie berechtigte Sorgen haben vor den Konse- Ethik und auf den Zusammenhalt unserer Gesell- quenzen, die das bedeuten würde. Sie sprechen schaft. Auf diesem Wege wird auch die Entgren- Romanes nur im Verborgenen, sie bringen ihren zung von Sprache vorangetrieben, zusammen mit Kindern bei, lieber gar nicht erst zu erwähnen, dem Versuch, Geschichte umzudeuten und zu ver- dass sie der größten Minderheit Europas angehö- harmlosen. Eine Geschichte - unserer Geschichte - ren, dass auch sie zu den Sinti in Deutschland oder die auch den Porajmos, also die Ermordung von zu den rund 12 Millionen Roma in der Europäi- schen Union gehören. 4 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
bis zu fünfhunderttausend Sinti und Roma durch bereit zu den überfälligen Veränderungen im Ge- die NS-Diktatur bedeutet. setz und Gesellschaft beizutragen. Wort für Wort, Satz für Satz versuchen die Hetzer in Entsprechend wünsche ich Ihnen und uns be- diesem Land erneut die Grenze des Sagbaren zu dachte und mutige Gespräche, offene Gespräche, verschieben. Nach dem Sagbaren aber kommt das ein Erinnern in Gegenwart und Zukunft, vor allem Machbare, dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt aber Kraft und Mut für den Einsatz gegen Antiziga- der Angriff auf den Menschen. nismus, gegen die Menschenfeindlichkeit, gegen Diskriminierung, Ausgrenzung, Hass, Androhung Dem wollen wir etwas entgegen setzen, auch in von Gewalt, weit über diesen Tag hinaus. Wir sind Form dieses Fachgesprächs, sachlich ohne billigen mehr. Vielleicht aber müssen wir noch mehr wer- Populismus, dafür mit sehr vielen klugen Köpfen den und auch noch lauter. Die Kraft dazu lauter zu und großen Herzen. Es braucht mehr Kopf und werden, gibt mir immer wieder Musik, zumal mehr Herz, wenn rund die Hälfte der Befragten der wenn sie von großartigen Musikern kommt. Im Aussage zustimmte, Sinti und Roma sollten aus Anschluss an das Fachgespräch werden wir großar- den Innenstädten verbannt werden. Es braucht sie tige Musik von Sandro Roy hören. Herzlichen Dank, umso mehr, wenn 58,5 Prozent glauben, Sinti und dass Sie alle gekommen sind. Ich freue mich sehr, Roma neigten eher zu Kriminalität als Nicht-Sinti dass Sie da sind und ich wünsche uns und Ihnen und Nicht-Roma. eine sehr spannende und gute Veranstaltung. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundin- Filiz Polat: nen und Freunde, nie wieder. Diese neunbuchsta- bige Staatsräson findet ihren Ursprung auch in un- Von meiner Seite auch ein herzliches Willkommen serem kollektiven Versprechen, dass die Verfolgung zu unserem Fachgespräch. Für unsere Fraktion bin und Diskriminierung von Sinti und Roma ein Ende ich zuständig für die nationalen Minderheiten, haben muss. In Zeiten aber, da „Zigeuner“ wieder insbesondere für alle Fragen, die Sinti*ze und Schimpfwort auf den Schulhöfen ist, braucht es Rom*nja betreffen. Zwei Menschen haben sich in Tage wie diesen umso mehr. Wir Demokratinnen ihrer Tätigkeit im Deutschen Bundestag diesem und Demokraten müssen Gesicht zeigen, wir müs- Thema in der Vergangenheit ganz besonders ge- sen laut widersprechen, Verantwortung einfordern widmet: Unsere Vizepräsidentin Claudia Roth von und Verantwortung übernehmen. Wir dürfen nicht der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und unsere zögern im Einsatz gegen Menschenfeindlichkeit, Vizepräsidentin Petra Pau von der Fraktion Die gegen Antisemitismus, gegen Antiziganismus in LINKE. Es war für uns deshalb selbstverständlich unserer Gesellschaft, nicht in Chemnitz, nicht an- beide einzuladen und um ein Grußwort zu bitten. derswo in unserer Republik, nicht im Bundestag. Ich freue mich sehr, Petra, dass Du gekommen bist und übergebe Dir gern das Wort. Vor allem aber müssen wir einstehen für ein mo- dernes, ein weltoffenes, ein buntes Deutschland, Petra Pau: ein Deutschland, das deshalb nach vorn blicken Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen kann, weil es nicht vergisst, sondern erinnert. Die und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde, Geschichte hat gezeigt, Menschenfeindlichkeit be- meinen kurzen Beitrag möchte ich mit einem Aus- ginnt oft bei einer Gruppe, am Ende aber richtet zug aus meinem Buch „Gottlose Type – meine un- sie sich gegen alles, was vermeintlich anders ist. Es frisierten Erinnerungen“ beginnen. Es enthält 53 ist Aufgabe der gesamten Bevölkerung, dagegen Episoden aus 25 Jahren, heiter, überraschend, anzugehen. Es ist auch besondere Anforderung an aber auch ernst. Diese Episode aus dem Jahr 2010 die Politik. Mit diesem Fachgespräch setzen wir ein ist bitterernst und überschrieben mit „Fußball für Zeichen und signalisieren: Wir nehmen den Anti- Roma“: „Die Meldung ging international durch die ziganismus in Deutschland und Europa ernst. Wir Medien. Nazis haben in einem ungarischen Dorf solidarisieren uns mit den Betroffenen und sind das Haus einer Roma-Familie angezündet. Als der 02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 5
Vater mit seinem dreijährigen Sohn dem Inferno zes sind: „Die Würde des Menschen ist unantast- entkommen wollte, wurden beide erschossen. Ich bar“, aller Menschen. Zweitens, wer Sinti und wollte schon länger nach Ungarn reisen, zumal Roma herabsetzt, weil sie Sinti und Roma sind, damals gerade eine neue linke Bürgerrechtspartei muss geächtet werden. Das beginnt bei der Diffa- gegründet wurde. Aber nun fuhren wir gemeinsam mierung als „Zigeuner“, bis hin zur aktuellen AfD- in das Dorf, um uns mit den Hinterbliebenen, ja Forderung, Sinti und Roma zu registrieren. Und überhaupt mit Sinti und Roma zu solidarisieren: drittens, das Gros der Allgemeinheit weiß zu wenig Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti über Sinti und Roma, über ihre Geschichte, über und Roma in Deutschland, Theo Zwanziger, damals ihre Kultur, über ihr Selbstverständnis. Das macht Chef des Deutschen Fußballbundes, und ich. anfällig für Vorurteile und Antiziganismus. Abends waren wir im Nep-Stadion beim Fußball- Wenn Ihnen diese drei Punkte so oder so ähnlich Länderspiel Ungarn gegen Deutschland. Vor dem aus dem Bericht der unabhängigen Expertenkom- Anpfiff warb eine antirassistische Initiative für De- mission zum Antisemitismus bekannt vorkommen, mokratie und Toleranz. Deutschland gewann das dann ist das richtig und kein Zufall. Überall dort Match vor 8.000 Zuschauern. Das waren sehr we- wo im Alltag Diskriminierung, Ausgrenzung be- nige im eigentlich fußballverrückten Budapest. ginnt müssen wir ein Stoppschild aufstellen. Es Nahezu zur selben Zeit wurde die neue Regierung wird allerhöchste Zeit für eine entsprechende Be- vereidigt, unter freiem Himmel, bejubelt von richterstattung zu den tatsächlichen Zuständen in 80.000 Ungarn. Sie gilt als rechtskonservativ- unserer Gesellschaft und eine gemeinsame Bera- rechtspopulistisch und wird durch militante, ne- tung, was dagegen zu tun ist, bevor es zu spät ist, ofaschistische Organisationen gestützt. Auf ihr bevor es zum Angriff kommt. In diesem Sinne Konto gingen regelrechte Feldzüge gegen Sinti und herzlichen Dank für die Einladung und für die gu- Roma.“ ten Gespräche, die wir sicherlich heute hier ge- Die Geschichte geht noch weiter, im Holocaustmu- meinsam führen werden. seum in Budapest und in die Geschichte des Filiz Polat: Horthy-Faschismus. Aber das spare ich jetzt mal aus. Wesentlicher ist, 1) Antiziganismus ist Jahr- Vielen Dank, liebe Petra Pau. Nun freue ich mich, hunderte alt, 2) erscheint unausrottbar und 3) ist Romeo Franz um ein Grußwort zu bitten. Romeo in Europa weit verbreitet. Das entschuldigt nichts Franz ist Mitglied des Europäischen Parlamentes und das relativiert nichts. Angriffe gegen Sinti und und damit erster Sinto, der in dieser Legislaturpe- Roma sind nirgendwo hinnehmbar. In Deutschland riode und hoffentlich auch darüber hinaus unter sind sie angesichts der Nazigeschichte schon vom anderem die Interessen der Sinti*ze und Rom*nja Ansatz her schlicht inakzeptabel. Wir wissen, wo vertreten wird. Lieber Romeo, ich freue mich, dass das endet. wir zukünftig dieses Thema nicht nur von Berlin aus, sondern gemeinsam mit Dir auch in Brüssel Und so danke ich Bündnis 90/Die Grünen für die- und Straßburg bearbeiten können. ses Fachgespräch und für die Einladung dazu. In meinem Wahlkreis gibt es übrigens eine Gedenk- Romeo Franz: stätte. Sie erinnert am authentischen Ort daran, dass Berlin zu den Olympischen Spielen 1936 frei Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen von „Zigeunern“ sein sollte, wie diese im Marzah- und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde, ich ner Lager interniert, später in KZs deportiert und freue mich heute sehr, hier zu sein, um mit Ihnen dort vernichtet wurden. und mit Euch gemeinsam über dieses dringliche Thema Antiziganismus zu reden. Dass dieses Fach- Deshalb zum Schluss noch drei Anmerkungen: Ers- gespräch heute stattfindet, haben wir Filiz Polat, tens, kein Angriff gegen Sinti und Roma darf unter Abgeordnete im Bundestag für Bündnis 90/Die den Tisch fallen. Zumal es immer auch Angriffe auf Grünen, Obfrau im Innenausschuss, Sprecherin für unsere Demokratie und Artikel 1 des Grundgeset- Migrations- und Integrationspolitik sowie Mitglied 6 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
im Beratenden Ausschuss für Fragen der Sinti und einer französischen Stiftung gebaut, mit Wasch- Roma, zu verdanken. maschinen, Duschen, Toiletten und Aufenthalts- raum machte einen unbenutzten, fast neuwerti- Filiz Polat ist seit Jahren für Menschen mit Romno- gen Eindruck. Auf meine Frage hin antworteten Hintergrund aktiv. Wir haben uns kennen und mir die Roma, dass ihnen der Zutritt und die Be- schätzen gelernt als Filiz noch Landtagsabgeord- nutzung nicht gestattet seien. Der Bürgermeister nete in Niedersachsen war und wir über die Mög- dieser kleinen Stadt, der seit zehn Jahren dieses lichkeiten der Einbeziehung der Menschen mit Amt innehat, war mit mir das erste Mal in dieser Romno-Hintergrund in Niedersachsen diskutiert Straße und bei diesen Menschen. Er war der Mei- haben. Ich bin überzeugt, dass die Thematik bei nung, dass die Mentalität der Roma Grund für die- ihr in den richtigen Händen liegt. Dafür möchte ich ses Elend sei. Sie seien selbst schuld an ihrer ver- Dir danken, liebe Filiz. heerenden Lebenssituation, denn würden sie als Antiziganismus ist wohl die markanteste Facette Tagelöhner für 1,20 Euro die Stunde arbeiten, hät- des Rassismus in Europa. Seit Jahrhunderten ist ten sie doch Geld zum Leben. diese Art der Diskriminierung Realität. Sie führt Diese Formen der Ausbeutung, Ausgrenzung, Igno- nicht nur zu Ausgrenzung und verhinderter Teil- ranz und Verachtung sind Beispiele dafür, wie tief habe, sondern auch zu einer Entmenschlichung, Antiziganismus in der europäischen Gesellschaft auch zum Tode. Selbst heute werden Menschen auf verwurzelt ist. Dieses Elend, das ich dort sehen Grund ihrer Herkunft ausgegrenzt, für wertlos er- musste, ist eigentlich unvorstellbar. Ich schäme klärt und behandelt oder, wie es vor einigen Wo- mich als Politiker, Europäer und als Mensch. Die chen in der Ukraine geschehen ist, von Rassisten Tabuisierung des Antiziganismus führt maßgeblich ermordet. zu diesen entmenschlichten Lebenssituationen. Als ich am 3. Juli 2018 mein Mandat als Europaab- Auch in unserem Land, in Deutschland, streichen geordneter annahm, entschied ich mich auf Grund politische Verantwortliche den Begriff des Anti- der rassistischen Forderung des italienischen In- ziganismus aus wichtigen Vorgaben und auch Ge- nenministers Matteo Salvini, in Italien lebende setzen – oft mit der Begründung, dass das Wort Roma und Sinti zu erfassen, nach Mailand zu fah- Rassismus völlig ausreichen würde. ren, um Menschen mit Romno-Hintergrund, Zuge- Mittlerweile hat sich die Nichtbenennung des wanderte, illegale und alteingesessene Roma und jahrhundertealten und in der Dominanzgesell- Sinti zu besuchen. Diese Menschen erleben eine schaft tradierten Antiziganismus aus dem rechten systematische Integrationsverweigerung und Aus- Spektrum in die Mitte der Politik verbreitet. Rassis- grenzung durch staatliche Behörden. Menschen- tische Bemerkungen werden immer mehr zum rechte und die Kinderrechtskonvention werden für Mainstream. Diejenigen, die diese Entwicklungen Angehörige der Roma systematisch verletzt. verurteilen und davor warnen, werden belächelt – Danach besuchte ich Tinka, eine kleine Gemeinde oder beschimpft und beleidigt. Wir müssen uns im Westen von Rumänien, direkt an der ungari- nur Kommentare auf Facebook durchlesen, um zu schen Grenze, in der ca. 1000 bis 1500 Roma le- erkennen, wie wichtig der Kampf gegen Rassismus ben. 150 Kinder, Frauen und Männer, davon ein und Diskriminierung ist. Teil schwerstbehindert, leben in einer Situation, Die Tabuisierung des Antiziganismus hat dazu ge- die nicht mehr menschlich zu nennen ist. Ich sah führt, dass dieser auch nicht als Fluchtgrund aner- kleine Menschen mit schweren Behinderungen in kannt ist und Länder, in denen eine massive Dis- ihren eigenen Exkrementen liegen, von Flöhen kriminierung gegenüber Roma stattfindet, als si- und Wanzen zerbissen, zum Teil nackt oder mit cher eingestuft werden. Obwohl ein großer Teil der Lumpen bedeckt. Mehrere Kinder haben Hepatitis. Menschen, die der Ethnie der Roma angehören, Es gibt kaum ärztliche Versorgung für diese Bürger. kaum Chancen auf ein menschenwürdiges Leben Ein Waschhaus, etwa fünfzig Meter entfernt, von oder auf eine gleichberechtigte Teilhabe haben. 02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 7
Den Kampf gegen Rassismus will ich mit Euch ge- und Roma-Frauen in Deutschland. Ein Ziel Ihrer meinsam an unterschiedlichen Fronten führen. politischen Arbeit ist es, die Vielfalt von Sintize Dazu müssen auch endlich Strukturen gefördert und Romnja sichtbar zu machen, in die Öffentlich- werden, unter Einbeziehung der Betroffenen von keit und in den Dialog zu bringen. Im Jahr 2015 Antiziganismus, gleichberechtigt auf jeder Ebene. haben der Verein und Sie ein Buch mit dem Titel Lasst uns gemeinsam einstehen für eine solidari- „Empowerment, Partizipation, Feminismus der sche Gemeinschaft über ethnische Grenzen hin- Roma-Frauen“ veröffentlicht. Herzlich willkom- weg. Damit uns das gelingt, brauchen wir Diplo- men! matie, eine mutige Politik und Menschen, die den Auf der anderen Seite sitzt Prof. Dr. Elizabeta Zugang zu den Betroffenen haben. Wir brauchen Jonuz. Frau Jonuz ist Soziologin und Professorin an eine Regierung, die sich endlich zu ihrer Minder- der Hochschule Hannover in der Abteilung für So- heit, den Menschen mit Romno-Hintergrund, be- ziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Migration und kennt, sie respektiert und auf Augenhöhe in Lö- Internationales. Frau Jonuz hat im Jahr 2009 ihre sungskonzeptionen miteinbezieht. Wir wollen Dissertation geschrieben zu der Frage, wie Roma- keine Lippenbekenntnisse und keine Sonntagsre- Familien der Ethnisierungsfalle begegnen. Im Jahr den mehr. 2012/2013 war sie außerdem Projektleiterin in ei- Wir erinnern uns noch gut an die Geschehnisse, ner interkommunalen Kooperation zur Entwicklung die rund um die Realisierung des Denkmals für die eines Handlungskonzeptes bezüglich der Zuwan- ermordeten Sinti und Roma in Europa praktiziert derung aus Südosteuropa mit den Städten Dort- wurden. Zwanzig Jahre lang zögerte sich die Ein- mund und Duisburg tätig. Derzeit entwickeln Frau weihung des Denkmals hinaus. Wir wollen uns Jonuz und Frau Dr. Jane Weiß von der Humboldt- nicht mehr schwächen lassen, auch nicht mit der Universität Berlin gemeinsam eine Studie zu er- Aussage, dass wir uns erstmal einig werden und folgreichen Bildungs- und Berufswegen von mit einer Stimme reden müssen. Wir Roma und wir Sinti*ze und Rom*nja in Deutschland. Ein herzli- Sinti sind eine vielfältige Gesellschaft. Jede und ches Willkommen an Frau Jonuz. jeder von uns hat die Freiheit, eine eigene Mei- Dr. Markus End ist promovierter Sozialwissen- nung zu bilden und zu vertreten. Liebe Freundin- schaftler und als selbstständiger wissenschaftlicher nen und Freunde, liebe Geschwister, lasst uns aus Autor und Referent tätig. Herr End ist Vorsitzender diesen Erfahrungen lernen und uns nicht ent- der Gesellschaft für Antiziganismusforschung. zweien. Es würde uns keinen Schritt weiterbringen Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Theorien des im Kampf gegen diese Pest des Rassismus, die Antiziganismus, antiziganismus-kritische Bil- Menschen entrechtet, unseren Kindern die Chance dungsarbeit und vor allem Antiziganismus in den auf ein lebenswertes Leben nimmt, nur weil sie Medien, bei Polizei und Sicherheitsbehörden und einen Romno-Hintergrund haben. Lasst uns ver- in der Sozialen Arbeit. Herzlich willkommen! binden und auch neue Verbündete suchen, damit wir dieses Mal unsere Zukunft mitgestalten für uns Wir dürfen außerdem Sandra Selimović begrüßen. und unsere Kinder. Zusammen sind wir stark. Vie- Frau Selimović wurde in Serbien geboren und emi- len Dank! grierte mit ihrer Familie im Alter von 5 Jahren nach Wien. Sie ist Schauspielerin, Regisseurin, Produ- Filiz Polat: zentin, Filmemacherin, Rapperin und Aktivistin. Vielen Dank, Romeo. Wir steigen nun ein in die 2010 gründete Sandra Selimović den ersten femi- Panels. Erst werden wir auf dem Podium die Dis- nistischen und professionellen Rom*nja-Theater- kussion führen und dann später Sie herzlich dazu verein mit Ihrer Schwester Simonida Selimović. einladen, mit uns gemeinsam zu diskutieren. Zu Derzeit sind beide mit dem erfolgreichen Stück meiner Linken sitzt Gordana Herold. Wir freuen Roma-Armee im Maxim-Gorki-Theater in Berlin zu uns sehr, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. sehen. Herzlich willkommen! Gordana Herold ist die Initiatorin der Initiative Ro- mane Romnja und des AGORA-Netzwerks für Sinti- 8 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
Die Diskussion beginne ich mit einem Zitat von dafür gute, kluge Strategien. Wir brauchen Solida- Zoni Weisz, der im Jahr 2011 eine beeindruckende rität untereinander, wir brauchen Solidarität von Rede im Deutschen Bundestag gehalten hat: „Wir der Politik, so wie sie uns das heute zeigt, und wir sind doch Europäer und müssen dieselben Rechte brauchen Solidarität in der gesamten Bevölkerung. wie jeder andere Einwohner haben, mit gleichen Die politische Bürgerrechtsbewegung der Sinto und Chancen, wie sie für jeden Europäer gelten. Es Roma ist bereits seit 1945 aktiv. Die Anerkennung kann und darf nicht sein, dass ein Volk, dass durch der Opfer des Holocaust erfolgte aber erst 40 Jahre die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und ver- später. 1985 wurden Sinti und Roma im Deutschen folgt worden ist, heute immer noch ausgeschlos- Bundestag offiziell als Opfer des Nationalsozialis- sen und jeder ehrlichen Chance auf eine bessere mus anerkannt. Die Anerkennung als nationale Zukunft beraubt wird.“ Frau Herold, können Sie Minderheit erfolgte 1995. Das Denkmal für die im uns dazu Ihre Eindrücke schildern, wie sich in den Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma letzten zehn Jahre die Erfassung und Bearbeitung wurde 2012 fertig gestellt. Die Jahreszahlen zeigen von Antiziganismus in Deutschland entwickelt hat? deutlich, wie mühsam die Arbeit der Bürgerrechts- Gordana Herold: bewegung war. Trotz der politischen und zivilge- sellschaftlichen Hindernisse hat die Bürgerrechts- Zunächst möchte ich die Aussagen von Romeo arbeit nicht aufgegeben. Die Jahreszahlen zeigen Franz bestätigen. Diese furchtbaren Zustände gibt deutlich, welche hohen Anstrengungen notwendig es natürlich in vielen Dörfern und Städten in Ru- sind, vor allem für eine Gruppe, die in der Zivilge- mänien, auf dem Balkan und in anderen ehemali- sellschaft ein schlechtes Image hat. gen Ostblockstaaten. Die Situation ist sehr fatal. Andererseits muss man aber auch sagen, dass sich In den letzten fünf Jahren hat sich auf der politi- in den letzten fünf Jahren auf politischer Ebene schen Ebene einiges bewegt. Es wird versucht, das einiges getan hat im Vergleich zu den letzten zehn Thema Sinti und Roma auf positive Art und Weise bis zwanzig Jahren. Debatten über Antiziganismus ins Zentrum zu rücken. Es gibt immer mehr Debat- hatten wir in der Vergangenheit nicht so häufig ten mit Sinti*ze und Rom*nja, Sinti*ze und und wir wurden auch nicht in solche Häuser wie Rom*nja sind Veranstalter und Gastgeber gewor- den Deutschen Bundestag eingeladen. Dazu haben den, Sinti*ze und Rom*nja werden wie z.B. heute wir heute die Gelegenheit, wir haben heute mit in den Bundestag eingeladen, immer mehr Romeo Franz auch unseren ersten Sinto als Abge- Sinti*ze und Rom*nja betätigen sich in der Politik. ordneten im Europäischen Parlament. Die Strukturen öffnen sich immer mehr gegenüber Sinti*ze und Rom*nja. Diese Öffnung sollten wir Meiner Einschätzung nach müssen wir versuchen nutzen, um uns zu professionalisieren, damit wir die Debatte mehr und mehr positiv zu belegen. Wir gemeinsam mit anderen Bürgern für Menschen- dürfen Vorurteile und Stereotype nicht auf die ge- rechte und Demokratie streiten können und immer samte Minderheit übertragen. Das passiert zum mehr zu Changemakern werden. Teil in der medialen Berichterstattung, aber auch in politischen Gremien. Die Aussage des italieni- Die große Herausforderung ist und wird sein, ge- schen Innenministers ist da nur das jüngste Bei- gen die Vorurteile, Ausgrenzungen, Benachteili- spiel. Die aktuelle Situation ist uns allen bekannt. gungen, gegen Hass und Hetze, Diskriminierungen Darüber müssen wir nicht lange mehr debattieren, und Rassismus anzugehen. Dafür benötigt es viel das haben wir in den letzten Jahrzehnten genug Geduld, kluge Strategien, viel Solidarität und Sym- getan. pathisanten in der Politik und in der modernen, demokratischen Zivilgesellschaft. Die letzten Jahr- Es ist an der Zeit, dass wir über die Bekämpfung zehnte der Bürgerrechtsarbeit haben deutlich ge- debattieren, und zwar ganz stark mit lauter zeigt, dass Antiziganismus einer von vielen Rassis- Stimme. Wie bekämpfen wir den Antiziganismus? men ist, aber eben einer, der am stärksten in der Antiziganismus ist seit Jahrhunderten historisch Zivilgesellschaft verwurzelt ist – und das seit Jahr- gewachsen, und ist stark verwurzelt. Wir brauchen hunderten, in ganz Europa. Deshalb ist es wichtig, 02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 9
Debatten darüber zu führen, welche Strategien an unsere Roma und Sinti, dass sie sich gegenüber dagegen ankommen können. Die IST-Situation ist der Zivilgesellschaft in den jeweiligen Ländern, uns allen gut bekannt. Regionen, Städten und Stadtquartieren öffnen und sich als Teil der Gesellschaft verstehen. Filiz Polat: Filiz Polat: Frau Herold, mir haben Sie auf meine Frage, was gegen Diskriminierung hilft, erzählt, dass es ein Frau Selimović, Sie haben ein Interview in der taz großes Informationsdefizit gegenüber Sinti*ze und gegeben, in dem Sie sagen: Wir wollen raus aus Rom*nja gibt. Häufig entsteht aus einem solchen der Opferrolle. Sehen Sie da einen Widerspruch zu Defizit eine völlig falsche Wahrnehmung. Wie kön- den Aussagen von Frau Herold? Was ist Ihr Umgang nen wir dem begegnen? mit dem Thema? Gordana Herold: Sandra Selimović: Es muss in zwei Richtungen appelliert werden: Nein, überhaupt nicht. Als Künstlerin geht es mir Einmal natürlich den Appell an die Mehrheitsbe- vor allem darum, was für Rollenbilder und Stereo- völkerung, die sehr wenig – wie schon von Petra typen wir schaffen, im Theater oder auch in Film Pau erwähnt – über Sinti und Roma und über de- und Fernsehen. Uns geht es vor allem darum, uns ren Geschichte weiß. Das Thema der Sinti wird au- selbst zu ermächtigen. Zusammen mit meiner ßerdem häufig zu Unrecht und aus Unwissenheit Schwester habe ich in Wien den ersten feministi- in der Migrationspolitik verortet. Angehörige der schen Roma-Theaterverein gegründet. Wir wollen Sinti*ze sind aber keine Migranten. Diese Men- Klischees aufbrechen, aber auch andere Rollenbil- schen leben seit fast 700 Jahren in Deutschland. der zeigen. Wir wollen starke Rom*nja zeigen, vor 1995 gab es die Anerkennung als nationale Min- allem auch aus einem feministischen Aspekt. Es derheit. Gleichzeitig haben wir auch viele Angehö- geht nicht nur um Antiziganismus, sondern auch rige der Roma in Deutschland mit Flüchtlingssta- um eine Übersexualisierung der Frau, die bei- tus, das ist eine besondere Facette der Migrations- spielsweise in einer Exotisierung bei Roma-Frauen politik. In Debatten über Sinti und Roma brauchen sichtbar wird. wir konkrete Fachbereiche und Zuständigkeiten, Wir wollen diese Klischees aufbrechen und zeigen, die die jeweiligen Themen konkret verorten. dass wir einfach normale Bürger und Bürgerinnen Es muss endlich in der Politik und in der Zivilge- dieser Gesellschaft sind. Es gibt kein Roma-Prob- sellschaft ankommen, dass deutsche Sinti und lem, sondern ein Rassismusproblem. Wir kritisie- Roma national anerkannte Minderheiten sind. Aus ren auch andere Medien, die Rom*nja nur in Ste- dem Status einer national anerkannten Minderheit reotypen darstellen – manchmal auch versteckt. erwachsen ganz andere Rechten, Pflichten und Zum Beispiel spricht man nicht nur von Roma und Ansprüche, auch andere Zugänge im Vergleich zu Sinti, sondern von „Armutszuwanderung“ aus Migrantinnen und Migranten oder Geflüchteten. südosteuropäischen Ländern oder von „Familien- Wenn wir die Angehörigen unterschiedlicher Grup- banden“ oder „Clans“. Im Theater beschäftigen pen und Herkunft gemeinsam in der Migrations- wir uns viel mit Sprache, die wir aufbrechen wol- politik verorten, fehlt das Verständnis für die un- len. terschiedlichen Zugänge z.B. zum Erwerbsarbeits- Uns war es auch wichtig, dass wir eine Institution oder Wohnungsmarkt. Das dürfen wir nicht weiter haben oder einen Verein, den wir leiten und in zulassen und klar und deutlich die Unterschiede dem wir unsere eigenen Geschichten erzählen benennen. Dafür brauchen wir natürlich auch In- können. Ich habe oft Rollen gespielt unter Anlei- formationsportale und Menschen, die solche Prob- tung von Gadsche, also Nicht-Roma, die ihre eige- lematiken im gesellschaftlichen Diskurs kommuni- nen Vorstellungen hatten, welche Geschichten sie zieren können. Darüber hinaus brauchen wir na- über Rom*nja erzählen oder welche Klischees sie türlich auch einen Appell an unsere eigenen Leute, 10 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
reproduzieren wollen. Das hat mir irgendwann ge- Markus End: reicht, auch als Künstlerin, weshalb es mir sehr Es gibt ganz klar ein strukturelles Ungleichgewicht wichtig war, einen eigenen Verein zu gründen und in diesen Stimmen. Das liegt, glaube ich, auch an eigene Ideen zu liefern für Roma-Armee im Ma- der Perspektive dieser Medien. Die sehen sich xim-Gorki-Theater. nicht als Vertreter*innen von Rom*nja, sondern als Filiz Polat: Vertreter*innen dieser Dominanzgesellschaft. Na- türlich machen einzelne Medien hier und da mal Das Thema können wir gleich auch noch mal mit einen Fehler. Worum es mir aber geht, ist ein biss- Dr. Markus End besprechen, der zu Antiziganismus chen grundsätzlicher. Es geht mir um die grund- in der deutschen Öffentlichkeit und den Strategien sätzliche Wahrnehmung dieser damaligen Migrati- und Mechanismen medialer Kommunikation wis- onsbewegung. Mit dem Begriff der „Armutszuwan- senschaftlich arbeitet. Frau Selimović, wie gehen derung“ ist die Vorstellung verbunden, da würden die Medien mit Ihnen und Ihrer Arbeit in dem Ver- Menschen hierher kommen, die nicht arbeiten, ein oder am Theater um? sondern auf unsere Kosten leben wollen. Diese Sandra Selimović: scheinbare Bedrohung wird dann auch noch eth- nisiert. Die Begriffe „Roma“ und „Armutszuwan- Es gab viel positiven Anklang. Wir haben aber auch derer“ waren in der medialen Berichterstattung Kritik bekommen, dass wir keine Kunst machen, eigentlich gleichgesetzt und das nicht nur in der sondern nur Opfergeschichten produzieren. Wir Bild-Zeitung oder dem Explosiv-Magazin, sondern wurden nicht als professionelles Theaterstück ein- auch in ARD, ZDF und den großen Zeitungen. Wir gestuft, vor allem, weil die meisten Mitspieler und sollten nicht nur die ganze Zeit über die AfD spre- Mitspielerinnen tatsächlich Roma sind. In Wien chen oder nach Ungarn schauen, sondern müssen haben wir beispielsweise auch durch die mediale uns bewusst machen, dass es hier, in der Mitte der Berichterstattung im Vorfeld der Aufführung auch Gesellschaft, ganz massiv diese verzerrte Wahr- viele Drohungen oder Anfeindungen bekommen. nehmung gibt. Eben auch bei ganz vielen Wohl- Wir waren uns auch nicht sicher, ob es Angriffe meinenden. Das zeigt sich dann auch in so kleinen geben könnte. Es war uns am Anfang auch nicht Formulierungen, beispielsweise hieß es bei der klar, wie die Leute reagieren werden am Maxim- Räumung der Gerhart-Hauptmann-Schule in Ber- Gorki-Theater, ob es negative Resonanz gibt oder lin, in dem Haus wohnten „Aktivisten, Obdachlose sogar Droh-Mails. Das war ziemlich durchwachsen. und Roma“. Bei den „Aktivisten“ ist klar, warum die da wohnten, bei den „Obdachlosen“ kann Filiz Polat: man es sich aus dem Wort quasi auch erschließen Herr Dr. End, Sie haben über diese Themen sehr – die wollten da ein Obdach haben – aber bei den viel geschrieben und recherchiert. Sie konstatie- „Roma“? Sind das jetzt Anwält*innen oder sind es ren, dass sich Reportagen, Nachrichten und Maga- die Aktivist*innen, oder vielleicht auch Obdach- zinbeiträge in der Darstellung von Romno-Perso- lose? Aus irgendeinem Grund werden sie aber nen häufig einer stereotypen Bildsprache bedie- nicht unter die Obdachlosen gezählt, weil das nen. Es gibt beispielsweise Medienbeiträge in quasi bei dem Wort „Roma“ schon mitschwingt, Stadtteilen in Duisburg oder Dortmund zum Thema weil da ein Bedeutungsüberschuss besteht. Das ist Zuwanderung aus Osteuropa, in denen empörte jetzt eine subtile Variante, aber man muss sich be- Anwohner*innen, aber keine einzigen Rom*nja wusst machen, dass diese Worte in den Medien interviewt werden. Empörte Bürger*innen und nicht ohne diesen antiziganistischen Vorstellungs- Kommunalpolitiker*innen äußern sich, während gehalt verwendet werden. die Vertreter*innen der örtlichen Selbstorganisati- Filiz Polat: onen nicht befragt werden. Was schließen Sie dar- aus, auch in Hinblick auf die Arbeit einer zukünfti- Frau Jonuz, Sie haben als Projektleiterin in einer gen Expertenkommission Antiziganismus? interkommunalen Kooperation mit der Stadt Dort- 02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 11
mund an einem Handlungskonzept für Zuwande- selbstkritisch sehen muss, wo über Jahrzehnte rung aus Südosteuropa mitgearbeitet. Hat diese diese Quartiere vernachlässigt wurden. Thematik, der Umgang mit Stereotypen, auch eine Dennoch war es schwierig und es ist nach wie vor Rolle gespielt? Oder gab es einen anderen Schwer- der Fall, dass für gesellschaftliche Strukturen letzt- punkt? endlich bestimmte Bevölkerungsgruppen, ob Elizabeta Jonuz: Roma, Sinti oder Muslime, in Verantwortung ge- nommen werden für Misslagen in der Gesellschaft, Ja, die Stadt Dortmund, die Stadt Duisburg, gefolgt die diese Menschen nicht zu verantworten haben. von der Stadt Hannover und der Stadt Hagen sowie weitere Städte haben hier unterschiedliche Spiel- Lassen Sie mich eins noch sagen, ich bin hier in arten des Antiziganismus angewandt. Zu den un- diese Veranstaltung gekommen, weil wir über An- terschiedlichen Spielarten des Antiziganismus ge- tiziganismus sprechen wollen. Die Zielgruppe ist hören der rassistische Antiziganismus, sexistischer hier Dominanzgesellschaft, nicht Sinti, Roma, Calle Antiziganismus, struktureller Antiziganismus usw. oder wer auch immer darunter zu verstehen ist. Zunächst wurde für das Handlungskonzept der Also ich finde, dass wir eigentlich über Antiziga- Städte Dortmund und Duisburg davon ausgegan- nismus bzw. Rassismus sprechen müssen, über die gen, dass wir die wissenschaftliche Begleitung als Spielarten von Antiziganismus und die Spielarten Auftragsforschung betreiben, was wir selbstver- von Rassismus und nicht über Roma, Sinti und an- ständlich nicht gemacht haben. dere Bevölkerungsgruppen, denen schlichtweg im gesamten Kontext Menschenrechte abgesprochen Und auch die Städte Dortmund und Duisburg gin- werden. Wir müssen über institutionellen Rassis- gen innerhalb ihrer rassistischen Ideologien – wie mus sprechen, wir müssen über strukturellen Ras- Klaus Bade sagt – vom antiziganistischen Gespenst sismus sprechen und wie dieser unterschiedliche der Armutsmigration aus. Es gab ein großes Inte- Menschengruppen, auch Sinti, auch Roma, aber resse an den Migrantinnen und Migranten, die aus auch andere Menschengruppen mit voller Härte Rumänien und Bulgarien insbesondere in die trifft. Dortmunder Nordstadt gezogen sind und hier in den über Jahrzehnte von der Stadtpolitik verwahr- Markus End: losten Häusern wohnten. Sehr schnell wurde von Die Unterscheidung zwischen der Bekämpfung der Roma gesprochen, wo wir in unserer Rolle als Wis- Effekte des Antiziganismus, also der schlechten Le- senschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Stadt benssituation vieler Betroffener, und die Bekämp- Dortmund sehr deutlich sagen mussten, dass auf- fung des Antiziganismus sind erstmal ganz unter- grund der nationalsozialistischen Vergangenheit schiedliche Bereiche. In einem Bereich braucht es die „ethnische“ Herkunft in statistischen Erhebun- tatsächlich konkrete Fördermaßnahmen, aber nur gen nicht erhoben werden darf. Trotzdem gab es weil quasi Leuten geholfen wird, ist der Rassismus ein großes Interesse an der Herkunft dieser Men- noch nicht bekämpft. Das wäre so ein wichtiger schen und ihrer „Identität“ als Roma. Wir mussten gedanklicher Unterschied für mich. als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klar benennen, dass hier struktureller Rassismus be- Filiz Polat: trieben wird. Frau Jonuz, die Bundesregierung hat im Koaliti- Mittlerweile hat, das muss ich insbesondere Herrn onsvertrag die lang geforderte Expertenkommis- Stüdemann, Stadtdirektor und Kämmerer von sion Antiziganismus verankert. Was erwarten Sie Dortmund, zugutehalten, ein Perspektivwechsel von dieser Expertenkommission? Wo soll sie ihre stattgefunden. Die Verantwortung der maroden Schwerpunkte setzen? Haben Sie konkrete Forde- Quartiere und der schlechten Wohnbedingungen rungen, die Sie an eine Expertenkommission rich- wird nicht den Zugewanderten aufoktroyiert. ten? Stattdessen ist man sich mittlerweile im Klaren, dass man Strukturen schaffen muss und auch 12 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
Elizabeta Jonuz: Community Biographien von Frauen und Mädchen wahrnehmen können. Also was ich mir von dieser Expertenkommission oder Expertinnenkommission wünschen würde, Die Romane Romnja-Initiative bereitet gerade eine ist, dass sie eine Diskussion über die unterschied- Publikation namens „Romnja in Bildung und Be- lichen Rassismen, worunter ich Antiziganismus, ruf. Frauen schaffen es trotzdem“ vor. Der Weg ei- Antisemitismus, Sexismus, antimuslimischer Ras- ner jeden Sintizza und Romnji ist nicht einfach, sismus zähle, öffnet. Was ich auch für wesentlich sondern mit vielen Hindernissen und hohen An- halte, sind Maßnahmen, die tatsächlich institutio- strengungen verbunden, gerade wenn man im Bil- nellen Rassismus, institutionelle Diskriminierung dungs- und Berufskontext weiter vorankommen beseitigen und nicht nur einzelne Projekte för- möchte. Manche kommen nicht weiter als bis zur dern. Nur dann kommen wir tatsächlich weiter. Grundschule, da es ohne ein engagiertes Eltern- haus und unterstützende Lehrerschaft wirklich Filiz Polat: schwierig ist eine Empfehlung für die Realschule Frau Herold, was wären Ihre Punkte? Sie haben ein oder das Gymnasium zu bekommen. Bildung ist Netzwerk gegründet, was speziell auch feministi- eine große Herausforderung, insbesondere für Sinti sche Aspekte berücksichtigt. Wäre das auch ein und Roma, die mit einem negativen Image in Bil- Punkt, den Sie einbringen wollen würden? dung und Beruf einsteigen. Daran scheitern viele. Jede und jeder hat aber natürlich selbst die Hoheit Gordana Herold: darüber zu entscheiden, inwieweit er oder sie sich sichtbar macht. Es ist aus verschiedenen Biogra- Von sexistischen Rassismus sind wir Romnja und phien bekannt, wie schwer es ist, sich dieser Her- Sintize sehr stark betroffen – sowohl von der ausforderung zu stellen und sich im Kontext Bil- Mehrheitsbevölkerung bzw. der Zivilgesellschaft als dung und Beruf zu outen und danach weiter vo- auch aus unseren eigenen Gruppen. Es sollte nicht ranzukommen. der Schwerpunkt der Expertenkommission sein, aber durchaus breit thematisiert werden. Frauen Romane Romnja hat für die Publikation „Romnja und Mädchen aus der Sinti und Roma Community in Bildung und Beruf. Frauen schaffen es trotz- müssen immer noch viel zu häufig ihre Belange, dem“ mit großen Anstrengungen acht Frauen ge- ihren Ehrgeiz, ihre Lebensentwürfe und Vorstel- winnen können, die aus ihren Erfahrungen erzäh- lungen verbergen, wenn sie in Bildung und Beruf len und berichten, wie sie es doch geschafft ha- einsteigen oder sich politisch engagieren wollen, ben, in Bildung und Beruf erfolgreich zu sein. genauso beim Thema Heiraten und Scheidung. Das Diese Frauen haben sich nicht zu Beginn geoutet, gilt ebenso für das Thema der sexuellen Orientie- sondern erst als sie Anerkennung für ihre Leistun- rung. gen erfahren haben. Wir haben für diese Publika- tion aber noch keine ausreichenden Fördermittel. An dieser Stelle möchte ich gern allen Frauen und Wir hoffen auf Fördergelder, um die Publikation Mädchen für ihren Mut danken, die als Vorreite- drucken und veröffentlichen zu können. rinnen das Thema der sexuellen Orientierung in der Community platziert haben. Ich hoffe, dass das Filiz Polat: eine Motivation für viele andere Frauen und Mäd- chen ist, Courage zu zeigen und Changemakerin- Frau Selimović, in der Vergangenheit gab es eine nen zu werden. Die Menschen, die sich sichtbar Expertenkommission Antisemitismus, die wirklich zeigen und die aktiv sind, die bereit sind, ihre auch nur zum Kontext Antisemitismus gearbeitet Herkunft, ihre Biographie und Expertise darzustel- haben. Sollten wir eine Expertenkommission Anti- len, brauchen ideelle und materielle Unterstüt- ziganismus sozusagen öffnen oder glauben Sie, zung. Das ist ein weiteres Mosaikteilchen, um ge- dass dann der Fokus verloren geht? Zumal beim gen Diskriminierung und Rassismus anzugehen. Thema Antiziganismus die Vorbehalte und Stereo- Wir brauchen positive Unterstützung, damit die type in der Mehrheitsgesellschaft weit größer sind Mehrheitsgesellschaft und auch die Sinti und Roma 02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 13
als bei anderen Ausprägungen der gruppenbezo- Zu häufig wird es auf individueller Ebene verhan- genen Menschenfeindlichkeit? delt, dabei beziehen sich Rassismen immer auf rassistische Ideologien, die in den gesamten Sandra Selimović: Strukturen, im Bildungssystem, im Arbeitssystem, Also für mich geht es vor allem um das Thema Bil- in Wohnsystemen, im Recht verankert sind. Und da dung. Meiner Meinung nach sollte das Thema An- müssen wir hingucken. Deshalb würde ich Anti- tiziganismus verpflichtend in die Lehrpläne aufge- ziganismus mit anderen Rassismen verbinden, es nommen werden. In Österreich habe ich die Erfah- ist wesentlich fruchtbarer. Meine Sorge wäre, dass rung gemacht, dass beispielsweise beim Thema durch die ausschließliche Fixierung auf Antiziga- Holocaust Roma und Sinti nicht erwähnt werden. nismus gegebenenfalls eine Exotisierung stattfin- Man spricht hauptsächlich über Antisemitismus, det, die ich verneine. Die Diskussionen über Ras- wodurch eine ganz andere Sensibilisierung ent- sismen sind in der Bundesrepublik längst überfäl- steht. Heutzutage würde sich kaum jemand trauen lig sind. in der Öffentlichkeit antisemitische Thesen zu ver- Sandra Selimović: treten. Daher wäre mein Appell, die Geschichte des Antiziganismus als Unterrichtsstoff aufzunehmen. Meine Frage ist auch, wer an der Expertenkommis- sion überhaupt beteiligt ist. Wir müssen die Frage Gleichzeitig müsste man aber auch das Lehrperso- stellen, wer überhaupt über dieses Problem nal besser überprüfen. Ich habe die Erfahrung ge- spricht. Ich würde vor allem für eine stärkere Be- macht, dass der Rassismus gegen Roma vor allem teiligung und auch Quotierung in solchen Kommis- gegenüber den Kindern ziemlich groß ist. Da be- sionen appellieren. Ich finde, dass es da noch viel gegnen einem häufig Vorurteile, beispielsweise zu wenig Repräsentation von unserer Seite in den dass diese Kinder generell einfach dümmer wären gesellschaftlich relevanten Schlüsselstellen, vor al- und sich schlechter benehmen, dass ihre Eltern lem im Bereich der Forschung gibt. Das muss auf kein Interesse an der Bildung ihrer Kinder hätten, jeden Fall berücksichtigt werden. Es ist eine wich- dass diese Kinder in Sonderschulen gehören usw. tige Frage, wer für uns spricht und welche Leute Daran sieht man, dass vor allem im Bereich Bil- eingeladen werden. Man macht sich dann auch oft dung die Partizipation bzw. die Chancengleichheit nicht die Mühe, kompetente Rom*nja zu finden, überhaupt nicht ausgeglichen ist. die vielleicht viel mehr Wissen und Erfahrung ein- Filiz Polat: bringen können. Solange es keine positiven Rol- lenbilder gibt oder gebildete Menschen, die für Frau Jonuz, vielleicht können Sie auch noch mal uns sprechen, wird sich auch immer wieder bestä- kommentieren, ob der Fokus verloren geht, wenn tigen, dass quasi Nicht-Roma – Gadsche – immer man die Expertenkommission Antiziganismus für noch glauben, dass sie mehr wissen oder uns ir- weitere Formen der gruppenbezogenen Menschen- gendwie retten müssen, anstatt uns die Möglich- feindlichkeit öffnen würde. keit geben, uns selbst zu ermächtigen und für uns zu sprechen. Elizabeta Jonuz: Filiz Polat: Ich würde das nicht als eine Verengung sehen, sondern als eine Erweiterung. Politischer Antiziga- Das ist ja auch eine Ihrer zentralen Forderungen, nismus wird ganz offen betrieben und ist auch Herr Dr. End, und auch eine Ihrer Empfehlungen, hier im Haus salonfähig. Bei politischen Antiziga- dass keine Entscheidung ohne Sinti*ze und nismus gibt es kaum Konsequenzen. Bei der Er- Rom*nja getroffen werden darf. Sie fordern auch, weiterung des Antiziganismus um den Kontext des ähnlich wie Frau Dr. Jonuz, den Kampf gegen Anti- Rassismus werden aber auf einmal alle ganz hell- ziganismus zu einem Projekt der Mehrheitsgesell- hörig und weisen den Vorwurf, Rassistin oder ein schaft zu machen. Das ist auch unsere Erfahrung in Rassist zu sein, von sich. Niedersachsen. Die Verbände mussten die Klinken immer selber putzen, um Geld zu bekommen, um 14 | Antiziganismus | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 02/2019
Bildungsarbeit zu machen. Allein in der Gedenk- erfasst werden. Das ist nicht aus der Vergangen- stättenarbeit war viel Eigeninitiative gefragt. Mit heit, sondern das wird bis in die Gegenwart ge- welchen strategischen Maßnahmen können wir die macht und das wäre natürlich auch was, was poli- Bekämpfung des Antiziganismus zum Projekt der tisch anzugehen wäre. Die Studien werden häufig Mehrheitsgesellschaft machen? Da wäre ja zum ei- von den Selbstorganisationen quasi der Öffentlich- nen die Expertenkommission, die natürlich – da- keit zur Verfügung gestellt, aber erfahren von den von gehe ich aus – zu weiten Teilen auch entspre- Parteien, Verbänden, Gewerkschaften nicht viel chend mit Sinti*ze und Rom*nja besetzt wird. Aufmerksamkeit. Die Frage bleibt: Wie machen wir die Bekämpfung Im Gegenteil verschwinden diese Studien häufig in des Antiziganismus zum Projekt der Mehrheitsge- der Versenkung. Die Selbstorganisationen haben sellschaft? Dieses Problem haben wir insgesamt häufig nicht die Ressourcen die Ergebnisse dieser beim Thema Rassismus. Oft finden vermeintliche kritischen Studien noch entsprechend zu bearbei- Integrationsprojekte statt, die sich aber an Immig- ten und in die Öffentlichkeit zu bringen. Aus den ranten und nicht an die Mehrheitsgesellschaft verschiedensten Studien ließen sich eigentliche richtig. Häufig geht man auch über die klassische hunderte Kleine Anfragen machen, die aber nicht Bildungsarbeit, die dann an junge Menschen ge- kommen. Oder die nur kommen, wenn die Selbst- richtet ist, aber gerade der Rassismus in der Mitte organisationen wiederum über persönliche Kon- der Gesellschaft ist ja in allen Altersschichten und takte in den Parteien irgendwo nachhaken, das ist in allen Bildungsschichten zu finden. ja aber auch alles Arbeitszeit und Lobbyaufwand usw. D.h. da ist tatsächlich auch eine Ressour- Markus End: cenverschiebung und auch eine Perspektivierung Für mich aus meiner Forschungsperspektive heißt notwendig, damit die Institutionen der Mehrheits- meine Positionierung von Anfang an, dass ich gesellschaft den Kampf gegen strukturellen Rassis- eben nicht über Rom*nja spreche, sondern die mus zu ihrem eigenen Projekt machen. Die Abge- Mehrheitsgesellschaft erforsche und dementspre- ordneten beispielsweise haben ja wissenschaftli- chend auch Interviewanfragen oder sonstige Fra- che Mitarbeiter*innen und so könnte eine Res- gen zu dem Thema auch generell ablehne. Ich er- sourcenumkehr stattfinden. Die Mitarbeiter*innen forsche gar nicht Rom*nja, ich erforsche eigentlich könnten sich in den Dienst dieser Sache stellen, die Nicht-Rom*nja, das ist mein Forschungs- den strukturellen Rassismus eben angreifen und schwerpunkt und das finde ich eine ganz wichtige bekämpfen, auf unterschiedlichsten Ebenen. Perspektive. Im Jahr 2014 habe ich eine Medienst- Filiz Polat: udie im Auftrag des Dokumentations- und Kultur- zentrums gemacht. Im Jahr 2017 dann eine Kurz- Vielen Dank. Frau Jonuz, was sagen Sie zum Stand expertise zur Polizei im Auftrag des Zentralrats und der wissenschaftlichen Forschung zum Thema An- bereits davor, im Jahr 2013, eine Studie für Rom- tiziganismus? Es existieren nach wie vor zu wenige nokher. Das sind ja alles Selbstorganisationen, die Lehrstühle und Institute, die sich mit dem Thema ihre Ressourcen in die Hand nehmen und Leute befassen, schon gar selbst durch Sinti*ze oder beauftragen, nicht nur mich, auch viele andere Rom*nja. Frau Jonuz, Sie sind in der Hochschul- Leute, um Content und Wissen zu produzieren. Das landschaft in Hannover verankert, können Sie uns ist ja eigentlich schon eine Verkehrung: Die Be- aus Ihrer Perspektive einen Einblick geben in die troffenen müssen sich darum kümmern, dass die Diskurse auch mit den verschiedenen Wissen- Mehrheitsgesellschaft aufhört, sie weiter rassis- schaftsministerien oder auch innerhalb der Hoch- tisch zu diskriminieren. Diese Studien sowohl über schullandschaft? Gibt es in der Hinsicht Bemühun- Medien als auch über die Polizei betrachten Phä- gen, ein größeres Netzwerk aufzubauen? nomene von strukturellem Rassismus. Wenn Sie in diese Kurzexpertise reinschauen, sehen Sie, dass Rom*nja in Deutschland weiterhin von der Polizei 02/2019 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Antiziganismus | 15
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