150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf

 
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150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
a   Magazin der Evangelischen Stiftung Alsterdorf   a   Nr. 24, April 2013

                                                                             1863—
                                                                   Evangelische
                                                                              2013
                                                                   Alsterdorf
                                                    2013 150 Jahre
                               1863 –2013

                                                                   Stiftung
                       Evangelische

                                                            150 Jahre
                       Alsterdorf

                                                            Evangelische
                       150 Jahre
        1863 –2013

                       Stiftung

                                                            Stiftung
                     1863—

                                                            Alsterdorf
                                                            Teil 1: Die ersten fünfzig
                                                            Jahre in Alsterdorf
150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
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150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
Inhalt Nr. 24, April 2013                                     inhalt
                                                                                              		 thema                                                         2_3
                                                                                              4–21 150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf
                                                                                                    18 Seiten über die ersten 50 Jahre in Alsterdorf
                                                                                                 5 »Mit Gott lasst uns Thaten thun!«
                                                                                                    Heinrich Matthias Sengelmann –
                                                                                                    ein bemerkenswerter Hamburger
                                                                                                 6 Das 19. Jahrhundert: Dutzende von
                                                                                                    Anstaltsgründungen
                                                                                                    Von privater Initiative zur Institution
Foto: Axel Nordmeier

                                                                                                 7 Vom Narrenschiff zur Anstalt
                                                                                                    Menschen mit Behinderung in der Geschichte
                                                                                                 8 Alles aus Liebe – der Gründer der Evangelischen
                       Prof. Dr. Hanns-Stephan Haas, Direktor und Vorstands­                        Stiftung Alsterdorf Heinrich Matthias Sengelmann
                       vorsitzender der Evangelischen Stiftung Alsterdorf                       10 Vom Fachwerk-Asyl zur kompletten Siedlung
                                                                                                    Die Struktur der Alsterdorfer Anstalten
                       editorial                                                                12 Sengelmann und die »Innere Mission«:
                                                                                                    ein gespanntes Verhältnis!
                       Liebe Leserinnen und liebe Leser,                                            Hauptkritik galt Ausblendung der Behindertenarbeit
                                                                                                14 Der Speiseplan
                       wir feiern in diesem Jahr den 150. Geburtstag der Stiftung, ein be-
                                                                                                15 Die gute Seele von Alsterdorf – Jenny Sengelmann
                       sonderes Jubiläum. Am 19. Oktober 1863 begann Pastor Heinrich
                                                                                                16 Bildung für alle Kinder
                       Matthias Sengelmann offiziell die Arbeit der damaligen Alsterdor-
                                                                                                    Hohe Anforderungen an das Personal
                       fer Anstalten. Es war die Zeit der industriellen Revolution. Viele
                                                                                                18 Johannes Paul Gerhardt – Heilpädagoge und Forscher
                       Menschen und auch Kinder mussten täglich 13 Stunden oder mehr
                                                                                                19 In Sengelmanns Fußstapfen: Direktor Paul Stritter
                       unter extremen Bedingungen arbeiten. Sie kannten weder Arbeits-
                                                                                                20 Hoch hinaus …
                       noch Kündigungsschutz oder eine soziale Absicherung. Drängende
                                                                                                    Die Alsterdorfer Anstalten und die Stadt Hamburg
                       Enge in den einfachen Wohnvierteln der Stadt Hamburg, Werk-                  zwischen 1899 und 1913
                       statt und Industriebetriebe in direkter Nachbarschaft. Sengelmann      		 spots
                       geht ganz bewusst mit seiner Anstaltsgründung aufs Land, denn            22 Miteinander bewegen schont die Kräfte
                       für Menschen mit Behinderung gibt es keinerlei Schutzraum in                 Die Kinästhetik hält zu einem bewussteren Umgang mit
                       dieser Zeit. Er hat eine klare Vorstellung von dem, was er erreichen         Bewegung an
                       möchte: ein lebenswertes Zuhause für Menschen mit Behinderung            23 Heilerziehungspflege – eine Ausbildung verändert sich
                       schaffen, in dem sie sich entfalten können. Er setzt damit ein deut-         Die Zugangsvoraussetzungen für die Alsterdorfer
                       liches und mutiges Zeichen, in einer Zeit, in der viele Menschen Not         Fachschule für Heilerziehung haben sich geändert
                       leiden, obwohl sie hart arbeiten.                                        24 Projekt Zukunft
                           Im Rahmen unseres 150-jährigen Jubiläums wollen wir uns mit              Mit dem Campus Uhlenhorst startet im August ein neues
                       der Entwicklung der Stiftung von Sengelmann bis heute auseinan-              Bildungsprojekt für junge Menschen mit Behinderung
                       dersetzen. In unterschiedlichen Veranstaltungen, von der Jahres-         26 Verantwortung über den Tellerrand hinaus
                       tagung der Ärzte für Menschen mit Behinderung, einem Senats-                 Vorreiter in Sachen Menschlichkeit: Altenhilfezentrum
                       empfang mit einer historischen Ausstellung im Hamburger Rathaus              Heikendorf schult seine Mitarbeiter in der Palliativpflege
                       bis zum inklusiven Filmfestival »Klappe auf« – also keine bloße          27 Mobilität für alle
                       Rückschau, sondern lebendige Beschäftigung mit der eigenen                   Mehr Platz in Bussen: Das forum inklusion wendet
                       Geschichte.                                                                  sich an den HVV
                           In dieser Ausgabe beleuchten wir verschiedene Aspekte der            28 Ein guter Auftakt für die »SchanZe«
                       ersten 50 Jahre Stiftungsgeschichte – die nächsten folgen in den             Q8 belebt Hochhausviertel am Rand von Bad Oldesloe
                       kommenden beiden Ausgaben.                                               30 Mit Hunden unterwegs: Freude und
                                                                                                    Kompetenzerfahrung!
                       Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.                                    Um therapeutische Möglichkeiten zu erweitern, setzt die
                       Ihr                                                                          tohus gGmbH auf den Kontakt zwischen Mensch und Tier
                       Hanns-Stephan Haas                                                       31 Für ein Mehr an Selbstbestimmung
                                                                                                    Der Umbau des Wohnhauses Steinkamp 2
                                                                                              		 news
                                                                                              32–33 Meldungen aus der Evangelischen Stiftung Alsterdorf
                                                                                                    Auszeichnung für Heinrich Sengelmann Krankenhaus,
                                                                                                    Evangelische Stiftung auf dem Kirchentag, Neubau des
                                                                                                    Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf, Termine bis
                                                                                                    August 2013
                                                                                              		 porträt
                                                                                                34 »Ich habe meine Chance bekommen«
                                                                                                    Ein Alsterdorfer Urgestein: Gudrun Vesper – besser bekannt
                                                                                                    als Schwester Gudrun
150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf
                                                                        – eine solche Zeitspanne lässt sich unmög-
                                   lich in einem Magazin abbilden, ohne auf zu viel zu verzichten.
                                   Daher dreht sich in drei Heften in Folge im Schwerpunkt alles um
                                   das Thema Jubiläum, wobei jedes Heft 50 Jahre der Stiftungs-
                                   geschichte beleuchtet. In jedem Heft finden Sie einen Zeitstrahl.
                                   Weiter werden die wichtigsten Ereignisse aus dieser Zeit darge-
                                   stellt und die Direktoren porträtiert. In diesem Heft nehmen wir
                                   Sie unter anderem mit auf eine Zeitreise in die ersten 50 Jahre der
                                   Stiftung. Was war Heinrich Matthias Sengelmann für ein Mensch
                                   und wie kam er auf die Idee, eine Anstalt für Menschen mit
                                   Behinderung zu gründen? Was lernten die Bewohner dort, wie
                                   sah ihr Tagesablauf aus und nicht zuletzt – was kam auf den
                                   Tisch? Wie war Sengelmanns Verhältnis zur Inneren Mission bzw.
                                   zu Johann Hinrich Wichern, der diese entscheidend vorangetrie-
                                   ben hat? Und wie können Sengelmann und sein Wirken aus heu-
                                   tiger Sicht gedeutet werden?

1821                       1822
                                        »Zeitstrahl«
                                              1823                             1824                      1825        1826                     1827
25. Mai: Heinrich Matthias            Oben: Ereignisse um die
Sengelmann wird als Sohn          Evangelische Stiftung Alsterdorf...

                                  1821–1913
eines Viehhändlers und
Gastwirts in Hamburg geboren
Georg Simon Ohm entdeckt                                                       Eröffnung der »National               Erfindung des Streich­
das ohmsche Gesetz                  ... und Ereignisse aus Politik,            Gallery« in London                    holzes durch den
Georg IV. wird in London zum           Kultur und Wissenschaft                                                       englischen Apotheker
britischen König gekrönt                       (unten)                                                               John Walker
150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
thema
                                                                                                                                                             4_5

»Mit Gott lasst uns Thaten thun!«
Heinrich Matthias Sengelmann – ein bemerkenswerter Hamburger
                       isionär, Überzeugungstäter, Gelehrter, Orga-            tion …) noch den Menschen gerecht werden konnte. Aus diesem
                      nisationstalent, Unternehmer, Original – es              Grund entschied er sich später auch gegen den Verbleib im Pfarr-
                     sind verschiedene und teilweise gegensätzliche            amt. Vor allem aber wurde ihm ein Erlebnis zum Schlüsselereignis:
                    Beschreibungen, die mir einfallen, wenn ich an             Bei einem seiner Hausbesuche stieß er auf ein geistig behindertes
                  Heinrich Sengelmann denke. Der so freundlich                 Kind, das missachtet und vernachlässigt sein Dasein fristen musste.
                dreinblickende »Vater Sengelmann« mit seinem                        Das Erlebnis ließ Sengelmann nicht los und er versuchte seine
               Backenbart war eine schillernde Figur mit vielen Be-            Zeitgenossen in Kirche und Stadt für ein Engagement zu gewin-
gabungen. Er hätte, modern gesagt, seine Karriere in der Kirche                nen. Es gehörte offensichtlich zu den bittersten Erfahrungen seines
machen können oder in der Wissenschaft. Er hat sogar einmal den                Lebens, dass sich gerade die Menschen, denen er von seinen
Einstieg in die Politik versucht. Aber bis heute bedeutsam ist er, weil        Überzeugungen her besonders nahestand, unberührt zeigten.
er sich einsetzte für die Menschen, die damals völlig im                                Wieder und wieder abgewiesen entschloss er sich, seine
Schatten der Gesellschaft standen. – Doch zunächst                                         Vision selbst umzusetzen. 1863, vor 150 Jahren, zog er
der Reihe nach.                                                                              mit den ersten Kindern in das bis heute erhaltene Haus
    Heinrich Sengelmann wurde in einer wohlha-                                                 Schönbrunn. Die Jahre danach waren gefüllt von
benden Gastwirtfamilie geboren. Finanziell hatte                                                einem schnellen Wachstum, zahlreichen Bauten und
er die besten Voraussetzungen. Sein eigenes Ver-                                                 der Ausbildung von geeigneten Mitarbeitenden, um
mögen und das seiner ebenfalls reichen, späteren                                                 seine »Kolonie der Liebe« zu schaffen.
Frau sollten ihm später den Ankauf eines großen                                                      Sengelmann war dabei nicht nur glänzender
Areals ermöglichen, damals noch vor den Toren                                                    Organisator und persönlicher Seelsorger, zusätzlich
der Stadt, in Alsterdorf. Der Landkauf umfasste                                                  schuf er auch die theoretischen Grundlagen für die
neben unserem heutigen Stiftungsgelände die                                                      Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Er schrieb
ganze City Nord. Große Teile dieses Geländes                                                     selbst eine dreibändige Heilpädagogik, die bei aller
wurden nach dem Ersten Weltkrieg gegen einen                                                        Zeitgebundenheit eine ungewöhnliche Weitsicht
Bauernhof (Gut Stegen) eingetauscht, um die                                                            zeigte. Es war die grundlegende Überzeugung
Anstaltsbewohner selbstständig versorgen zu                                                             unseres Stifters, dass das Erbarmen und die
können.                                                                                                  christliche Nächstenliebe gegenüber Men-
    Heinrich Sengelmann kam, wie viele seiner                                                           schen mit geistiger Behinderung vor allem die
diakonischen Vorgänger, z.B. Wichern, dem                                                             Konsequenz der Förderung nach sich ziehen
Gründer des Rauhen Hauses, unter den Einfluss der Erweckung,                   musste. Für Sen- gelmann gab es keine Menschen zweiter Klasse,
einer Frömmigkeitsbewegung, die erstarrte kirchliche Formen durch              die man nur verwahren, wegsperren und behandeln darf.
eine persönliche Gottesbeziehung überwinden wollte. Für viele der                   Vielleicht hängt mit dieser Grundeinstellung zusammen, dass
Erweckungstheologen bildeten der Glaube und das glaubwürdige                   Sengelmann sich erst spät zum Bau eines Krankenhauses ent-
Tun eine unlösliche Einheit. In dieser Grundeinstellung entschloss             schloss. Behinderung ist kein medizinisches Problem und vor allem
sich Sengelmann zum Theologiestudium, wo er insbesondere in                    kein medizinisch lösbares Problem. Der Wahn dieses Gedankens
Halle seinen akademischen Lehrern als besonders begabt auffiel.                sollte sich in späterer Zeit zu einer menschenvernichtenden Ideolo-
Seine starke altsprachliche Neigung lebte er in seiner Doktorarbeit            gie verdichten.
aus, die ihm den Grad des Doktors der Orientalistik verlieh.                        »Vater Sengelmann« hat der Stiftung eine andere Prägung mit-
    Sein Doktorvater hätte ihn gern als Lehrstuhlinhaber gesehen,              gegeben. Manchmal werden Stiftungen als Organisationen der »to-
aber Sengelmann zog es ins Pfarramt in seiner Heimatstadt. Auch                ten Hand« gesehen. Ein Stifter legt durch seinen Vermögenseinsatz
hier fiel er positiv auf, wurde Pastor am Michel und in Moorfleet. In          nachfolgende Generationen auf ein häufig nicht mehr zeitgemäßes
Moorfleet begann er in seinem Pfarrhaus auch seine diakonischen                Engagement fest. Deutlich haben wir hier einen anderen Stifter,
Aktivitäten im Jahre 1850.                                                     der mit seiner in einem tiefen Glauben verankerten Menschlichkeit
    Seine Zeit im Pfarramt war für seine spätere Arbeit vor allem in           mutige und innovative Entscheidungen traf. Oder um es mit ihm
zweierlei Hinsicht prägend: Zum einen wurde ihm deutlich, wie we-              selbst zu sagen: »Mit Gott lasst uns Thaten thun!« |
nig er angesichts der Fülle von Amtshandlungen (Taufe, Konfirma-                                                                  Hanns-Stephan Haas

    1828                    1829                      1830                      1831                       1832                 1833
                                                                                                                                Gründung des »Rauhen Hauses«
                                                                                                                                durch Johann Hinrich Wichern als
                                                                                                                                Erziehungsanstalt für verwahrloste
                                                                                                                                Kinder und Jugendliche
    Entdeckung Kaspar       Uraufführung des Dramas   Julirevolution des        Blutige Niederschlagung    Choleraepidemie in
    Hausers                 Faust I von Johann        Bürgertums gegen die      des Seidenweberaufstands   Hamburg mit über
    Gründung des Reclam-    Wolfgang von Goethe in    reaktionäre Politik       in Lyon                    1.600 Toten
    Verlags in Leipzig      Braunschweig              Karls X. in Frankreich
150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
H
      einrich Sengelmann war der Meinung: »Nur eine große,
      umfangreiche Anstalt kann den verschiedenartigen Gestal-
      tungen des ›idiotischen Elends‹1 begegnen, nur ihr ist die
Möglichkeit geboten, mehr oder minder Gleichartiges zu verbin-
den, dagegen das nicht Zusammengehörige zu scheiden.«
   Mit dem Gedanken, spezielle Einrichtungen für Menschen mit
Behinderung zu schaffen, war er in seiner Zeit nicht alleine. Dut-
zende solcher Anstalten wurden im 19. Jahrhundert in Deutschland
gegründet.
   Als Anstoß bezieht sich Sengelmann immer wieder auf die
Schweiz: »Erst mit der Cretinen-Anstalt auf dem Abendberge in der
Schweiz … beginnt die eigentliche Rettungsgeschichte der Idioten
und dem Dr. Guggenbühl, dem Gründer der ersteren, bleibt das
Verdienst, den großen Reigen der für die Ärmsten unter den Armen

Das 19. Jahrhundert:
Dutzende von
Anstaltsgründungen
Von privater Initiative zur Institution

in Thätigkeit gesetzten Liebesarbeit eröffnet zu haben.«
    Er schildert eine geradezu filmreife Story: Der 20-jährige Gug-
genbühl, ein junger Arzt, erblickte zufällig einen »armen, zwergar-
tig verkrüppelten Cretin mit hässlichem, stupidem Aussehen, der
1836 zu Seedorf im Canton Uri vor einem Cruzifix sein Pater Noster
murmelte«. Er konnte den Anblick nicht vergessen. »Es kamen
ihm hernach andere Cretinen-Gestalten unter die Augen, die z.B.
durch ein enormes Zahlengedächtnis einen gewissen Ruf in der
Umgebung hatten.« Guggenbühl machte die Heilung und Fürsorge
für »Cretine« zu seiner Lebensaufgabe. 1839 gründete er auf dem
Abendberge bei Interlaken ein Domizil für sie, einen zweckmäßigen
Bau mit großem Saal, Bädern und Spielräumen, später mit einem                 dass für die Idioten etwas geschehen müsse, eine allgemeine
zweiten Unterrichtsgebäude. Der Standort auf dem Abendberg,                   geworden ist, so ist doch hinsichtlich des zu erstrebenden Zieles
3.000 Fuß (1.850 Meter) hoch, erschien ihm ideal: »auf den Son-               noch Abweichung der Ansichten vorhanden. Es giebt eine Richtung
nenhöhen der Alpen, wo der Mensch sich geistig und körperlich                 – namentlich durch Ärzte vertreten –, welche die ganze den Idioten
so herrlich entwickelt«. Dieser »Abendberg« wird oft zitiert, von             zu gewährende Hülfe auf die Bewahrung und Pflege beschränken.
hier aus verbreitet sich der Gedanke, fürsorgliche Einrichtun-                Sie ruht auf der prinzipiellen Annahme der Bildungsunfähigkeit.
gen für geistig behinderte Menschen zu schaffen. Durch diesen                 Eine andere Richtung – ihr gehören mehrere Idioten-Anstalten
Einfluss entstanden Anstalten in ganz Europa und in Amerika. Die              an – fordert Bildungsfähigkeit als Bedingung für die zu leistende
Gründung der Alsterdorfer Anstalten wird von Sengelmann selbst                Hülfe.« Daraus ergebe sich auch ein Gegensatz der Heilmittel: »Die
chronologisch an 15. Stelle in Deutschland eingeordnet.                       einen wollen nur Bekämpfung des Idiotismus auf medicinischem,
    Die älteste deutsche Privatanstalt (1839) war die Kernsche                die Anderen dieselbe nur auf pädagogischem Wege.« Sengelmann
Anstalt in Möckern bei Leipzig. Vor allem in den drei Jahrzehnten             plädiert für Zusammenarbeit. Seine Schlussfolgerung: »Ob der Arzt
von 1860 bis 1890 wuchs die Zahl der Heime für Menschen mit                   oder der Pädagoge Vorstand ist, daran liegt wenig. Die Hauptsache
Behinderung Schlag auf Schlag. Nicht nur Alsterdorf hat bis heute             ist das einträchtige Zusammenwirken.« |
Bestand. Bekannt sind u.a. Stetten, Neuendettelsau bei Ansbach                                                                      Inge Averdunk
und Bethel.                                                                   1 Der Begriff »Idiot« kommt aus dem Altgriechischen und bedeutete dort »einfacher Soldat«
                                                                                oder »Laie«. Später im lateinischen Sprachgebrauch wurde daraus der »unwissende
    Unterschiedliche Auffassungen führten zu unterschiedlichen                  Mensch«. Sengelmann benutzte diese Bedeutung – das Wort hatte sich noch nicht zum
Konzepten. Sengelmann führt aus: »Wenn auch die Anerkennung,                    Schimpfwort entwickelt.

 1834                         1835                              1836                                  1837                                   1838
                 Jahre

                              Erste deutsche Eisenbahnstrecke   Fertigstellung des Pariser            Thronbesteigung von                    Veröffentlichung des
                              von Nürnberg nach Fürth           Arc de Triomphe                       Queen Victoria von England             Romans »Oliver Twist«
   Evangelische Stiftung                                                                              und damit Beginn des                   von Charles Dickens
   Alsterdorf                                                                                         Viktorianischen Zeitalters
150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
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                                                                                                                                                                            I
                                                                                                                                                                               m Römischen Reich wurden                    befanden sich früher die Idioten?     6_7
                                                                                                                                                                               Menschen mit Behinderungen auf              … Ein Theil derselben hatte seinen
                                                                                                                                                                               speziellen Märkten zum Verkauf              Aufenthalt in den Familienhäusern,
                                                                                                                                                                             angeboten, im Mittelalter überließ            denen sie angehörten, wo sie theil-
                                                                                                                                                                             man sie auf »Narrenschiffen« ihrem            weise zum Schrecken der Nachbarn,
                                                                                                                                                                             Schicksal, oft wurden sie ins Ge-             oder als Spielball der Rohheit, ihren
                                                                                                                                                                             fängnis oder Zuchthaus geworfen.              Eltern zum Kreuz ihr elendes Dasein
                                                                                                                                                                             Man nannte sie »Irre«, »Wahnsinni-            führten, oder sie waren in Irren-,
                                                                                                                                                                             ge«, »Blöde« oder »Idioten«, vielfach         Kranken- und Armenhäusern unter-
                                                                                                                                                                             galten sie als »vom Teufel besessen«.         gebracht, oder die Kommune hatte
                                                                                                                                                                                 Spezielle Anstalten gab es noch           sie in Kost gegeben – zumeist in
                                                                                                                                                                             nicht. Erst im 17. und 18. Jahrhun-           die Familienhäuser einer ländlichen
                                                                                                                                                                             dert ändert sich das Bild, wenn auch          Bevölkerung ... Die entweder in den
                                                                                                                                                                             die Art der »Fürsorge« aus heutiger           Stubenwinkeln hockenden oder als

                                                                                                                                                                             Vom Narrenschiff
                                                                                                                                                                             zur Anstalt
                                                                                                                                                                             Menschen mit Behinderung in der Geschichte

                                                                                                                                                                             Sicht alles andere als menschlich             Gänsehüter und anderweitige Hirten
                                                                                                                                                                             erscheint: Es entstanden Einrich-             verwendeten, anfänglich vielleicht
                                                                                                                                                                             tungen, in denen Menschen mit                 noch besserungsfähigen Kinder
                                                                                                                                                                             Behinderungen ebenso wie Bettler              stumpften immer mehr ab.«
                                                                                                                                                                             und Verbrecher zusammengepfercht                  Bis die »Idioten« von den Ärzten,
                                                                                                                                                                             und zur Arbeit verpflichtet wurden.           aber auch von der Öffentlichkeit als
                                                                                                                                                                             Solche »workhouses« verbreiteten              Kranke anerkannt wurden, dauerte
                                                                                                                                                                             sich von England aus in ganz Eu-              es Jahrzehnte. Sengelmann schildert
                                                                                                                                                                             ropa. Vorreiter in Deutschland war            den Prozess ausführlich.
                                                                                                                                                                             das Zuchthaus in Hamburg (1640)                   Ein Impuls dazu ging von Eng-
                                                                                                                                                                             am Standort des heutigen Thalia-              land aus: Das Buch »Die Behand-
                                                                                                                                                                             Theaters.                                     lung der Irren ohne mechanischen
                                                                                                                                                                                 Von der Idee, Menschen mit                Zwang« (John Conolly, Lincoln,
                                                                                                                                                                             Behinderungen als »Kranke« zu be-             1860 ins Deutsche übersetzt) löste
                                                                                                     Menschen mit Behinderung wurden in                                      handeln, waren diese Institutionen            heftige Diskussionen aus: Geistig
    Fotos Seite 4–21: alle historischen Fotos aus dem Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf

                                                                                                     unterschiedlichsten Bereichen beschäftigt:                              noch weit entfernt. Erst in der Mitte         und psychisch kranke Menschen
                                                                                                     hier in der Versorgung mit Frischwasser                                 des 18. Jahrhunderts trat allmählich          gelten nun als »Kranke«.
                                                                                                                                                                             ein Wandel ein. Doch die »Thera-                  Der Psychiater Wilhelm Griesin-
                                                                                                                                                                             pien« gingen eigenartige Wege:                ger erklärte 1867 in seiner Abhand-
                                                                                                                                                                             Körperliche Zwangsmaßnahmen                   lung »Über Irrenanstalten und deren
                                                                                                                                                                             und Bestrafungen mit Nahrungsent-             Weiterentwicklung in Deutschland,
                                                                                                                                                                             zug und Dunkelheit waren durchaus             der Geisteskranke jedweder Art,
                                                                                                                                                                             üblich.                                       auch der Schwachsinnige, sei ein
                                                                                                                                                                                 Es gab auch Privat-Irrenanstal-           organisch Kranker, ein Hirnkranker.
                                                                                                                                                                             ten, die von Ärzten, Geistlichen,             Deshalb empfahl er die Einrichtung
                                                                                                                                                                             Künstlern oder Witwen geführt wur-            von Spezialkrankenhäusern.
                                                                                                                                                                             den. Ein bekannter Bewohner eines                 In der zweiten Hälfte des 19.
                                                                                                                                                                             solchen Heimes in Tübingen war der            Jahr­hunderts wurden dann zahlrei-
                                                                                                                                                                             Dichter Friedrich Hölderlin (1807–            che Einrichtungen gegründet, um
                                                                                                                                                                             1843). Und Heinrich Sengelmann                meist geistig behinderte Menschen
                                                                                                                                                                             schreibt über den Aufenthaltsort              aufzunehmen und zu pflegen. |
                                                                                                                                                                             von geistig Behinderten: »Wo                                         Inge Averdunk

1839                                                                                                                       1840                                  1841                            1842                                1843
                                                                                                                           Sengelmann beginnt sein Studium       Sengelmann setzt sein Studium   Veröffentlichung der Dissertation   Theologisches Examen Heinrich
                                                                                                                           der Orientalistik und der Theologie   in Halle mit dem Schwerpunkt    von Heinrich Sengelmann:            Sengelmanns in Hamburg
                                                                                                                           in Leipzig                            Theologie fort                  »Das Buch von den sieben
                                                                                                                                                                                                 weisen Meistern«
Betriebsaufnahme der ersten                                                                                                Gründung des ersten                   Besetzung Hongkongs durch       5.–8. Mai: der »Große Brand« in     Eröffnung des Thamestunnels
Deutschen Pferdeomnibuslinie                                                                                               Kindergartens durch Friedrich         Großbritannien                  Hamburg – 51 Menschen sterben,      in London
zwischen Hamburg und dem                                                                                                   Wilhelm August Fröbel in Bad                                          ca. zehn Prozent der Bevölkerung
dänisch-holsteinischen Altona                                                                                              Blankenburg                                                           wird obdachlos
150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
Links: Heinrich
                                                                                                                  Matthias
                                                                                                                  Sengelmann
                                                                                                                  im Kreis seiner
                                                                                                                  Mitarbeiter
                                                                                                                  Unten: Sengelmann
                                                                                                                  im Laufe der
                                                                                                                  Jahre …

/// Die Direktoren der Alsterdorfer Anstalten ///

Alles aus Liebe – der Gründer der Evangelischen
Stiftung Alsterdorf Heinrich Matthias Sengelmann

Heinrich Matthias Sengelmann (geboren am                 auf eigenen Wunsch aus seinem Amt als Pastor
25. Mai 1821 in Hamburg, gestorben am 3. Feb-            in St. Michaelis entlassen, um sich ganz dem
ruar 1899 in Hamburg) war Gründer und erster             Aufbau der Alsterdorfer Anstalten zu widmen.
Direktor der Alsterdorfer Anstalten, dem Vorläufer       Dabei leitete ihn sein christliches Menschenbild
der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Sengel-           – sowohl in Bezug auf das Personal, an das er
mann studierte ab 1840 in Leipzig und Halle              hohe Anforderungen stellte, als auch in Bezug
Theologie, Orientalistik und Anthropologie. Zu-          auf die Bewohnerinnen und Bewohner, für die
rück in Hamburg trat er 1846 seine erste Pfarrstel-      er ein behütetes Zuhause abseits der Großstadt
le in Hamburg-Moorfleet an. Bereits dort setzte          schaffen wollte. Dieses Zuhause sollte sowohl
er sich mit einer »Christlichen Arbeitsschule, dem       Bildung als auch medizinische Versorgung bieten
St. Nicolaistift, für sozial benachteiligte Kinder       – sowie Arbeitsmöglichkeiten. Denn Sengelmann
ein. Ab 1852 wurde Sengelmann zum Pastor in              betrachtete Arbeit als Teil eines guten Lebens, da
St. Michaelis berufen. Er war als Seelsorger oft im      sie der »Ausbildung der Sinne, der Kraft und des
Gängeviertel um St. Michaelis unterwegs, einem           Geschicks« dient. Und ihm war es auch wichtig,
Teil seines Gemeindegebietes, und entsetzt über          dass den Bewohnerinnen und Bewohnern eine
das Elend, das er dort vorfand – wie zum Beispiel        Auswahl an Arbeitsmöglichkeiten geboten wur-
die Lebensbedingungen von Carl Koops, einem              de. Sengelmann war selbst in den Genuss gekom-
Jungen mit geistiger Behinderung. Die Gänge-             men, in einer funktionierenden Familie aufzu-
viertel in Hamburg waren sehr enge, meist mit            wachsen – eine Erfahrung, die er in der Art, wie
kleinen Fachwerkhäusern bebaute Wohnquartie-             er die Alsterdorfer Anstalten aufbaut, weitergibt.
re, in denen mittlere und ärmere Bevölkerungs-           Liebe als Grundlage der Behindertenarbeit – um
schichten lebten.                                        diese Auffassung zu verbreiten, gründete er 1874
     Nachdem Sengelmann sich vergeblich um               die Interessenvertretung »Conferencen für die
eine Pflegefamilie für Carl Koops bemüht hatte,          Idioten-Heil-Pflege«, die sich mit allen Facetten
ließ er mit Spendengeldern ein Fachwerkhaus              der kirchlichen Anstaltsfürsorge für Menschen mit
in Alsterdorf bauen, das am 19. Oktober 1863             geistiger Behinderung beschäftigte, und brachte
von Carl Koops und drei weiteren Jugendlichen            so nicht nur die Praxis, sondern auch die Theorie
mit geistiger Behinderung sowie einem Hausva-            der Behindertenarbeit entscheidend voran. |
ter bezogen wurde. 1867 wurde Sengelmann                                                        Liisa Viitanen

 1844                         1845                              1846                          1847                              1848
                              Sengelmann gründet »Verein für                                  10. Juli: Sengelmann wird         Sengelmann wird Mitglied des im
                              entlassene Zöglinge der                                         Pastor in Moorfleet bei Hamburg   gleichen Jahr durch Johann Hinrich
                 Jahre

                              Sonntagsschulen in Hamburg«                                                                       Wichern gegründeten »Vereins für
                                                                                                                                Innere Mission« in Hamburg
                                                                                                                                Revolution in Frankreich.
                                                                                                                                Eröffnung der Deutschen
   Evangelische Stiftung                                                                                                        Nationalversammlung in der
   Alsterdorf                                                                                                                   Frankfurter Paulskirche
150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
thema
                         ier
       Foto: Axel Nordme                                                                                                                                              8_9

                                                                                                                     »    Seit 23 Jahren bin ich in der
                                                                                                                          Stiftung. Eine lange Zeit. Für
                                                                                                                     mich bedeutet die Arbeit hier
                                                                                                                     einen sicheren Job. Und ich kann
                                                                                                                     hier meinen gelernten Beruf
                                                                                                                     mit meinen christlichen Werten
                                                                                                                     verbinden, das findet man nur sehr
                                                                                                                      selten. Das habe ich gesucht und
                                                                                                                      hier gefunden. Übrigens fahre ich
                                                                                                                       regelmäßig auf dem Weg nach
                                                                                                                       Hause nach Moorfleth und pflege
                                                                                                                        das Grab von Sengelmann, ohne
                                                                                                                        den ich gar nicht hier wäre.«
                                                                                                                        Martin Dörk, Betriebsstättenleiter
                                                                                                                        alstergärtner, alsterarbeit

                                                                                    Links: Heinrich Matthias Sengelmann auf dem Höhepunkt seines
                                                                                    Schaffens
                                                                                    Oben: Das Pfarrhaus Moorfleth 1850, Sengelmann gründete hier
                                                                                    eine »Christliche Abendschule«
                                                                                    Unten: Kirche und Pastorat zu Moorfleth

1849                           1850                          1851                              1852                             1853
                               Pastor Heinrich Sengelmann                                                                       Sengelmann übernimmt Pfarrstelle
                               gründet in Moorfleet eine                                                                        an St. Michaelis. Umwandlung
                               »Christliche Arbeitsschule«                                                                      der »Christlichen Arbeitsschule« in
                                                                                                                                »St. Nicolai-Stift« – Sengelmann
                                                             Erste Weltausstellung in London   Veröffentlichung des Romans      wird Vorsitzender von dessen neu
                                                                                               »Onkel Toms Hütte« von           gegründetem Vorstand
                                                                                               Harriet Beecher-Stowe
150 Jahre Evangelische Stiftung Alsterdorf - Teil 1: Die ersten fünfzig Jahre in Alsterdorf
D
          as weitläufige Gelände in             denn zur Bildung und Wert-              kam: »Und o welch ein Triumph               tedankfest im Herbst statt. Von
          Alsterdorf vor den Toren              schätzung gehört für Sen-               war das für das Mädchen – und               Sengelmann selbst stammte die
          der Stadt Hamburg bot                 gelmann die Förderung der               ich, wie freute ich mich, daß ich           Idee, die einzelnen Produktions-
   die besten Voraussetzungen                   Arbeitsfähigkeit. Zum anderen           dem Mißtrauen, das sie in sich              gruppen, ausgestattet mit einer
   für die »koloniale« Struktur,                diene sie der Existenzsicherung.        selber setzte, nicht nachgege-              Standarte, vorzustellen. Diese
   die Sengelmann bevorzugte.                   In den Werkstätten herrschte            ben hatte.«                                 Auftritte sollten die Identifikati-
   Keimzelle waren das Nikolai-Stift            eine große Vielfalt an Betä-                Nicht wegzudenken aus                   on der Gruppen mit ihrer Arbeit
   für verwahrloste Kinder und das              tigungsmöglichkeiten, u.a.              dem Alltag in Alsterdorf ist                stärken und ihre Bedeutung
   Asyl für Carl Koops und seine                Mattenflechten, Bürstenbinden,          »Jenny« Sengelmann, die zweite              nach außen hin betonen.
   Schicksalsgenossen. Das kleine               Pantoffelmachen, Korbflechten,          Frau des Direktors. Sie unter-                  Die medizinische Versor-
   Fachwerkhaus existiert heute                 Holzschnitzereien, Laubsägen,           stützte ihn tatkräftig und war              gung wurde kontinuierlich
                                                                                        in allen Bereichen unterwegs,               ausgebaut. Zunächst kamen

Vom Fachwerk-Asyl zur
                                                                                        in Kleider- und Schuhlagern,                ab 1864 niedergelassene Ärzte
                                                                                        Wäscherei, Nähstube und                     regelmäßig in die Anstalt. Einige
                                                                                        Küche. Die musikalisch hoch-                Jahre später wurden Mediziner

kompletten Siedlung                                                                     begabte Frau sang im Chor mit
                                                                                        den Bewohnern. Nachgesagt
                                                                                        werden ihr Urwüchsigkeit,
                                                                                                                                    fest angestellt. Bewohner mit
                                                                                                                                    ansteckenden Krankheiten
                                                                                                                                    konnten in einer kleinen Kran-
Die Struktur der Alsterdorfer Anstalten                                                 emanzipiertes Auftreten und                 kenbaracke isoliert werden.
                                                                                        Wahrheitsliebe. Während der                     Einen großen Fortschritt
                                                                                        zahlreichen Reisen ihres Mannes             brachte 1897 die Eröffnung
   noch als »Haus Schönbrunn«.                  Korkarbeiten, Buchbinderei,             übernahm sie als »Frau Direktor«            des Hauses »Bethabara«. Hier,
   1867 möchte Sengelmann sich                  Schneiderei, Schuhmacherei,             seine Vertretung. Auch nach                 im »Haus für Kranke«, wurden
   ganz dem weiteren Ausbau                     Tischlerei, Schmiede und Maler-         seinem Tod nahm sie weiterhin               sowohl Bewohner als auch Mit-
   seiner Anstalt widmen und gibt               arbeiten.                               regen Anteil am Leben im »Asyl«             arbeiter und ihre Familien auf-
   sein Predigeramt in St. Michaelis                 Durch Arbeit sollten die           für behinderte Menschen.                    genommen und behandelt, es
   auf. Ein Gebäude nach dem an-                Menschen auch Selbstvertrauen               Obwohl Sengelmann forder-               war die Gründung des heutigen
   deren entsteht, bis sich mitten              gewinnen. Sengelmann war                te, dass die Anstalten überkon-             Evangelischen Krankenhauses
   im ländlichen Raum eine ganze                der Meinung, dass mit Anstren-          fessionell sein müssten (»Sie               Alsterdorf. 1911 ergänzte eine
   Siedlung entwickelt. Zu seinen               gung und Ausdauer manches               nehmen ihre Pfleglinge und                  weitere Krankenhausbaracke die
   Lebzeiten wurden 38 Haupt-                   Defizit ausgeglichen werden             Kostgänger auf ohne Unter-                  Räumlichkeiten.
   und Nebengebäude errichtet.                  könne. Sein Beispiel: »Ich hatte        schied der Religion und Staats-                 Das Krankenhaus war das
       In den verschiedenen Häu-                es einmal mit einem Mädchen             angehörigkeit«), war der überall            letzte große Werk Sengelmanns.
   sern lebten Kinder, Jugendliche              zu tun, der ich sagte: Hanna,           herrschende christliche Geist               Er starb 1899. Damals waren
   und Erwachsene unterschiedli-                zeig mir mal deine Nase!, dass          von großer Bedeutung. Um die                rund 600 Menschen in den
   cher Herkunft. Manche waren                  sie ängstlich zitternd erwider-         seelsorgerliche Betreuung küm-              Alsterdorfer Anstalten unterge-
   unterschiedlich stark behindert              te: Ich kann es nicht!« Wohl            merte Pastor Sengelmann sich                bracht, die von 140 Angestell-
   und augenscheinlich nicht lern-              zwanzigmal redete er ihr zu, bis        persönlich. Anfänglich wanderte             ten betreut wurden.
   fähig, andere geistig behindert,             endlich der Finger an die Nase          er sonntags und an Feierta-                     Es war die Zeit, in der wohl-
   aber arbeitsfähig, Epileptiker                                                       gen mit Bewohnerinnen und                   habende Hamburger Haushalte
   wurden ebenso aufgenommen                                                            Bewohnern zu den Gottesdiens-               elektrisches Licht und Telefon-
   wie lernbehinderte Kinder aus                                                        ten in der St. Johannis-Kirche in           anschlüsse bekamen. Große
   wohlhabenden Familien und                    Eingang Maschinenhaus zu                Eppendorf. 1867 waren diese                 Bauvorhaben beschäftigten die
   Kinder mit chronischen Erkran-               den großen Kesseln                      Ausflüge nicht mehr nötig, Als-             Bürger: Rathaus und Speicher-
   kungen.                                                                              terdorf erhielt eine Kapelle. Und           stadt wuchsen als mächtige
       Wo Zöglingen ein Familien­                                                       1889 erfüllte sich das große Ziel           Komplexe mitten in der Stadt in
   ersatz geboten werden sollte,                                                        von Sengelmann, eine eigene                 die Höhe.
   standen »Hausvater« bzw. Haus-                                                       große Kirche zu besitzen, die                   Der Nachfolger von Heinrich
   eltern an verantwortlicher Stelle.                                                   den geistigen Mittelpunkt der               Sengelmann, Paul Stritter, ver-
   Sie gaben Aufträge an »Wär-                                                          Anstalt bildet: Die Einweihung              folgte ebenfalls große Pläne. Er
   terinnen und Wärter«, meist                                                          von St. Nicolaus wurde gefeiert.            erweiterte die Einrichtung, ließ
   handwerklich fähige Frauen und                                                           In Alsterdorf gab es auch               große Wohnhäuser bauen mit
   Männer, die in Alsterdorf päda-                                                      sonst Anlässe zum Feiern: Jedes             Schlafsälen, die bis zu 100 Per-
   gogisch weitergebildet wurden.                                                       Jahr unterhielten zwei Volksfes-            sonen Platz boten. 1914, beim
       Die Bewohner der Anstalt                                                         te mit Umzügen und Darbietun-               Ausbruch des Ersten Weltkriegs,
   wurden in Küche, Wäscherei,                                                          gen Bewohner, Mitarbeiter und               lebten 1.000 Menschen in den
   Werkstätten, Gärtnerei und                                                           Gäste. Das sogenannte »Jahres-              Alsterdorfer Anstalten. |
   Landwirtschaft beschäftigt,                                                          fest« fand im Sommer, das Ern-                                  Inge Averdunk

    1854                                 1855                            1856                                  1857                                1858

    Aufstellung der ersten Litfaßsäule   Eröffnung der »Gemäldegalerie   Deklaration von Paris, in der         Schwere Handelskrise durch          Evangelischer Kirchentag in
    in Berlin                            Alte Meister« in Dresden des    Piraterie international als illegal   weltweite Wirtschaftskrise trifft   Hamburg
                                         Baumeisters Gottfried Sempers   geächtet wird                         auch Hamburg, Staatsanleihe bei
                                                                                                               Österreich verhindert Staatskrise
thema
        1 Alte Pforte zwischen                                                                                                                                                             10_11
          Schönbrunn und
          St. Nicolaus mit dem
          Pförtner Eduard Fischer
        2 Die Feuerwehr der
          Alsterdorfer Anstalten
        3 Kirche St. Nicolaus
        4 Kinderkrankenstation
          Fichtenhainbaracke
                                                      1                                                                        2
        5 Waschhaus und
          Küchengebäude

                                          3                                                                    4                   5

1859                               1860                                   1861                                     1862                            1863
Heinrich Sengelmann heiratet       Geburt der »Alsterdorfer Anstalten«:                                            Pastor Sengelmann ruft im       19. Oktober: Einweihung des »Asyls
Jane Elisabeth von Ahsen,          Verlegung des »Nicolai-Stifts« von                                              »Boten aus dem Alsterthal«      für schwach- und blöd­sinnige Kinder«
genannt »Jenny« (Tochter seines    Moorfleet auf das Gelände eines                                                 zur Gründung eines Asyls für    im »Haus Schön­brunn« – der Beginn
Amtskollegen an St. Michaelis)     Bauernhofes in Alsterdorf                                                       schwachsinnige Kinder auf       der Behindertenarbeit in Alsterdorf
Veröffentlichung von Charles                                              Gründung des Königreichs Italien.        Otto von Bismarck wird
Darwins »Über die Entstehung der                                          Zar Alexander II. hebt in Russland       preußischer Ministerpräsident
Arten«, dem grundlegenden Werk                                            die Leibeigenschaft auf. Beginn
der Evolutionsbiologie                                                    des Amerikanischen Bürgerkrieg
S
       engelmann ist einer der           auch positiv auf eine koope-               Die Einrichtung eines »Stadt-       »Conferenz für Idioten-Heil-
       wichtigsten Väter der             rative Zusammenarbeit der             missionars« sah Sengelmann kri-          Pflege« 1874, der er viele Jahre
       Inneren Mission.« So              beiden Einrichtungen auswirk-         tisch, weil sie weder dem Amt            als Präsident vorstand. Diese
beginnt das Geleitwort von               te. Sengelmann konnte sich            des Pastors zuzuordnen sei noch          »Wanderkonferenz« versammel-
Bischof Wölber zur Neuausgabe            zunächst grundsätzlich mit den        das »Priestertum aller Gläubi-           te damals alle Berufsgruppen
von Sengelmanns Hauptschrift             Zielen der »Inneren Mission«          gen« repräsentiere. Überhaupt            und Akteure der Behinderten-
»Idiotophilus«, 1975. Dieser Satz        identifizieren und wurde auf          sah er die Schaffung weiterer            arbeit über Konfessions- und
trifft zwar auf Wichern zu, aber         Wunsch Wicherns dort Mit-             hauptamtlicher Stellen sehr              Religionsgrenzen hinweg. Ihre
keineswegs auf Sengelmann.               glied. Das Verhältnis kühlte sich     kritisch, weil sie die Christen von      innovativen Einflüsse damals auf
Sein Verhältnis zur »Inneren             gegen Ende der 1850er-Jahre           ihrer Pflicht der Nächstenliebe          die Behindertenarbeit nicht nur
Mission« hat eine spannungsrei-          ab und wurde immer kritischer,        und des ehrenamtlichen Enga-             in Deutschland, sondern weit
che Entwicklung durchgemacht.            als Sengelmann sich um 1860           gements enthebe.                         darüber hinaus, sind bis heute
                                                                                    Obwohl selbst durch den             nicht angemessen gewürdigt
                                                                               Pietismus geprägt, wandte                worden, am allerwenigsten im

Sengelmann und                                                                 Sengelmann sich gegen eine
                                                                               geistliche Vereinnahmung von
                                                                               Menschen und gegen »Bekeh-
                                                                                                                        Raum der Kirche. Erst zu Beginn
                                                                                                                        des 20. Jahrhunderts setzte
                                                                                                                        auch hier eine Konfessionalisie-

die »Innere Mission«:                                                          rungsversuche« in der Verkün-
                                                                               digung der »Inneren Mission«.
                                                                                                                        rung ein.
                                                                                                                            Sengelmanns Bedeutung in

ein gespanntes
                                                                               Jeder Mensch müsse sich auch             seiner Zeit lässt sich so zusam-
                                                                               in Fragen des Glaubens frei              menfassen:
                                                                               entwickeln können. Hier äußert               Er hat in seiner Einrichtung

Verhältnis!                                                                    sich die freie und tolerante
                                                                               Haltung Sengelmanns, wie sie
                                                                               z.B. auch in dem offenen Dialog
                                                                                                                        ein ganzheitliches Konzept der
                                                                                                                        Betreuung von Menschen mit
                                                                                                                        Behinderung entwickelt und
Hauptkritik galt Ausblendung                                                   mit dem jüdischen Zeitgenossen           umgesetzt: Dazu gehörten ärzt-
                                                                               Anton Ree, dem Direktor der              liche und pflegerische Betreu-
der Behindertenarbeit                                                          »Israelitischen Freischule«, zum         ung ebenso wie die Entwicklung
                                                                               Ausdruck kommt.                          eines Gemeinschaftsgeistes
                                                                                    Sengelmanns Hauptkritik             durch Feste, religiöse Erziehung,
    Diese ist zunächst durch             in mehreren Schriften mit den         galt dem inhaltlichen Defizit der        geistliches Leben, aber auch
das Verhältnis zu Wichern, dem           innerkirchlichen Missständen          »Inneren Mission«, Menschen              Freizeitgestaltung, schulische
Gründer der »Inneren Missi-              in Hamburg auseinandersetz-           mit Behinderung als Zielgruppe           und berufliche Bildung sowie
on«, beeinflusst. Beide sind             te. Auf völliges Unverständnis        ihrer Arbeit völlig auszublenden.        Arbeit, je nach dem Vermögen
wesentlich geprägt worden                stieß bei Wichern die Tatsache,       Weder in den programmati-                des Einzelnen.
durch ihre Tätigkeit als Lehrer          dass Sengelmann sich ab 1863          schen Gründungsdokumenten                    Viele Einrichtungen für
in der Sonntagsschule von                Menschen mit Behinderung              1848 noch in der Verbandszeit-           Menschen mit Behinderung
Pastor Rautenberg in St. Georg           annahm.                               schrift »Fliegende Blätter« war          in Deutschland, aber auch im
in der Betreuung von Kindern                 Sengelmanns Kritik an der         die Behindertenarbeit erwähnt.           Ausland bis hin zum norwegi-
aus sozial schwachen Familien.           »Inneren Mission« war theolo-         Dieses änderte sich erst gegen           schen Königshaus, verdanken
Diese Erfahrungen hatten für             gischer und organisatorischer         Ende des 19. Jahrhunderts. Im            ihre Entstehung und Gestaltung
beide nachhaltige Wirkungen,             Art und ist unterschiedlich zu        Übrigen: Das »Rauhe Haus« hat            dem Rat und der Erfahrung
für Wichern in der Gründung              gewichten:                            erstmalig 1978 eine Gruppe von           Sengelmanns.
des »Rauhen Hauses« für ver-                 Anfangs bestanden sie im          sechs stark verhaltensauffälligen            Seine Wertschätzung
wahrloste Kinder, für Sengel-            Vorwurf der mangelnden Unter-         und gehörlosen Kindern aufge-            gegenüber Menschen mit
mann in seiner Zeit als Pastor           stützung der Gemeindearbeit in        nommen.                                  Behinderung entsprang seinem
in Moorfleth in der Gründung             Moorfleth und in den anderen               Sengelmann wandte sich              christlich-humanistischen Men-
einer Stiftung für Arbeiterkinder,       Landgemeinden.                        gegen eine Konfessionalisie-             schenbild und kann noch heute
deren Eltern sich tagsüber nicht             Dann warf er der »Inneren         rung und Klerikalisierung des            Leitbild für die Behindertenar-
um sie kümmern konnten.                  Mission« vor, für jede Problem-       diakonischen Handelns, wie er            beit sein: »Wir haben es nicht
    Zunächst bestand ein                 gruppe der Gesellschaft einen         es in der »Inneren Mission« zu           mit ›Fällen‹ zu thun, sondern mit
freundschaftliches, väterliches          neuen Verein zu gründen mit           beobachten glaubte. Dies kam             Mitmenschen, in denen auch
Verhältnis zwischen Sengel-              der Folge der Zersplitterung. Es      am deutlichsten zum Ausdruck             eine unsterbliche Seele wohnt,
mann und dem um dreizehn                 mangele an einer Bündelung            in seiner Gründung der reichs-           wenn auch eine verhüllte.« |
Jahre älteren Wichern, das sich          der Kräfte.                           weiten, überkonfessionellen (!)                        Dr. Bodo Schümann

 1864                             1865                            1866                              1867                              1868
                                  Die Gartenbauschule wird                                          Gründung der Bugenhagen-Schule. Sengelmann
                                  gegründet                                                         legt sein Amt als Pastor an St. Michaelis
                                                                                                                                                                 Jahre

                                                                                                    nieder, um sich als Direktor und Pastor ganz
                                                                                                    den »Alsterdorfer Anstalten« zu widmen
 Krieg Preußens und Österreichs                                   Krieg zwischen Preußen und        Beitritt Hamburgs zum
 gegen Dänemark um Schleswig-                                     Österreich um die Vorherrschaft   »Norddeutschen Bund«
 Holstein mit Auswirkungen auch                                   in Deutschland, aus dem Preußen                                                  Evangelische Stiftung
 für Hamburg                                                      siegreich hervorgeht                                                             Alsterdorf
thema
                                                                                                                                                                  12_13

                                                                                                       Großes Bild:
                                                                                              Turnunterricht in den
                                                                                             Alsterdorfer Anstalten

                                                                                              Kleine Abbildungen:
                                                                                           Alltagsszenen aus den
                                                                                           damaligen Alsterdorfer
                                                                                                        Anstalten

                                                                                                  Hamburg
                                            Liebe Elisabeth!
                                            Stell Dir vor, bei uns in Hamburg,
                                            draußen auf dem Feld in der
                                            Nähe der Alster, gibt es jetzt
                                            eine komische Ansiedlung.
          Clara lebt in Hamburg,
          Elisabeth in München.
                                            Dort werden Idioten aufgenom-
          Die beiden Freundinnen            men und betreut. Wie ich höre,                            München
          schreiben sich regelmäßig.        leben sie in Häusern, und dort    Meine liebe Clara!
          Und dabei geht es auch            wie in Familien.
          ab und zu um Alsterdorf.
                                            Meine Mutter erzählte mir         Ich höre allenthalben von solchen
          Alles rein fiktiv, versteht
          sich …                            noch vom Zuchthaus, in dem         neumodischen Anstalten.
                                            die Schwachsinnigen mit           Aber es ist sicher gut, wenn sich
                                            Bändern gefesselt wurden,          jemand um diese armen
                                            damit sie niemanden angriffen.
                                            Ob das wohl gut geht?             Menschen kümmert.

                                            Es grüßt Dich herzlichst:                                           Herzlichst umarmt Dich:
                                            Deine Clara                                                         Deine Elisabeth
1869                           1870                               1871                                1872                           1873
Einweihung des »Pensionats     Eröffnung der »Präparanden-        Einweihung eines Kinderheimes
für schwachbefähigte Kinder    Anstalt« zur Ausbildung            für geistig gesunde, aber
höherer Stände«                von Lehrern und »Wärtern«          körperlich behinderte Kinder
                               (Heilerzieher)
Der Suezkanal wird eröffnet    Deutsch-Französischer Krieg, der   Deutsches Kaiserreich mit           Gründung des Yellowstone-      Ausgrabung des Schatzes
                               mit der Niederlage Frankreichs     Wilhelm I. von Preußen als Kaiser   Nationalparks in den USA als   des Priamos in Troja durch
                               endet                              gegründet                           erster Nationalpark der Welt   Heinrich Schliemann
                               Bau des Eiffelturms
Im modernen Wirtschaftsgebäude wurde die Speiseversorgung
für die damaligen Alsterdorfer Anstalten sichergestellt

Der Speiseplan
»Naturgemäße, leicht verdauliche, nahrhafte und wohlschmeckende
Kost« sollte nach den Anweisungen Sengelmanns auf dem Speise-
plan stehen. Außerdem: »Trotz des Umstandes, dass der Geschmack
bei vielen ›Idioten‹ wenig ausgebildet ist, ist ein Haupterforderniß,
dass nur wohlschmeckende Speise auf den Tisch komme.«
Ganz praktisch sah das in Alsterdorf so aus: Am Morgen gab es Grütze
mit Milch oder Kaffee mit Weißbrot. Mittags stand fast immer Suppe auf
dem Tisch, sei es aus Erbsen, Linsen oder Bohnen, mal mit Fleisch und
Kartoffeln, mal mit Wurst, mal mit Klößen und Speck. Zur Abwechslung
lieferte die Küche Hering mit Kartoffeln, süßen Reis mit Pflaumen oder
Fruchtsuppe mit Klößen. Für die schwächeren Bewohner wurden Frikadel-
len, Arme Ritter oder Pfannkuchen zur Suppe gereicht. Das Abendessen
war eintönig: Tee, Kaffee, Brot und Suppe (aus Milch, Brot, Grieß, Reis
oder als süße Variante).

                                                                                                              München
                                                          Hamburg              Meine liebe Clara,
    Liebe Elisabeth!
                                                                            wir können ja froh sein, dass unsere
    Unsere Anstalten vergrößern
    sich immer mehr. Der Pastor
                                                                            Familien vor solchen Schicksalen
    Sengelmann, der ja früher in                                            verschont bleiben. In England
    St. Michaelis predigte, hat ganz                                        soll es übrigens Wohltäter geben,
    eigene Vorstellungen: Die dort
    aufgenommen werden, sollen sogar                                        die ganze Schlösser für arme
    arbeiten! In der Gärtnerei, auf dem                                     Menschen herrichten, um sie
    Feld, in eigenen Handwerksbetrieben!
    Ob sie das überhaupt fertigbringen?                                     vor einem elenden Leben in den
                                                                            Gassen zu bewahren.
    Das fragt und grüßt:
    Deine Clara                                                                Liebe Grüße:
                                                                               Elisabeth
 1874                              1875                           1876                     1877                                 1878
 Gründung der Konferenz            Sengelmann wird Mitglied der                            »Briefe und Bilder aus Alsterdorf«
 der Heilerziehungs- und           Hamburgischen Bürgerschaft                              als Mitteilungsorgan der
 Pflegeanstalten; Sengelmann ist                                                           damaligen Alsterdorfer
 Präsident.                                                                                Anstalten erscheint
 Gründung des Museums für Kunst    Gründung der                   Mark statt Gulden        Gründung der Schiffswerft            Bismarck erlässt das
 und Gewerbe in Hamburg            Sozialdemokratischen                                    Blohm & Voss in Hamburg              »Sozialistengesetz«
                                   Arbeiterpartei
thema
                                                                                                                                                             14_15

                                                                                            Jenny Sengelmann, zweite Frau des Anstaltsgründers,
                                                                                            wirkte tatkräftig am Ausbau Alsterdorfs mit

                                                                                            Die gute Seele von Alsterdorf –
                                                                                            Jenny Sengelmann
                                                                                            Mit noch nicht einmal zwei Jahren soll sie schon fehler-
                                                                                            los »Kommt ein Vogel geflogen« gesungen haben: Jane
                                                                                            Elisabeth von Ahsen (geboren am 17. Juni 1831 in Ham-
                                                                                            burg, gestorben am 26. September 1913 in Laboe) war
                                                                                            die Tochter des Pastors von St. Michaelis Jacob Heinrich
                                                                                            von Ahsen. Sie selbst nannte sich Jenny, war hochmusi-
                                                                                            kalisch, sehr gesellig und sozial engagiert: Oft begleitete
                                                                                            sie den Stadtmissionar bei seinen Gängen durch die Stadt.
                                                                                            Als sie Heinrich Matthias Sengelmann heiratete, mit ihm
                                                                                            nach Alsterdorf ging und sich immer stärker in den Alster-
                                                                                            dorfer Anstalten einbrachte, traten Geselligkeit und Musik
                                                                                            in ihrem Leben in den Hintergrund. Es lag ihr, Menschen
                                                                                            mit geistiger Behinderung anzuleiten und zu beschäfti-
                                                                                            gen. Außerdem hatte sie in den Kleider- und Schuhlagern,
                                                                                            der Wäscherei, den Nähstuben und der Küche alles im
                                                                                            Blick. Ihr entschiedenes Auftreten und ihre spitze Zunge
                                                                                            machten ihr nicht nur Freunde. Hinter dieser bisweilen
                                                                                            rauen Schale verbarg sich aber eine Warmherzigkeit, mit
                                                                                            der sie gerade den Schwachen begegnete – den Bewoh-
                                                                                            nerinnen und Bewohnern genauso wie einem alko-
                                                                                            holkranken Schneider, um den sie sich rührend kümmerte.
                                                                                            Als ihr Mann noch lebte, hatte sie oft ihm gegenüber
                                                                                            ausgerufen: »Mich halten nach deinem Tode keine zehn
                                                                                            Pferde mehr in Alsterdorf!« Aber als sie dann nach seinem
                                                                                            Tod in Alsterdorf nichts mehr zu sagen hatte, war das
                                                                                            doch schwer für sie. Die Tatsache, dass sie ihren Alterssitz
                                                                                            in der Nähe der Anstalten hatte und daher oft Besuch von
                                                                                            Bewohnern und älteren Angestellten bekam, versöhnte
                                                                                            sie jedoch mit ihrer neuen Rolle. So hatte sie schließlich
                                                                                            wieder mehr Zeit für gesellige Runden mit Freunden und
                                                                                            Bekannten und nicht zuletzt für die Musik. Ihr letztes
       Oberes Bild: Eine Mädchengruppe unter der Aufsicht von                               Lebensjahr widmete Jenny Sengelmann geistlichen Texten
       Schwestern beim Spiel. Insbesondere die Alsterdorfer                                 und Liedern. So ließ sie sich einen Tag vor ihrem Tod am
       Schwesternschaft Euodia und die Jünglingsschaft Concordia                            26. September 1913 von ihrer Hausgenossin dieses Lied
       spielten über viele Jahrzehnte eine wichtige Rolle in der Stiftung                   vorlesen: »Frisch und getrost reis’ ich nun fort in Gottes
       Unten: Jungen spielen mit Bauklötzchen in der                                        Namen; Gott ist mein Licht, mein Weg und Pfort’ …« |
       Kinderkrankenstation Fichtenhain                                                                                                    Liisa Viitanen

1879                         1880                         1881                               1882                          1883
                                                                                                                           Tagung der Konferenz der
                                                                                                                           Heilerziehungs-, Heil- und
                                             Jahre

                                                                                                                           Pflegeanstalten in Hamburg

Gründung des weltweit                                     Installation eines öffentlichen    Robert Koch entdeckt die      Robert Koch entdeckt den
ersten Instituts für                                      Telefonnetzes in Hamburg           Tuberkulosebakterien          Choleraerreger. Einführung der
Psychologie in Leipzig         Evangelische Stiftung      (206 Teilnehmer)                                                 gesetzlichen Rentenversicherung
                               Alsterdorf                                                                                  in Deutschland.
V
          ielleicht hätte es die                 mit dem sie sich von anderen             ihn namentlich zur Ausbildung            Wert. Er verlangte: »Völlige
          Alsterdorfer Anstalten                 Heimen unterschieden. Weil               des Sprachvermögens behülflich           Hingabe an den Beruf, Um-
          nie gegeben, wenn nicht                Sengelmann von einer grund-              sein«. Weiter standen Formen-            sicht, Ausdauer und Geduld
   Heinrich Sengelmann als Pastor                sätzlichen Bildungsfähigkeit             Unterricht (Zeichnen), Sprach-,          sind neben den gewöhnlichen
   von St. Michaelis häufig das                  auch behinderter Menschen                Lese- und Schreibunterricht,             die besonderen Erfordernisse
   Gängeviertel besucht hätte. In                ausging, gab es ein breites              Rechnen, Singstunden und Tur-            derer, welche ›Idioten‹ unter-
                                                                                          nen auf dem Stundenplan.                 richten und erziehen.« Deshalb
                                                                                              Aber auch die Erholung               rief er selbst in Alsterdorf eine

Bildung für alle Kinder
                                                                                          spielte eine wichtige Rolle,             »Präparanden-Anstalt« – die
                                                                                          »… um zum Unterricht und                 untere Stufe der Volksschul-
                                                                                          zur Arbeit neue Lust und neue            lehrerausbildung – ins Leben,
                                                                                          Kräfte zu empfangen«. Spiel-             um Lehrkräfte für den Umgang
Hohe Anforderungen an das Personal                                                        stunden unter Anleitung, Frei-           mit Menschen mit geistiger
                                                                                          zeit und frische Luft brachten           Behinderung auszubilden. Weib-
                                                                                          den Ausgleich zum Stillsitzen.           lichen Pädagogen allerdings
   den ärmlichen Gassen traf er                  Unterrichtsangebot von Religion          Sengelmann empfahl, die Schul-           traute er lediglich den Einsatz
   mehrfach einen geistig behin-                 über Kulturtechniken bis zur             stunden durch 5 bis 10 Minuten           in Vorschule, Kindergarten und
   derten Jungen, Carl Koops.                    musischen Erziehung und kör-             Pause im Freien zu trennen. Und          Mädchen-Elementarklassen zu:
   In dieser Umgebung, das war                   perlichen Ertüchtigung. Einen            im Sommer wurde in Alsterdorf            »Bei den größeren Knaben wird
   Sengelmann klar, hatte das Kind               hohen Stellenwert hatte der              kein Nachmittagsunterricht               schon die Disciplin eine männ-
   keine Chance, sich zu entwi-                  Religionsunterricht: »Ausgangs-          erteilt (außer in der Vorschule,         liche Kraft erheischen und eher
   ckeln. Er suchte eine Pflege-                 und Angelpunkt des Unterrichts           wo er möglichst im Freien ab-            bei Lehrern als bei Lehrerinnen
   familie, vergeblich. Deshalb                  zugleich ist der Religionsun-            gehalten wurde). Gemeinsame              die richtige Beherrschung des
   entschloss er sich zur Selbsthilfe            terricht, bei dem nicht blos             Spaziergänge und Wanderun-               Lehrstoffs zu erwarten sein.«
   und startete einen Spenden-                   die Ausbildung der Intelligenz,          gen führten in die Natur.                      Personal aus »Brüder-An-
   aufruf zur Gründung eines                     sondern vor allen Dingen Ein-                Auf die Qualität des Perso-          stalten«, also z.B. aus Wicherns
   Asyls. Vermögende Hamburger                   wirkung auf Gemüth und Willen            nals legte Sengelmann großen             »Rauhem Haus« wollte er nicht
   unterstützten ihn, sodass er ein              zu erstreben ist.«                                                                übernehmen, weil es seiner
   Gelände in Alsterdorf, damals                      Der »Anschauungs-                                                            Meinung nach zu wenig qua-
   vor den Toren der Stadt, er-                  Unterricht« befasste sich mit                                                     lifiziert sei. Ähnliches galt für
   werben konnte: Hier zogen am                  »Gegenständen in natura (Obst,                                                    Diakonissen. Als »Wärterinnen«
   19. Oktober 1863 vier geistig                 Nahrungsmittel, Getreide) oder           Tagesablauf                              hätten sie zu geringe Kennt-
   behinderte Jungen mit einem                   Abbildungen (Tiere, Geräte):                                                      nisse.
   Hausvater ein, unter ihnen Carl               Er »soll ... die Aufmerksamkeit          05.00   Aufstehen                              1895 kam der Heilpädagoge
   Koops.                                        erregen, sein Auge üben, seine                   (Winter 05.30 Uhr)               Johannes Paul Gerhard nach
       Der Ausgangspunkt – Bil-                  Beobachtungsgabe schärfen,               07.00 »Morgenbrod«,                      Alsterdorf. Er baute die Schule
   dung und Erziehung auch für                   sein Urtheil wecken, seinen Vor-                 Morgenandacht                    zu einer Musteranstalt aus, die
   geistig behinderte Menschen –                 stellungskreis erweitern, seiner         07.30 – Unterricht, Arbeit               sich zu den heutigen Bugenha-
   blieb ein wesentliches Merkmal                Phantasie und seinem Nachah-             09.00                                    gen-Schulen entwickelte. |
   der Alsterdorfer Anstalten,                   mungstrieb Nahrung geben und             09.00 Frühstück                                                Inge Averdunk
                                                                                          09.30 – Unterricht, Arbeit
                                                                                          12.00
                                                                                          12.00 Mittagessen
                                                                                          12.30 – Spiel
                                                                                          13.30
                                                                                          13.30 Arbeit
                                                                                                  (Winter: Unterricht)
       Mädchen und
                                                                                          16.00 Vesper, Spiel
   Jungen zusammen
                                                                                          16.30 – Arbeit (Winter:
      in einer Klasse:
                                                                                          18.30 Fortbildungsschule)
       Schulkinder im
          anschaulich                                                                     19.00 Abendessen,
                                                                                                  Abendandacht
         aufgebauten
       Unterricht der                                                                     19.30 – Spiel, Selbstbeschäfti-
       Anstaltsschule                                                                     20.30 gung, Schlafengehen

    1884                                  1885                               1886                               1887                           1888
    Vereinsgründung von »Concordia«       Herausgabe von Sengelmanns         Grundsteinlegung für Pfarrhaus
    und »Euodia«, für männliche bzw.      Hauptwerk »Idiotophilus –          und Direktionsgebäude sowie
    weibliche Beschäftigte der Anstalt,   Systematisches Lehrbuch der        Einweihung des Hauses »Hoher
    für Freizeit und Fortbildung          Idioten-Heilpflege«                Wimpel« mit großem Speisesaal
    Einführung der Unfallversicherung     Gründung des ersten Blaukreuz-     Erstes Auto von Benz und Daimler   Gründung des HSV               Wilhelm II. wird deutscher Kaiser
                                          vereins in Deutschland durch
                                          Arnold Bovet in Hagen, Westfalen
thema
                                                                                                                                                                  16_17

        Oben: Schülerinnen und Schüler während des                     Schulkinder mit Lehrerin bauen eine Pyramide
        Unterrichts. Unten: Das damalige Schulgebäude (heute
        Krankenhaus an der Dorothea-Kasten-Straße)

                                                                                                                                        München
                                                                                    Liebe Clara,
                                                           Hamburg             bei Euch in Hamburg passiert ja so viel. Ich habe
             Liebe Elisabeth,                                                  gehört, dass dieses berüchtigte »Gängeviertel«, das ja
             Du hast ja so recht. Hier in                                      eine wahre Brutstätte von Seuchen, Kriminalität
             Alsterdorf ist es zwar kein Schloss,                              und Sittenverderbnis ist, vielleicht abgerissen werden
             aber die Siedlung wächst, und es
             kümmern sich qualifizierte Kräfte                                 soll. Und Euer Senat hat die Schulpf licht
             um die Zöglinge. Sie werden sogar                                 eingeführt. Das kann doch nur gut sein für die armen
             unterrichtet! Die Frau des Direktors                              Leute. Ihr habt so eine schöne Stadt – ich
             singt im Chor mit ihnen.
             Und es gibt große Feste mit                                       glaube, ich muss Dich doch bald einmal besuchen.
             Umzügen, alle dürfen dabei sein.                                  Jetzt, wo Ihr mit den neuen Elbbrücken ans
             Eigentlich müsste ich mir das                                     Eisenbahnnetz nach Süden angeschlossen seid, wäre
             einmal anschauen.
                                                                               das doch eine schöne Reise für mich.
             Mit ganz herzlichen Grüßen
             aus der Hansestadt,                                                    Liebe Grüße von Deiner
             Deine Clara                                                            Elisabeth
1889                                1890                     1891                           1892                               1893
Beendigung der Ausbildung von                                                               Alsterdorf bleibt von den Folgen
Präparanden                                                                                 der großen Choleraepidemie
                                                                            Jahre

Einweihung der St. Nicolauskirche                                                           weitgehend verschont

Gründung der »Zweiten               Entlassung Bismarcks                                    Schwerste Choleraepidemie          Einführung des uneingeschränkten
Internationale« in Paris                                                                    in Hamburg: 8.605 Tote,            Frauenwahlrechts in Neuseeland,
Erste Maifeier                                                Evangelische Stiftung         16.956 Erkrankungen                dem ersten Staat, der Frauen
                                                              Alsterdorf                                                       dieses Bürgerrecht einräumt
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