150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
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a Magazin der Evangelischen Stiftung Alsterdorf a Nr. 24, April 2013 1863— Evangelische 2013 Alsterdorf 2013 150 Jahre 1863 –2013 Stiftung Evangelische 150 Jahre Alsterdorf Evangelische 150 Jahre 1863 –2013 Stiftung Stiftung 1863— Alsterdorf Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
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Inhalt Nr. 24, April 2013 inhalt thema 2_3 4–21 150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf 18 Seiten über die ersten 50 Jahre in Alsterdorf 5 »Mit Gott lasst uns Thaten thun!« Heinrich Matthias Sengelmann – ein bemerkenswerter Hamburger 6 Das 19. Jahrhundert: Dutzende von Anstaltsgründungen Von privater Initiative zur Institution Foto: Axel Nordmeier 7 Vom Narrenschiff zur Anstalt Menschen mit Behinderung in der Geschichte 8 Alles aus Liebe – der Gründer der Evangelischen Prof. Dr. Hanns-Stephan Haas, Direktor und Vorstands Stiftung Alsterdorf Heinrich Matthias Sengelmann vorsitzender der Evangelischen Stiftung Alsterdorf 10 Vom Fachwerk-Asyl zur kompletten Siedlung Die Struktur der Alsterdorfer Anstalten editorial 12 Sengelmann und die »Innere Mission«: ein gespanntes Verhältnis! Liebe Leserinnen und liebe Leser, Hauptkritik galt Ausblendung der Behindertenarbeit 14 Der Speiseplan wir feiern in diesem Jahr den 150. Geburtstag der Stiftung, ein be- 15 Die gute Seele von Alsterdorf – Jenny Sengelmann sonderes Jubiläum. Am 19. Oktober 1863 begann Pastor Heinrich 16 Bildung für alle Kinder Matthias Sengelmann offiziell die Arbeit der damaligen Alsterdor- Hohe Anforderungen an das Personal fer Anstalten. Es war die Zeit der industriellen Revolution. Viele 18 Johannes Paul Gerhardt – Heilpädagoge und Forscher Menschen und auch Kinder mussten täglich 13 Stunden oder mehr 19 In Sengelmanns Fußstapfen: Direktor Paul Stritter unter extremen Bedingungen arbeiten. Sie kannten weder Arbeits- 20 Hoch hinaus … noch Kündigungsschutz oder eine soziale Absicherung. Drängende Die Alsterdorfer Anstalten und die Stadt Hamburg Enge in den einfachen Wohnvierteln der Stadt Hamburg, Werk- zwischen 1899 und 1913 statt und Industriebetriebe in direkter Nachbarschaft. Sengelmann spots geht ganz bewusst mit seiner Anstaltsgründung aufs Land, denn 22 Miteinander bewegen schont die Kräfte für Menschen mit Behinderung gibt es keinerlei Schutzraum in Die Kinästhetik hält zu einem bewussteren Umgang mit dieser Zeit. Er hat eine klare Vorstellung von dem, was er erreichen Bewegung an möchte: ein lebenswertes Zuhause für Menschen mit Behinderung 23 Heilerziehungspflege – eine Ausbildung verändert sich schaffen, in dem sie sich entfalten können. Er setzt damit ein deut- Die Zugangsvoraussetzungen für die Alsterdorfer liches und mutiges Zeichen, in einer Zeit, in der viele Menschen Not Fachschule für Heilerziehung haben sich geändert leiden, obwohl sie hart arbeiten. 24 Projekt Zukunft Im Rahmen unseres 150-jährigen Jubiläums wollen wir uns mit Mit dem Campus Uhlenhorst startet im August ein neues der Entwicklung der Stiftung von Sengelmann bis heute auseinan- Bildungsprojekt für junge Menschen mit Behinderung dersetzen. In unterschiedlichen Veranstaltungen, von der Jahres- 26 Verantwortung über den Tellerrand hinaus tagung der Ärzte für Menschen mit Behinderung, einem Senats- Vorreiter in Sachen Menschlichkeit: Altenhilfezentrum empfang mit einer historischen Ausstellung im Hamburger Rathaus Heikendorf schult seine Mitarbeiter in der Palliativpflege bis zum inklusiven Filmfestival »Klappe auf« – also keine bloße 27 Mobilität für alle Rückschau, sondern lebendige Beschäftigung mit der eigenen Mehr Platz in Bussen: Das forum inklusion wendet Geschichte. sich an den HVV In dieser Ausgabe beleuchten wir verschiedene Aspekte der 28 Ein guter Auftakt für die »SchanZe« ersten 50 Jahre Stiftungsgeschichte – die nächsten folgen in den Q8 belebt Hochhausviertel am Rand von Bad Oldesloe kommenden beiden Ausgaben. 30 Mit Hunden unterwegs: Freude und Kompetenzerfahrung! Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Um therapeutische Möglichkeiten zu erweitern, setzt die Ihr tohus gGmbH auf den Kontakt zwischen Mensch und Tier Hanns-Stephan Haas 31 Für ein Mehr an Selbstbestimmung Der Umbau des Wohnhauses Steinkamp 2 news 32–33 Meldungen aus der Evangelischen Stiftung Alsterdorf Auszeichnung für Heinrich Sengelmann Krankenhaus, Evangelische Stiftung auf dem Kirchentag, Neubau des Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf, Termine bis August 2013 porträt 34 »Ich habe meine Chance bekommen« Ein Alsterdorfer Urgestein: Gudrun Vesper – besser bekannt als Schwester Gudrun
Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf – eine solche Zeitspanne lässt sich unmög- lich in einem Magazin abbilden, ohne auf zu viel zu verzichten. Daher dreht sich in drei Heften in Folge im Schwerpunkt alles um das Thema Jubiläum, wobei jedes Heft 50 Jahre der Stiftungs- geschichte beleuchtet. In jedem Heft finden Sie einen Zeitstrahl. Weiter werden die wichtigsten Ereignisse aus dieser Zeit darge- stellt und die Direktoren porträtiert. In diesem Heft nehmen wir Sie unter anderem mit auf eine Zeitreise in die ersten 50 Jahre der Stiftung. Was war Heinrich Matthias Sengelmann für ein Mensch und wie kam er auf die Idee, eine Anstalt für Menschen mit Behinderung zu gründen? Was lernten die Bewohner dort, wie sah ihr Tagesablauf aus und nicht zuletzt – was kam auf den Tisch? Wie war Sengelmanns Verhältnis zur Inneren Mission bzw. zu Johann Hinrich Wichern, der diese entscheidend vorangetrie- ben hat? Und wie können Sengelmann und sein Wirken aus heu- tiger Sicht gedeutet werden? 1821 1822 »Zeitstrahl« 1823 1824 1825 1826 1827 25. Mai: Heinrich Matthias Oben: Ereignisse um die Sengelmann wird als Sohn Evangelische Stiftung Alsterdorf... 1821–1913 eines Viehhändlers und Gastwirts in Hamburg geboren Georg Simon Ohm entdeckt Eröffnung der »National Erfindung des Streich das ohmsche Gesetz ... und Ereignisse aus Politik, Gallery« in London holzes durch den Georg IV. wird in London zum Kultur und Wissenschaft englischen Apotheker britischen König gekrönt (unten) John Walker
thema 4_5 »Mit Gott lasst uns Thaten thun!« Heinrich Matthias Sengelmann – ein bemerkenswerter Hamburger isionär, Überzeugungstäter, Gelehrter, Orga- tion …) noch den Menschen gerecht werden konnte. Aus diesem nisationstalent, Unternehmer, Original – es Grund entschied er sich später auch gegen den Verbleib im Pfarr- sind verschiedene und teilweise gegensätzliche amt. Vor allem aber wurde ihm ein Erlebnis zum Schlüsselereignis: Beschreibungen, die mir einfallen, wenn ich an Bei einem seiner Hausbesuche stieß er auf ein geistig behindertes Heinrich Sengelmann denke. Der so freundlich Kind, das missachtet und vernachlässigt sein Dasein fristen musste. dreinblickende »Vater Sengelmann« mit seinem Das Erlebnis ließ Sengelmann nicht los und er versuchte seine Backenbart war eine schillernde Figur mit vielen Be- Zeitgenossen in Kirche und Stadt für ein Engagement zu gewin- gabungen. Er hätte, modern gesagt, seine Karriere in der Kirche nen. Es gehörte offensichtlich zu den bittersten Erfahrungen seines machen können oder in der Wissenschaft. Er hat sogar einmal den Lebens, dass sich gerade die Menschen, denen er von seinen Einstieg in die Politik versucht. Aber bis heute bedeutsam ist er, weil Überzeugungen her besonders nahestand, unberührt zeigten. er sich einsetzte für die Menschen, die damals völlig im Wieder und wieder abgewiesen entschloss er sich, seine Schatten der Gesellschaft standen. – Doch zunächst Vision selbst umzusetzen. 1863, vor 150 Jahren, zog er der Reihe nach. mit den ersten Kindern in das bis heute erhaltene Haus Heinrich Sengelmann wurde in einer wohlha- Schönbrunn. Die Jahre danach waren gefüllt von benden Gastwirtfamilie geboren. Finanziell hatte einem schnellen Wachstum, zahlreichen Bauten und er die besten Voraussetzungen. Sein eigenes Ver- der Ausbildung von geeigneten Mitarbeitenden, um mögen und das seiner ebenfalls reichen, späteren seine »Kolonie der Liebe« zu schaffen. Frau sollten ihm später den Ankauf eines großen Sengelmann war dabei nicht nur glänzender Areals ermöglichen, damals noch vor den Toren Organisator und persönlicher Seelsorger, zusätzlich der Stadt, in Alsterdorf. Der Landkauf umfasste schuf er auch die theoretischen Grundlagen für die neben unserem heutigen Stiftungsgelände die Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Er schrieb ganze City Nord. Große Teile dieses Geländes selbst eine dreibändige Heilpädagogik, die bei aller wurden nach dem Ersten Weltkrieg gegen einen Zeitgebundenheit eine ungewöhnliche Weitsicht Bauernhof (Gut Stegen) eingetauscht, um die zeigte. Es war die grundlegende Überzeugung Anstaltsbewohner selbstständig versorgen zu unseres Stifters, dass das Erbarmen und die können. christliche Nächstenliebe gegenüber Men- Heinrich Sengelmann kam, wie viele seiner schen mit geistiger Behinderung vor allem die diakonischen Vorgänger, z.B. Wichern, dem Konsequenz der Förderung nach sich ziehen Gründer des Rauhen Hauses, unter den Einfluss der Erweckung, musste. Für Sen- gelmann gab es keine Menschen zweiter Klasse, einer Frömmigkeitsbewegung, die erstarrte kirchliche Formen durch die man nur verwahren, wegsperren und behandeln darf. eine persönliche Gottesbeziehung überwinden wollte. Für viele der Vielleicht hängt mit dieser Grundeinstellung zusammen, dass Erweckungstheologen bildeten der Glaube und das glaubwürdige Sengelmann sich erst spät zum Bau eines Krankenhauses ent- Tun eine unlösliche Einheit. In dieser Grundeinstellung entschloss schloss. Behinderung ist kein medizinisches Problem und vor allem sich Sengelmann zum Theologiestudium, wo er insbesondere in kein medizinisch lösbares Problem. Der Wahn dieses Gedankens Halle seinen akademischen Lehrern als besonders begabt auffiel. sollte sich in späterer Zeit zu einer menschenvernichtenden Ideolo- Seine starke altsprachliche Neigung lebte er in seiner Doktorarbeit gie verdichten. aus, die ihm den Grad des Doktors der Orientalistik verlieh. »Vater Sengelmann« hat der Stiftung eine andere Prägung mit- Sein Doktorvater hätte ihn gern als Lehrstuhlinhaber gesehen, gegeben. Manchmal werden Stiftungen als Organisationen der »to- aber Sengelmann zog es ins Pfarramt in seiner Heimatstadt. Auch ten Hand« gesehen. Ein Stifter legt durch seinen Vermögenseinsatz hier fiel er positiv auf, wurde Pastor am Michel und in Moorfleet. In nachfolgende Generationen auf ein häufig nicht mehr zeitgemäßes Moorfleet begann er in seinem Pfarrhaus auch seine diakonischen Engagement fest. Deutlich haben wir hier einen anderen Stifter, Aktivitäten im Jahre 1850. der mit seiner in einem tiefen Glauben verankerten Menschlichkeit Seine Zeit im Pfarramt war für seine spätere Arbeit vor allem in mutige und innovative Entscheidungen traf. Oder um es mit ihm zweierlei Hinsicht prägend: Zum einen wurde ihm deutlich, wie we- selbst zu sagen: »Mit Gott lasst uns Thaten thun!« | nig er angesichts der Fülle von Amtshandlungen (Taufe, Konfirma- Hanns-Stephan Haas 1828 1829 1830 1831 1832 1833 Gründung des »Rauhen Hauses« durch Johann Hinrich Wichern als Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder und Jugendliche Entdeckung Kaspar Uraufführung des Dramas Julirevolution des Blutige Niederschlagung Choleraepidemie in Hausers Faust I von Johann Bürgertums gegen die des Seidenweberaufstands Hamburg mit über Gründung des Reclam- Wolfgang von Goethe in reaktionäre Politik in Lyon 1.600 Toten Verlags in Leipzig Braunschweig Karls X. in Frankreich
H einrich Sengelmann war der Meinung: »Nur eine große, umfangreiche Anstalt kann den verschiedenartigen Gestal- tungen des ›idiotischen Elends‹1 begegnen, nur ihr ist die Möglichkeit geboten, mehr oder minder Gleichartiges zu verbin- den, dagegen das nicht Zusammengehörige zu scheiden.« Mit dem Gedanken, spezielle Einrichtungen für Menschen mit Behinderung zu schaffen, war er in seiner Zeit nicht alleine. Dut- zende solcher Anstalten wurden im 19. Jahrhundert in Deutschland gegründet. Als Anstoß bezieht sich Sengelmann immer wieder auf die Schweiz: »Erst mit der Cretinen-Anstalt auf dem Abendberge in der Schweiz … beginnt die eigentliche Rettungsgeschichte der Idioten und dem Dr. Guggenbühl, dem Gründer der ersteren, bleibt das Verdienst, den großen Reigen der für die Ärmsten unter den Armen Das 19. Jahrhundert: Dutzende von Anstaltsgründungen Von privater Initiative zur Institution in Thätigkeit gesetzten Liebesarbeit eröffnet zu haben.« Er schildert eine geradezu filmreife Story: Der 20-jährige Gug- genbühl, ein junger Arzt, erblickte zufällig einen »armen, zwergar- tig verkrüppelten Cretin mit hässlichem, stupidem Aussehen, der 1836 zu Seedorf im Canton Uri vor einem Cruzifix sein Pater Noster murmelte«. Er konnte den Anblick nicht vergessen. »Es kamen ihm hernach andere Cretinen-Gestalten unter die Augen, die z.B. durch ein enormes Zahlengedächtnis einen gewissen Ruf in der Umgebung hatten.« Guggenbühl machte die Heilung und Fürsorge für »Cretine« zu seiner Lebensaufgabe. 1839 gründete er auf dem Abendberge bei Interlaken ein Domizil für sie, einen zweckmäßigen Bau mit großem Saal, Bädern und Spielräumen, später mit einem dass für die Idioten etwas geschehen müsse, eine allgemeine zweiten Unterrichtsgebäude. Der Standort auf dem Abendberg, geworden ist, so ist doch hinsichtlich des zu erstrebenden Zieles 3.000 Fuß (1.850 Meter) hoch, erschien ihm ideal: »auf den Son- noch Abweichung der Ansichten vorhanden. Es giebt eine Richtung nenhöhen der Alpen, wo der Mensch sich geistig und körperlich – namentlich durch Ärzte vertreten –, welche die ganze den Idioten so herrlich entwickelt«. Dieser »Abendberg« wird oft zitiert, von zu gewährende Hülfe auf die Bewahrung und Pflege beschränken. hier aus verbreitet sich der Gedanke, fürsorgliche Einrichtun- Sie ruht auf der prinzipiellen Annahme der Bildungsunfähigkeit. gen für geistig behinderte Menschen zu schaffen. Durch diesen Eine andere Richtung – ihr gehören mehrere Idioten-Anstalten Einfluss entstanden Anstalten in ganz Europa und in Amerika. Die an – fordert Bildungsfähigkeit als Bedingung für die zu leistende Gründung der Alsterdorfer Anstalten wird von Sengelmann selbst Hülfe.« Daraus ergebe sich auch ein Gegensatz der Heilmittel: »Die chronologisch an 15. Stelle in Deutschland eingeordnet. einen wollen nur Bekämpfung des Idiotismus auf medicinischem, Die älteste deutsche Privatanstalt (1839) war die Kernsche die Anderen dieselbe nur auf pädagogischem Wege.« Sengelmann Anstalt in Möckern bei Leipzig. Vor allem in den drei Jahrzehnten plädiert für Zusammenarbeit. Seine Schlussfolgerung: »Ob der Arzt von 1860 bis 1890 wuchs die Zahl der Heime für Menschen mit oder der Pädagoge Vorstand ist, daran liegt wenig. Die Hauptsache Behinderung Schlag auf Schlag. Nicht nur Alsterdorf hat bis heute ist das einträchtige Zusammenwirken.« | Bestand. Bekannt sind u.a. Stetten, Neuendettelsau bei Ansbach Inge Averdunk und Bethel. 1 Der Begriff »Idiot« kommt aus dem Altgriechischen und bedeutete dort »einfacher Soldat« oder »Laie«. Später im lateinischen Sprachgebrauch wurde daraus der »unwissende Unterschiedliche Auffassungen führten zu unterschiedlichen Mensch«. Sengelmann benutzte diese Bedeutung – das Wort hatte sich noch nicht zum Konzepten. Sengelmann führt aus: »Wenn auch die Anerkennung, Schimpfwort entwickelt. 1834 1835 1836 1837 1838 Jahre Erste deutsche Eisenbahnstrecke Fertigstellung des Pariser Thronbesteigung von Veröffentlichung des von Nürnberg nach Fürth Arc de Triomphe Queen Victoria von England Romans »Oliver Twist« Evangelische Stiftung und damit Beginn des von Charles Dickens Alsterdorf Viktorianischen Zeitalters
thema I m Römischen Reich wurden befanden sich früher die Idioten? 6_7 Menschen mit Behinderungen auf … Ein Theil derselben hatte seinen speziellen Märkten zum Verkauf Aufenthalt in den Familienhäusern, angeboten, im Mittelalter überließ denen sie angehörten, wo sie theil- man sie auf »Narrenschiffen« ihrem weise zum Schrecken der Nachbarn, Schicksal, oft wurden sie ins Ge- oder als Spielball der Rohheit, ihren fängnis oder Zuchthaus geworfen. Eltern zum Kreuz ihr elendes Dasein Man nannte sie »Irre«, »Wahnsinni- führten, oder sie waren in Irren-, ge«, »Blöde« oder »Idioten«, vielfach Kranken- und Armenhäusern unter- galten sie als »vom Teufel besessen«. gebracht, oder die Kommune hatte Spezielle Anstalten gab es noch sie in Kost gegeben – zumeist in nicht. Erst im 17. und 18. Jahrhun- die Familienhäuser einer ländlichen dert ändert sich das Bild, wenn auch Bevölkerung ... Die entweder in den die Art der »Fürsorge« aus heutiger Stubenwinkeln hockenden oder als Vom Narrenschiff zur Anstalt Menschen mit Behinderung in der Geschichte Sicht alles andere als menschlich Gänsehüter und anderweitige Hirten erscheint: Es entstanden Einrich- verwendeten, anfänglich vielleicht tungen, in denen Menschen mit noch besserungsfähigen Kinder Behinderungen ebenso wie Bettler stumpften immer mehr ab.« und Verbrecher zusammengepfercht Bis die »Idioten« von den Ärzten, und zur Arbeit verpflichtet wurden. aber auch von der Öffentlichkeit als Solche »workhouses« verbreiteten Kranke anerkannt wurden, dauerte sich von England aus in ganz Eu- es Jahrzehnte. Sengelmann schildert ropa. Vorreiter in Deutschland war den Prozess ausführlich. das Zuchthaus in Hamburg (1640) Ein Impuls dazu ging von Eng- am Standort des heutigen Thalia- land aus: Das Buch »Die Behand- Theaters. lung der Irren ohne mechanischen Von der Idee, Menschen mit Zwang« (John Conolly, Lincoln, Behinderungen als »Kranke« zu be- 1860 ins Deutsche übersetzt) löste Menschen mit Behinderung wurden in handeln, waren diese Institutionen heftige Diskussionen aus: Geistig Fotos Seite 4–21: alle historischen Fotos aus dem Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf unterschiedlichsten Bereichen beschäftigt: noch weit entfernt. Erst in der Mitte und psychisch kranke Menschen hier in der Versorgung mit Frischwasser des 18. Jahrhunderts trat allmählich gelten nun als »Kranke«. ein Wandel ein. Doch die »Thera- Der Psychiater Wilhelm Griesin- pien« gingen eigenartige Wege: ger erklärte 1867 in seiner Abhand- Körperliche Zwangsmaßnahmen lung »Über Irrenanstalten und deren und Bestrafungen mit Nahrungsent- Weiterentwicklung in Deutschland, zug und Dunkelheit waren durchaus der Geisteskranke jedweder Art, üblich. auch der Schwachsinnige, sei ein Es gab auch Privat-Irrenanstal- organisch Kranker, ein Hirnkranker. ten, die von Ärzten, Geistlichen, Deshalb empfahl er die Einrichtung Künstlern oder Witwen geführt wur- von Spezialkrankenhäusern. den. Ein bekannter Bewohner eines In der zweiten Hälfte des 19. solchen Heimes in Tübingen war der Jahrhunderts wurden dann zahlrei- Dichter Friedrich Hölderlin (1807– che Einrichtungen gegründet, um 1843). Und Heinrich Sengelmann meist geistig behinderte Menschen schreibt über den Aufenthaltsort aufzunehmen und zu pflegen. | von geistig Behinderten: »Wo Inge Averdunk 1839 1840 1841 1842 1843 Sengelmann beginnt sein Studium Sengelmann setzt sein Studium Veröffentlichung der Dissertation Theologisches Examen Heinrich der Orientalistik und der Theologie in Halle mit dem Schwerpunkt von Heinrich Sengelmann: Sengelmanns in Hamburg in Leipzig Theologie fort »Das Buch von den sieben weisen Meistern« Betriebsaufnahme der ersten Gründung des ersten Besetzung Hongkongs durch 5.–8. Mai: der »Große Brand« in Eröffnung des Thamestunnels Deutschen Pferdeomnibuslinie Kindergartens durch Friedrich Großbritannien Hamburg – 51 Menschen sterben, in London zwischen Hamburg und dem Wilhelm August Fröbel in Bad ca. zehn Prozent der Bevölkerung dänisch-holsteinischen Altona Blankenburg wird obdachlos
Links: Heinrich Matthias Sengelmann im Kreis seiner Mitarbeiter Unten: Sengelmann im Laufe der Jahre … /// Die Direktoren der Alsterdorfer Anstalten /// Alles aus Liebe – der Gründer der Evangelischen Stiftung Alsterdorf Heinrich Matthias Sengelmann Heinrich Matthias Sengelmann (geboren am auf eigenen Wunsch aus seinem Amt als Pastor 25. Mai 1821 in Hamburg, gestorben am 3. Feb- in St. Michaelis entlassen, um sich ganz dem ruar 1899 in Hamburg) war Gründer und erster Aufbau der Alsterdorfer Anstalten zu widmen. Direktor der Alsterdorfer Anstalten, dem Vorläufer Dabei leitete ihn sein christliches Menschenbild der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Sengel- – sowohl in Bezug auf das Personal, an das er mann studierte ab 1840 in Leipzig und Halle hohe Anforderungen stellte, als auch in Bezug Theologie, Orientalistik und Anthropologie. Zu- auf die Bewohnerinnen und Bewohner, für die rück in Hamburg trat er 1846 seine erste Pfarrstel- er ein behütetes Zuhause abseits der Großstadt le in Hamburg-Moorfleet an. Bereits dort setzte schaffen wollte. Dieses Zuhause sollte sowohl er sich mit einer »Christlichen Arbeitsschule, dem Bildung als auch medizinische Versorgung bieten St. Nicolaistift, für sozial benachteiligte Kinder – sowie Arbeitsmöglichkeiten. Denn Sengelmann ein. Ab 1852 wurde Sengelmann zum Pastor in betrachtete Arbeit als Teil eines guten Lebens, da St. Michaelis berufen. Er war als Seelsorger oft im sie der »Ausbildung der Sinne, der Kraft und des Gängeviertel um St. Michaelis unterwegs, einem Geschicks« dient. Und ihm war es auch wichtig, Teil seines Gemeindegebietes, und entsetzt über dass den Bewohnerinnen und Bewohnern eine das Elend, das er dort vorfand – wie zum Beispiel Auswahl an Arbeitsmöglichkeiten geboten wur- die Lebensbedingungen von Carl Koops, einem de. Sengelmann war selbst in den Genuss gekom- Jungen mit geistiger Behinderung. Die Gänge- men, in einer funktionierenden Familie aufzu- viertel in Hamburg waren sehr enge, meist mit wachsen – eine Erfahrung, die er in der Art, wie kleinen Fachwerkhäusern bebaute Wohnquartie- er die Alsterdorfer Anstalten aufbaut, weitergibt. re, in denen mittlere und ärmere Bevölkerungs- Liebe als Grundlage der Behindertenarbeit – um schichten lebten. diese Auffassung zu verbreiten, gründete er 1874 Nachdem Sengelmann sich vergeblich um die Interessenvertretung »Conferencen für die eine Pflegefamilie für Carl Koops bemüht hatte, Idioten-Heil-Pflege«, die sich mit allen Facetten ließ er mit Spendengeldern ein Fachwerkhaus der kirchlichen Anstaltsfürsorge für Menschen mit in Alsterdorf bauen, das am 19. Oktober 1863 geistiger Behinderung beschäftigte, und brachte von Carl Koops und drei weiteren Jugendlichen so nicht nur die Praxis, sondern auch die Theorie mit geistiger Behinderung sowie einem Hausva- der Behindertenarbeit entscheidend voran. | ter bezogen wurde. 1867 wurde Sengelmann Liisa Viitanen 1844 1845 1846 1847 1848 Sengelmann gründet »Verein für 10. Juli: Sengelmann wird Sengelmann wird Mitglied des im entlassene Zöglinge der Pastor in Moorfleet bei Hamburg gleichen Jahr durch Johann Hinrich Jahre Sonntagsschulen in Hamburg« Wichern gegründeten »Vereins für Innere Mission« in Hamburg Revolution in Frankreich. Eröffnung der Deutschen Evangelische Stiftung Nationalversammlung in der Alsterdorf Frankfurter Paulskirche
thema ier Foto: Axel Nordme 8_9 » Seit 23 Jahren bin ich in der Stiftung. Eine lange Zeit. Für mich bedeutet die Arbeit hier einen sicheren Job. Und ich kann hier meinen gelernten Beruf mit meinen christlichen Werten verbinden, das findet man nur sehr selten. Das habe ich gesucht und hier gefunden. Übrigens fahre ich regelmäßig auf dem Weg nach Hause nach Moorfleth und pflege das Grab von Sengelmann, ohne den ich gar nicht hier wäre.« Martin Dörk, Betriebsstättenleiter alstergärtner, alsterarbeit Links: Heinrich Matthias Sengelmann auf dem Höhepunkt seines Schaffens Oben: Das Pfarrhaus Moorfleth 1850, Sengelmann gründete hier eine »Christliche Abendschule« Unten: Kirche und Pastorat zu Moorfleth 1849 1850 1851 1852 1853 Pastor Heinrich Sengelmann Sengelmann übernimmt Pfarrstelle gründet in Moorfleet eine an St. Michaelis. Umwandlung »Christliche Arbeitsschule« der »Christlichen Arbeitsschule« in »St. Nicolai-Stift« – Sengelmann Erste Weltausstellung in London Veröffentlichung des Romans wird Vorsitzender von dessen neu »Onkel Toms Hütte« von gegründetem Vorstand Harriet Beecher-Stowe
D as weitläufige Gelände in denn zur Bildung und Wert- kam: »Und o welch ein Triumph tedankfest im Herbst statt. Von Alsterdorf vor den Toren schätzung gehört für Sen- war das für das Mädchen – und Sengelmann selbst stammte die der Stadt Hamburg bot gelmann die Förderung der ich, wie freute ich mich, daß ich Idee, die einzelnen Produktions- die besten Voraussetzungen Arbeitsfähigkeit. Zum anderen dem Mißtrauen, das sie in sich gruppen, ausgestattet mit einer für die »koloniale« Struktur, diene sie der Existenzsicherung. selber setzte, nicht nachgege- Standarte, vorzustellen. Diese die Sengelmann bevorzugte. In den Werkstätten herrschte ben hatte.« Auftritte sollten die Identifikati- Keimzelle waren das Nikolai-Stift eine große Vielfalt an Betä- Nicht wegzudenken aus on der Gruppen mit ihrer Arbeit für verwahrloste Kinder und das tigungsmöglichkeiten, u.a. dem Alltag in Alsterdorf ist stärken und ihre Bedeutung Asyl für Carl Koops und seine Mattenflechten, Bürstenbinden, »Jenny« Sengelmann, die zweite nach außen hin betonen. Schicksalsgenossen. Das kleine Pantoffelmachen, Korbflechten, Frau des Direktors. Sie unter- Die medizinische Versor- Fachwerkhaus existiert heute Holzschnitzereien, Laubsägen, stützte ihn tatkräftig und war gung wurde kontinuierlich in allen Bereichen unterwegs, ausgebaut. Zunächst kamen Vom Fachwerk-Asyl zur in Kleider- und Schuhlagern, ab 1864 niedergelassene Ärzte Wäscherei, Nähstube und regelmäßig in die Anstalt. Einige Küche. Die musikalisch hoch- Jahre später wurden Mediziner kompletten Siedlung begabte Frau sang im Chor mit den Bewohnern. Nachgesagt werden ihr Urwüchsigkeit, fest angestellt. Bewohner mit ansteckenden Krankheiten konnten in einer kleinen Kran- Die Struktur der Alsterdorfer Anstalten emanzipiertes Auftreten und kenbaracke isoliert werden. Wahrheitsliebe. Während der Einen großen Fortschritt zahlreichen Reisen ihres Mannes brachte 1897 die Eröffnung noch als »Haus Schönbrunn«. Korkarbeiten, Buchbinderei, übernahm sie als »Frau Direktor« des Hauses »Bethabara«. Hier, 1867 möchte Sengelmann sich Schneiderei, Schuhmacherei, seine Vertretung. Auch nach im »Haus für Kranke«, wurden ganz dem weiteren Ausbau Tischlerei, Schmiede und Maler- seinem Tod nahm sie weiterhin sowohl Bewohner als auch Mit- seiner Anstalt widmen und gibt arbeiten. regen Anteil am Leben im »Asyl« arbeiter und ihre Familien auf- sein Predigeramt in St. Michaelis Durch Arbeit sollten die für behinderte Menschen. genommen und behandelt, es auf. Ein Gebäude nach dem an- Menschen auch Selbstvertrauen Obwohl Sengelmann forder- war die Gründung des heutigen deren entsteht, bis sich mitten gewinnen. Sengelmann war te, dass die Anstalten überkon- Evangelischen Krankenhauses im ländlichen Raum eine ganze der Meinung, dass mit Anstren- fessionell sein müssten (»Sie Alsterdorf. 1911 ergänzte eine Siedlung entwickelt. Zu seinen gung und Ausdauer manches nehmen ihre Pfleglinge und weitere Krankenhausbaracke die Lebzeiten wurden 38 Haupt- Defizit ausgeglichen werden Kostgänger auf ohne Unter- Räumlichkeiten. und Nebengebäude errichtet. könne. Sein Beispiel: »Ich hatte schied der Religion und Staats- Das Krankenhaus war das In den verschiedenen Häu- es einmal mit einem Mädchen angehörigkeit«), war der überall letzte große Werk Sengelmanns. sern lebten Kinder, Jugendliche zu tun, der ich sagte: Hanna, herrschende christliche Geist Er starb 1899. Damals waren und Erwachsene unterschiedli- zeig mir mal deine Nase!, dass von großer Bedeutung. Um die rund 600 Menschen in den cher Herkunft. Manche waren sie ängstlich zitternd erwider- seelsorgerliche Betreuung küm- Alsterdorfer Anstalten unterge- unterschiedlich stark behindert te: Ich kann es nicht!« Wohl merte Pastor Sengelmann sich bracht, die von 140 Angestell- und augenscheinlich nicht lern- zwanzigmal redete er ihr zu, bis persönlich. Anfänglich wanderte ten betreut wurden. fähig, andere geistig behindert, endlich der Finger an die Nase er sonntags und an Feierta- Es war die Zeit, in der wohl- aber arbeitsfähig, Epileptiker gen mit Bewohnerinnen und habende Hamburger Haushalte wurden ebenso aufgenommen Bewohnern zu den Gottesdiens- elektrisches Licht und Telefon- wie lernbehinderte Kinder aus ten in der St. Johannis-Kirche in anschlüsse bekamen. Große wohlhabenden Familien und Eingang Maschinenhaus zu Eppendorf. 1867 waren diese Bauvorhaben beschäftigten die Kinder mit chronischen Erkran- den großen Kesseln Ausflüge nicht mehr nötig, Als- Bürger: Rathaus und Speicher- kungen. terdorf erhielt eine Kapelle. Und stadt wuchsen als mächtige Wo Zöglingen ein Familien 1889 erfüllte sich das große Ziel Komplexe mitten in der Stadt in ersatz geboten werden sollte, von Sengelmann, eine eigene die Höhe. standen »Hausvater« bzw. Haus- große Kirche zu besitzen, die Der Nachfolger von Heinrich eltern an verantwortlicher Stelle. den geistigen Mittelpunkt der Sengelmann, Paul Stritter, ver- Sie gaben Aufträge an »Wär- Anstalt bildet: Die Einweihung folgte ebenfalls große Pläne. Er terinnen und Wärter«, meist von St. Nicolaus wurde gefeiert. erweiterte die Einrichtung, ließ handwerklich fähige Frauen und In Alsterdorf gab es auch große Wohnhäuser bauen mit Männer, die in Alsterdorf päda- sonst Anlässe zum Feiern: Jedes Schlafsälen, die bis zu 100 Per- gogisch weitergebildet wurden. Jahr unterhielten zwei Volksfes- sonen Platz boten. 1914, beim Die Bewohner der Anstalt te mit Umzügen und Darbietun- Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wurden in Küche, Wäscherei, gen Bewohner, Mitarbeiter und lebten 1.000 Menschen in den Werkstätten, Gärtnerei und Gäste. Das sogenannte »Jahres- Alsterdorfer Anstalten. | Landwirtschaft beschäftigt, fest« fand im Sommer, das Ern- Inge Averdunk 1854 1855 1856 1857 1858 Aufstellung der ersten Litfaßsäule Eröffnung der »Gemäldegalerie Deklaration von Paris, in der Schwere Handelskrise durch Evangelischer Kirchentag in in Berlin Alte Meister« in Dresden des Piraterie international als illegal weltweite Wirtschaftskrise trifft Hamburg Baumeisters Gottfried Sempers geächtet wird auch Hamburg, Staatsanleihe bei Österreich verhindert Staatskrise
thema 1 Alte Pforte zwischen 10_11 Schönbrunn und St. Nicolaus mit dem Pförtner Eduard Fischer 2 Die Feuerwehr der Alsterdorfer Anstalten 3 Kirche St. Nicolaus 4 Kinderkrankenstation Fichtenhainbaracke 1 2 5 Waschhaus und Küchengebäude 3 4 5 1859 1860 1861 1862 1863 Heinrich Sengelmann heiratet Geburt der »Alsterdorfer Anstalten«: Pastor Sengelmann ruft im 19. Oktober: Einweihung des »Asyls Jane Elisabeth von Ahsen, Verlegung des »Nicolai-Stifts« von »Boten aus dem Alsterthal« für schwach- und blödsinnige Kinder« genannt »Jenny« (Tochter seines Moorfleet auf das Gelände eines zur Gründung eines Asyls für im »Haus Schönbrunn« – der Beginn Amtskollegen an St. Michaelis) Bauernhofes in Alsterdorf schwachsinnige Kinder auf der Behindertenarbeit in Alsterdorf Veröffentlichung von Charles Gründung des Königreichs Italien. Otto von Bismarck wird Darwins »Über die Entstehung der Zar Alexander II. hebt in Russland preußischer Ministerpräsident Arten«, dem grundlegenden Werk die Leibeigenschaft auf. Beginn der Evolutionsbiologie des Amerikanischen Bürgerkrieg
S engelmann ist einer der auch positiv auf eine koope- Die Einrichtung eines »Stadt- »Conferenz für Idioten-Heil- wichtigsten Väter der rative Zusammenarbeit der missionars« sah Sengelmann kri- Pflege« 1874, der er viele Jahre Inneren Mission.« So beiden Einrichtungen auswirk- tisch, weil sie weder dem Amt als Präsident vorstand. Diese beginnt das Geleitwort von te. Sengelmann konnte sich des Pastors zuzuordnen sei noch »Wanderkonferenz« versammel- Bischof Wölber zur Neuausgabe zunächst grundsätzlich mit den das »Priestertum aller Gläubi- te damals alle Berufsgruppen von Sengelmanns Hauptschrift Zielen der »Inneren Mission« gen« repräsentiere. Überhaupt und Akteure der Behinderten- »Idiotophilus«, 1975. Dieser Satz identifizieren und wurde auf sah er die Schaffung weiterer arbeit über Konfessions- und trifft zwar auf Wichern zu, aber Wunsch Wicherns dort Mit- hauptamtlicher Stellen sehr Religionsgrenzen hinweg. Ihre keineswegs auf Sengelmann. glied. Das Verhältnis kühlte sich kritisch, weil sie die Christen von innovativen Einflüsse damals auf Sein Verhältnis zur »Inneren gegen Ende der 1850er-Jahre ihrer Pflicht der Nächstenliebe die Behindertenarbeit nicht nur Mission« hat eine spannungsrei- ab und wurde immer kritischer, und des ehrenamtlichen Enga- in Deutschland, sondern weit che Entwicklung durchgemacht. als Sengelmann sich um 1860 gements enthebe. darüber hinaus, sind bis heute Obwohl selbst durch den nicht angemessen gewürdigt Pietismus geprägt, wandte worden, am allerwenigsten im Sengelmann und Sengelmann sich gegen eine geistliche Vereinnahmung von Menschen und gegen »Bekeh- Raum der Kirche. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte auch hier eine Konfessionalisie- die »Innere Mission«: rungsversuche« in der Verkün- digung der »Inneren Mission«. rung ein. Sengelmanns Bedeutung in ein gespanntes Jeder Mensch müsse sich auch seiner Zeit lässt sich so zusam- in Fragen des Glaubens frei menfassen: entwickeln können. Hier äußert Er hat in seiner Einrichtung Verhältnis! sich die freie und tolerante Haltung Sengelmanns, wie sie z.B. auch in dem offenen Dialog ein ganzheitliches Konzept der Betreuung von Menschen mit Behinderung entwickelt und Hauptkritik galt Ausblendung mit dem jüdischen Zeitgenossen umgesetzt: Dazu gehörten ärzt- Anton Ree, dem Direktor der liche und pflegerische Betreu- der Behindertenarbeit »Israelitischen Freischule«, zum ung ebenso wie die Entwicklung Ausdruck kommt. eines Gemeinschaftsgeistes Sengelmanns Hauptkritik durch Feste, religiöse Erziehung, Diese ist zunächst durch in mehreren Schriften mit den galt dem inhaltlichen Defizit der geistliches Leben, aber auch das Verhältnis zu Wichern, dem innerkirchlichen Missständen »Inneren Mission«, Menschen Freizeitgestaltung, schulische Gründer der »Inneren Missi- in Hamburg auseinandersetz- mit Behinderung als Zielgruppe und berufliche Bildung sowie on«, beeinflusst. Beide sind te. Auf völliges Unverständnis ihrer Arbeit völlig auszublenden. Arbeit, je nach dem Vermögen wesentlich geprägt worden stieß bei Wichern die Tatsache, Weder in den programmati- des Einzelnen. durch ihre Tätigkeit als Lehrer dass Sengelmann sich ab 1863 schen Gründungsdokumenten Viele Einrichtungen für in der Sonntagsschule von Menschen mit Behinderung 1848 noch in der Verbandszeit- Menschen mit Behinderung Pastor Rautenberg in St. Georg annahm. schrift »Fliegende Blätter« war in Deutschland, aber auch im in der Betreuung von Kindern Sengelmanns Kritik an der die Behindertenarbeit erwähnt. Ausland bis hin zum norwegi- aus sozial schwachen Familien. »Inneren Mission« war theolo- Dieses änderte sich erst gegen schen Königshaus, verdanken Diese Erfahrungen hatten für gischer und organisatorischer Ende des 19. Jahrhunderts. Im ihre Entstehung und Gestaltung beide nachhaltige Wirkungen, Art und ist unterschiedlich zu Übrigen: Das »Rauhe Haus« hat dem Rat und der Erfahrung für Wichern in der Gründung gewichten: erstmalig 1978 eine Gruppe von Sengelmanns. des »Rauhen Hauses« für ver- Anfangs bestanden sie im sechs stark verhaltensauffälligen Seine Wertschätzung wahrloste Kinder, für Sengel- Vorwurf der mangelnden Unter- und gehörlosen Kindern aufge- gegenüber Menschen mit mann in seiner Zeit als Pastor stützung der Gemeindearbeit in nommen. Behinderung entsprang seinem in Moorfleth in der Gründung Moorfleth und in den anderen Sengelmann wandte sich christlich-humanistischen Men- einer Stiftung für Arbeiterkinder, Landgemeinden. gegen eine Konfessionalisie- schenbild und kann noch heute deren Eltern sich tagsüber nicht Dann warf er der »Inneren rung und Klerikalisierung des Leitbild für die Behindertenar- um sie kümmern konnten. Mission« vor, für jede Problem- diakonischen Handelns, wie er beit sein: »Wir haben es nicht Zunächst bestand ein gruppe der Gesellschaft einen es in der »Inneren Mission« zu mit ›Fällen‹ zu thun, sondern mit freundschaftliches, väterliches neuen Verein zu gründen mit beobachten glaubte. Dies kam Mitmenschen, in denen auch Verhältnis zwischen Sengel- der Folge der Zersplitterung. Es am deutlichsten zum Ausdruck eine unsterbliche Seele wohnt, mann und dem um dreizehn mangele an einer Bündelung in seiner Gründung der reichs- wenn auch eine verhüllte.« | Jahre älteren Wichern, das sich der Kräfte. weiten, überkonfessionellen (!) Dr. Bodo Schümann 1864 1865 1866 1867 1868 Die Gartenbauschule wird Gründung der Bugenhagen-Schule. Sengelmann gegründet legt sein Amt als Pastor an St. Michaelis Jahre nieder, um sich als Direktor und Pastor ganz den »Alsterdorfer Anstalten« zu widmen Krieg Preußens und Österreichs Krieg zwischen Preußen und Beitritt Hamburgs zum gegen Dänemark um Schleswig- Österreich um die Vorherrschaft »Norddeutschen Bund« Holstein mit Auswirkungen auch in Deutschland, aus dem Preußen Evangelische Stiftung für Hamburg siegreich hervorgeht Alsterdorf
thema 12_13 Großes Bild: Turnunterricht in den Alsterdorfer Anstalten Kleine Abbildungen: Alltagsszenen aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten Hamburg Liebe Elisabeth! Stell Dir vor, bei uns in Hamburg, draußen auf dem Feld in der Nähe der Alster, gibt es jetzt eine komische Ansiedlung. Clara lebt in Hamburg, Elisabeth in München. Dort werden Idioten aufgenom- Die beiden Freundinnen men und betreut. Wie ich höre, München schreiben sich regelmäßig. leben sie in Häusern, und dort Meine liebe Clara! Und dabei geht es auch wie in Familien. ab und zu um Alsterdorf. Meine Mutter erzählte mir Ich höre allenthalben von solchen Alles rein fiktiv, versteht sich … noch vom Zuchthaus, in dem neumodischen Anstalten. die Schwachsinnigen mit Aber es ist sicher gut, wenn sich Bändern gefesselt wurden, jemand um diese armen damit sie niemanden angriffen. Ob das wohl gut geht? Menschen kümmert. Es grüßt Dich herzlichst: Herzlichst umarmt Dich: Deine Clara Deine Elisabeth 1869 1870 1871 1872 1873 Einweihung des »Pensionats Eröffnung der »Präparanden- Einweihung eines Kinderheimes für schwachbefähigte Kinder Anstalt« zur Ausbildung für geistig gesunde, aber höherer Stände« von Lehrern und »Wärtern« körperlich behinderte Kinder (Heilerzieher) Der Suezkanal wird eröffnet Deutsch-Französischer Krieg, der Deutsches Kaiserreich mit Gründung des Yellowstone- Ausgrabung des Schatzes mit der Niederlage Frankreichs Wilhelm I. von Preußen als Kaiser Nationalparks in den USA als des Priamos in Troja durch endet gegründet erster Nationalpark der Welt Heinrich Schliemann Bau des Eiffelturms
Im modernen Wirtschaftsgebäude wurde die Speiseversorgung für die damaligen Alsterdorfer Anstalten sichergestellt Der Speiseplan »Naturgemäße, leicht verdauliche, nahrhafte und wohlschmeckende Kost« sollte nach den Anweisungen Sengelmanns auf dem Speise- plan stehen. Außerdem: »Trotz des Umstandes, dass der Geschmack bei vielen ›Idioten‹ wenig ausgebildet ist, ist ein Haupterforderniß, dass nur wohlschmeckende Speise auf den Tisch komme.« Ganz praktisch sah das in Alsterdorf so aus: Am Morgen gab es Grütze mit Milch oder Kaffee mit Weißbrot. Mittags stand fast immer Suppe auf dem Tisch, sei es aus Erbsen, Linsen oder Bohnen, mal mit Fleisch und Kartoffeln, mal mit Wurst, mal mit Klößen und Speck. Zur Abwechslung lieferte die Küche Hering mit Kartoffeln, süßen Reis mit Pflaumen oder Fruchtsuppe mit Klößen. Für die schwächeren Bewohner wurden Frikadel- len, Arme Ritter oder Pfannkuchen zur Suppe gereicht. Das Abendessen war eintönig: Tee, Kaffee, Brot und Suppe (aus Milch, Brot, Grieß, Reis oder als süße Variante). München Hamburg Meine liebe Clara, Liebe Elisabeth! wir können ja froh sein, dass unsere Unsere Anstalten vergrößern sich immer mehr. Der Pastor Familien vor solchen Schicksalen Sengelmann, der ja früher in verschont bleiben. In England St. Michaelis predigte, hat ganz soll es übrigens Wohltäter geben, eigene Vorstellungen: Die dort aufgenommen werden, sollen sogar die ganze Schlösser für arme arbeiten! In der Gärtnerei, auf dem Menschen herrichten, um sie Feld, in eigenen Handwerksbetrieben! Ob sie das überhaupt fertigbringen? vor einem elenden Leben in den Gassen zu bewahren. Das fragt und grüßt: Deine Clara Liebe Grüße: Elisabeth 1874 1875 1876 1877 1878 Gründung der Konferenz Sengelmann wird Mitglied der »Briefe und Bilder aus Alsterdorf« der Heilerziehungs- und Hamburgischen Bürgerschaft als Mitteilungsorgan der Pflegeanstalten; Sengelmann ist damaligen Alsterdorfer Präsident. Anstalten erscheint Gründung des Museums für Kunst Gründung der Mark statt Gulden Gründung der Schiffswerft Bismarck erlässt das und Gewerbe in Hamburg Sozialdemokratischen Blohm & Voss in Hamburg »Sozialistengesetz« Arbeiterpartei
thema 14_15 Jenny Sengelmann, zweite Frau des Anstaltsgründers, wirkte tatkräftig am Ausbau Alsterdorfs mit Die gute Seele von Alsterdorf – Jenny Sengelmann Mit noch nicht einmal zwei Jahren soll sie schon fehler- los »Kommt ein Vogel geflogen« gesungen haben: Jane Elisabeth von Ahsen (geboren am 17. Juni 1831 in Ham- burg, gestorben am 26. September 1913 in Laboe) war die Tochter des Pastors von St. Michaelis Jacob Heinrich von Ahsen. Sie selbst nannte sich Jenny, war hochmusi- kalisch, sehr gesellig und sozial engagiert: Oft begleitete sie den Stadtmissionar bei seinen Gängen durch die Stadt. Als sie Heinrich Matthias Sengelmann heiratete, mit ihm nach Alsterdorf ging und sich immer stärker in den Alster- dorfer Anstalten einbrachte, traten Geselligkeit und Musik in ihrem Leben in den Hintergrund. Es lag ihr, Menschen mit geistiger Behinderung anzuleiten und zu beschäfti- gen. Außerdem hatte sie in den Kleider- und Schuhlagern, der Wäscherei, den Nähstuben und der Küche alles im Blick. Ihr entschiedenes Auftreten und ihre spitze Zunge machten ihr nicht nur Freunde. Hinter dieser bisweilen rauen Schale verbarg sich aber eine Warmherzigkeit, mit der sie gerade den Schwachen begegnete – den Bewoh- nerinnen und Bewohnern genauso wie einem alko- holkranken Schneider, um den sie sich rührend kümmerte. Als ihr Mann noch lebte, hatte sie oft ihm gegenüber ausgerufen: »Mich halten nach deinem Tode keine zehn Pferde mehr in Alsterdorf!« Aber als sie dann nach seinem Tod in Alsterdorf nichts mehr zu sagen hatte, war das doch schwer für sie. Die Tatsache, dass sie ihren Alterssitz in der Nähe der Anstalten hatte und daher oft Besuch von Bewohnern und älteren Angestellten bekam, versöhnte sie jedoch mit ihrer neuen Rolle. So hatte sie schließlich wieder mehr Zeit für gesellige Runden mit Freunden und Bekannten und nicht zuletzt für die Musik. Ihr letztes Oberes Bild: Eine Mädchengruppe unter der Aufsicht von Lebensjahr widmete Jenny Sengelmann geistlichen Texten Schwestern beim Spiel. Insbesondere die Alsterdorfer und Liedern. So ließ sie sich einen Tag vor ihrem Tod am Schwesternschaft Euodia und die Jünglingsschaft Concordia 26. September 1913 von ihrer Hausgenossin dieses Lied spielten über viele Jahrzehnte eine wichtige Rolle in der Stiftung vorlesen: »Frisch und getrost reis’ ich nun fort in Gottes Unten: Jungen spielen mit Bauklötzchen in der Namen; Gott ist mein Licht, mein Weg und Pfort’ …« | Kinderkrankenstation Fichtenhain Liisa Viitanen 1879 1880 1881 1882 1883 Tagung der Konferenz der Heilerziehungs-, Heil- und Jahre Pflegeanstalten in Hamburg Gründung des weltweit Installation eines öffentlichen Robert Koch entdeckt die Robert Koch entdeckt den ersten Instituts für Telefonnetzes in Hamburg Tuberkulosebakterien Choleraerreger. Einführung der Psychologie in Leipzig Evangelische Stiftung (206 Teilnehmer) gesetzlichen Rentenversicherung Alsterdorf in Deutschland.
V ielleicht hätte es die mit dem sie sich von anderen ihn namentlich zur Ausbildung Wert. Er verlangte: »Völlige Alsterdorfer Anstalten Heimen unterschieden. Weil des Sprachvermögens behülflich Hingabe an den Beruf, Um- nie gegeben, wenn nicht Sengelmann von einer grund- sein«. Weiter standen Formen- sicht, Ausdauer und Geduld Heinrich Sengelmann als Pastor sätzlichen Bildungsfähigkeit Unterricht (Zeichnen), Sprach-, sind neben den gewöhnlichen von St. Michaelis häufig das auch behinderter Menschen Lese- und Schreibunterricht, die besonderen Erfordernisse Gängeviertel besucht hätte. In ausging, gab es ein breites Rechnen, Singstunden und Tur- derer, welche ›Idioten‹ unter- nen auf dem Stundenplan. richten und erziehen.« Deshalb Aber auch die Erholung rief er selbst in Alsterdorf eine Bildung für alle Kinder spielte eine wichtige Rolle, »Präparanden-Anstalt« – die »… um zum Unterricht und untere Stufe der Volksschul- zur Arbeit neue Lust und neue lehrerausbildung – ins Leben, Kräfte zu empfangen«. Spiel- um Lehrkräfte für den Umgang Hohe Anforderungen an das Personal stunden unter Anleitung, Frei- mit Menschen mit geistiger zeit und frische Luft brachten Behinderung auszubilden. Weib- den Ausgleich zum Stillsitzen. lichen Pädagogen allerdings den ärmlichen Gassen traf er Unterrichtsangebot von Religion Sengelmann empfahl, die Schul- traute er lediglich den Einsatz mehrfach einen geistig behin- über Kulturtechniken bis zur stunden durch 5 bis 10 Minuten in Vorschule, Kindergarten und derten Jungen, Carl Koops. musischen Erziehung und kör- Pause im Freien zu trennen. Und Mädchen-Elementarklassen zu: In dieser Umgebung, das war perlichen Ertüchtigung. Einen im Sommer wurde in Alsterdorf »Bei den größeren Knaben wird Sengelmann klar, hatte das Kind hohen Stellenwert hatte der kein Nachmittagsunterricht schon die Disciplin eine männ- keine Chance, sich zu entwi- Religionsunterricht: »Ausgangs- erteilt (außer in der Vorschule, liche Kraft erheischen und eher ckeln. Er suchte eine Pflege- und Angelpunkt des Unterrichts wo er möglichst im Freien ab- bei Lehrern als bei Lehrerinnen familie, vergeblich. Deshalb zugleich ist der Religionsun- gehalten wurde). Gemeinsame die richtige Beherrschung des entschloss er sich zur Selbsthilfe terricht, bei dem nicht blos Spaziergänge und Wanderun- Lehrstoffs zu erwarten sein.« und startete einen Spenden- die Ausbildung der Intelligenz, gen führten in die Natur. Personal aus »Brüder-An- aufruf zur Gründung eines sondern vor allen Dingen Ein- Auf die Qualität des Perso- stalten«, also z.B. aus Wicherns Asyls. Vermögende Hamburger wirkung auf Gemüth und Willen nals legte Sengelmann großen »Rauhem Haus« wollte er nicht unterstützten ihn, sodass er ein zu erstreben ist.« übernehmen, weil es seiner Gelände in Alsterdorf, damals Der »Anschauungs- Meinung nach zu wenig qua- vor den Toren der Stadt, er- Unterricht« befasste sich mit lifiziert sei. Ähnliches galt für werben konnte: Hier zogen am »Gegenständen in natura (Obst, Diakonissen. Als »Wärterinnen« 19. Oktober 1863 vier geistig Nahrungsmittel, Getreide) oder Tagesablauf hätten sie zu geringe Kennt- behinderte Jungen mit einem Abbildungen (Tiere, Geräte): nisse. Hausvater ein, unter ihnen Carl Er »soll ... die Aufmerksamkeit 05.00 Aufstehen 1895 kam der Heilpädagoge Koops. erregen, sein Auge üben, seine (Winter 05.30 Uhr) Johannes Paul Gerhard nach Der Ausgangspunkt – Bil- Beobachtungsgabe schärfen, 07.00 »Morgenbrod«, Alsterdorf. Er baute die Schule dung und Erziehung auch für sein Urtheil wecken, seinen Vor- Morgenandacht zu einer Musteranstalt aus, die geistig behinderte Menschen – stellungskreis erweitern, seiner 07.30 – Unterricht, Arbeit sich zu den heutigen Bugenha- blieb ein wesentliches Merkmal Phantasie und seinem Nachah- 09.00 gen-Schulen entwickelte. | der Alsterdorfer Anstalten, mungstrieb Nahrung geben und 09.00 Frühstück Inge Averdunk 09.30 – Unterricht, Arbeit 12.00 12.00 Mittagessen 12.30 – Spiel 13.30 13.30 Arbeit (Winter: Unterricht) Mädchen und 16.00 Vesper, Spiel Jungen zusammen 16.30 – Arbeit (Winter: in einer Klasse: 18.30 Fortbildungsschule) Schulkinder im anschaulich 19.00 Abendessen, Abendandacht aufgebauten Unterricht der 19.30 – Spiel, Selbstbeschäfti- Anstaltsschule 20.30 gung, Schlafengehen 1884 1885 1886 1887 1888 Vereinsgründung von »Concordia« Herausgabe von Sengelmanns Grundsteinlegung für Pfarrhaus und »Euodia«, für männliche bzw. Hauptwerk »Idiotophilus – und Direktionsgebäude sowie weibliche Beschäftigte der Anstalt, Systematisches Lehrbuch der Einweihung des Hauses »Hoher für Freizeit und Fortbildung Idioten-Heilpflege« Wimpel« mit großem Speisesaal Einführung der Unfallversicherung Gründung des ersten Blaukreuz- Erstes Auto von Benz und Daimler Gründung des HSV Wilhelm II. wird deutscher Kaiser vereins in Deutschland durch Arnold Bovet in Hagen, Westfalen
thema 16_17 Oben: Schülerinnen und Schüler während des Schulkinder mit Lehrerin bauen eine Pyramide Unterrichts. Unten: Das damalige Schulgebäude (heute Krankenhaus an der Dorothea-Kasten-Straße) München Liebe Clara, Hamburg bei Euch in Hamburg passiert ja so viel. Ich habe Liebe Elisabeth, gehört, dass dieses berüchtigte »Gängeviertel«, das ja Du hast ja so recht. Hier in eine wahre Brutstätte von Seuchen, Kriminalität Alsterdorf ist es zwar kein Schloss, und Sittenverderbnis ist, vielleicht abgerissen werden aber die Siedlung wächst, und es kümmern sich qualifizierte Kräfte soll. Und Euer Senat hat die Schulpf licht um die Zöglinge. Sie werden sogar eingeführt. Das kann doch nur gut sein für die armen unterrichtet! Die Frau des Direktors Leute. Ihr habt so eine schöne Stadt – ich singt im Chor mit ihnen. Und es gibt große Feste mit glaube, ich muss Dich doch bald einmal besuchen. Umzügen, alle dürfen dabei sein. Jetzt, wo Ihr mit den neuen Elbbrücken ans Eigentlich müsste ich mir das Eisenbahnnetz nach Süden angeschlossen seid, wäre einmal anschauen. das doch eine schöne Reise für mich. Mit ganz herzlichen Grüßen aus der Hansestadt, Liebe Grüße von Deiner Deine Clara Elisabeth 1889 1890 1891 1892 1893 Beendigung der Ausbildung von Alsterdorf bleibt von den Folgen Präparanden der großen Choleraepidemie Jahre Einweihung der St. Nicolauskirche weitgehend verschont Gründung der »Zweiten Entlassung Bismarcks Schwerste Choleraepidemie Einführung des uneingeschränkten Internationale« in Paris in Hamburg: 8.605 Tote, Frauenwahlrechts in Neuseeland, Erste Maifeier Evangelische Stiftung 16.956 Erkrankungen dem ersten Staat, der Frauen Alsterdorf dieses Bürgerrecht einräumt
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