Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
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Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben Landesarchiv Festjahr Jahresbericht Quellenbeilage Baden-Württemberg 1700 Jahre jüdisches Rückblick auf das Drei Väter, drei Leben in Deutschland Jahr 2020 Mütter, fünf Namen
Archivnachrichten 62 / 2021 3 Editorial Editorial 2021 feiern wir 1700 Jahre jüdisches Leben sich jüdisches Leben wieder neu in Deutsch- in Deutschland, denn solange leben Jüdinnen land entwickeln und ist leider auch heute noch und Juden nachweislich auf dem Gebiet des immer durch Antisemitismus und Gewalt heutigen Deutschlands. Mit zahlreichen Ver- bedroht. In diesen Archivnachrichten zeigen wir anstaltungen wird dieses Jubiläum bundesweit einen kleinen Ausschnitt des jüdischen Lebens gewürdigt, um Perspektiven auf die jüdische im deutschen Südwesten, wie er sich in den Geschichte, aber auch auf die Zukunft sicht- reichhaltigen Quellen finden lässt. bar zu machen: 1.700 Jahre jüdisches Leben in In der Quellenbeilage für den Unterricht Deutschland […]: eine Geschichte mit Zukunft wird passend zum Thema über die Überlebens- – so fasste es Angela Merkel in ihrem Beitrag geschichte des Ehud Loeb berichtet, eines für die Wochenzeitung Jüdische Allgemeine badischen Jungen, der nur durch mehrere Iden- zusammen. Gerade wir als Archiv, als Gedächt- titätswechsel und viele Helfer die Shoah über- nis unserer Gesellschaft wollen hierzu einen lebte. Seine eigene Erzählung der Ereignisse Beitrag leisten und beleuchten das Thema in eröffnet insbesondere für jüngere Schülerinnen diesen Archivnachrichten unter ganz verschie- und Schüler einen individuellen Zugang zur denen Blickwinkeln. Geschichte des Genozids an den badischen Spätestens seit dem Mittelalter gibt es im Jüdinnen und Juden. deutschen Südwesten jüdische Gemeinden. Außerdem enthält diese Ausgabe der Archiv- Erste Spuren jüdischen Lebens lassen sich für nachrichten den Jahresbericht für das Jahr 2020, das 11./12. Jahrhundert finden, so liegen die das für das Landesarchiv – wie für uns alle – Anfänge der Gemeinde in Wertheim wahrschein- durch die Corona-Pandemie besonders heraus- lich schon in dieser Zeit. Im Reichssteuerver- fordernd gewesen ist. Wie immer finden Sie im zeichnis aus dem Jahr 1241 – also vor 780 Jahren Heft neben Berichten zu aktuellen Projekten – werden die jüdischen Gemeinden in Schwä- sowie neu erschlossenen, digitalisierten oder bisch-Hall, Esslingen, Ulm, Konstanz, Bopfingen restaurierten Beständen auch Hinweise zu Aus- und Überlingen erstmals schriftlich erwähnt. stellungen und Veranstaltungen des Landes- Jüdinnen und Juden lebten in den Dörfern und archivs, zu denen Sie herzlich eingeladen sind. Städten, davon zeugen heute noch vielerorts Durch die Corona-Pandemie ist noch nicht jüdische Friedhöfe, Synagogen oder Straßen- absehbar, ob alle Ausstellungen wie geplant namen wie »Judengasse«. In ihren Heimatorten stattfinden können. Bitte informieren Sie sich und Nachbarschaften, in Wissenschaft und auf unserer Website zur aktuellen Situation. Wirtschaft, in Vereinen und Parteien prägten Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre, jüdische Einwohner die Geschichte des Landes. vertiefende Einblicke in das jüdische Leben im Dennoch schloss die christliche Mehrheitsge- deutschen Südwesten und bleiben Sie gesund sellschaft sie immer wieder in vielen Bereichen von kultureller, sozialer und politischer Teilhabe Ihre aus. Jüdisches Leben in Deutschland war sicht- bar und gehörte dazu – allerdings stets in der Spannung zwischen Akzeptanz und Ausgrenzung. 1 Synagoge Emmendingen, Innenansicht, vor 1938. Antisemitismus und Verfolgung gipfelten Vorlage: LABW, HStAS EA schließlich in der Shoah, dem nationalsozialis ±Dr. Verena Schweizer 99/001 Bü 305 Nr. 394 tischen Völkermord. Nach 1945 musste Redaktion der Archivnachrichten
4 Archivnachrichten 62 / 2021 Inhalt Inhalt Thema: 22 Nur Einnahmequelle? 34 Haus des Lebens 1700 Jahre Zur Aufnahme von Juden in Wank heim 1774 durch den Freiherren Der jüdische Friedhof in Wertheim — Monika Schaupp Jüdisches Friedrich Daniel von Saint André Leben — Wilfried Setzler 36 Ortenauer Landjudentum Die Gedenk-, Lern- und 8 1700 Jahre jüdisches Leben 24 Bekehrer und Bekehrte Begegnungsstätte Ehemalige in Deutschland Hohenlohische Gelegenheits Synagoge Kippenheim Eine wechselvolle Beziehungs druckschriften zu jüdischen — Florian Hellberg, Jürgen Stude geschichte von einseitigem Kultur Konvertitinnen und Konvertiten transfer mit jüdischer Sinngebung — Jan Wiechert 38 Fleißige Händler – — Birgit Klein erfolgreiche Frauen 25 Vom Schutzjuden zum Jüdisches Leben zur Zeit 14 Steinerne Zeugen jüdischen Staatsbürger der Weimarer Republik in Baden Lebens und Leidens Jüdisches Leben im 19. Jahr — Linus Maletz, Simon Metz Kleindenkmale und Spolien hundert im Spiegel der historischen erinnern an die jüdische Grundbuchüberlieferung Bevölkerung an Main und Tauber — Michael Aumüller 40 »Der Pflug« (Hamachreschah) — Claudia Wieland Ein jüdischer Landwirtschafts verein zur Vorbereitung 26 Württembergische Rabbinate und auf eine Auswanderung nach 16 Kontrollierte Durchreise Synagogen im 19. Jahrhundert Palästina (Hachschara) Josel von Rosheim und der Die Überlieferung der Israelitischen — Jochen Rees Durchzug von Juden durch das Oberkirchenbehörde im Herzogtum Württemberg 1551 Staatsarchiv Ludwigsburg — Erwin Frauenknecht — Peter Müller 41 Gurs 1940 Internet-Datenbank zur Deportation der jüdischen 18 Maßnahme gegen 28 »Sittenlehre zur Erbauung Bevölkerung aus Baden, antijüdische Hetze und der Erwachsenen« der Pfalz und dem Saarland Verschwörungstheorien? Obrigkeitliche Vorgaben — Martin Stingl Die Absetzung des Adelberger Abts führen zum Umbau Lucas Osiander d. Ä. im Jahr 1598 der Haigerlocher Synagoge — Johannes Renz — Raphael Schmid 42 »Geistige Wiedergutmachung« als Ziel Das Hauptstaatsarchiv 20 Ein Justizskandal in 30 »In gnädigster Anerkennung Stuttgart dokumentierte Württemberg der Verdienste« von 1962 bis 1968 das Schicksal Der Fall des Joseph Süß Die Nobilitierung des jüdischen der jüdischen Bevölkerung in Oppenheimer im 18. Jahrhundert Bankiers Joseph Wolf Kaulla Baden, Württemberg und — Birgit Meyenberg — Nicole Bickhoff Hohenzollern während der Zeit des Nationalsozialismus 32 Das israelitische Frauenbad — Wolfgang Mährle in Friesenheim Hygienestandards – religiöse Vorschriften – finanzielle Mittel — Anja Schellinger
Archivnachrichten 62 / 2021 5 Inhalt Archiv aktuell Quellen griffbereit Archive geöffnet 44 Rückblick auf das Jahr 2020 56 Erbverbrüderung statt Mauerfall 63 200 Jahre Landesvermessung Jahresbericht des Landesarchivs Wiedervereinigung der Mark Ausstellung des Landesamts Baden-Württemberg grafschaften Baden-Baden und für Geoinformation und — Inka Friesen Baden-Durlach vor 250 Jahren Landentwicklung im Grundbuch — Gabriele Wüst zentralarchiv 2021 — Michael Aumüller 51 Neuer Leiter im Staatsarchiv Sigmaringen 57 Reichs-, Kreis- und Grafentage vom 16. bis 18. Jahrhundert 64 … aus der Trennung Franz-Josef Ziwes tritt die Nachfolge von Erschließung des Bestandes heraus! 200 Jahre Evangelische Volker Trugenberger an R-Rep. 72 im Staatsarchiv Landeskirche in Baden — Inka Friesen, Verena Schweizer Wertheim abgeschlossen Ausstellung im Generallandes — Anne Christina May archiv Karlsruhe — Udo Wennemuth, Wolfgang Zimmermann 52 Größte Extremismus-Sammlung 58 Vereinfachte Recherche nach Deutschlands 70.000 Internierten Land richtet Dokumentationsstelle (Rechts-)Extremismus im Registerbücher der Internierten lager unter deutscher Verwaltung Junges Archiv Generallandesarchiv Karlsruhe ein in der amerikanischen Zone — Wolfgang Zimmermann nach Einzelpersonen erschlossen 65 Digitale Grüße aus dem 21. Jahrhundert — Stephan Molitor 53 Transformation der Die Freiwilligendienstleistenden Wiedergutmachung des Staatsarchivs 59 Von der Kaserne zum Kindergarten Ludwigsburg auf Social Media Start eines Pilotprojekts zur Die Konversion militärischer — Yanic Dollhopf, Jonathan Machoczek Erschließung und Digitalisierung Objekte in der Überlieferung und Annika Richter mit Julia Schneider von Wiedergutmachungsakten der Bundesanstalt für — Peter Müller, Rebecca Schröder Immobilienaufgaben Freiburg — Juliane Walliser 54 Direkt und bequem Geschichte Online-Bestellung Original von Reproduktionen Kulturgut gesichert 66 Drei Väter, drei Mütter, — Thomas Fricke fünf Namen 60 Was kreucht und fleucht denn da? Die Überlebensgeschichte des 55 Wilhelm Weinberg und sein Restaurierung von zoologischen Ehud Loeb aus Bühl in Baden »Kataster der Geisteskranken« Lehrtafeln aus dem — Daniel Felder Universitätsarchiv Freiburg Neue Erkenntnisse zur Entstehung — Cornelia Bandow, Dieter Speck der »Winnentaler Patientenblätter« im Staatsarchiv Ludwigsburg — Christian Hofmann 62 back to the roots Wie die Akten des Finanzamts Hirsau über Freudenstadt, Bonn, Siegburg, Brühl und München letztendlich ins Staats archiv Sigmaringen kamen — Sabine Hennig
1700 Jahre Jüdisches Leben Cover: Außenansicht der Ehemaligen Jüdinnen und Juden wurden und werden Synagoge Kippenheim. Vorlage: Förderverein Ehemalige Synagoge mit Vorurteilen und Stereotypen belegt, dabei gehören sie seit Jahrhunderten zu unserer Kippenheim e. V. Hardheim, »Lehrer Emanuel Wertheimer u[nd] Frau«, vor 1926. Gesellschaft dazu. Sie bildeten Gemeinden und errichteten Synagogen, Mikwen sowie Fried Vorlage: LABW, HStAS EA 99/001 Bü 305, Nr. 691 Blick auf den jüdischen Fried hof Wertheim im April 2007. höfe. Sie lebten auf dem Land und in der Stadt und betätigten sich wirtschaftlich, lange Zeit Vorlage: LABW, StAWt S-N 70_451_7579/24A (01.04.2007) Aufnahme: Hans Wehnert, Wertheim nur in den für sie erlaubten Berufen. Sie rangen um Anerkennung und rechtliche Gleichstellung Fragment aus dem Wert heimer »Lilien-Machsor«, Anfang des Abendgebets für und wurden doch immer wieder verfolgt, den ersten Vorabend vor Pessach, beginnend mit der Qedushat ha-yom, 14. Jh. Vorlage: LABW, StAWt G-Rep. 108 Nr. 1 vertrieben und ermordet. Von der reichen jüdi Diese Seite: Jüdische Gemeinde Konstanz, schen Kultur und Geschichte und vom jüdischen Leben berichten die Autorinnen und Autoren Weihe des Betsaales, Juli 1966. Aufnahme: Stadt Konstanz, Heinz Finke Vorlage: LABW HStAS EA 99/001 Bü 305, Nr. 951 ebenso wie von Ausgrenzung und Verfolgung.
8 Archivnachrichten 62 / 2021 1700 Jahre jüdisches Leben 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland Eine wechselvolle Beziehungs geschichte von einseitigem Kulturtransfer mit jüdischer Sinngebung Das Jahr 2021 ist in Deutschland ein Festjahr: an in den Stadtrat berufen durften. Dieser In Deutschland wird in besonderer Weise Annahme folgend würde dieses allgemeine einem Reichsgesetz gedacht, das der römische Gesetz eine Anwesenheit von Juden in Kaiser Konstantin im Jahr 321 nach christlicher Köln vor 1700 Jahren belegen. Zeit, also vor 1700 Jahren, erließ: Zuweilen wird diese Annahme noch fortge- Durch ein allgemeines Gesetz gestehen wir sponnen, weil im Codex Theodosianus un- allen Stadträten zu, dass Juden in den Stadtrat mittelbar im Anschluss an dieses Reichsgesetz berufen werden. Damit aber ihnen etwas von die knappe Zusammenfassung einer weiteren der früheren Praxis zum Trost gelassen werde, konstantinischen Verordnung aus dem Jahr 330 dulden wir, dass zwei oder drei nach ewigem abgeschrieben ist: Als Reaktion auf Konstantins Privileg durch keine Berufungen belastet werden. Zugeständnis von 321 befreit sie wiederum Für alle in der Archivarbeit und -recherche die Juden reichsweit von einer Berufung in Aktiven ist es zwar bedauerlich, aber nicht einen Stadtrat, sofern sie bereits ein Amt inner- 1 Schülerinnen und Schüler verwunderlich, dass sich dieses allgemeine halb einer jüdischen Gemeinde als Priester, lesen die Textpassage im Dekret Kaiser Konstantins Gesetz nicht als zeitgenössischer Papyrus über- Synagogenvorstände (archisynagogi) und Väter von 321 n. u. Z., überliefert liefert in einem Archiv findet, sondern nur in der Synagoge, ausüben. Hieraus wurde und im Codex Theodosianus 16, seiner Abschrift in dem im fünften Jahrhundert wird zuweilen geschlossen, in Köln habe bereits 8.3, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Reg. Lat. 886, kompilierten Codex Theodosianus überliefert im Jahr 330 eine große jüdische Gemeinde mit fol. 435v. ist, der wiederum in einer Handschrift des unterschiedlichen Ämtern existiert. Letzterer Vorlage: LABW sechsten Jahrhunderts im Besitz der Biblioteca Rückschluss ist zurecht kritisiert worden, da der Apostolica Vaticana erhalten ist. Überlieferungszusammenhang im Codex Theo- Als allgemeines Gesetz, d. h. Reichsgesetz dosianus es nicht erlaubt, die Gemeindeämter war Konstantins Zugeständnis für das ganze in einer allgemeinen Reichverfügung von 330 Reich verbindlich. Ein besonderer Bezug zum auf eine jüdische Gemeinde in Köln zu beziehen. heutigen geografischen Raum Deutschlands Doch auch hinsichtlich des Reichsgesetzes könnte allein dadurch gegeben sein, dass dem von 321 sind die Meinungen in der Forschung Kompilator des Codex Theodosianus dieses geteilt, inwiefern die Kölner Adressaten in der Reichsgesetz in der Abschrift an den Stadtrat Abschrift des Reichsgesetzes im Codex Theo- von Colonia Agrippinensis, dem antiken Köln, dosianus zweifelsfrei die Existenz von Juden in vorlag und er in den Codex nicht nur seinen Köln belegen. Text, sondern auch die Adressaten übertrug. Nicht nur Michael Toch, emeritierter Dieser Eintrag der Adressaten wurde Professor für mittelalterliche Geschichte an der und wird häufig dahingehend interpretiert, Hebräischen Universität Jerusalem, bezweifelt dass Konstantin dieses Gesetz an die Kölner dies: Ist dies wirklich aus der Tatsache zu er- Dekurionen sandte in dem Wissen, dass Juden schließen, daß der Wortlaut des betreffenden ‚all- in Köln lebten, die die Dekurionen von nun gemeinen Gesetzes‘ Kaiser Konstantins d. Großen
Archivnachrichten 62 / 2021 9 1700 Jahre jüdisches Leben sich in einer Abschrift für die Dekurionen von Köln wenn nicht grundsätzlich, so doch zumindest erhalten hat? Auch Sebastian Ristow, Professor hinsichtlich seiner Gleichberechtigung. Daher am Archäologischen Institut der Universität wird das konstantinische Reichsgesetz von 321 zu Köln, sieht die sehr geringen Informationen des positiv als Zugeständnis im Sinne einer recht- Edikt als unbedeutender an als die Tatsache, dass lichen Gleichstellung von Juden interpretiert, es ohnehin in jeder größeren Stadt des römischen um diese auch für die Juden in Deutschland in Reichs eine jüdische Gemeinde gegeben haben späteren Zeiten einzufordern. dürfte und sich für Köln keine belastbaren, konkre- So berichtete Berthold Rosenthal in seiner ten und besonderen Informationen aus dem Heimatgeschichte der badischen Juden seit Edikt ableiten ließen. Da Colonia Agrippinensis ihrem geschichtlichen Aufbau bis zur Gegenwart sich bereits im ersten Jahrhundert zu einer (Bühl/ Baden 1927), auf einem Gedenkstein Stadt entwickelt hatte, wäre es folglich durch- der Kölner St. Gereonkirche sei eine Verordnung aus möglich, heute rund 2000 Jahre jüdisches des römischen Kaisers Konstantin vom 11. Dezem- Leben in Deutschland zu feiern. ber 321 eingemeißelt. Sie meldet, daß die Juden Dass aber aktuell dem konstantinischen von Köln den römischen Bürgern gleichgestellt Gesetz von 321 eine so große politische Bedeu- und in die Kurien der römischen Bürger berufen tung beigemessen wird, hat seinen Grund darin, werden sollen. dass jüdischem Leben in Deutschland immer Heute will auch das renommierte Leo Baeck wieder die Berechtigung abgesprochen wurde, Institute – New York | Berlin (LBI) mit seinem 2 Baum des Lebens in Siddur minhag Ashkenaz, 13./ 14. Jh. Vorlage: London, British Library, Ms. Add. 11639, fol. 122r
Archivnachrichten 62 / 2021 11 1700 Jahre jüdisches Leben 3 »Plan von der Residentz Projekt Shared History: 1700 Jahre jüdisches ein prächtiges steinernes Haus sowie in Frankfurt Stadt Mannheim«, hand kolorierte Reproduktion Leben im deutschsprachigen Raum anhand von mehrere Grundstücke. Dies alles war ihm nur eines Kupferstichs von J. A. 52 Objekten die Geschichte von zentraleuropäi- in seiner Eigenschaft als privilegierter Hoffaktor Bartels von 1758. Auf der schen Juden erzählen, beginnend mit dem Edikt von möglich. Er vermittelte Darlehen für seinen rechten Seite des Stadtplans ist das Landhaus mit Konstantin dem Großen aus dem Jahre 321, das Schutzherrn, den Kurfürsten von der Pfalz, sowie Garten und Orangerie des Juden erstmals Ämter in der städtischen Verwal- für die Höfe zu Erbach, Darmstadt und Wien. Moses Lemle Reinganum zu erkennen (siehe Markierung). tung in Köln zugestand. Hier wird gleichfalls das Aufgrund seiner Stellung war M. Fürsprecher Vorlage: Marchivum, Reichsgesetz als Zugeständnis zugunsten der der pfälz. Juden beim Kurfürsten. Zeitweise Kartensammlung, KS00749 Juden interpretiert, wohingegen es tatsächlich Vorsteher der jüd. Gemeinde zu Mannheim, das Gegenteil bedeutete: Es hob die bisherige unterstützte er Arme und Waisen sowie die jüd. Freistellung der Juden von städtischen Ämtern Gemeinden im Lande Israel. Seine bedeutendste auf und belastete sie dadurch mit den hieraus Leistung stellte 1708 die Errichtung eines resultierenden Bürden. Lehrhauses, einer sog. ‚Klaus‘, in Mannheim dar, Somit steht das konstantinische Reichsge- an der zehn Rabbiner unterrichten sollten. setz von 321 für eine Entwicklung, die Juden bis Das Stiftungsvermögen betrug 100 000 Gulden. zu ihrer Gleichstellung 1871 im deutschen Kai- In seinem Testament von 1722 erließ M. genaue serreich von gleichen Rechten ausschloss. Und Vorschriften über die Arbeit und das Verhalten auch nach 1871 blieben Juden de facto benach- der Rabbiner sowie der Studenten. Zwischen teiligt, so bei der Besetzung von Richterämtern Armen und Reichen sollte kein Unterschied ge- oder Professuren, bevor die nationalsozialis- macht werden. Stipendien sollten Kindern mittel- tische Gewaltherrschaft ihnen ab 1933 wieder loser Eltern ein Studium am Lehrhaus ermögli- zunächst die Bürgerrechte und dann auch die chen. Diese Stiftung hatte Vorbildwirkung für die Existenzberechtigung absprach. späteren Lehrhäuser in Worms und Mainz. Daher sollte die Erinnerung an das Gesetz Auch wenn sich der Lebensstil eines privi- von 321 im Sinne des englischen shared als legierten Hoffaktors häufig von dem anderer einer gemeinsam geteilten Geschichte die umge- Juden unterschied, so lässt der Hinweis auf das kehrte Funktion haben, nämlich dazu motivie- Landhaus mit Garten und Orangerie sowie ren, gerade auch jene Quellen zu erschließen, auf das Mustergut auf der Mühlau, einer Mann- die davon zeugen, wie vielfältig Jüdinnen und heim vorgelagerten Insel im Rhein, aufhor- Juden über die Jahrhunderte hinweg ihr Leben chen. Ein Blick in die Mannheimer Kaufproto- gestaltet und Teilhabe an der Mitgestaltung der kolle vermag den Garten mit Orangerie genau Gesellschaft eingefordert haben – allen Rest- zu verorten. 1711 verzeichnen sie den Verkauf riktionen und Verfolgungen zum Trotz. einer Behausung sampt hausplaz, garthen undt Bekanntermaßen dokumentieren Quellen allen zugehörungen im 59. f. quad. No. 1. et 2. ±Literaturhinweise in Archiven indes vor allem diese Restriktio- an Herrn Lemble Moyses und frommet dessen Berthold Rosenthal: Heimat nen und Verfolgungen. Gerichtsakten zeugen hausfraw. Das vermeintliche Landgut lag also geschichte der badischen Juden seit ihrem geschichtlichen häufiger von Konflikten als von einer fried- im heutigen Quadrat E 7 innerhalb der Stadt, Auftreten bis zur Gegenwart. lichen oder gar freundschaftlichen Koexistenz, und zwar in der Nähe der nördlichen ehemaligen Bühl/Baden 1927, S. 2. serielle Steuerlisten eher von einem jüdischen Befestigungsanlagen der Festung Friedrichs- Katja Kliemann und Sebastian Sonderstatus. Folglich sind Archivrecherchen burg, die nach ihrer Vereinigung mit der Stadt Risto: »Köln und das frühe erforderlich, die es ermöglichen, neue Quellen- ab 1710 der neuen städtischen Bebauung Judentum nördlich der Alpen. Kontinuität, Umbruch oder texte gegen den Strom zu lesen oder auch auf und im südlichen Bereich dem neuen Schloss Neubeginn?« In: Mitteilungen den ersten Blick monotone Quellengattungen wich. Folglich lag der neue Besitz in promi- der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittel zum Sprudeln zu bringen. nenter Lage, zumal in seiner Nähe bald das alters und der Neuzeit 31 (2018) Diese abstrakten Ausführungen lassen Rheintor gebaut wurde. Dies lässt zunächst S. 9–20, S. 13. sich am Beispiel des Mannheimer Moses Lemle vermuten, dass das neue Anwesen dem Hoffak- Michael Toch: »Dunkle Jahr Reinganum (1660/66–1724, abgekürzt M.) tor vor allem dazu dienen sollte, seinen hohen hunderte«. Gab es ein jüdisches veranschaulichen, dessen facettenreiche Status ähnlich zu den christlichen Mitgliedern Frühmittelalter? (Kleine Schriften des Arye Maimon- Persönlichkeit sich bereits in vielerlei Hinsicht der Hofgesellschaft zu demonstrieren. Orange- Instituts für Geschichte erkennen lässt, liest man nur in seinem Eintrag rien waren seinerzeit in der christlichen Elite der Juden 4). Trier 2001, S. 12. https://www.lbi.org/de/ in der Neuen Deutschen Biographie: beliebt, denn im Humanismus der Renaissance projects/shared-history/ 1712 erhielt M. in Mannheim die Konzession verwiesen sie auf den antiken Mythos vom (aufgerufen am 31.01.2021). zum Bau eines Landhauses mit Stallungen, Baum mit den Goldenen Äpfeln. Die Goldenen Uri Robert Kaufmann: Orangerie und Garten. Auf der Mannheimer Flur Äpfel hatten eine hohe symbolische Bedeutung, »Moses Reinganum, Lemle«. Mühlau richtete er ein Mustergut mit Gestüt denn sie wurden von den Hesperiden, den In: Neue Deutsche Biographie 18 (1997) S. 207. und eine Tapetenmanufaktur ein; dort ließ er die Nymphen des Abends, Sonnenuntergangs und https://www.deutsche- Geschichte des Stammvaters Jakob und seiner Westens (von Hesperis, der weiblichen Ver- biographie.de/pnd137575688. html#ndbcontent Söhne bildlich darstellen, was für einen deutschen körperung des Abendsterns Venus als Pendant (aufgerufen am 31.01.2021). Juden jener Zeit ungewöhnlich war. Außerdem zum männlichen Abendstern Hesperos), in besaß M. 1714 an der Breiten Straße in Mannheim einem Garten gehütet, sodass die Hesperiden
12 Archivnachrichten 62 / 2021 1700 Jahre jüdisches Leben 4 Kaufprotokolle 1724-1731: 7. der verstorbene Verkauffer denen herrn und fraw Kaufferen den genuß= undt gebrauch deß ahn dem hindteren ihme Verkauffern- und seinen Erben verbliebenen größeren stall anschlie ßenden kleinen garthens= undt orangerie hauses auff ihr lebens lang mündlich zugesagt, Sie herr und fraw Käuffere aber den genuß dieses kleinen garthens, wie auch dem Sommer hin, durch den gebrauch des orangerie hauses deß Verkaufferen Erben würcklich überlaßen haben, so verbindten Sie Erben sich hiemitt, undt krafft dieses daß Sie dagegen ermlts. Orangerie Hauß von Herbst biß auf daß frühe Jahr dem Herrn= undt fraw Kauf feren = wie auch deren Erben zu Hinsezung Ihrer oranien= undt Citeronen baum forth andteren garthen gewächß beständtig einraumen undt gebrauchen laßen wollen, alles ohne gefehrde undt arglist. Vorlage: Marchivum, Amts bücher, 2/1900_00063, S. 294 zu den Namenspatinnen der Zitrusfrüchte und Besitzes hinaus. Denn als 1723 der kurfürstlich der Orangeriekultur seit der Renaissance wurden. kurpfälzische Geheime Rat und Staatssekretär Wollte sich also M., bekannt für seinen ho- Jacob Dillmann von Halberg das Anwesen hen Grad der Akkulturation, mit seinem Garten von seiner Churfürstl. Dhlt. zu Pfaltz ober hoff- samt Orangerie als Anhänger dieser humanisti- undt Militz Factoren Herrn Lemble Moyses kaufte, schen Renaissancekultur präsentieren? Weitere zeugen bereits die von beiden Seiten verwende- Eintragungen in den Kaufprotokollen lassen ten Titel davon, dass der Verkauf auf Augen erkennen, dass Garten und Orangerie nicht nur höhe erfolgte. Denn M. behielt sich das Recht eine repräsentative Funktion, sondern auch vor, weiterhin den Garten für den Spaziergang eine hohe Bedeutung an sich für den Hoffaktor sowie die Orangerie nutzen zu dürfen, was 1728 hatten, selbst über die Zeit seines eigentlichen auch gegenüber seinen Erben bekräftigt wurde.
Archivnachrichten 62 / 2021 13 1700 Jahre jüdisches Leben 5 Popers, Meir / Mannheim, Nicht auszuschließen ist aber auch noch ein Lulaw am Laubhüttenfest ist. Eine der Schriften Nathan Neta/ Wolf, Benjamin, »Me‘orot Nathan« anderer oder weiterer Grund, der Garten preist M. als Gönner und Förderer der Klaus (»Me‘ore or ve-ja‘ir netiv«), und Orangerie für ihn so bedeutsam machte. mit einer blumigen Widmung: Er ging in seinen Frankfurt/ M. 5469/ 1708/09. Als Gründer des Mannheimer Lehrhauses, Garten herab und pflückte Lilien, die studieren; Vorlage: Gershom Scholem der Klaus, fühlte M. sich der jüdischen Tradi- ein Zitat aus dem Hohenlied der Liebe (6,2), Library, Israel National Library tion sehr verpflichtet. Die Untersuchung der das mit einer Deutung aus dem Babylonischen hebräischen Schriften, die in seinem Lehrhaus Talmud verflochten wurde. Der Garten des 6 Popers, Meir / Mannheim, studiert und verfasst wurden, zeigt, dass die Hohenlieds als Allegorie für den Gottesgarten Nathan Neta/ Wolf, Benjamin, »Me‘orot Nathan« Klaus in ihren ersten Jahrzehnten ein Zent- wurde in der kabbalistischen Lehre weiter aus- (»Me‘ore or ve-ja‘ir netiv«), rum des Studiums der Kabbala, der jüdischen geführt, in dieser Widmung aber auf M.s Garten Frankfurt/ M. 5469/ 1708/09 mit Widmung an Lemle Mystik, war. Zahlreiche dieser kabbalistischen in seiner realen Form und in seiner symboli- Moses Reinganum: »Er stieg Schriften widmen sich dem Garten Eden, schen Form, der Klaus, dem Lehrhaus, bezogen. in seinen Garten und der sich nicht nur paradiesisch transzendent Allem Anschein nach hatten M.s Garten und pflückte Lilien, die studieren« (Zitat aus dem Hohen Lied im Himmel befand, sondern auch sein Pendant Orangerie einerseits eine jüdische Bedeutung 6,2 und dem Babylonischen im irdischen Garten Eden fand. Die verbotene und können zudem als ein hervorragendes Bei- Talmud Schabbat 30 b). Frucht des Baumes der Erkenntnis wird hier spiel für eine Interaktion und einen kulturellen Vorlage: Gershom Scholem Library, auch als Ethrog gedeutet, jener Zitrusfrucht, Austausch mit der Umgebung dienen. M. teilte Israel National Library die seit der Antike Bestandteil des Feststraußes zeitgenössische kulturelle Praktiken, gab ihnen aber jüdische Inhalte, die sich nur Kennerinnen und Kenner der jüdischen Tradition und Reli- gionsgeschichte erschlossen und erschließen, eine so subtile Umdeutung, dass sie anscheinend nicht zu einem Symbolkonflikt führte. M.s Engagement in Landwirtschaft und Hor- tikultur hingegen widersprach zwar dem anti- jüdischen Stereotyp eines Juden, der angeblich unproduktiv sei und keinen Bezug zur Scholle habe. Doch führte umgekehrt die Bewirt- schaftung des Guts zu Konkurrenz und daraus resultierenden Konflikten, so der Vorwurf 1716, Jud Lemble Moyses habe am Fest von Mariä Geburt (dem 8. September) durch seine Leuth auff der Mühlaw daß hew, oder ohmet machen lassen. Als zwei Jahre später Pferde von Mannheimer Bürgern nahe bei der Mühlau weideten, ging M. scharf gegen die Verletzung seines Besitzes vor. Mit seinem jüdischen Hofmann habe M. die Pferde in seinen Hof und Stall getrieben, den sie ohne ihre schweiffen ganz geschändet undt beschädigter wieder verlassen hätten. Daraufhin klagten einige Bürger als Besitzer der Pferde gegen den nun zum Juden Lemble Moyses Degra- dierten, sodass Zeugen über M.s mögliche Beteiligung an diesem Vorfall Auskunft geben. Diese Beispiele zeugen stellvertretend von der langen und wechselvollen geteilten Ver- flechtungsgeschichte jüdischen Lebens in Deutschland, einer im deutschen Doppelsinn miteinander verbundenen wie auch getrennten Geschichte, in der Jüdinnen und Juden sehr viel häufiger die Interessen und Vorlieben ihrer Umwelt teilten als umgekehrt. Es bleibt zu hof- fen, dass in den kommenden 1700 Jahren diese Ungleichzeitigkeit zugunsten eines wirklich gleichberechtigen Verhältnisses auf Augenhöhe mit einem wechselseitigen wahren Interesse aneinander überwunden wird. ±Birgit E. Klein, Professorin an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und Rabbinerin
14 Archivnachrichten 62 / 2021 1700 Jahre jüdisches Leben Steinerne Zeugen jüdischen Lebens und Leidens Kleindenkmale und Spolien erinnern an die jüdische Bevölkerung an Main und Tauber In den beiden fränkischen Metropolen Würz- Territorialherren geleitet. Zeugnisse dieses burg und Rothenburg o. d. T. gab es bereits (Zusammen-)Lebens, das mit dem Holocaust im Hochmittelalter bedeutende jüdische Ge- ein grausames Ende fand, gibt es v. a. in meinden, deren Mitglieder wie z. B. Rabbi Meir archivischen Quellen. Der Kundige trifft jedoch ben Baruch in der ganzen Aschkenas bekannt auch vor Ort, in den Städten und Gemeinden, waren. Doch auch in den kleinen Landgemein- auf Spuren jüdischen Lebens und Leidens, auf den an Main und Tauber lebten Juden, wie der steinerne Zeugen einer vergangenen Zeit. älteste Hinweis auf Lieberman de Grunsvelt Ein Steindokument, das erst auf den zweiten von 1218 belegt. Phasen friedlicher Koexistenz Blick seine Bedeutung preisgibt, findet sich zwischen Juden und Christen wechselten mit in der Pfarrkirche in Uissigheim bei Külsheim Zeiten intensiver Verfolgung und Ausgrenzung. (Abb. 1). In der Innenwand ist ein Epitaph Nachfolgende Wiederansiedlungen waren eingemauert, welches einen gefesselten Ritter meist vom wirtschaftspolitischen Interesse der mit einer kleinen Figur zeigt, die diesem ein 1 2 1 Grabmal des Arnold von Uissigheim in der katholischen Pfarrkirche. Vorlage: LABW, StAWt S-V 10 Fotosammlung, 0013-04-346 2 Seiteneingang der Marien kapelle Wertheim mit Inschrift: »Anno d[omi]ni m°cccc°xlvii ist hie zubroche[n] und verstort worde[n] eine juden schule und angehaben[n] dise capelle […]«. Aufnahme: LABW, Claudia Wieland
Archivnachrichten 62 / 2021 15 1700 Jahre jüdisches Leben Direkt zur Dokumentation Schwert an den Hals hält. Was hat es damit Monika Schaupp in diesem Heft). Über seine der jüdischen Friedhöfe auf sich? Es handelt sich um das Grabmal des Entstehung sind wir gut unterrichtet, existiert inklusive Fotos Ritters Arnold von Uissigheim, der als König doch noch die Urkunde aus dem Jahr 1406 LABW, StAL EL 228 b I: www.landesarchiv-bw.de/ Armleder im Jahr 1336 ein Pogrom an Main über den Kauf des Areals durch die jüdische plink/?f=2-1873699 und Tauber anführte. Ausgehend von Röttingen Gemeinde. Die Dokumentation der Grabsteine überzog er viele fränkische Judengemeinden dieses und weiterer jüdischer Friedhöfe sowie mit Tod und Verfolgung. Im Gegensatz zu die dazugehörigen Fotos finden sich im früheren Initiatoren solcher Verfolgungen Staatsarchiv Ludwigsburg (LABW, StAL EL 228 endete er jedoch vor dem Würzburger Zentge- b I und LABW, StAL EL 228 b II). richt in Kitzingen und wurde mit dem Zentrum der jüdischen Gemeinde Wertheim LABW, StAL EL 228 b II: Schwert hingerichtet. war die damalige Synagoge in unmittelbarer www.landesarchiv-bw.de/ plink/?f=2-2940185 Die wirtschaftliche Bedeutung jüdischer Nähe zum Marktplatz. An ihrer Stelle erhebt sich Händler und Kaufleute für die Landbevölkerung jedoch seit 1447 eine Marienkapelle, über deren lässt sich an Architekturzeugnissen in der Seiteneingang eine Inschrift vom Schicksal des Regel nicht ablesen. Ein Vertreter, der als Hof- Gebäudes berichtet (Abb. 2). Von der letzten in faktor für die Grafen von Hohenlohe-Weikers- Wertheim errichteten Synagoge, 1798/99 gebaut heim tätig war, ist jedoch als steinernes Abbild und erst 1961 abgerissen, zeugt nur noch ein verewigt. Lämmle Seligmann wird zusammen beschrifteter Türsturz (Abb. 3). Dieser ist heute mit weiteren Bediensteten des Grafenhauses Bestandteil des Gedenkorts für die verfolgten in der karikaturenhaften Zwergengalerie und ermordeten Wertheimer Juden. der Gartenanlage von Schloss Weikersheim Die in Werbach-Wenkheim nach den Zerstö- dargestellt (Abb. 5). rungen im Nationalsozialismus als Gedenk- Trotz der teils abseitigen Lage ist ein und Veranstaltungsort durch einen Verein Friedhof der offensichtlichste Beleg für eine wiederhergerichtete Synagoge bewahrt dagegen ehemalige jüdische Gemeinde. In Wertheim die Erinnerung an das jüdische Leben und am Main liegt dieser, wie üblich mit einer Mauer fordert zur Auseinandersetzung mit Geschichte geschützt und abgegrenzt, am Ortsausgang und Gegenwart christlich-jüdischer Beziehun- Richtung Würzburg (siehe auch Beitrag von gen auf (Abb. 4). ±Claudia Wieland 3 4 5 3 Türsturz der letzten Wertheimer Synagoge mit hebräischer Stiftungsinschrift. Aufnahme: LABW, Claudia Wieland 4 Der frühere Betsaal der Synagoge Wenkheim mit Thoraschreinnische und Frauenempore beim Tag der Heimat forschung 2017. Aufnahme: Armin Härtig 5 Hoffaktor Lämmle Seligmann in der Zwergengalerie von Schloss Weikersheim. Vorlage: LABW, StAWt A-60 Nr. 600, Bild 7
16 Archivnachrichten 62 / 2021 1700 Jahre jüdisches Leben Kontrollierte Durchreise Josel von Rosheim und der Durchzug von Juden durch das Herzogtum Württemberg 1551 1 Herzog Christoph von Der aus dem Elsass stammende Josel von Ros- Reichstag 1550/51 aufmerksam. Im Frühjahr Württemberg und Josel von Rosheim treffen heim (um 1478–1554) gilt als der bedeutendste 1551 entwickelten sich daraus intensive Vereinbarungen über den Fürsprecher der Juden im Heiligen Römischen Verhandlungen mit dem württembergischen Durchzug der Juden durch Reich. Als unermüdlicher und geschätzter Unter- Hof. Und im August 1551 wurde zwischen Herzog das Herzogtum Württem berg (11. August 1551). händler vermittelte er in der ersten Hälfte des Christoph (1550–1568) und Josel von Rosheim Vorlage: LABW, HStAS 16. Jahrhunderts zwischen Juden und Christen. in namen und von wegen gemainer jüdischhait A 56 U 15 Er intervenierte bei drohenden Vertreibungen als ir vollmechtiger anwaldt ein grundsätzliches seiner jüdischen Glaubensgenossen durch Fürs- Abkommen erzielt, das den Juden unter ten oder Städte beim Kaiser oder beim Reichs- genau bestimmten Bedingungen den Durchzug kammergericht, setzte sich für gefangene Juden durch das Herzogtum gestatten sollte (Abb. 1). ein oder organisierte als Anwalt praktische Verknüpft war das herzogliche Zugeständnis mit Hilfe, etwa in Form von Geleitbriefen. In den der Bedingung, dass alle laufenden Verfahren, Quellen tritt er häufig als Schtadlan (Fürsprecher) die Juden mit württembergischen Untertanen oder als gemeiner Jüdischheit Regierer im deut- vor dem Rottweiler Hofgericht oder dem schen Land hervor. Seine Integrität genoss hohes Reichskammergericht führten, sofort eingestellt Ansehen, nicht zuletzt am kaiserlichen Hof. werden sollten. Bis ins Detail genau geregelt Mehrere kaiserliche Privilegien gehen auf Josels sind die Konditionen und Tarife für das Geleit. direkte Intervention zurück: 1544 etwa gelang Besiegelt wurde die Urkunde sowohl es ihm, von Kaiser Karl V. ein umfassendes von Herzog Christoph als auch von Josel von 2 Siegel Josels von Rosheim. Privileg für einen weitreichenden Bestands- Rosheim. Dessen Siegel zeigt einen Stierkopf Vorlage: LABW, HStAS, und Geleitschutz der Juden zu erreichen. im Schild, darüber die Umschrift Josef in hebrä A 56 U 15 1551 fungierte Josel von Rosheim als Vermit ischen Schriftzeichen (Abb. 2). Auf der Plica tler im Herzogtum Württemberg. Konkreter der Urkunde hat Josel zudem einen eigenhän Anlass war das erschwerte Geleit der Juden digen Bestätigungsvermerk, ebenfalls in durch das Herzogtum: Aufgrund von Restriktio- hebräischer Schrift, angebracht: So spricht Josef, nen und Verboten war ein Durchzug jüdischer Sohn des Herrn Gerschon, Andenken zum Segen, Händler durch Württemberg praktisch seit den man nennt […] Josenin (!) Rosheim, gemeiner Jahrzehnten unmöglich gewesen. Darauf machte Juden Regierer, der Ritter […] wie oben geschrie- Josel mit einer Supplik auf dem Augsburger ben steht (Abb. 3, Ausschnitt). Die Urkunde sollte nach der Ausstellung 1 am 11. August sofort den württembergischen Amtleuten im Herzogtum publik gemacht werden (Abb. 4). Als Druckkostenzuschuss hatte Josel der württembergischen Kanzlei 80 Gulden überlassen, aber die Publikation verzögerte sich, und im September mahnte Josel die Bekannt- machung der Beschlüsse noch einmal an. Trotz dieser anfänglichen Verbreitungsprobleme war die Wirkung des Vertrags enorm. Der Text wurde in Christophs Landesverordnung von 1551 aufgenommen, und die Bestimmungen blieben in der Folge steter Bestandteil der würt- tembergischen Rechtsverordnungen. Die konsensuale Mitwirkung Josels von Rosheim an der Urkunde wird freilich in den gedruckten Formen nicht mehr sichtbar, hier erscheint die Urkunde stets als alleinige Verfügung des württembergischen Herzogs. ±Erwin Frauenknecht
Archivnachrichten 62 / 2021 17 1700 Jahre jüdisches Leben 3 Eigenhändige Beglaubigung 3 Josels auf der Plica. An dieser Stelle sei Andreas Lehnertz (Jerusalem) herzlich gedankt für die wertvollen Hinweise zum Siegel und zur Trans kription des Bestätigungsver merks auf der Plica. Vorlage: LABW, HStAS, A 56 U 15, Ausschnitt 4 Druck der Urkunde vom 11. August 1551. 4 Vorlage: LABW, HStAS A 56 Bü 9, Q. 28 ±Literaturhinweise Stefan Lang: Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im »Land zu Schwaben« (1492–1650) (Schriften zur Süd westdeutschen Landeskunde 63). Ostfildern 2008. Selma Stern: Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Stuttgart 1959. J. Friedrich Battenberg: Josel von Rosheim, Befehlshaber der deutschen Judenheit, und die kaiserliche Gerichtsbarkeit. In: »Zur Erhaltung guter Ordnung«. Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz. Festschrift für Wolfgang Sellert. Hg. von Jost Hausmann und Thomas Krause. Köln u.a. 2000. S. 183–224. Andreas Lehnertz: Judensiegel im spätmittelalterlichen Reichsgebiet. Beglaubigungs tätigkeit und Selbstrepräsen tation von Jüdinnen und Juden. 2 Bde. (Forschungen zur Geschichte der Juden. Abteilung A: Abhandlungen 30). Wiesbaden 2020.
18 Archivnachrichten 62 / 2021 1700 Jahre jüdisches Leben Maßnahme gegen antijüdische Hetze und Verschwörungstheorien? Die Absetzung des Adelberger Abts Lucas Osiander d. Ä. im Jahr 1598 Die Einführung der Reformation (1534) und mende jüdische Ingenieur Abramo Colorni als der durch den Augsburger Religionsfrieden Alchemist in herzogliche Dienste getreten. (1555) begünstigte Aufbau einer Evangelischen Dies traf nicht nur auf den Widerstand von Landeskirche läutete im Herzogtum Württem- Bürgermeister, Rat und Gericht zu Stuttgart berg einen starken gesellschaftlichen Wandel oder der Landstände, sondern auch namhafter ein. Die Herzöge Christoph (1550–1568) und Theologen. Die antijüdischen Pamphlete aus Ludwig (1568–1593) förderten die Etablierung Martin Luthers letzten Lebensjahren schei- einer lutherischen Orthodoxie, die auch nen bei ihnen eine besonders nachdrückliche das Alltagsleben der Bevölkerung prägen sollte. Wirkung gehabt zu haben. Das Vorhaben des Theologen wie Johannes Brenz, Erhard und Herzogs wurde wohl auch von der Kanzel herab Dietrich Schnepf, Matthäus Alber, Johann mehrfach kritisiert, sodass dieser nicht wenig Andreae, Felix Bidembach d. Ä. oder Lucas verdrossen reagierte, auch wenn er betonte, ihm Osiander d. Ä. (1534–1604) hatten in Württem- ginge es nicht um die Ansiedlung von Juden im 1 Lucas Osiander d. Ä. (1534–1604). berg nicht nur wichtige geistliche Ämter inne, Allgemeinen, sondern um einige geschäftstüch- Vorlage: LABW, HStAS Q sondern übten auch politischen Einfluss aus. tige jüdische Kaufleute. Der streng orthodoxe 3/36b Bü 2348 Osiander war bereits mit 24 Jahren Super Lutheraner Lucas Osiander teilte besonders intendent in Blaubeuren und später Pfarrer an heftig gegen die Juden aus: In einem Schreiben der Stuttgarter Leonhardskirche. Zudem tat an den Herzog war u. a. zu lesen: Die Juden sind er sich als Bibelkommentator und Kirchenmusi- abgesagte Feind unsers Herrn und Hailands Jesu ker hervor. Auch das erste württembergische Christi: den selbigen lestern sie haimlich (wie ett- Kirchengesangbuch von 1583, dem 100. Geburts- liche bekhert unnd getauffte Juden, in offentlichem jahr Martin Luthers, ging auf seine Initiative Truck von inen schreiben) und bilden iren Weibern zurück. Im Jahr 1596 wurde er schließlich zum und Kindt ein, unser Herr Jesus von Nazareth sey lutherischen Abt des Klosters Adelberg ernannt. ein Hurnkind, von Maria in Hurerey empfangen. Zu diesem Zeitpunkt regierte mit Friedrich I. […] Die Wunderwerck hab Christus gethan durch (1593–1608) bereits wieder ein neuer Herzog, Zauberey und sei billich umb seiner bösen Stuck der aus der Mömpelgarder Seitenlinie des willen ans Creutz gehenckt worden. An anderer Hauses Württemberg stammte. Seine Politik Stelle zitierte er aus Luthers judenfeindlichen war für die damalige Zeit von deutlich größerer Schriften und griff etwa auch den plötzlichen Weltoffenheit geprägt als die seiner beiden Tod des brandenburgischen Kurfürsten Joachim Vorgänger. Er ging nicht nur als Anhänger der Hector im Jahr 1571 auf, in dessen Folge der Alchemie, sondern auch als Repräsentant des Jude Lippold ben Chluchim wegen angeblichen frühen Merkantilismus, einer neuen Wirtschafts- Giftmords hingerichtet und ein Judenpogrom form, die das heraufziehende 17. Jahrhundert vom Zaun gebrochen wurde. Da passte der in prägen sollte, in die Geschichte ein. So ver- herzoglicher Gunst stehende jüdische Alche- suchte er auch, einige geschäftstüchtige Juden mist natürlich gut ins vorgefertigte Bild. in Stuttgart anzusiedeln, wovon er sich einen Der Herzog versuchte sich umgehend von Wirtschaftsaufschwung erhoffte. Mit der jüdi- Osianders Hetzschreiben zu distanzieren, schen Handelsniederlassung von Maggino und dieser musste sich vor einer Kommission, Gabrielli schloss er 1598 einen Vertrag ab. bestehend aus Landhofmeister Christoph von Bereits im Jahr zuvor war der aus Mantua stam- Degenfeld und dem herzoglichen Rat Matheus
Archivnachrichten 62 / 2021 19 1700 Jahre jüdisches Leben 2 Schreiben Herzog Friedrichs Entzlin, verantworten. Da er bei seinen Über- Schreiern kaltgestellt. Das Amt des Abts von I. zur Ansiedlung jüdischer Kaufleute (Konzept) zeugungen blieb, verlor er im April 1598 seine Adelberg blieb zudem in der Familie – Nachfol- vom 16./26. März 1598. Stellung als Adelberger Abt. Er wirkte noch ger wurde sein Sohn Andreas. Vorlage: LABW, HStAS A kurz in der Reichsstadt Esslingen und starb im Lucas Osiander hat sich, wie weiter oben 56 Bü 11 Jahr 1604 in Stuttgart. ausgeführt, zweifellos Verdienste am Aufbau Die Absetzung Osianders ist sicher nicht der württembergischen Landeskirche erworben 3 Einspruch Lucas Osianders d. Ä. gegen die Aufnahme als herzoglicher Gunsterweis für die Juden und steht daher zu Recht in der Reihe der von Juden in Stuttgart vom oder als Maßnahme gegen antijüdische Hetze wichtigen württembergischen Reformatoren. 13./23. März 1598. an sich anzusehen. Vermutlich waren Herzog Auf der anderen Seite eiferte er dem späten Vorlage: LABW, HStAS A 56 Bü 11 Friedrich I. die Verschwörungstheorien Osianders Luther in seinem Antijudaismus nach, womit er vor allem deshalb zuwider, weil sie seiner Wirt- in seiner Zeit nicht alleine stand. Die Reduzie- schaftspolitik nicht zupasskamen. Württemberg rung auf einen Hassprediger greift also zu kurz. hatte schon Ende des 15. Jahrhunderts die Auch für den pragmatisch-opportunisti- Juden vertrieben und Herzog Christoph sich für schen Herzog war der Fortgang der Ereignisse eine Judenvertreibung aus dem gesamten kein Ruhmesblatt: Gabrielli und Genossen Reich eingesetzt. Im Gegensatz zu Osiander verließen Württemberg wegen aufkommender wurden die anderen Kritiker der herzoglichen antijüdischer Unruhen noch im gleichen Wirtschaftspolitik, die sich zurückhaltender, Jahr. Colorni fiel beim Herzog zunehmend aber auch eindeutig antijüdisch geäußert in Ungnade, konnte aber noch rechtzeitig hatten, überdies nicht mit Sanktionen belegt. nach Italien fliehen und starb 1599 in Mantua. Es wurde also nur der lauteste von mehreren ±Johannes Renz 2 3
20 Archivnachrichten 62 / 2021 1700 Jahre jüdisches Leben Ein Justizskandal in Nur wenige Figuren aus der württembergischen Geschichte dürften so bekannt sein wie Joseph Württemberg Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß; und kaum eine andere Person wird so überlagert von den Bildern, welche die Mit- und Nachwelt über Der Fall des Joseph sie und die Geschehnisse verbreitete. Um die reale Persönlichkeit zu erfassen und den histo- rischen Kern der Ereignisse freizulegen, muss Süß Oppenheimer man auf die überlieferten Akten, die sich zum großen Teil im Hauptstaatsarchiv Stuttgart im 18. Jahrhundert befinden (LABW, HStAS A 48/14), zurückgreifen. Joseph Süß Oppenheimer wurde wohl im Februar oder März 1698 in Heidelberg geboren. Zwischen 1717 und 1735 betätigte er sich von Frankfurt und Mannheim aus als Privatbankier und Großkaufmann und wurde Münzproduzent des Landgrafen von Hessen-Darmstadt. Im Herbst 1732 lernte er in Wildbad den Prinzen Karl Alexander von Württemberg (1684–1737) aus der Seitenlinie Württemberg-Winnental kennen. Dieser hatte in kaiserlichen Diensten gestanden und es bis zum Statthalter in Belgrad gebracht. Bereits im November 1732 1 ernannte er Oppenheimer zu seinem Hof- und Kriegsfaktor und stellte ihn unter seinen persönlichen Schutz. Als Karl Alexander ein Jahr später auf den württembergischen Thron gelangte, weil sein Vetter Eberhard Ludwig ohne Erben verstarb, bedeutete dies die Wende im Leben Oppenheimers. Die Geschäftsbeziehungen zwischen dem Herzog und seinem Hoffaktor wurden nun ausgeweitet. Oppenheimer war jetzt nicht mehr nur für Versorgungs- und Beschaffungsange- legenheiten wie der Ausstattung des Militärs oder Geldgeschäfte zuständig, sondern entwi- ckelte sich mehr und mehr zum engen finanz- politischen Berater des Herzogs. In dieser Rolle entfaltete er eine erfolgreiche Tätigkeit zur Besserung der herzoglichen Finanzen. Mit dem Titel des Geheimen Finanzienrats ausgestattet, trat Oppenheimer als Pächter der Stuttgar- ter Münze auf und übernahm weitere Ämter, darunter zwei in der Bevölkerung besonders verhasste: das Gratialamt, das Titel, Ämter und Stellungen gegen eine Abgabe an die herzog- liche Schatulle vergab, sowie das Fiskalamt, das aufgrund von Denunziationen angebliche Verbrechen untersuchte und den Beschuldigten ermöglichte, gegen Zahlung einer Geldsumme dem Gerichtsverfahren zu entgehen. Die Stimmung im Land wurde zunehmend feindseliger. Die Maßnahmen merkantilistischer Wirtschaftsförderung belasteten die Untertanen finanziell und liefen den Privilegien der würt- tembergischen Führungsschicht zuwider. Joseph Süß Oppenheimer personifizierte die unlieb- samen Reformen und entwickelte sich zum Sün- denbock für die Politik des Herzogs. Dass er Jude war, verstärkte diese Wahrnehmung zusätzlich.
Archivnachrichten 62 / 2021 21 1700 Jahre jüdisches Leben 1 »Wahre Abhandlung«. 2 Hinrichtung des Joseph Süß Oppenheimer am 4. Februar 1738 vor den Toren Stuttgarts. Kupfer stich von Lucas Conrad Pfandzelt und Jacob Gottfried Thelot, 1738. Vorlage: Württember gische Landesbibliothek Stuttgart, Graphische Sammlungen 2 Der Schutzbrief Herzog Karl Alexanders von Württemberg für Joseph Süß Oppenheimer, 14. November 1732. Vorlage: LABW, HStAS A 48/14 Bü 81 3 [Curioese] «Nachrichten 3 aus dem Reich der Beschnittenen«. Innenseite des Buchdeckels, Frank furt und Leipzig 1738. Vorlage: LABW, HStAS A 48/14 Bü 130 Oppenheimer war sich bewusst, dass ihn, sollte die juristische Fakultät einer Universität um die schützende Hand des Herzogs eines Tages ein Gutachten angegangen. So war das Todes- entfallen, die Rache seiner Gegner treffen würde, urteil, das am 31. Januar 1738 verkündet und bat wiederholt um seine Entlassung. und am 4. Februar auf dem Stuttgarter Galgen- Als Herzog Karl Alexander in der Nacht berg vollstreckt wurde, keine Überraschung. vom 12. März 1737 völlig unerwartet im Schloss Die Leiche sollte noch sechs Jahre zur Schau Ludwigsburg verstarb, reagierte die Führungs- gestellt werden, bis die sterblichen Überreste schicht sofort: Oppenheimer wurde unter verscharrt wurden. Hausarrest gestellt, dann auf den Hohenneuffen Der Prozess und die Hinrichtung waren verbracht und schließlich auf dem Hohen von Anfang an von hoher Publizität begleitet. asperg inhaftiert. Von Anfang an schien das Insbesondere nach der Hinrichtung kam eine 4 Titelblatt der Filmzeitschrift Ende des Verfahrens, das im Mai 1737 aufgenom- große Zahl von Flugschriften in Umlauf, die, »Illustrierter Filmkurier« mit men wurde, bereits festzustehen. Rechtswill- reich illustriert, die Skandalgeschichte des Ferdinand Marian als Joseph Süß Oppenheimer im 1940 kür kennzeichnete den Prozess: So wurden Joseph Süß Oppenheimer erzählten – tenden- uraufgeführten Hetzfilm »Jud Oppenheimers alte Feinde aus der Regierung ziös, schadenfroh und hämisch. Sein Schicksal Süß«. in das Gericht berufen und fällten das Urteil wurde bis heute immer wieder neu beschrie- Vorlage: LABW, HStAS J 25 über ihn. Man gewährte ihm weder den von ben, literarisch oder filmisch verarbeitet; die Bü 162 ihm gewünschten unabhängigen, auswärtigen zumeist populären Darstellungen beeinflussen Rechtsbeistand noch gestand man ihm eine noch immer das Bild Oppenheimers und er- Berufungsmöglichkeit zu. Zudem wurde nicht, schweren den objektiven Zugang zum Thema. wie sonst bei schweren Kriminalfällen üblich, ±Nicole Bickhoff
22 Archivnachrichten 62 / 2021 1700 Jahre jüdisches Leben 1 2 Nur Einnahmequelle? Zur Aufnahme von Juden in Wankheim 1774 durch den Freiherren Friedrich Daniel von Saint André Im Sommer 1774 gewährte Freiherr Friedrich beiden ledigen Judenburschen ihre Schutz- Daniel von Saint André (1700–1775) erstmals briefe schon nach wenigen Monaten wieder vier namentlich genannten Juden, zwei Familien- zurückgaben. vätern und zwei Junggesellen, in seinem zwi- Merkwürdigerweise herrschen trotz der schen Tübingen und Reutlingen gelegenen Dorf recht guten Quellenlage in der Sekundärlitera- Wankheim Aufenthalt und Schutz. Damit war tur eher Unsicherheit und Unklarheit, was die der Grundstein gelegt hin zur Entwicklung einer Anfänge angeht. Mal wird unpräzise als Beginn neuen jüdischen Gemeinde, die, nachdem das der jüdischen Besiedlung die Zeit um 1775 Dorf 1805 an Württemberg gekommen war, sich genannt, mal wird von vier oder fünf Familien 1 Generalfeldzeugmeister rasch vergrößerte und in der Mitte des 19. Jahr- gesprochen, die schon 1774 ein Friedhofsgelände Friedrich Daniel Freiherr hunderts über 100 Menschen, gut 15 Prozent gepachtet hätten. Eine Magisterarbeit setzt von Saint André (1700–1775) gewährt 1774 vier Juden der Einwohner, umfasste. den Beginn ins Jahr 1776. Einig ist sich die jün- »Aufenthalt und Schutz« Urkunden und Akten im Schlossarchiv in gere Literatur lediglich in der Frage nach den in seinem Dorf Wankheim, Ölgemälde. Kilchberg sowie im Gemeindearchiv Wankheim Motiven des Freiherren von Saint André. Vorlage: Schloss Kilchberg bieten ein anschauliches und detailreiches Ihm sei das Geld der Juden eine willkommene Bild vom Gründungsvorgang sowie den Proble zusätzliche Einnahmequelle gewesen, er habe 2 Charlotte Friderike Frei men der ersten Jahre. Archivalien im Haupt- die wirtschaftlichen Vorteile im Blick gehabt und frau von Saint André geb. Leutrum von Ertingen staatsarchiv in Stuttgart (LABW, HStAS A relativ hohe Schutzgeldzahlungen gefordert. (1722–1783), Ölgemälde. 213 und J 386) ergänzen das eine oder andere, Ähnliches hört man auch auf Führungen durch Vorlage: Schloss Kilchberg machen beispielsweise deutlich, warum die den jüdischen Friedhof in Wankheim.
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