Archivnachrichten 60 / März 2020 Thema: "Unberechenbar! Wetter im Wandel" - Landesarchiv ...
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Archivnachrichten Archivnachrichten 60 / 2020 Schwerpunkt 3 60 / März 2020 Thema: »Unberechenbar! Wetter im Wandel« Landesarchiv Jahresbericht Ein Rückblick auf Offen für alle Das neue Erscheinungsbild Quellenbeilage »Wenn ein Kernkraftwerk Baden-Württemberg das Jahr 2019 des Landesarchivs schlechtes Wetter macht«
Archivnachrichten 60 / 2020 3 Editorial Editorial Haben Sie die Archivnachrichten wiedererkannt? Lesesaals im Grundbuchzentralarchiv und neue Vor sich haben Sie die 60. Ausgabe – seit 30 Nutzungsmöglichkeiten im Landesarchiv. Jahren erscheinen die Archivnachrichten bereits Die Erwerbung und Einlagerung von Doku – und rechtzeitig zu diesem Jubiläum in mo menten sowie die Verzeichnung und Digitali derner und frischer Gestalt. Das neue Design sierung von Archivgut sind Daueraufgaben des betrifft aber nicht nur die Archivnachrichten, Landesarchivs – unter Quellen griffbereit und das Landesarchiv insgesamt hat sich eine Kulturgut gesichert berichten wir aus diesen Ar neue Corporate Identity gegeben, hierzu infor beitsbereichen. mieren wir Sie in diesem Heft. Mit unserem Gerne möchten wir Sie zudem zu unseren neuen Erscheinungsbild möchten wir uns als Ausstellungen einladen: Unter Archive geöffnet vertrauenswürdige Serviceeinrichtung sowie finden Sie Hinweise zu Präsentationen in Frei zukunftsorientierter, offener und bürgernaher burg, Sigmaringen, Stuttgart und Wertheim. Dienstleister und Partner für die Landesver Als Geschichte original stellt Götz Distelrath waltung, für wissenschaftliche Institutionen Dokumente zu den Protesten gegen einen und Einzelpersonen, für die historisch-politi AKW-Neubau in Wyhl in den 1970er Jahren vor. sche Bildungsarbeit sowie für alle Bürgerinnen Auch das Wetter spielte hierbei eine Rolle, was und Bürger präsentieren. Zeitgleich mit dem mit dem Zeitungsartikel Wenn ein Kernkraftwerk Erscheinen der Archivnachrichten wird auch die schlechtes Wetter macht aufgezeigt wird. neue Website des Landesarchivs online gehen. Während den abschließenden Redaktions Inhaltlich beschäftigen wir uns im Themen arbeiten musste das Landesarchiv aufgrund schwerpunkt mit dem Wetter. Nicht nur heute der dynamischen Ausbreitung des Coronavirus in Zeiten von Klimadebatten und sozialen SARS-CoV-2 seine Angebote und Arbeitsabläufe Bewegungen wie Fridays for future ist dies ein anpassen, sowie bis auf Weiteres alle Veranstal hochaktuelles Thema. Schon immer waren tungen absagen. Dies betrifft auch in diesem die Menschen vom Wetter und seinen Auswir Heft beschriebene Services und Ausstellungen. kungen abhängig: Stürme, Überflutungen oder Aktuelle Informationen und eine Übersicht über Hitzewellen führten zu Zerstörungen und die vielfältigen digitalen Angebote des Landes Ernteausfällen. Daher wurde das Wetter von archivs erhalten Sie auf unserer Website. Vor den Zeitgenossen oft als unberechenbar wahr dem Hintergrund dieser Situation wünsche ich genommen und die Beschreibungen von Un Ihnen allen Gesundheit und Zuversicht sowie wettern und Wetterphänomenen fanden ihren viel Freude bei der Lektüre der Archivnachrichten Niederschlag in den Quellen. Diese Wahrneh in neuer Gestalt. mungen und Darstellungen in den Quellen über die Jahrhunderte hinweg nähern sich die Ihr Autorinnen und Autoren unter dem Titel Un- 1 Vereisung des Neckars, Ansicht der Eisansammlung berechenbar! Wetter im Wandel. vor der Brücke bei Unter- In der Rubrik Archiv aktuell finden Sie den türkheim vom 1. März 1929. Jahresbericht für 2019, zudem informieren Vorlage: ±Prof. Dr. Gerald Maier LABW, StAL EL 20/4 III b wir unter anderem über den Amtswechsel im Präsident des Landesarchivs Nr. 30, Bild 1 Staatsarchiv Freiburg, die Einweihung des Baden-Württemberg
4 Archivnachrichten 60 / 2020 Inhalt Inhalt Inhalt Thema: 24 Marschieren unter Archiv aktuell sengender Sonne »Unberechenbar! Hitzeerkrankungen im 36 Rückblick auf das Wetter im Wandel« XIII. Armeekorps Jahr 2019 — Frederick Bacher Jahresbericht des Landes- 8 Dem Klimawandel auf der Spur archivs Baden-Württemberg Der Weg schriftlicher Quellen 26 Wetterkapriolen – — Inka Friesen aus den Archiven in die virtuelle anno dazumal Forschungsumgebung Das Unwetter vom 29. Mai 1911 43 Leitungswechsel — Rüdiger Glaser, Michael Kahle, an Grünbach und Tauber im Staatsarchiv Freiburg Antje Kellersohn, Oliver Rau — Claudia Wieland Kurt Hochstuhl verabschiedet und Christof Strauß zum 14 Stürme, Wolkenbrüche, Seuchen 28 Wanderung in Sturm neuen Abteilungsleiter ernannt Die Unwetterkatastrophe vom 31. Juli 1508 in Stuttgart und Nebel — Inka Friesen, Verena Schweizer — Peter Rückert Das Engländerunglück am Schauinsland 1936 44 Offen für Neues – — Annika Ludwig offen für alle 16 Poetisches Unwetter – ein Das neue Erscheinungsbild Wetterbericht der anderen Art 30 Wetterkapriolen im Bild des Landesarchivs Ein Gedicht zur Erinnerung an das Unwetter Fotos von Unwettern in den — Christina Wolf im Schüpfergrund 1701 Beständen des Staatsarchivs — Vera Kreutzmann Ludwigsburg 45 Serviceorientiert, mobilfähig — Peter Müller und in frischem Layout Der neue Internetauftritt 17 »Pulver, Schweffel, Bley« 32 »Nasse Grüsse aus des Landesarchivs Wie in Bruchsal (fast) der Blitzableiter erfunden wurde Karlsruhe« — Daniel Fähle, Wolfgang Krauth — Thomas Adam Historische Postkarten und das Wetter 46 Geschafft! — Sara Diedrich Abschluss der Erschließung – 18 Elektrizität leicht erklärt Ende der Umlagerung – Eine »Philosophische Betrach- 33 Hochwasser und Pegelmessungen Einweihung des Lesesaals im tung über die Erfindung, Überlieferung im Staatsarchiv Grundbuchzentralarchiv Eigenschaften und Wirkungen der sogenannten Wetter- Ludwigsburg — Michael Aumüller stangen oder (Blitz) Ableiter« — Martin Häußermann — Sabine Hennig 47 Mehr Lesesaal mit 34 Gezähmte Berge. Alpine Land- weniger Reisen schaften im Blick badischer Das Landesarchiv schafft 20 »Hagelschlag-Hilfe!« Fotografen neue Nutzungsmöglichkeiten Hagelfeiertage und prozessionen zur Abwendung von Unwettern Ausstellung im Generallandes- — Kai Naumann — Gabriele Wüst archiv Karlsruhe — Sara Diedrich 48 Tag des offenen Denkmals Das Hauptstaatsarchiv 22 Zwei adlige »Wetterfrösche« Stuttgart beteiligt sich erstmals Wetteraufzeichnungen der am bundesweiten Aktionstag Herzöge Wilhelm (I.) und Wilhelm (II.) von Urach im — Nicole Bickhoff Hauptstaatsarchiv Stuttgart — Eberhard Merk
Archivnachrichten 60 / 2020 5 Inhalt 49 Auf digitalen Wegen ins 56 Archivalien auf Weltreise 62 Barocke Lebenswelten in Spätmittelalter? Digitalisierte Archivalien im den Beständen des Ein Open Culture BW Online-Angebot des Staatsarchivs Sigmaringen Projekt zur Ausstellung Archivverbunds Main-Tauber Ausstellung in Sigmaringen »Margarethe von Savoyen: — Monika Schaupp — Volker Trugenberger, Die Tochter des Papstes « Johannes Weißhaupt — Julia Bischoff, Daniel Fähle, 57 Militär in Württemberg vor Wolfgang Krauth über hundert Jahren 63 Historische Perlen im Hinter- Friedensakten des General- hof. Freiburger Geschichte(n) 50 Theaterarbeit zwischen kommandos des XIII. Armeekorps im Staatsarchiv Weimarer Republik neu erschlossen Ausstellung in Freiburg und Nationalsozialismus — Frederick Bacher — Katrin Hammerstein, Generallandesarchiv sichert Anja Schellinger den Nachlass des Karlsruher Theaterintendanten 58 Das Ende der »unnützen« Hans Waag (1876–1941) Klöster Pensionsleistungen für Häuser — Wolfgang Zimmermann die »Exnonnen« des mit Geschichte Freiburger Klosters St. Anna 51 Karlsruher Dokumentar- zum Grünen Wald 64 Vom Elektrogroßhandel theater findet weltweite — Margret Rieß zum Staatsarchiv Beachtung Die Colombistraße 4 Ein Gespräch mit Peter Spuhler, in Freiburg dem Generalintendanten Kulturgut — Annette Riek gesichert des Badischen Staats- theaters, über »Stolpersteine Staatstheater« 59 Die Kriminalbiologische Unter- Junges Archiv suchungsstelle Ludwigsburg 53 »Das alles ist ver- 65 130 Jahre Fahrradfirma Quellen zu Eugenik und schwunden. Wer es jetzt hat, Hahn in Backnang Rassismus in der württem- weiß Gott allein« Einblicke in ein aktuelles bergischen Justizverwaltung Zum Abschlusss des schulisch-archivisches Aus- der NS-Zeit Erschließungsprojekts von stellungsprojekt zur regionalen — Stephan Molitor Quellen zur Provenienzforschung Mobilitätsgeschichte im Staatsarchiv Ludwigsburg — Hans-Jörg Gerste — Carl Jochen Müller Archive geöffnet 60 Nation im Siegesrausch. Geschichte Quellen Württemberg und die original griffbereit Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 66 »Wenn ein Kernkraftwerk 54 Bonner Bildergeschichten Ausstellung im Hauptstaats- schlechtes Wetter macht Der Ankauf schwäbischer archiv Stuttgart «Klimaschutz als Argument Kunst durch den Bund 1949 — Wolfgang Mährle in der Auseinandersetzung um das geplante AKW in Wyhl — Brigitta Coers — Götz Distelrath 61 350 Jahre Brauerei Bronnbach – 55 Von Lehrbriefen, Eheverträgen Historische Tatsache oder und Testamenten zeitgenössisches Marketing? Ältere Urkunden und Akten der Ausstellung im Archivverbund Stadt Wertheim online Main-Tauber — Maria Rösler — Claudia Wieland
± Unberechenbar! Wetter im Wandel Cover: Unberechenbar! So nehmen Menschen das Eisberge auf dem Boden- see, Luftbild von der Wetter schon seit Jahrtausenden wahr. Seegfrörne des Bodensees im Jahr 1963. Vorlage: Denn Wetterphänomene haben immer direkten Einfluss auf die Ernte, auf die Nutztiere, bei LABW, StAS Wü 29/1 T 1-11 Nr. 6887 Schwärzenbach, sturm- gebrochener Baum, 1958. Unwettern und Überflutungen auf Gebäude Vorlage: LABW, StAF W 134 Nr. 050674c und Siedlungen und auf unser Leben. Aufnahme: Willy Pragher Es ist also nicht verwunderlich, dass sich Nach- Schneepflug beim Räumen der Schneemassen auf richten zum Wetter – vor allem zu Unwettern der Alb im Winter 1939/40. Vorlage: LABW, StAL EL 75 VI a und Extremwetterlagen – in den schrift- lichen Quellen über die Jahrhunderte hinweg Nr. 2954 Überflutungen auf der Auto- bahn bei Leonberg durch ein Hochwasser an finden lassen. Dabei beschrieben die Men- der Glems im Jahr 1955. Vorlage: LABW, StAL EL 75 VI a schen neben ihrer Wahrnehmung des Wetters auch oft Deutungen und Erklärungen zu Nr. 6521 ihren Wetterbeobachtungen. Einige Quellen Diese Seite: Überflutung bei AS Stutt- gart-Leonberg durch Hoch- wasser der Glems, 1955. Vorlage: und Geschichten aus dem Archiv finden Sie LABW, StAL EL 75 VI a Nr. 6517 in diesem Heft.
8 Archivnachrichten 60 / 2020 Unberechenbar! Wetter im Wandel Dem Klimawandel auf der Spur Der Weg schriftlicher Quellen aus den Archiven in die virtuelle Forschungsumgebung
Archivnachrichten 60 / 2020 9 Unberechenbar! Wetter im Wandel 1 Zerstörungen des Katas- trophenhochwassers in Heidelberg am Neckar im Februar 1784 nach einem Gemälde von Ferdinand Kobell. Vorlage: Kurpfälzisches Museum Heidelberg
10 Archivnachrichten 60 / 2020 Unberechenbar! Wetter im Wandel Gerade durch die derzeit um sich greifenden Ak- 4. Über die schriftlichen Quellen lassen sich in tivitäten der Fridays for Future und Extinction vielen Fällen auch die damit verbundenen ge Rebellion Initiativen hat das Thema Klimawan sellschaftlichen Folgen und Rückkoppelungen del eine neue gesellschaftspolitische Dimension analysieren. Diese Aspekte lassen sich mithilfe erreicht. Um die Frage nach der klimatischen Zu- von Wirkpfadanalysen in Risikoansätzen mit kunft schlüssig beantworten zu können, braucht Vulnerabilität und Resilienz sowie Anpassungs- es Vergleiche und Bezugsgrößen aus der Ver maßnahmen entsprechend verwerten. gangenheit. Die können zum einen durch die amt- Die Auswertung derartiger Quellen und lichen instrumentellen Messdaten, die in Deut- Dokumente sowie ihre klimatische Interpreta schland seit 1881 erhoben werden und zum tion und Langzeitsicherung folgen einem kom anderen durch frühe, unschärfere Instrumenten- plexen Arbeits und Analysepfad. Insgesamt messdaten, wie sie seit 1750 vorliegen, gelie- werden dabei hermeneutische und naturwissen fert werden. Für weiter zurückreichende Ana- schaftliche Arbeitsweisen mit digitalen Techni lysen kann auf verschiedene historische Quellen ken verbunden. wie Stadtchroniken, Annalen, Wettertage- bücher, Flugschriften und Zeitungen, aber auch Oftmals müssen die Quellen und Dokumente Hochwassermarken und Hungersteine so-wie wie im Falle des Berichts zur Rekordhitze von sonstige Inschriften zurückgegriffen werden. 1540 (LABW, GLAK 65 Handschriften 686; In der interdisziplinär organisierten Historischen siehe Abb. 3) transkribiert und einer quellen- Klimatologie werden langfristige Rekonstruk- kritischen Beurteilung unterzogen werden: tionen von Wetter, Witterung und Klima auf der Anno 1540, hannd die brenner vil dörffer Basis anthropogener, insbesondere schriftlicher verprent, und was der haysß summer, Umb Marie Quellen und Dokumente vorgenommen. haimsuochung [2. Juli] hat man alhie angefangen Für Mitteleuropa und den deutschen Süd zue schneiden, und uff Marie Himelfarth [15. westen liegen einschlägige schriftliche Hin August] ist newen wein alhie geweßen, jst vil wein weise seit dem frühen Mittelalter vor, die sich unnd korn wordenn, unnd verpran den herren mit der Zeit zunehmend verdichten sowie an alhie wol für sechs taussent guldin holtz. Unnd wol Komplexität zunehmen. Diese schriftlichen für achtzehen taussent guldin, hew, haber, rieba, Hinweise werden beispielsweise durch Hoch bona, erbsa unnd flax etc. verdarbenn von der hitz. wassermarken, Stiche und Radierungen sowie Unnd uff Sant Jacobs tag [25. Juli] waß kain Gemälde ergänzt (Abb. 1–4). Diese ermög winter frucht mer jm feld. Man schickht hinauß lichen die Ableitung und Analyse langer Zeit dreyhundert mann, die wäld zue leschenn. reihen zu Temperatur und Niederschlag sowie Eine andere Fassung lautet: In diesem Jar hat zu Klimaextremen wie Überschwemmungen, man umb visitationis Mariae, d.i. Maria heimsuo- Hitze und Dürren, extremer Kälte, Stürmen chung, anfahen schneiden alhie, und auf Maria und Unwettern. Bei entsprechender raumzeit himelfahrt ist newer wein alhie gewessen und ist licher Verdichtung können damit die zugrun veil wein und korn worden. Es ist ein haysser deliegenden Zirkulationsverhältnisse in der sommer gewessen, und im anfang Miertzens bis auf Atmosphäre rekonstruiert werden. Symon et Judä [28. Oktober] hat es nit 4 tag ge- Die schriftlichen Quellen und Dokumente rengnet, und es verbrannen veil weld, wol für 6000 bieten mehrere Vorteile: guldin holtz, und wol für 18000 guldin, dan es miß- 1. Es handelt sich um direkte Hinweise zu rieth der haber, hew, rieben, lar, Erpsen, bonna Wetter, Witterung, Klima und zu den entspre vor grosser hitz. Und es waren auch viel beser bren- chenden Extremen. Zudem sind oft phänologi ner im Landt hin und wider, allenthalben, die gelt sche Phasen wie Blüte, Fruchtreife, Ernte und namen, und branten dörfer, holtz und weld. Blattfall kalendergenau notiert, so dass ein Dieser Text wurde von Franz Joseph Mone Vergleich zu den modernen phänologischen 1854 in der Quellensammlung der badischen 2 Radierung zu den Zer- Uhren möglich ist. Landesgeschichte (Band 2, S. 109) herausge störungen des Hochwassers 2. Die relevanten Informationen liegen in geben. Es handelt sich nach seinen Angaben um 1732 in Wertheim an der Tauber mit Einzeichnung einer hohen zeitlichen Auflösung von Jahren, die Villinger Chronik (1119–1568). Mone gibt der eingerissenen Gebäude. Jahreszeiten, Monaten und bisweilen sogar zahlreiche Hinweise auf die Verfasser und die Vorlage: Tagen vor und weisen meist eine hohe Bele Abfassung der Chronik. Damit lassen sich Historischer Verein Wert- gungsdichte auf. Wettertagebücher oder regel wesentliche Fragen zur Quellenkritik bewerten. heim, Bibliothek Lb 64 HV mäßige Eintragungen in Kalendarien sind Auch der Ortsbezug ist gegeben. Am Anfang des besonders ergiebig, da sie die Ableitung kon Textes wird kurz auf das gesellschaftliche 3 Textauszug zur Rekordhitze 1540 und ihren Folgen sistenter Zeitreihen erlauben. Phänomen der (Mord-)Brenner eingegangen. aus den Villinger Annalen, 3. Die Ereignisse sind meist genau datier Für die Brände in vielen Dörfern wird nicht der 16. Jh. bar, allerdings sind Kalenderumrechnungen klimatische Zustand verantwortlich gemacht, Vorlage: LABW, GLAK 65 Hand- notwendig, auch wurde oft auf den nächsten sondern es werden Schuldige gesucht. Leider ein schriften 686 bekannten Heiligentag referiert. Verhalten, das damals im Zusammenhang mit Naturextremen als grausames Ventil in ge
Archivnachrichten 60 / 2020 11 Unberechenbar! Wetter im Wandel 2 3
12 Archivnachrichten 60 / 2020 Unberechenbar! Wetter im Wandel was ebenfalls auf eine entsprechende Wärme hindeutet. In der sieben-skaligen Indexierung wird dieser Sommer daher mit dem Wert +3 abgebildet und zählt so zu den extrem heißen Sommern. Die Quelle passt sich damit sehr gut in rund 140 weitere Quellenbefunde aus Mit teleuropa zu diesem Jahr ein, nach denen 1540 eines der herausragenden Hitze- und Trocken jahre der letzten 500 Jahre war (siehe Abb. 5). Entsprechend können die indizierten Klima hinweise in der Zusammenschau mit weiteren Quellenhinweisen mit entsprechenden statisti schen Verfahren in Schätzwerte der Temperatur und des Niederschlags transformiert werden. Schließlich können derartige Daten und Er gebnisse in der virtuellen Forschungsumgebung tambora.org nachhaltig vorgehalten und pub liziert werden. Die Publikationen der tambora data series sind mit einer DOI, einem Digital Object Identifier, einem Digitalen Objektbe zeichner nach ISO 26324, versehen und können damit eindeutig und dauerhaft digital identifi ziert und referenziert werden. Die tambora DOI lautet 10.6094/tambora.org/dataseries. Ge rade in Online-Publikationen hat sich dieses Verfahren durchgesetzt und gilt als zitierfähige Publikation. Die Daten und deren zugrundeliegende Quel len und Dokumente sind unter der virtuellen 4 Forschungsumgebung tambora.org abruf- und einsehbar (https://www.tambora.org/index.php/ grouping/event/list?g[cid]=499). Interessierte sellschaftlichen Krisen diente. Randgruppen können auf tambora.org Daten eintragen, eige wurden der Brandstiftung und Hexerei bezich ne Projekte definieren und sich mit anderen tigt und nach den unter Folter erpressten Ge- vernetzen. Dabei ist nicht nur die Hermeneutik ständnissen grausam hingerichtet. der Vergangenheit wichtig, auch die aktuelle Dokumentation beispielsweise der Online Um die Inhalte langfristig zu sichern und ver Medien und sozialen Netzwerke wie Twitter, gleichbar zu machen, werden die Angaben heu Instagram und Facebook zum exponierten te in die moderne digital gestützte Forschungs Thema Klima und Klimawandel ist von großer umgebung tambora.org, eine offene und frei Bedeutung, weil sie deren Wahrnehmungen zugängliche Umwelt- und Klimadatenplattform, und gesellschaftliche Diskurse aufgreift und überführt und kodiert. dokumentiert. Oftmals zentrieren diese auf In dem Kodierschema werden zunächst die die Folgen und Anpassungsmaßnahmen. Zeit und Ortsangaben umgesetzt. Hierzu wer Für den deutschen Südwesten und Mitteleu den die Hinweise in Form von Heiligentagen in ropa konnten mittlerweile im Rahmen von Datumsangaben übertragen, wobei die jeweili mehreren Forschungsprojekten aussagekräftige ge Kalenderrechnung zu berücksichtigen ist. Im Temperatur, Hochwasser und Dürrezeitreihen vorliegenden Fall ist der Ortsbezug eindeutig, abgeleitet werden (Abb. 6). Mit ihrer Hilfe lassen es handelt sich um Villingen im Schwarzwald. sich die Fragen nach der jüngsten Entwicklung In einem nächsten Schritt werden die inhalt des anthropogen induzierten Klimawandels lichen Angaben kodiert, d. h., die klimatischen, ebenso beantworten, wie die nach der Einord phänologischen sowie sozioökonomischen Hin nung von extremen Dürrejahren wie 2018. Aus weise in Indizes, d. h. Wertstufen umgeschrie Sicht der letzten 500 Jahre ist die Temperatur 4 Hochwassermarken an ben. In der vorliegenden Quelle wird von einer zunahme seit den 1970er Jahren einmalig. Das einem Wertheimer Gartenhaus dokumentieren außergewöhnlichen Hitzeperiode berichtet, Jahr 2018 war in vielen Regionen das heißeste schwere Hochwasserer- die zu Waldbränden, aber auch zu Ernteausfäl und trockenste seit Beginn der amtlichen Auf eignisse an der Tauber seit 1595. len bei Garten- und Sommerfrüchten führte, zeichnungen im Jahr 1881. Aufnahme: was eine extreme Dürre impliziert. Ebenso sind ±Rüdiger Glaser, Michael Kahle, Rüdiger Glaser die phänologischen Phasen deutlich verfrüht, Antje Kellersohn, Oliver Rau
Archivnachrichten 60 / 2020 13 Unberechenbar! Wetter im Wandel 5 Auszug aus der Plattform tambora.org mit Einträgen zum Jahr 1540. Vorlage: Rüdiger Glaser, Michael Kahle, Antje Kellersohn, Oliver Rau www.tambora.org 5 6 6 Temperatur- (oben) und Niederschlagsverlauf (unten) auf der Grundlage von monatlichen, indi- zierten Schriftquellen und Instrumentenmessdaten für Mitteleuropa ab 1500. Vor 1y T TI allem der Temperatur- verlauf lässt den moder- 3 2y T 2 nen, anthropogen induzier- 1 ten Temperaturanstieg 3y T 0 seit 1950 erkennen, während -1 der Zeitraum 1500 bis um -2 4y T -3 1850 von eher kühlen und kalten Phasen der soge- 5y T nannten Kleinen Eiszeit geprägt war. 5 y T&P — 5y y Vorlage: 5y P Rüdiger Glaser, Michael Kahle, Antje Kellersohn, 4y P PI Oliver Rau 3 3y P 2 1 0 2y P -1 -2 1y P -3 1500 1600 1700 1800 1900 2000 year
Archivnachrichten 60 / 2020 15 Unberechenbar! Wetter im Wandel Stürme, Wolkenbrüche, Seuchen Die Unwetterkatastrophe vom 31. Juli 1508 in Stuttgart 1 David Wolleber, Württem- Anno 1508, Montags den 31. Julii, am tag Her- Wie ging man mit einer solchen Katastrophe bergische Chronik, mit manni, kam gegen Abend zwischen 3 und vier Uhr um? Hier war breite Unterstützung gefragt. Berichten zu den Jahren 1507 und 1508 (Ausschnitt). unversehens ein solch Regenwaßer durch ein Wolk- Gleich erließ Herzog Ulrich von Württemberg Vorlage: ckenbruch dz Heßlacher thal herab gehn Stutt- den Stuttgarter Einwohnern die Jahressteuer, LABW, HStAS J 1 Bd. 2, garten, dz es selbiges gar überschwempt, und von damit sie die Unwetterschäden beseitigen S. 754 einem Berg zum andern gieng, und gar vil Heüser, und ihre Gebäude wiederaufbauen konnten. Scheüren und Ställ vor und in St. Leonharts Vor- Dazu kam eine Welle der Hilfsbereitschaft statt zerrißen und sampt einem Stuck der ußern aus den benachbarten Klöstern und Städten: Stattmauren unden hinweg genommen; in wölcher nachbarliche Hilff mit pferdten, leuthen, früchten waßernott 11 persohnen, Alt und Jung, jämerlich und anderm, wie Gabelkover weiß. Fuhrwerke umbkommen und ertruncken. Dergleichen schad mit Hilfsmannschaften zum Aufräumen und soll Stuttgarten nichmehl begegnet sein … Nahrungsmittel wurden gestellt. Die Unwetter schäden in der fürstlichen Residenzstadt Stutt So berichtet der württembergische Chronist gart konnten so mit nachbarlicher Hilfe bald be Johann Jakob Gabelkover (1578–1635) in seiner seitigt werden, aber die kollektive Erinnerung Chronik von Stuttgart. Eine Unwetterkatastro an diese Umweltkatastrophe und ihre gemein phe, wie sie Stuttgart nicht mehr erleben sollte, same Bewältigung blieb lange erhalten hatte dieser 31. Juli des Jahres 1508 gebracht. Im umwelthistorischen Kontext wird die Be Im Heslacher Tal war gegen Abend ein solcher sonderheit des Ereignisses deutlich: Hochwasser Wolkenbruch niedergegangen, dass der ganze und Überflu tungen des Nesenbachs waren in Stuttgarter Talkessel, von einem Berg zum andern, Stuttgart immer wieder aufgetreten, und noch binnen kürzester Zeit überflutet war. Häuser, 16 Jahre zuvor, 1492, hatte ein Wolkenbruch Scheunen und Ställe vor allem in der Leonhards das Tal überschwemmt; aber ohne vergleichbare vorstadt wurden zerstört, ein großes Stück der Folgen. Mit Blick auf die längerfristigen Wit- Stadtmauer wurde weggerissen. Elf Personen terungserscheinungen dieser Jahre um 1500 ertranken in der Flut – ein furchtbares Unglück fällt die damalige Anhäufung der Wetterextre- für die ganze Bürgerschaft. me durchaus auf, wie etwa die württember Andere Geschichtsschreiber wissen noch wei gische Chronik von David Wolleber von 1588 tere Details von dieser Flutkatastrophe zu be berichtet: richten, die bei ihren Zeitgenossen mächtigen Eindruck hinterlassen haben muss. Gabelkover Inn gemeltem Jar [1507] Entstuende der gross und andere sammelten hierzu die zeitnahen Wind in Teutschland, der Riss nit allein Berichte, wie sie die älteren lateinischen Chro viel Boum uß deer Erden, viel gepew und heusser niken boten. Denn diese alten Gelehrten, wie darnider, sonder decket auch Thürm und Tächer Nikolaus Baselius (um 1470–um 1532), der Hu- ab. So erfolget Anno etc. 1508 der Naß Sum- manist und Hirsauer Mönch, mussten es wissen, mer, und darauff ain grosser Vieh und schwein wenn sie beschrieben, wie die Wassermassen sterbendt … die Häuser in der Stadt im Nu volllaufen ließen, wie die nahen Weinberge und Viehweiden über Auf ein Jahr mit schweren Sturmschäden in flutet, die Bäume entwurzelt und weggerissen ganz Deutschland folgte dieser nasse Sommer wurden. Ein Reimspruch zur Stuttgarter Ka- 1508, der eine große Vieh- und Schweineseuche tastrophe wurde in Pforzheim sogar als Flugblatt zur Folge hatte. Es war aber vor allem die Un gedruckt und weit verbreitet. Die Naturgewalt wetterkatastrophe vom 31. Juli in Stuttgart, die erregte Aufsehen weit über Württemberg hinaus. im Gedächtnis bleiben sollte. ±Peter Rückert
16 Archivnachrichten 60 / 2020 Unberechenbar! Wetter im Wandel Poetisches Unwetter – ein alles umfassen. So müssen mittags gegen zwei Uhr an besagtem 18. Juni Gewitterwolken Wetterbericht der anderen Art und ein starker Wind aufgezogen sein, sodass Ein Gedicht zur Erinnerung anscheinend wie von selbst die Glocken auf dem Kirchturm zu läuten anfingen. Nur wenig an das Unwetter später trifft den Schüpfergrund ein erster im Schüpfergrund 1701 Schlag: Ein kurzes, aber heftiges Gewitter, das schwere Schlossen (Hagelkörner) mit sich bringt, die Menschen wie Tiere verletzen und Blüten und Früchte an Bäumen und Büschen zerstören: Berichte über Unwetter – sofern sie überhaupt erstellt werden – beschränken sich oft auf Anderthalben Ellen hoch mehr oder weniger sachliche und eher kurze Lagen sie, die Kieselstücke, – Beiträge über betroffene Gebiete, Verlauf, Jammervolle Augenblicke – Schäden und Folgen. In dieser Art hätte auch Mancher einen Vierling wog das Unwetter, das am 18. Juni 1701 über dem Schüpfergrund, einem Landstrich, der heute So verheeret die Natur; – überwiegend auf dem Gebiet der Stadt Box Nach dem schreckensvollen Wetter berg im Main-Tauber-Kreis liegt, niederging, Fand man noch zwei grüne Blätter überliefert werden können. Die Stärke und Auf der Oberschüpfer Flur! die verheerenden Folgen des Unwetters führ ten allerdings zu einer umfassenden Erinne Doch diesem ersten Unglück folgt ein zweites: rung daran. Die fürchterliche[n] Wasserfluten des Wolken Bereits ein Bericht des damaligen evange bruchs fließen von den Höhen in die Täler, brin lischen Unterschüpfer Pfarrers Johann Georg gen Kies und Treibholz mit, überfluten Keller Grabner beschreibt mehr als nur Verlauf, Schä und Straßen und schwemmen Häuser und Vor den und Folgen: Topisch verwendet er den räte sammt dem guten roten Wein davon. In Gedanken einer Strafe Gottes als Grund des diesen Fluten ertrinken ein Vater bei der Ret 1 Unwetters, dessen Verlauf er ausführlich schil tung seines Sohnes und eine junge Frau. Die dert und feststellt: und weiß ich […] fürwahr Schuld für das Unwetter wird von den Betrof nicht, […] wie ich mich […] hinbringen und er fenen – wohl auch schon in Grabners Bericht – halten soll. So bat er dann auch um Unterstüt einer Prophetin, voll von Bosheit, Haß und Neide, zung zur Bestreitung des Lebensunterhaltes zugeschoben, Krauß grenzt sich allerdings (LABW, HZAN La 20 Bü 410). Ähnlich wird es davon ab: auch den weiteren Bewohnern der betroffenen Orte Epplingen, Kupprichhausen, Lengenrie Aber ferne sei’s von mir den, Oberschüpf, Schweigern, Uiffingen und Aberglauben zu verbreiten, Unterschüpf, heute alle Teil der Stadt Boxberg, Der vielleicht in jenen Zeiten sowie Sachsenflur, heute Teil der Stadt Lauda- Seine Wohnung hatte hier. Königshofen, ergangen sein. Die Erinnerung an das Unwetter blieb deut Er appelliert lieber an das Mitgefühl seiner Mit lich im Bewusstsein der Ortsbewohner: In menschen und hofft auf Gottes Gnade: einigen Orten wurde ein sogen. Gewitterfeiertag mit Gottesdienst an den Jahrestagen eingerich Strafe du uns nimmermehr, tet, wie der Unterschüpfer Pfarrer Schenck Schütze uns vor Hagelregen; 1887 im Vorwort zur zweiten Auflage des Ge Gieb uns deinen Vatersegen, dichts schreibt, das sich das Unwetter – zur Schaue gnädig auf uns her! Erinnerung und zum Gedenken – zum Gegen stand gemacht hat. Diese Bitte und Hoffnung war für eine durch Dieses Gedicht, 1811 vom damaligen Unter Landwirtschaft geprägte Gegend sicher existen schüpfer Kaplan Christoph Friedrich Krauß ziell, von guter Ernte hing das Überleben ab. verfasst, greift den Bericht Grabners auf und Bis heute werden zur Erinnerung an das Unwet beschreibt in umarmenden Reimen in 56 vier ter Gedenkgottesdienste am oder um den Jah versigen Strophen den Ablauf und die Auswir restag gehalten. Und vermarkten konnte man kungen, die von der Zerstörung von Häusern, das Unwetter auch: 1887 verkaufte der genannte 1 Titelblatt der zweiten der Vernichtung eingelagerter Lebensmittel und Pfarrer Schenck die Neuauflage des Gedichtes Auflage des Gedichtes von Kaplan Krauß, 1887. der bevorstehenden aussichtsreichen Ernte für 20 Pfennig, zum Besten des Baues eines evan- Vorlage: über die Überschwemmung ganzer Ortschaften gel. Kirchleins in Lengenrieden, wie er schreibt. LABW, StAWt S-V 10 I 93 bis hin zu Todesfällen bei Tier und Mensch ±Vera Kreutzmann
Archivnachrichten 60 / 2020 17 Unberechenbar! Wetter im Wandel es weiter, durch einen Wetterstrahl – also einen Blitzschlag – selbst betroffen gewesen. Gewitter gehörten noch in der Frühneuzeit zu den gefährlichsten Naturgewalten überhaupt; immer wieder sind schwere Brände durch Blitz schläge ausgelöst worden. Erst zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurden diese gleißenden Licht bögen am Himmel als das begriffen, was sie tat- sächlich sind: Abbau elektrischer Hochspan nung. Im amerikanischen Boston befasste sich zu dieser Zeit der Erfinder Benjamin Franklin mit Stromflüssen, Entladungen und entsprechen den Phänomenen bei Blitzschlägen, um schließ lich im Juni 1752 sein berühmtes Drachenex- periment durchzuführen und daraus das Prinzip des Blitzableiters zu schlussfolgern. Auf ähnliche Gedanken ist der Anonymus von Bruchsal schon vier Jahre zuvor gekommen. Im oberen Stock eines Gasthauses am Fenster stehend – einer der gefährlicheren Orte, an dem man sich bei Gewitter aufhalten konnte – wird er in der Nacht des 25. Juli 1748 von der elektri- schen Wucht eines Blitzstrahls getroffen. Wie von einem Pistolenschuss fühlt er sich nieder gestreckt, darvon mir Pulver, Schweffel, Bley, 1 fast durch den gantzen Leib geloffen. Als der her- beigerufene fürstbischöfliche Leibarzt den Ver- letzten untersucht, findet er Versengungen, Brandflecken und rote Striemen auf seiner Haut sowie Risse in einigen Kleidungsstücken. Der »Pulver, Schweffel, Bley« Mann hat Glück, gehört er doch zu jener Hälfte aller Betroffenen, für die ihre Tuchfühlung mit dem Blitz nicht tödlich endet. Er wird, wieder ge- Wie in Bruchsal (fast) sundet, mit seiner außergewöhnlichen Geschich- te rasch zum Tagesgespräch, ein Besuch am Ort der Blitzableiter erfunden des Geschehens zum Ereignis. O was vor [für] eine Menge Volcks war in und vor dem Hauß zu seh- wurde en, reimt das Unglücksopfer, wo dieser schwehre Wetterschlag mit solchem Donnerknall geschehen! Bei näherem Betrachten stellt der offenkun dig naturinteressierte Glückspilz etwas Inter- essantes fest: Der Blitz musste einen dünnen 1 Druckschrift »Gottes wun- Eingebunden in eine Sammlung kleiner Schriften Metalldraht unter dem Verputz des Gasthauses dervolle Gnadenspuren und des 18. Jahrhunderts verwahrt die Historische entlanggelaufen sein und hatte diesen verzehrt, heilige Vorsehung Bey ent- stehenden Donnerwettern«. Bibliothek des Ludwig-Wilhelm-Gymnasiums in verbrandt und insgesammt mit seinem Feuer weg- Vorlage: Rastatt einen nur vier Blätter umfassenden genommen – aber ohne andere anliegende Historische Bibliothek der Druck, dessen Haupttitel – Gottes wundervolle Teile des Gebälks und Mauerwerks zu beschädi- Stadt Rastatt, Sign. Q* 4/17 Gnadenspuren und heilige Vorsehung Bey ent- gen. Das technische Prinzip des Blitzableiters, stehenden Donnerwettern – in barocker Ma das Franklin wenige Jahre später ausarbeitet nier gefolgt wird von einer Kurzbeschreibung und das 1760 auf einem Hausdach seine Bewäh dessen, was die geneigte Leserschaft auf den rungsprobe besteht, wird durch diese Bruch folgenden Seiten erwartete: Poetische Ge- saler Beobachtung flankiert, wenn nicht sogar schichts-Erzehlung Dessen, was sich den 25. Jul. ein Stück weit vorweggenommen. Überhaupt 1748 Als an St. Jacobs-Feyer Und dem Tage der war der deutsche Süden einer der Schauplätze, eingefallenen Sonnen-Finsterniß des Nachts wo sich der Feuerschutz durch Blitzableiter be gegen 10. Uhr bey sich ereignetem schwehren Don- sonders früh durchsetzen konnte. Die Pfalz und nerwetter In Hoch-Fürstlich-Bischöfflich-Speye- Bayern, Württemberg, Baden sowie das kleine rischer Residentz-Stadt Bruchsal Merckwürdiges Fürstentum Ansbach gehörten mit zu den ers zugetragen. Der anonyme Verfasser des in Vers ten, die dem innovativen Fabrikat eine Chance form niedergeschriebenen Textes sei, so heißt gaben. ±Thomas Adam
W 18 Archivnachrichten 60 / 2020 Unberechenbar! Wetter im Wandel Elektrizität leicht erklärt Eine »Philosophische Betrach- tung über die Erfindung, Eigenschaften und Wirkungen der sogenannten Wetter- stangen oder (Blitz-) Ableiter« »Auch hielt man es Während Gewitter, Blitz und Donner die Men des heimgekehrten Fürsten folgend, die Theorie schen heute hauptsächlich mit Faszination von den Wetterstangen oder Ableitern im Kurzen für nicht statthaft, den erfüllen, lösten sie in Zeiten, in denen man einzusehen, um sich zu überzeugen, daß es mög- von Gott gesandten diesen Naturgewalten noch ungeschützt aus lich sei, unsere Gebäude gegen die fürchterlichen Himmelsblitzen durch geliefert war, Angst und Schrecken aus. Sie Blitze drohender Wetterwolken zu bewahren, Menschenhand Einhalt vernichteten Ernten, setzten Gebäude in Brand verfasste der Benediktiner und spätere Salzbur und kosteten Menschenleben – gemeinhin ger Professor für Moraltheologie Jakob Danzer zu gebieten.« galten sie als Strafe Gottes, der einzig mit Ge aus Isny zum Neujahr 1780 eine 16-seitige bet und Buße begegnet werden konnte. naturphilosophische Abhandlung. Nach einer Von Benjamin Franklins berühmtem Drachen auf empirischer Forschung basierenden Ein experiment 1752 und der damit verbundenen führung in das Wesen der elektrischen Ladung Erkenntnis, dass Blitze mit Elektrizität in Zu und Leiter beschrieb er anschaulich die Funk sammenhang gebracht werden können, bis zur tionsweise der Wetterstangen und bot an, bei flächendeckenden Installation von Blitzab Interesse eine Bauanleitung zu liefern. leitern auf öffentlichen Gebäuden im 19. Jahr Ob diese denn auch angefordert wurde, lässt hundert war es ein weiter Weg. Die ersten sich den Akten jedoch ebenso wenig entneh- Blitzableiter stießen nicht nur in der einfachen men wie der Zeitpunkt der Installation der Bevölkerung auf Gegenwehr. Viele fürchteten, ersten Blitzableiter in den hohenzollernschen die neuen metallenen Gestänge auf den Dä Fürstentümern. In den 1820er Jahren waren chern würden Blitze geradezu magisch anzie Blitzableiter nachweislich auf einigen fürstli- hen und die Gefahren der Blitzschläge noch chen Gebäuden etabliert und als das Sigma- verstärken. Auch hielt man es für nicht statt ringer Residenzschloss 1879 mit gänzlich neuen haft, den von Gott gesandten Himmelsblitzen und zeitgemäßen Blitzableiteranlagen aus- durch Menschenhand Einhalt zu gebieten. gestattet wurde, wusste der Bauinspektor zu be- Fürst Joseph Wilhelm von Hohenzollern- richten, die vorhandenen Ableiter, in die erste Hechingen, der 1772 aus Kostengründen seine Periode der Anwendung solcher fallend also schon Hofhaltung in Hechingen auflöste und sich seit langer Zeit bestehend, seien ihrer Zeit ge- mitsamt Ehefrau und Hofmarschall für drei Jahre mäß aus einzelnen Flacheisenstangen zusam- inkognito auf Reisen begab, verstand sich mengesetzt und nun nicht mehr funktionstüch- selbst als aufgeklärten Landesfürsten und dürf tig. Der Nutzen und die Notwendigkeit zum te an den europäischen Höfen die zum Amüse Ersatz der Blitzableiter waren 100 Jahre nach ment aufgeführten Experimente zur Ableitung Danzers Plädoyer für die Wetterstangen unbe- von Blitzen miterlebt haben. Dem Wunsch stritten. ±Sabine Hennig
Archivnachrichten 60 / 2020 19 Unberechenbar! Wetter im Wandel 1 Beispielhafte Darstellung eines Blitzableiters, beste- hend aus durch Eisenketten miteinander verbundenen Metallstangen und deren Erdung auf der Vorder- und Rückseite des Gebäudes (Figura II), 1780. Über die bestmögliche Konstruktion der sogenannten Wetter- stangen selbst (Figura III und IV), welche häufig mit Fahnenmasten oder Wetterfahnen kombiniert wurden, herrschte bis ins 20. Jahrhundert hinein Uneinigkeit. Franklin bevor- zugte einfache Metallspit- zen, im süddeutschen Raum setzten sich zunächst mehrspitzige, teilweise kunstvoll gefertigte Konst- ruktionen durch. Vorlage: LABW, StAS Ho 1 T 7 Nr. 1578 1 2 2 Apparatur zur Erzeugung elektrischer Ladung mittels Reibung und Ableitung derselben durch elektrische Leiter zur Illustration der Abhandlung Jakob Dan- zers, 1780. Vorlage: LABW, StAS Ho 1 T 7 Nr. 1578
20 Archivnachrichten 60 / 2020 Unberechenbar! Wetter im Wandel
Archivnachrichten 60 / 2020 21 Unberechenbar! Wetter im Wandel »Hagelschlag-Hilfe!« Hagelfeiertage und -prozessionen zur Abwendung von Unwettern »Von Blitz, Hagel und Ungewitter erlöse uns verschont zu bleiben. Bei der Prozession mit Herr Jesus Christ…« Pfarrer, Fahnen und Gesängen wurden die Fluren der Gemarkung abgeschritten und/oder feierlich zur Kirche in einem Nachbarort ge pilgert. Als es im Laufe des 18. Jahrhunderts nach Meinung der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit in den katholischen Territorien zu Dieser alte Wettersegen findet sich noch in viele und durch Missbrauch wie Wirtshausbe einem Magnifikat, dem katholischen Gebet suche oder Tanzveranstaltungen geprägte und Gesangbuch der Erzdiözese Freiburg von Feiertage und Prozessionen gab, wurde deren 1935. Er wurde in der Regel vom 3. Mai bis Anzahl durch Verlegung auf allgemeingültige zum 14. September gebetet. Darin kommt die Feiertage oder Verbot immer weiter reduziert oft existenzielle Bedeutung des Wetters zum und reglementiert. Zur Verhinderung von Un Ausdruck. Stellten doch Gewitter, zu viel Regen gehorsam wurden die Einwohner an nun abge und vor allem Hagelschlag eine nicht zu unter schafften Feiertagen mitunter zu Fronarbeiten schätzende Bedrohung für die Landwirtschaft herangezogen. Ein in Staufen im Breisgau am dar. In kürzester Zeit konnten und können nach Freitag nach Christi Himmelfahrt üblicher Ha wie vor Getreide, Obst oder Rebstöcke durch gelfeiertag wurde 1772 auf den Feiertag Christi Hagelkörner so stark beschädigt werden, dass Himmelfahrt verlegt. Trotz Bitten der Bevöl die Ernte vernichtet ist. Vor allem das Wetter kerung blieb die traditionelle Durchführung nach von Mai bis September hatte Einfluss darauf, ob Himmelfahrt verboten. Dennoch begaben sich es eine gute Ernte gab, um ausreichend Vorräte 1773 nach der im Sommer freitags um fünf Uhr für den Winter anzulegen, oder ob durch Miss früh üblichen Wetter-Betstunde vor allem junge ernten eine Hungersnot drohte. So entwickel Leute, Kinder, Sänger, einige Bürger und drei ten sich religiöse Bräuche wie Bittprozessionen Richter mit Fahnen, aber ohne Pfarrer und ohne und besondere Gottesdienste, die Unwetter ab das übliche Ausläuten auf eine Prozession durch wenden sollten, welche oft als Zorn oder Strafe die Stadt nach Kirchhofen. Nach ihrer einge Gottes verstanden wurden. Der Hagelfeiertag läuteten Rückkehr zur Kirche, wo Te deum beziehungsweise die Hagelprozession sind spe laudamus angestimmt wurde, registrierte man zielle Ausprägungen, die je nach Festlegung die Richter und einige Bürger namentlich, um des Tages im jeweiligen Ort meist zwischen Juni sie dann zu bestrafen. und August stattfanden, wenn die Gefahr von Trotz ablehnender Maßnahmen der Obrigkeit Hagelwetter am größten ist. Bei einigen Orten und Einführung einer Hagelversicherung blieb 1 Erntedankprozession in gehen sie auf ein Gelübde zurück, das von den der Hagelfeiertag als Gedenk- und Bitt oder Überlingen 1817 nach dem Hungerjahr 1816. Einwohnern nach einem besonders schweren Gelöbnistag mit Gottesdienst in einigen katho Vorlage: Hagelunwetter in der Hoffnung abgelegt wurde, lischen und evangelischen Pfarrgemeinden LABW, GLAK J-D U 2 zukünftig von solch schlimmen Ereignissen bis heute erhalten. ±Gabriele Wüst
22 Archivnachrichten 60 / 2020 Unberechenbar! Wetter im Wandel Zwei adlige »Wetterfrösche« Wetteraufzeichnungen der Herzöge Wilhelm (I.) und Wilhelm (II.) von Urach im Hauptstaatsarchiv Stuttgart 1 Für die Menschen im überwiegend agrarisch ge prägten Württemberg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte das Wetter eine wichtige Rolle. Unwetter bedeuteten Gefahr für Leib und Leben und konnten die ökonomischen Exis tenzen ganzer Familien zerstören. Daher ist das Bestreben der Menschen nach einer Wetter vorhersage auf naturwissenschaftlicher Basis verständlich. Grundlage dafür ist unter anderem die Beobachtung des Wetters über einen länge ren Zeitraum. Private Wetterbeobachtungen aus früheren Zeiten sind relativ selten. Umso erfreulicher ist, dass sich im Archiv der Herzöge und Fürsten von Urach Grafen von Württemberg (GU-Be- stände) im Hauptstaatsarchiv solche Aufzeich nungen erhalten haben. Wilhelm (I.) Herzog von Urach Graf von Württemberg (1810–1869), der vielen als Erbauer von Schloss Lichten stein und als einer der Gründer des Württem bergischen Geschichts- und Altertumsver eins bekannt ist, war ein vielseitig gebildeter Offizier. Er interessierte sich für Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie, Mathematik und Naturkunde. Vor allem die Meteorologie hatte es ihm angetan.
Archivnachrichten 60 / 2020 23 Unberechenbar! Wetter im Wandel 2 Gegen den allgemeinen Aberglauben und 1849 fertigte Herzog Wilhelm Diagramme 1 Wilhelm (I.) Herzog von Urach Graf von Württem- die Unkenntnis der Menschen über das Wetter über den Luftdruck in Donaueschingen an, wo berg. veröffentlichte der Herzog die Abhandlung er als Offizier stationiert war. Vorlage: Betrachtungen über das Wetter und seine Pro Wilhelms Witwe Florestine Herzogin von LABW, HStAS GU 99 Nr. 262 pheten. Dem Adligen war bekannt, dass sich Urach Gräfin von Württemberg (1833–1897), 2 Tägliche Barometerstände mithilfe eines Barometers der Luftdruck eine geborene Prinzessin von Monaco, und (rot) und Temperaturstän- messen lässt. Das Steigen und Fallen des Luft der gemeinsame Sohn Wilhelm (II.) Herzog de (schwarz) für Donau- eschingen im Monat Janu- drucks lässt Aussagen über die künftige Wet von Urach Graf von Württemberg (1864–1928) ar 1849, gemessen jeweils terentwicklung zu. ließen sich ebenfalls über die Temperaturen um acht Uhr morgens. Wilhelm plädierte in seiner Schrift dafür, auf Schloss Lichtenstein in den Jahren 1884 Vorlage: LABW, HStAS GU 105 Bü 232 Wetter über einen längeren Zeitraum zu be bis 1901 und 1921 bis 1927 vom jeweiligen obachten und zu vergleichen, um daraus Rück Schlossverwalter unterrichten und führten so schlüsse auf das künftige Wetter zu ziehen. die Tradition Herzog Wilhelms (I.) fort. Auch Daher hat der Herzog selbst über Jahre hinweg diese Wetteraufzeichnungen sind eine beach Aufzeichnungen über das Wetter angefertigt. tenswerte Quelle für die Meteorologie. So enthält sein Nachlass Notizen über Tempe ±Eberhard Merk raturen, Windrichtung und Luftdruck auf Schloss Lichtenstein in den Jahren 1844 bis 1845. Von März 1857 bis August 1862 notierte Wilhelm die Temperaturen und die Witterung zu ver schiedenen Tageszeiten. Diese Wetterbeob achtungen und -aufzeichnungen sind eine interessante Quelle für die Forschung, weil sie sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Anhand der mithilfe eines Barometers er mittelten Daten von Dezember 1848 bis März
24 Archivnachrichten 60 / 2020 Unberechenbar! Wetter im Wandel Marschieren unter sengender Sonne Hitzeerkrankungen im XIII. Armeekorps 1 Porträt von Albrecht Der Sommer 1874 war brütend heiß. Die Tem Die öffentliche Meinung kippte vollends, als Herzog von Württemberg, peraturen stiegen zum Teil auf bis zu 40 Grad. am 16. Juli 1874 ein weiterer Soldat an den 1898. Vorlage: Trotz der Gluthitze stand für die Schützen Folgen eines Hitzeschlags verstarb. Das für die LABW, HStAS M 703 R104, der 12. Kompanie des 2. württembergischen Truppenausbildung im XIII. Armeekorps zu Nr. 2 Infanterie-Regiments Nr. 120 am 4. Juli ein ständige Generalkommando sah sich daraufhin 2 Anordnung des Kriegs- anstrengender Fußmarsch auf dem Programm. zu einer Stellungnahme im Staatsanzeiger ver ministeriums vom Schließlich galten straffste Disziplin und »Man- pflichtet: Der verstorbene Soldat hatte nach 5. August 1889. neszucht« […] der militärischen Führung […] Aussage seiner Kameraden während mehrerer Ta Vorlage: LABW, HStAS M 33/1 Bü 190 als unverzichtbare Säulen der gesamten militäri- ge an Diarrhoe gelitten, so daß sein dadurch schen Ausbildung. sehr geschwächter Organismus für die verderblich Um fünf Uhr in der Frühe wurde in Weingar en Einflüsse der herrschenden Witterungsverhält ten aufmarschiert. In voller Ausrüstung in nisse besonders empfänglich war. Für den anderen klusive eines 15-pfündigen Sandsacks mussten Vorfall fand der Sprecher des Generalkomman die Füsiliere nun sieben Stunden im Gleich dos ebenfalls keine Worte der Selbstkritik: Auf schritt gehen und Felddienstübungen ableisten. dem Marsche […] wurde der Mannschaft […] Zu Trinken bekamen die Männer lediglich mit gestattet, die […] Sitzplätze auf den Geschützen, Wasser verdünnten Essig. Die letzten Kilometer Protzen und Wagen abwechselnd zu benutzen; zur Kaserne mussten die Soldaten im Schritt auch der verstorbene Kanonier […] hatte von gehen, bevor im Kasernenhof endlich die obli dieser zu Schonung der Mannschaft ertheilten Er gatorische Parade stattfand. laubnis Gebrauch gemacht, […] gegen Ende des Dann aber, so konnte man in der linkslibera Marsches aber freiwillig den Sitzplatz verlassen. len Zeitung Der Beobachter vom 10. Juli 1874 Die liberale Presse antwortete mit ironischem nachlesen, brachen im Hof, in den Gängen und Unterton, dass das Generalkommando sich be- Sälen die überhitzten und übermüdeten Leute dem müht [habe], die Wahrheit ans Licht zu rücken. Dutzend nach zusammen. […] Von den Betroffe Die Folgen der Gewaltmärsche im Sommer 1 nen ist einer, ein »kräftiger schöner Mensch«, noch 1874 führten immerhin dazu, dass das Gene an demselben Abend gestorben, an dem Aufkom- ralkommando von nun an mehr Rücksicht auf men zweier andern werde gezweifelt, und weitere das heiße Sommerwetter nahm. Es galt der 5 oder 6 sollen noch schwer darniederliegen. Ins Merksatz: Bei großer Hitze sollen Armeeübungen gesamt sprach man hinter vorgehaltener Hand vermieden werden.1889 traf das Kriegsminis von bis zu 40 wettergeschädigten Soldaten. terium weitere Vorkehrungen, um Unglücksfäl Der regierungstreue Oberschwäbische Anzeiger le durch Einwirkung der Hitze zu vermeiden. versuchte zunächst die Ereignisse zu beschö Jedoch konnte das für die Herstellung eines iso nigen. Doch die Veröffentlichung im Amtsblatt tonischen Getränks von nun an mitzuführende für das Oberamt Ravensburg heizte die Stim Päckchen mit zehn Gramm Zitronensäure nicht mung nur noch weiter an, wovon der aggressive verhindern, dass die Soldaten weiterhin in Sprachduktus im Beobachter vom 14. Juli 1874 der Sonne umkippten. Immer wieder war es zeugt: Dem braven Schönfärber […] wollen wir Der Beobachter, der über die Hitzetoten im XIII. [folgenden] Rath nicht vorenthalten […]: Dieser Armeekorps berichtete, auch als im Mai 1910 feine Herr soll einmal zu seiner Belehrung einen wieder ein Einjähriger einem Hitzestich erlegen solchen Marsch und solche Uebungen in solcher war. Der Artikel, der sich im Speziellen gegen Ausrüstung und Bepackung, bei solcher Hitze mit den Kommandierenden General Albrecht Her nüchternem Magen und Essigwasser mitmachen, zog von Württemberg richtete, trug die Über damit er in Zukunft über solche Dinge nicht mehr schrift: Ein Todesmarsch. so unvernünftiges Zeug faselt! ±Frederick Bacher
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Archivnachrichten 60 / 2020 27 Unberechenbar! Wetter im Wandel Wetterkapriolen – anno dazumal Das Unwetter vom 29. Mai 1911 an Grünbach und Tauber 1 Die Paimarer Opfer wurden Die Grundaussage, die Gegner eines von Men koordinieren und sich um rasche und ausgiebige am Abend des 31. Mai 1911 schen verursachten Klimawandels immer Unterstützung […] an alle edlen Menschenfreun- bestattet. Vom Schul- haus, in dem die Leichen wieder anführen, Unwetter gab es auch schon de zu wenden. Neben diesem Hilfsausschuss aufgebahrt worden waren, früher, lässt sich in der Tat aus den Archiven publizierten auch der Verband badischer Land- zog der Leichenzug über provisorische Stege zum belegen. Doch im Gegensatz zur aktuellen und kleiner Stadtgemeinden und die Badische auf der anderen Seite des Entwicklung waren es früher eher seltene und Landwirtschaftskammer unter ihrem Vorsit- Grünbachs gelegenen Friedhof. lokal begrenzte Wetterphänomene. Ein Bei zenden Prinz Löwenstein Hilfsaufrufe. Berichte Vorlage: spiel dafür datiert vom 29. Mai 1911. An diesem in der örtlichen und überregionalen Presse LABW, StAWt A6-0 Nr. 1007 Tag ging auf einer Fläche von ca. 120 km² mit hatten neben der Information der Leser dasselbe Foto: Schwerpunkt bei Grünsfeld ein Frühsommerge Ziel. Spenden gingen beim Hilfsausschuss in Ludwig Holl, Mergentheim witter mit Hagelschlag und Starkregen nieder. Form von Geld und Naturalien ein. Aus der Ge 2 Hilfsaufruf des Verbands Der Grünbach, ein kleiner Zufluss der Tauber, meinde Mondfeld am Main zeigt eine Auflis badischer Land- und schwoll innerhalb kürzester Zeit so stark an, tung beispielsweise, dass Privatleute im Schnitt kleiner Stadtgemeinden zur Unterstützung der Un- dass das Wasser dem Rheinstrom bei Mannheim 30-50 Pfennige spendeten. Mit zehn Mark wetteropfer. Auf der Rück- mit 5–10 Meter Höhe glich. In dem am meisten erwies sich dabei der aus Mondfeld gebürtige seite des Aufrufs ist ein umfangreicher Bericht aus von der Flutwelle betroffenen Ort Paimar ver und in München wirkende Zeichner August Fut dem Heidelberger Tage- loren dadurch elf Menschen ihr Leben; die terer sehr großzügig. Auch aus Gemeindekassen blatt zu den Ereignissen Verluste an Pferden, Großvieh und Schweinen wurden Unterstützungsbeiträge geleistet, de abgedruckt. Vorlage: gingen in die Hunderte. Weitere vier Menschen ren Zuteilung nicht allein nach Bedürftigkeit, LABW, StAWt S-O 11 A 467 fanden im bachabwärts gelegenen Grünsfeld sondern auch nach Regionalproporz erwünscht den Tod in den Wassermassen. In rund 20 war. So zumindest beim Beitrag der Stadt Wert- Gemeinden im Einzugsbereich des Unwetters heim über 200 Mark, wovon 100 M. der Bezirks- beklagte man Schäden an der Feldflur, am gemeinde Gamburg [Bezirksamt Wertheim] zu- Wegenetz und v. a. den Verlust der Acker- und zuweisen sind. Der Ankauf von Saatgut und Wiesenerträge. Eine vorläufige Bilanz bezifferte Futtermitteln zu verbilligten Preisen, reduzier- den Schaden auf rund acht Millionen Mark. te Transportkosten für Eisenbahnfracht sowie Unmittelbar nach dem Unglück setzten Auf der Ersatz von Gebäudeschäden nach den Maß räumungsarbeiten und Hilfsmaßnahmen ein. stäben der Gebäudebrandversicherung durch Bayrisches Militär aus dem nur rund 30 km ent den badischen Staat waren weitere Unter- fernten Würzburg war dem Hilferuf der betrof stützungsmaßnahmen. Modern klingt die Em- fenen Gemeinden gefolgt, um bei der Leichen pfehlung, dabei die Verlegung der Baustelle bergung zu helfen und die durch Schlamm an einen weniger dem Hochwasser ausgesetzten und Geröll verwüsteten Verkehrswege wieder Platz zu erwägen. herzustellen. Der badische Großherzog, der Das Interesse bzw. die Sensationsgier der zwei Tage nach dem Unglück nach Paimar und Öffentlichkeit wurde u. a. durch Postkarten Grünsfeld gereist war, um sich ein Bild von eines Berufsfotografen befriedigt, der Aufräum den Verwüstungen zu machen, hätte hingegen arbeiten und Leichenbergung bildlich doku badisches Militär bevorzugt. Dieses kam kurz mentierte. Auch vor Profiteuren des Unglücks zeitig ebenfalls noch zum Einsatz. wurde sogleich gewarnt, Händler würden den Ein Hilfsausschuss unter dem Vorsitz der Notleidenden ihre Waren zu übertriebenen Oberamtmänner der Bezirksämter Tauber- Preisen aufzudrängen suchen. Die Verteilung der bischofsheim und Wertheim sowie zweier Reichs- Hilfsgelder und Spenden, insbesondere der und Landtagsabgeordneter konstituierte sich, staatlichen Unterstützungsbeiträge, zog sich um die erforderlichen Hilfsmaßnahmen zu dann bis 1914 hin. ±Claudia Wieland
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