Naturwirkstoffe aus Pflanzen - Biodiversitätsforschung
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DOI: 10.1002/ciuz.201000487 Biodiversitätsforschung Naturwirkstoffe aus Pflanzen R ICHARD P OTT 260 © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 |
WIRK STOFFE AUS PFLANZEN N AT U R S TO F F E | Naturstoffe spielen in der Biotechnologie, Chemie, Pharmakologie und Medizin sowie in der Biodiversitätsforschung eine zunehmende Rolle. Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen sowie deren Lebensräume sind und bleiben das wichtigste Reservoir für Pharmazeutika und Medizin- produkte. Dies gilt sowohl für die Arzneistoffforschung und die medizinischen und biotechno- logischen Produkte der Zukunft als auch für die Entwicklung neuer chemischer Wirkstoffe. Hier liegen große neue Entwicklungsfelder. Zur Identifizierung und Erforschung von Natur- wirkstoffen aus Pflanzen bedarf es der Sicherstellung und des Erhalts der Diversität (Arten- vielfalt) auf der Erde, für alle Organismen, jetzt und in der Zukunft. Dies ist eine Aufgabe, die wegen der zunehmenden Zerstörung und Bedrohung fast aller natürlichen Lebensräume auf unserem Globus essentielle Bedeutung erlangt hat. Der Begriff der Biodiversität ganze Palette von Fakten, Wertungen und Forderungen, Beim Stichwort „Biotische Vielfalt“ („Biotic Diversity“) doch erst seit dem Erdgipfel von Rio de Janeiro hat sich die denkt man vor allem an Naturschutz und Artenvielfalt. Doch Bezeichnung in Medien, Politik, Ökonomie, in den Natur- der Begriff umfasst auch die Fülle der Lebensräume (Habi- wissenschaften und in der Gesellschaft allgemein etabliert. tate) sowie die genetische Diversität. Er ist also nicht nur Es wurde mit dem Begriff eine Verbindung zwischen bioti- quantitativ und hierarchisch, sondern auch qualitativ be- scher Vielfalt, ihrer wissenschaftlichen Erforschung, ihrer haftet. Aus der Sicht einer umfassenden und modernen Geo- Bedrohung und ihrer Erhaltung hergestellt. botanik kommen dabei naturwissenschaftliche Aspekte der Vom 3.–14. Juni 1992 trafen sich in Rio de Janeiro rund Chemie, der Pharmazie, der Evolutionsforschung und der 15.000 Delegierte aus 178 Ländern, darunter fast 120 Staats- Biogeographie transdisziplinär zusammen. Zusätzlich kön- und Regierungschefs und eine große Zahl von Umwelt- und nen mit medizinischem und ethnobotanischem Wissen die Entwicklungsministern. Ziel war es, Lösungen für globale zeitlichen und räumlichen Muster der Diversität, vor allem Probleme wie Armut, Ressourcenverteilung, Umweltzer- der Pflanzenwelt, beleuchtet werden. störung und Biodiversitätsverlust zu suchen. Die dort ver- Alle Lebewesen können genetisch unterschiedliche fasste Biodiversitäts-Konvention fordert gezielt alle Ver- Individuen einer Population sein, wie die Arten (Taxa), tragsparteien auf, eine auf den Erhalt der biotischen Vielfalt Gattungen oder systematische Familien von Mikroorga- ausgerichtete Forschung zu betreiben. Diese ist voll im nismen, Pflanzen und Tieren. Auch funktionale Typen, Le- Gange, wie man auf der letzten CBD-Konferenz in Bonn im bensformen oder Artengemeinschaften in den Ökosyste- Mai 2008 sehen konnte, bei der mehr als 6.000 Delegierte men können Spiegelbilder der Vielfalt an Biotoptypen in aus über 150 Ländern vertreten waren. Das internationale einer Landschaft sein. Leider findet heute eine dramati- Jahr der „Biodiversität 2010“ wird dieses Thema noch mehr sche Verarmung dieser Vielfalt statt, welche für die künf- in den Focus breiten Interesses stellen. Die Konvention tige Entwicklung des Lebens auf der Erde entscheidend haben inzwischen mehr als 180 Staaten der Erde unter- sein kann. zeichnet und dies lässt hoffen, dass damit ein Wendepunkt Erfunden wurde der Kunstbegriff Biodiversität erst in zum Erhalt der Biotischen Vielfalt auf der Erde erreicht den 1980er Jahren. Eine 1981 von der US-Regierung ver- wurde. anstaltete Konferenz trug den Namen „Biological Diversity“. Verantwortlich für die Umweltzerstörung ist derzeit vor Der traditionelle Begriff Artenvielfalt erfuhr damals eine allem die Vereinheitlichung der landwirtschaftlichen Nut- enorme Erweiterung. Das in den USA im Jahre 1986 ge- zung weltweit. Der jahrzehntelange Einsatz von Fungiziden gründete „National Forum on BioDiversity“ etablierte erst- und Herbiziden sowie die uniforme globale agrarische Pro- mals das neue, inhaltlich weit gefasste Schlagwort „Bio- duktion führt zu einer Abnahme agrarbiologischer Vielfalt diversität“. Ein wichtiges Ziel des US-Forums war es, auf und der Zerstörung nicht nur tropischer und subtropischer die Folgen des enormen Schwunds an biotischer Vielfalt Ökosysteme. aufmerksam zu machen [1]. Damit war auch eine bewuss- Dies erstreckt sich auch auf die biotischen Ressourcen te Popularisierung der naturwissenschaftlichen Erkennt- und die natürlichen Wirkstoffe in den Pflanzen. Auch aus nisse zum Thema Arten- und Ressourcenvielfalt beabsich- diesem Grunde muss die künftige Erhaltung der biotischen tigt. Vielfalt gesichert bleiben. Das betrifft besonders die gene- In seinen Veröffentlichungen zur natürlichen globalen tische Vielfalt der heute noch weitgehend unbekannten glo- Biodiversität verwendet der renommierte amerikanische balen Arten an Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen so- Evolutionsbiologe Edward O. Wilson den Begriff seit 1988 wie die Verschiedenartigkeit der Biogeosysteme als Lebens- [2]. Das Wort Biodiversität integriert sehr eindringlich eine grundlage für kommende Generationen. Die natürlichen Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 www.chiuz.de © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 261
biologischen Prozesse in den Großlebensräumen der Erde, denen wir heute noch gar nichts ahnen und die unter Um- an Land und im Wasser, und die Evolution mit ihren grund- ständen die Lösung für künftige Probleme bieten können. legenden Erscheinungen der genetischen Mutation und Neue Prototypen aus Naturstoffen sind vor allem in der Selektion, müssen überall gesichert sein. Infektionsbekämpfung und in der Krankheitstherapie drin- Evolution ist natürlich in erster Linie ein Prozess, der gend erwünscht. Hinzu kommen die zahllosen unentdeck- sich im molekularen Bereich abspielt: die Nukleinsäuren ten Tiere und einzelligen Organismen, die unerwartete passen sich dabei – den Darwinschen Prinzipien von Va- Überraschungen für uns bereithalten. Nicht nur der tropi- riation und Selektion folgend – an ihre Umwelt an. Die Ver- sche Regenwald erweist sich mehr und mehr als eine me- mehrung der Nukleinsäuren erfolgt jedoch nicht ohne Feh- dizinisch-pharmazeutische Fundgrube. ler, es kommt zu zufälligen Mutationen, und so ent- | steht die für die Evolution charakteristische Viel- A B B . 1 KO H L E N H Y D R AT E falt in den Zeiträumen von Jahrmillionen. Evolu- tion ist ferner ein Anpassungsprozess, der die Ent- a) stehung und das Überleben neuer Arten ein- schließt. Diese bilden sich auf der Grundlage in- Hexosen O H traspezifischer (populationsinterner) Variabilität durch Selektion und reproduktive Isolation. Diese wichtigen biologischen Vorgänge sollen nach der CH2 OH H OH CH2 OH genannten „Convention on Biological Diversity“ O O OH HO H (CBD) dauerhaft gesichert bleiben. OH OH HO OH H OH HO Naturwirkstoffe OH OH H OH Organismen und ihre Merkmale variieren. Das macht Populationen robust und treibt die Evo- CH2OH lution an. Die natürliche Vielfalt an Pflanzen, Tie- α-D-Glucose offenkettige D-Glucose β-D-Glucose ren und Mikroorganismen auf der Erde bildet ein schier unerschöpfliches Reservoir für Naturstoffe. Pentosen Deren moderne Betrachtungsweise birgt bioche- O H O H O H mische, pharmakologische und medizinische An- wendungsmöglichkeiten zum Nutzen des Men- H OH H OH HO H schen. So rücken Naturwirkstoffe immer mehr in HO H H OH H OH den Focus der wissenschaftlichen Forschung. In diesem Beitrag soll vor allem auf Naturstoffe aus H OH H OH H OH pharmakognostisch wichtigen Pflanzen näher ein- CH2 OH CH2 OH CH2 OH gegangen werden. Bisher wird nur ein kleiner Teil der bekannten D-Xylose D-Ribose D-Arabinose Naturstoffverbindungen als Medikamente, als Nahrungsergänzungsmittel oder als Wirkstoffe ge- Zuckeralkohole CH 2OH OH OH nutzt, aber man vermutet ein weitaus größeres Po- OH tenzial an brauchbaren Verbindungen. In der Sum- H OH me nutzt der Mensch etwas mehr als 70.000 Pflan- HO H zenarten, was etwa einem Viertel der uns derzeit OH H OH bekannten Pflanzenspezies entspricht. Es wird ver- OH OH mutet, dass sich aus den bisher bekannten 125.000 H OH Blütenpflanzen, die allein in den Tropen wach- CH 2OH sen, zahlreiche weitere neue Medikamente ent- D-Sorbit neo -Inositol (Cyclitol) wickeln lassen. Und auch die derzeit noch unbe- kannte Vielzahl nutzbarer Mikroorganismen gehört Uronsäuren COOH COOH zu den genetischen Reserven für die Zukunft. O OH O Deshalb wächst nicht nur das Interesse der Bio- OH OH technologie und der Pharmazie an Naturstoffen. Die Strukturen der Inhaltsstoffe von Mikroorga- OH OH OH nismen und Pflanzen bilden häufig die Vorlage, OH OH nach denen Medikamente oder andere Heilmittel β-D-Glucuronsäure α-D-Galacturonsäure künstlich hergestellt werden. Zahlreiche Pflanzen haben Abwehrstoffe gegen Krankheitserreger, von 262 © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 |
WIRK STOFFE AUS PFLANZEN N AT U R S TO F F E | Der Weg von der Entdeckung und botanisch-systemati- Industrie gibt es entsprechende Anstrengungen, diese Pro- schen Identifizierung der nutzbringenden Pflanzen über die zesse umzusetzen, aber auch noch große ungenutzte Frei- Analyse ihres Lebensraumes und die pharmakologische Auf- räume. Und das trotz des Potenzials, das den patentierten arbeitung der Pflanzendroge oder des pflanzlichen Inhalts- Isolaten oder Derivaten eben dieser Drogen zuzuschreiben stoffes als Arznei- oder Lebensmittel, bis hin zur endgülti- ist. gen Marktreife bilden einen extrem aufwendigen Prozess Die Politik reagierte vor einigen Jahren in dieser Situa- und sind sehr teuer. Nur Großunternehmen oder multi- tion aus Sicht von Verbraucherschützern irrational: Mit dem nationale Konzerne können sich dies in der Regel leisten. Verbot der Kostenerstattung für pflanzliche Heilmittel In der biotechnologischen und pharmazeutisch-chemischen durch die Krankenkassen entfernte sie unliebsame Mitkon- b) CH2OH CH 2 OH O OH O HOH 2 C O CH2OH OH OH HO O O OH O CH 2 OH HO OH OH OH OH OH Lactose: Einheit aus β-D-Galactose und β-D-Glucose Saccharose: Einheit aus α-D-Glucose und β-D-Fructose c) CH2OH O O CH2OH OH O O OH OH O n OH Cellulose: β-1,4-glykosidisch verknüpfte D-Glucose-Einheiten COOH OH COOH OH O O O O O OH OH OH OH O O O O OH COOH OH COOH n Pektine: α-1,4-glykosidisch verknüpfte D-Galacturonsäure-Einheiten Stärke Inulin CH2OH CH2OH CH2OH O O O CH2OH O OH OH OH O OH O O O OH OH OH n OH O Amylose: α-1,4-glykosidisch verknüpfte D-Glucose-Einheiten OH CH2OH (lineare Ketten mit helikaler Struktur) O HO CH2OH O CH2 OH OH O n O O CH2OH O OH HO CH2OH CH2OH O O O CH2OH OH OH OH OH O O O O OH OH OH n Ausgewählte Mono- Amylopektin: α-1,6- und β-1,4-glykosidisch verknüpfte D-Glucose-Einheiten Polysaccharid aus β-D-Glucose saccharide (1a), (stark verzweigte Strukturen) und β-1,1-glykosidisch verknüpften Disaccharide (1b) D-Fructose-Einheiten und Polysaccha- ride (1c). Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 www.chiuz.de © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 263
kurrenten der Hersteller patentgeschützter Pharmaka vom Kohlenhydrate Markt. Und dies, obwohl Umfragen immer wieder belegen, Kohlenhydrate sind eine weit verbreitete Stoffklasse in tie- dass Vorbeugung und Therapie mit Naturstoffen in der Be- rischen, pflanzlichen und einzelligen Organismen (Abbil- völkerung höchste Akzeptanz erfahren. dung 1). Sie werden aus Kohlendioxid und Wasser aus- Die nachfolgenden Beispiele aus der pharmazeutischen schließlich von Pflanzen und verschiedenen Mikroorganis- Biologie sollen zeigen, dass die wesentlichen Impulse für men im Verlauf der Photosynthese gebildet. Strukturche- eine Medizin der Zukunft von einem immer weiter rei- misch sind Kohlenhydrate aliphatische Polyhydroxyketone chenden Verständnis der Naturstoffe ausgehen. Das kann oder -aldehyde und deren Derivate. Sie haben größtenteils beispielsweise durch die Betrachtung des Weizens (Triti- die allgemeine Formel Cn(H2O)m. Zu den pharmazeutisch cum div. spec.) in seiner historischen Rolle als originäres bedeutenden monomeren Kohlenhydraten gehören die Mo- Nahrungsmittel einerseits, und als moderner nachwach- nosaccharide und die von ihnen abgeleiteten Alditole (nicht- sender Rohstoff andererseits, deutlich gemacht werden. zyklische Zuckeralkohole), Cyclohexanhexole (Cyclitole), Auch die aktuelle Rolle von Zistrosen (Cistus div. spec.) Uronsäuren, Ketoaldonsäuren und Aminozucker (Abbil- und anderen Bitterstoff-liefernden Pflanzen als Nahrungs- dung 1a). Zu den oligo- und polymeren Kohlenhydraten oder Medizinprodukte sollen im Weiteren intensiver erläu- gehören die Oligosaccharide, Polysaccharide und Glykos- tert werden. aminoglykane [3] (Abbildung 1b/c). Die Strukturformeln TA B . 1 KO H L E N H Y D R AT E U N D I H R E M E D I Z I N I S C H E N A N W E N D U N G E N [ N AC H 9 ] | Strukturtyp/Name* Pflanzenherkunft Verwendungsbeispiele Monosaccharide Xylose Maisstroh, Haferspelzen, Blätter und Laub *Süßstoff für Diabetiker *Dünndarm-Funktionstests Glucose Pflanzenstärke, sonstige Pflanzenbestandteile *parenterale Ernährung, *Schocktherapie, *Infusionstherapie, *Galenik Fructose Früchte, *parenterale Ernährung bei Leberschäden Spaltprodukt von Inulin oder Saccharose *Vitamin Sorbitol Vogelbeere und andere Rosaceen, *Süßungsmittel für Diabetiker Hydrierung von Glucose *mildes Laxans (Abführmittel) *Diuretikum (zur Wasserausschwemmung) L(+)-Ascorbinsäure Mikroorganismen *Vitamin (Vitamin C) Pflanzen (aus Glucuronsäure gebildet) Oligosaccharide Saccharose Zuckerrohr, Zuckerrübe, viele andere Pflanzen *Hustensirup zur reflektorischen Steigerung der bronchialen Sekretproduktion *Galenik Maltose/Malzextrakt Gerste (Körner) (Hordeum vulgare L.) *Roborans („Stärkungsmittel“) *gg. chronische Obstipation *(Verstopfung des Darmes) Polysaccharide Stärke Reis, Weizen, Mais u. a. *Nahrungsmittel, *Galenik Cellulose Baumwolle (Abb. 4), Holz *Verbandmaterial, *Nahtmaterial (z.B. Leinen), *Galenik Inulin Topinambur (Helianthus tuberosus L.) *Nierenfunktionsprüfung Agar Rotalgen (Rhodoplantae) *Abführmittel, *Galenik, *Diätetika, *mikrobiologische Diagnostik Pektin Fruchtsäfte *Diarrhoe, *Gastroenteritis (Magen-Darm-Entzündung), *kalorienarme Diätetika, *Hämostyptikum (zur Blutstillung), *Galenik immunstimulierende Shiitakepilz (Lentinula eodes SING.), *Beschleunigung einzelner Abwehrfunktionen, Polysaccharide Wilder Indigo (Baptisia tinctoria L.), *ähnlich wie bei Kontakt mit bakteriellen Lebensbaum (Thuja occidentalis L.) *Zellwand-Polysacchariden Weizenkleie Getreideschalen von Weizen * bei Obstipation (als quellfähige Ballaststoffe) (Triticum aestivum L.) (Abb. 2) * diese Übersicht zeigt nur ausgewählte typische Vertreter der Gruppen 264 © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 |
WIRK STOFFE AUS PFLANZEN N AT U R S TO F F E | Abb. 2 Triticum aller aufgeführten chemischen Verbindungen entsprechen Etwas später hatten die mediterranen Menschen bereits aestivum L.; Wei- den Angaben in [4] und [5]. die beiden Weizenarten Einkorn (Triticum monococcum) zen, zwei (2a) und Die Kohlenhydrate wurden ursprünglich als hydrati- und Emmer (Triticum dicoccum), sowie die Zweizeil-Gers- sechs (2b) Tage al- sierte Form des Kohlenstoffs aufgefasst und deshalb 1844 te (Hordeum distichum), die der Wildform der Gerste sehr te Keimlinge. Wei- zenkeimlinge wer- von dem russischen Arzt und Chemiker Carl Schmidt nahe steht, gezüchtet. Diese alten Pflanzen sind das Kultur- den als kohlen- (1822–94) als Kohlenhydrate bezeichnet. Dieser Name ist und Nahrungsgut der Menschheit in Europa, sie sind die hydrat-, vitamin- beibehalten worden, obwohl er vom chemischen Stand- Basis unserer Ernährung. Heute geht das Wissen über sol- und ballaststoff- punkt her unzutreffend ist. Heute werden auch Verbin- che Pflanzen und deren Entwicklungsgeschichte leider all- reiche Zusatznah- dungen zu den Kohlenhydraten gerechnet, die eine abwei- zu schnell verloren, da die moderne Gentechnik diese rung verwendet. chende Summenformel aufweisen (z.B. Aldonsäuren, Uron- Kenntnisse nicht mehr benötigt, um im Labor neue Züch- Abb. 3 Thuja säuren, Desoxyzucker) oder zusätzlich Stickstoff oder tungen und neue Sorten zu schaffen. occidentalis L.; Schwefel enthalten (z.B. Aminozucker oder Mucopoly- Die genetische Variabilität der ersten Getreidearten ist der Lebensbaum saccharide). Monosaccharide und Oligosaccharide werden uns vielfach unbekannt. Es waren wohl primär trocken- liefert virustati- häufig auch Zucker bzw. Saccharide genannt. Die einzel- resistente Grasarten, die man in Kultur nahm, um später sche immunsti- mulierende Poly- nen Vertreter der Kohlenhydrate werden mit Trivialnamen saccharide. oder davon abgeleiteten systematischen Namen bezeich- net, die die Endung -ose tragen, z.B. Glucose oder Fructo- Abb. 4 Gossy- se [6]. Kohlenhydrate sind in jeder tierischen und pflanz- pium hirsutum L.; lichen Zelle enthalten und gehören neben den Fetten und Baumwolle ist wichtigster Natur- Proteinen zu den wichtigsten Bausteinen des Lebens. Sie stofflieferant der stellen den mengenmäßig größten Anteil der auf der Erde Medizin. vorkommenden organischen Substanz dar. Ausgangsver- 4a: Baumwollfeld bindung für die verschiedenen Kohlenhydrate ist in der in Australien; Regel Glucose, die im Prozess der Photosynthese gebildet 4b: Kapselfrucht mit Samenhaaren; wird. Kohlenhydrate bilden zusammen mit den Fetten und 2a) 2b) 4c: Blüte. Eiweißen die organischen Nährstoffe für Menschen und Tiere. Als Pflanzeninhaltsstoffe sind vor allem die Polysaccha- ride (Glykane) von Bedeutung: Diese polymeren, hochmole- kularen Verbindungen aus mehreren Monosacchariden (ca. dreißig bis mehrere tausend Einheiten) fungieren u.a. als Struktur- und Funktionselemente wie die Cellulose, die He- micellulose oder die Pektine. Viele dienen, wie z.B. Stärke, Fruktane und Dextrane, als Reservestoffe und übernehmen durch ihr Wasserbindungsvermögen eine wichtige Rolle im Wasserhaushalt der Pflanzen. Polysaccharide können, je nach strukturellem Aufbau, in Wasser unlöslich sein (Cel- lulose) oder ein gutes Quellvermögen haben und gut löslich sein (Stärke, pflanzliche Hydrokolloide). 3 4a) Gesunde Getreidenahrung mit heimischen Kulturpflanzen Vor 13.000 Jahren säten die Menschen in der Region der heutigen Türkei und Syriens – im „Fruchtbaren Halbmond“ – zum ersten Mal Getreidekörner aus, um im kommenden Jahr deren Früchte zu ernten. Das war der Beginn einer bis heute währenden landwirtschaftlichen Kultur und der Sess- haftigkeit des Menschen. Der Ackerbau breitete sich im Zu- ge der sogenannten „Vorderasiatischen Kulturdrift“, mit- samt den alten Getreidearten, aus dem Vorderen Orient auf allen geographischen Verbindungswegen sehr rasch nach Süd- und Mitteleuropa aus. Angebaut wurden: Wild-Einkorn: Triticum boeoticum Wild-Emmer: Triticum dicoccoides Gerste: Hordeum spontaneum, sowie das Mannagras der Gattung Glyceria [7]. 4b) 4c) Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 www.chiuz.de © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 265
durch klassische genetische Kreuzung der Wildsippen und die Grundnahrung wichtig waren: Erbse, Linse, Mohn, Wild- spezielle Selektion folgende Kulturpflanzenmerkmale zu beeren und Wildobst. Die Typenmannigfaltigkeit der Kul- erzielen: turpflanzen ist in letzter Zeit im Zuge der „Sortenbereini- – vergrößerten Wuchs (Gigas-Charakter), gung“ und mit der Schaffung moderner „Hochzuchtsorten“ – zusätzliche Vergrößerung der nutzbaren Organe (Allo- vielfach verloren gegangen. metrie) und vermehrtes Auftreten der nutzbaren Organe Neben ihrer Verwendung als Nahrungsmittel spielen (Multiplikation), Kohlenhydrate aber auch in der medizinischen Anwendung – Verbesserung der Qualität, eine wichtige Rolle. Sie sind wichtige Inhaltsstoffe vieler – gute Erntbarkeit der nutzbaren Organe (u.a. Synapto- Arzneidrogen und werden entsprechend vielfältig in der spermie: Abfallen des kompletten Blütenstandes), Therapie von Erkrankungen eingesetzt (Tabelle 1). veränderte Reifezeit (Winter- und Sommergetreide). Wir unterscheiden im allgemeinen Primäre Kulturpflan- Beispiel Cellulose zen, das sind bei uns Weizen, Gerste und Lein. Diese Arten Ein in der Medizin besonders häufig verwendetes Kohlen- wurden von Anfang an bewusst genutzt und entsprechend hydrat ist die Cellulose. Sie ist Hauptbestandteil der pflanz- angebaut. Sekundäre Kulturpflanzen sind dagegen Rog- lichen Zellwand. Cellulose ist aus Glucoseeinheiten, die gen und Hafer. Sie kamen zunächst als Unkräuter zwischen 1,4-β-glykosidisch verknüpft sind, aufgebaut (Abbildung 1c). den kultivierten Pflanzen vor und sind erst später durch Eine Spaltung ist bei Mensch und Tier aufgrund fehlender die Selektion des Menschen in den Kulturpflanzenbestand Enzyme nicht möglich. In Wasser und den üblichen Lö- übergegangen [8]. Hier besteht jedoch noch sehr viel wis- sungsmitteln ist Cellulose unlöslich. Nahezu reine Cellulose senschaftlicher Klärungsbedarf. Das Gleiche gilt für die mit- (bis zu 98 %) liegt in den Samenhaaren von Pflanzen der Gat- telalterlichen Kulturgetreide und weitere Pflanzen, die für tung Baumwolle (Gossypium, oft Gossypium hirsutum L.) ABB. 5 | P O LY PH E N O L E a) Hydroxybenzoesäuren Hydroxyzimtsäuren O MeO O HO OH HO H HO Ausgewählte Strukturen aus der Gruppe der Vanillinsäure Kaffeesäure Phenolsäuren (5a) und Flavonoide (5b). b) Flavanole Flavanone Flavone OH OH OH HO O HO O HO O OH OH OH O Apigenin OH OH O Catechin Naringenin OH OH Proanthocyane Kondensierte Glycosidflavonoide O Proantocyanidine OH H OH O OH Anthocyane H O Anthocyanidine OH OH HO OH O O O O HO O + HO H HO O O O H H3C O HO OH HO HO OH O OH OH O OH OH OH OH Naringin Cyanidin Corilagin (=Gallotannin) OH 266 © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 |
WIRK STOFFE AUS PFLANZEN N AT U R S TO F F E | vor [10] (Abbildung 4). Die bis zu 4 cm langen und bis 40 µm breiten, röhrenförmigen Fasern aus Cellulose können zu dünnen Fäden versponnen und zu Textilien aus Baum- wolle weiter verarbeitet werden. Baumwolle kann kapillar in wenigen Sekunden über das 20fache ihres Gewichtes an Wasser oder wässrigen Flüs- sigkeiten aufnehmen. Durch ihre auch im nassen Zustand sehr gute Formbeständigkeit ist sie hervorragend als Ver- bandwatte und zur Herstellung von Verbandmull sowie für Tamponadebinden geeignet. Baumwolle ist der in der Me- dizin mengenmäßig am häufigsten eingesetzte pflanzliche Naturstoff (zusätzlich: Bettwäsche, operative Abdeckmate- rialien, Bekleidung). Wesentlich für diesen breiten Einsatz ist die strukturelle Integrität der polymeren Fasern, z.B. bei der Reinigung, Desinfektion oder Sterilisation (Autokla- viermöglichkeit). Ihre Reißfestigkeit und die fehlende che- mische Interaktion (z.B. geringes Allergiepotenzial) gehören ebenfalls zu den Vorzügen der Fasern. Abb. 6 Roccella-Flechten; sie dienten früher als Quelle für Purpur-Farbstoff. Polyphenole Der Begriff Polyphenole ist eine Sammelbezeichnung für schen Inseln auf der Suche nach Flechten der Gattung Roc- aromatische Verbindungen, die mindestens zwei direkt an cella (R. canariensis, R. tinctoria, R. fuciformis, u.v.a., Ab- den aromatischen Ring gebundene phenolische Hydroxy- bildung 6), welche ebenfalls als Quelle des hochbegehrten Gruppen enthalten (Polyole). Zu der sehr heterogenen Stoff- Purpurfarbstoffes dienten. Noch heute werden die parallel gruppe werden Flavonoide, Anthocyane und Phenolcar- zur nordwestafrikanischen Küste liegenden östlichen Kana- bonsäuren gezählt [11] (Abbildung 5). reninseln Lanzarote und Fuerteventura sowie die kleineren In der Natur treten freie und veretherte Polyphenole in Inseln La Graciosa, Allegranza, Montana Clara und Lobos Blütenfarbstoffen wie Anthocyanen und Flavonen, in Gerb- geographisch als die „Purpurarien“ bezeichnet [12]. Heute stoffen (Catechine, Tannine), als Flechten- oder Farn-Inhalts- weiß man, dass die Flechteninhaltsstoffe keine echten Farb- stoffe (Usninsäure, Acylpolyphenole), als Gallusderivate und stoffe sind, sondern dass es sich um verschiedene chromo- in Ligninen usw. auf. gene Säuren, wie Lecanorsäure (C16H14O7) in R. tinctoria, Purpurarien: Die Phönizier gewannen Purpur (6,6’-Di- oder Roccellsäure C17H22O4 in R. fuciformis handelt. Diese bromindigo) ursprünglich in einem überaus aufwändigem sind zwar nur sehr gering wasserlöslich, gehen aber nach Prozess vor allem aus der Purpurschnecke (Hexaplex trun- Behandlung mit alkalischen Stoffen (z.B. Kalilauge) über culus). Früh unternahmen sie deshalb, ohne zu wissen was Orcin (C7H8O2) in Orcein (C7H7NO3) über, welches sich Flechten im biologischen Sinne eigentlich sind, schon seit mit violetter Farbe löst. 1100 v. Christus Seefahrten entlang der westafrikanischen Man kann von mehreren tausend natürlich vorhandenen Küsten bis zu den damals noch nicht „entdeckten“ Kanari- veretherten Polyphenol-Verbindungen ausgehen. Alleine von TA B . 2 W I C H T I G E PH E N O L I S C H E V E R B I N D U N G E N M I T M E D I Z I N I S C H E R W I R KU N G [ N AC H 1 4 ] Untergruppe | Naturstoffe biochem. Funktionen Phenolsäuren (Gerbsäuren) Hydroxyzimtsäuren (Kaffeesäure, Ferulasäure; *Hemmung der Kanzerogenese (Abb. 5a) die verbreitetsten sekundären Pflanzenstoffe *Antioxidans in der Natur) *antimikrobielle Eigenschaften Hydroxybenzoesäuren (Gallussäure, *Kardioprotektion Ellagsäure, Vanillinsäure) *Entzündungshemmung Flavonoide (Abb. 5b) Flavone (Apigenin) *Antioxidans Isoflavonoide (Genistein, Daidzein) *Hemmung der Kanzerogenese Flavonole (Quercetin) *antimikrobielle Eigenschaften Flavanole (Catechin) *antivirale Wirkung Flavanone (Naringenin) *Immunsuppression Anthozyane (Malvidin) *Entzündungshemmung Proanthozyane *Hemmung der Thrombozytenaggregation Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 www.chiuz.de © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 267
der Untergruppe der Flavonoide sind mehr als 6000 Kon- „ F R E N C H PA R A D OXO N “ stitutionsisomere bekannt. Neben der Blütenfarbe oder dem | Aroma sind Polyphenole auch am Schutz vor Schädlingen und Krankheiten mitbeteiligt (fungizide und insektizide Wir- Dieser Begriff umschreibt die Tatsache, dass in Frankreich und anderen Mittel- kung). Zudem bewahren sie die Pflanze vor oxidativen Schä- meerländern Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen wesentlich seltener auf- den. Nur Pflanzen und Mikroorganismen sind zur Biosyn- treten als in anderen Industrieländern, obwohl die entsprechenden Risikofaktoren these dieser aromatischen Verbindungen aus aliphatischen (Rauchen, Übergewicht, hohe Blutfettwerte, Blutdruck u.a.) in beiden Regionen genau so häufig sind. Dies wird teilweise mit der Zufuhr von Polyphenolen, vor allem aus Vorstufen fähig [13]. Rotwein, begründet. Eventuell könnte der regelmäßige maßvolle Konsum von Alkohol Die Polyphenole basieren chemisch auf der Struktur des bei Gesunden das Risiko für koronare Herzerkrankungen senken. Außerdem können Benzolrings und werden in die zwei großen Untergruppen die in Weintrauben, Traubensaft und Rotwein enthaltenen Polyphenole die Arterien- der Phenolsäuren (Abbildung 5a) und der Flavonoide (Ab- wände sowie das LDL-Cholesterin vor oxidativen Schäden schützen, die zum Ent- bildung 5b) gegliedert (Tabelle 2). stehen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen beitragen. Wahrscheinlich sind jedoch noch weitere Faktoren der Mittelmeerkost (hoher Verzehr von Gemüse, Obst, Getreide Phenolsäuren kommen in sehr vielen Pflanzen vor, ins- und Olivenöl, geringer Fleischverzehr) in ihrer Gesamtheit sowie der sonstige Lebens- besondere in den Randschichten, wo sie zur Stabilität der stil (Siesta) für den niedrigeren Anteil an Herz-Kreislauf-Erkrankungen verantwort- Zellwände in den Schalen beitragen. Durch die Verarbei- lich [12]. tung der Pflanzen wird der Phenolsäuregehalt deutlich re- duziert. So enthält z.B. Vollkornweizen 500 mg/kg Phenol- säuren, niedrig ausgemahlenes Weizenmehl hingegen nur noch 50 mg/kg. Etwa ein Drittel der Gesamtzufuhr an Poly- phenolen entfällt auf Phenolsäuren. Die in Tierversuchen gezeigte Beeinflussung von Tumoren konnte in Humanstu- dien bisher nicht bestätigt werden. Möglicherweise hem- men Phenolsäuren während der Nahrungszubereitung so- wie im Verdauungstrakt die Bildung von kanzerogenen he- a terozyklischen Aminen und Nitrosaminen. Als weiterer pro- tektiver Mechanismus gilt die Verhinderung der Aktivierung von Prokanzerogenen durch Hemmung von Phase-I-Enzy- men. Außerdem reagieren Phenolsäuren mit Kanzerogenen wie polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) zu biologisch inaktiven Komplexen [14]. Die Flavonoide sind die in der Nahrung am häufigsten vorkommenden Polyphenole und befinden sich vor allem in den Früchten und Blüten sowie in den Randschichten b c d und den äußeren Blättern fast aller Pflanzen. Auch das Lig- nin in den Holzfasern gehört zu den Polyphenolen und ist mengenmäßig natürlich häufig im Pflanzenreich vertreten. Derzeit sind etwa 6.500 verschiedene Strukturen bekannt, die eine Vielfalt gesundheitsfördernder Wirkungen zeigen [15]. Die Flavonoid-Konzentration in Pflanzen wird unter anderem durch die Sorte, die Anbaubedingungen sowie das Klima, insbesondere die jahreszeitlich bedingte Lichtinten- sität, beeinflusst. Flavonoide machen etwa zwei Drittel der alimentären Gesamtzufuhr an Polyphenolen aus. e f g Epidemiologische Studien weisen auf einen inversen Zusammenhang zwischen der Zufuhr von Flavonoiden und dem Risiko für verschiedene Erkrankungen hin. So senkt eine hohe Aufnahme das Sterblichkeitsrisiko für Herz-Kreis- lauf-Erkrankungen um etwa dreißig Prozent. Die positiven Effekte sind vermutlich auf eine Beeinflussung verschiede- ner Faktoren der Blutgerinnung zurückzuführen. Flavonoi- h i de haben eine antikanzerogene Wirkung, die auf die Ent- Abb. 7 Durch adaptive Radiation in der mediterranen Gattung Cistus ist in den giftung aggressiver Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen Garigues (7a) eine Vielzahl hochspezifischer Zistrosen entstanden (7b–7i). Hoch- durch diese Polyphenole zurückgeführt werden kann. Auch polymere Zistrosen-Polyphenole, vor allem von Cistus incanus (7f), hemmen die Infektionsfähigkeit von Influenzaviren. 7a: Garigue; 7b: Cistus monspeliensis; sollen sie das Immunsystem positiv beeinflussen. Flavonoi- 7c: Cistus laurifolius; 7d: Cistus creticus; 7e: Cistus salviaefolius; 7f: Cistus incanus; de aus grünem Tee zeigen antimikrobielle Wirkungen bei 7g: Cistus albidus; 7h: Cistus symphytifolius; 7i: Cistus villosus. bakterieller Stomatitis (Entzündung der Mundschleimhaut), 268 © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 |
WIRK STOFFE AUS PFLANZEN N AT U R S TO F F E | Flavonoide aus Moosbeerensaft (Gattung Vaccinium) ver- ringern das Risiko von Harnwegsentzündungen [16]. A PE R I T I F – D I G S T I F Die Anthocyane sind eine Untergruppe der Flavonoide und stellen den größten Teil der roten, blauen und schwar- | zen Farbpigmente im Pflanzenreich dar. Besonders reich an Der Begriff Aperitivum (Aperitif) deutet das „Öffnen“ des Magens an. Meist handelt es Anthocyanen sind dunkel gefärbte Beeren und Früchte sich um ein alkoholisches Getränk, das vor dem Essen konsumiert wird. Im medizini- schen Zusammenhang sind mit dem Begriff appetitanregende Mittel gemeint. Diese (schwarze Johannisbeeren, Brombeeren, Heidelbeeren, Appetitanreger basieren sehr häufig auf bitteren Pflanzenstoffen („Amara“) aus Enzian- Blutorangen, rote Weintrauben) sowie daraus hergestellte wurzel, Tausendgüldenkraut, Bitterklee, Chinarinde und anderen Pflanzen. Der Begriff Säfte bzw. Rotwein. Auch Hülsenfrüchte mit schwarzen Digestivum (Digestif) bezieht sich hingegen auf die „Verdauung“. Digestifs sollen die oder roten Schalen und verschiedene Gemüsearten wie rote Verdauung fördern und werden deshalb nach einer Mahlzeit eingenommen. Hierbei Zwiebeln oder Auberginen enthalten Anthocyane. Wie die kommt im Allgemeinen Hochprozentiges zum Einsatz. Die Kräuterbitter, die es in zahl- reichen europäischen Ländern gibt, überschneiden sich in ihrer Wirkung mit der medi- anderen Flavonoide zeigen Anthocyane in vitro ebenfalls zinischen Anwendung von verdauungsfördernden Digestiva. Während ein herkömm- ein hohes antioxidatives Potenzial, das als Schutzfaktor für licher Digestif eher die Fettverdauung chemisch-physikalisch fördern soll, unterstützen Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen gilt. Aufgrund der pflanzliche Bitterzusätze die Bildung und Freisetzung von Verdauungssäften aus Leber sehr niedrigen Bioverfügbarkeit der Anthocyane ist die anti- und Bauchspeicheldrüse und verbessern damit zahlreiche Verdauungsfunktionen. oxidative Wirkung beim Menschen allerdings fraglich und Beispiele hierfür sind Andorn, Artischocken, Löwenzahn oder Bitterholz [6]. konnte bisher noch in keiner Humanstudie bestätigt wer- den [17]. Beispiel: Hochpolymere Polyphenole getationstypen charakteristische Pflanze (Abbildung 7). Ih- Polyphenole haben in vitro ein breites antivirales Spektrum. re Verbreitung erstreckt sich in Südeuropa westlich von Zu dessen prophylaktischer oder therapeutischer Bedeu- Portugal, Korsika und Westitalien bis nach Griechenland, tung bei mortalitätsrelevanten Infektionskrankheiten liegen östlich entlang der türkischen Mittelmeerküste (Taurus- aber noch keine großen kontrollierten Studien vor. Belgi- gebirge) und an der Schwarzmeerküste bis zur Krim [21]. sche Forscher um Arnold Vlietinck kamen 1999 zu dem Die graubehaarte Zistrose Cistus incanus ssp. tauricus Schluss, dass die antivirale Bedeutung von Polyphenolen ist ein aufrechter, reich verzweigter bis zu 100 cm großer grundsätzlich in einer Bindung an die Viren selbst (z.B. Her- Strauch mit eiförmig-lanzettlichen, beiderseits grünen oder pes simplex-Viren, HI-Viren u.a.) und damit letztlich aus ei- graugrünen Blättern, die feinbehaart oder filzig sind. Der ner Verhinderung der Virusanhäftung (Adhäsion) an emp- Blattrand ist z.T. wellenförmig. Die Oberseite der Blätter fängliche Zellen besteht [17]. Aus Sicht der Arbeitsgruppe zeigt eingesenkte Fiedernerven, die sich auf der Unterseite könnten Polyphenole die einzigen unspezifisch wirksamen durchdrücken. Die Stängel, Blütenstiele und Kelchblätter viruziden („virustötenden“) Wirkstoffe in der Natur sein. sind mit langen weißen Haaren besetzt, die die sogenann- Zu diesem Schluss kommt im gleichen Jahr auch die japa- ten Sternhaare verdecken. Die Blüten messen 4–6 cm im nische Arbeitsgruppe um Hiroshi Sakagami, die zudem Durchmesser und sind rosarot gefärbt. Allerdings ist nicht bemerkte, dass Polyphenole unspezifisch Virusenzyme hem- jede rosafarbene Cistus-Art gleich Cistus tauricus (Abbil- men können, die zur viralen Vervielfältigung (Replikation) dung 7f). Die heilbringende Wirkung der Pflanze ist bereits notwendig sind [18]. Arbeitsgruppen des Friedrich Löffler- seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert bekannt. Ihre In- Institutes und der Universität Münster konnten 2007 haltsstoffe wirken bakterizid, was ebenfalls auf den hohen schließlich zeigen, dass die Inhaltsstoffe eines Polyphenol- Gehalt an Polyphenolen in der Pflanze zurückgeführt wird. extraktes der mediterranen Zistrose (Cistus incanus ssp. Cistus incanus ssp. tauricus wächst in den Macchien tauricus), sowohl bei In-vitro- als auch bei In-vivo-Versu- und Garigues auf magnesiumreichen Böden und kenn- chen mit Influenzaviren und Vogelgrippeerregern antiviral zeichnet damit Standorte mit extremen Lebensbedingun- wirksam waren, also bei Infektionskrankheiten mit hoher gen. In meist trockenen, kargen und windexponierten Sterblichkeitsrate [19, 20]. Lagen, in denen auch Feuer keine Seltenheit sind, wächst In wässrigen Extrakten der genannten Zistrosenvarietät sie zusammen mit anderen typischen Elementen der medi- wurden zahlreiche Polymere nachgewiesen, u.a. Flavonol- terranen Heiden, wie z.B. Euphorbia acanthothamnos O-Glykoside, (z.B. Myricetin- oder Quercetinderivate: -glu- (Dornbusch-Wolfsmilch), Anthyllis hermanniae (Wund- coside, -galactoside etc.), Flavan-3-ole (Catechine) (z.B. klee), Coridothymus capitatus („Maltathymian“), Genista Gallocatechin) und Proanthocyanidine (meist Di- oder acanthoclada (Dorniger Ginster), Hypericum empetrifoli- Trimere von Catechinen, z.B. Gallocatechin- (4α→8) - Cate- um (Krähenbeerenblättriges Johanniskraut) und Sarcopo- chin (= Procyanidin B1) u.v.m.). terium spinosum (Dornige Bibernelle) (Abbildung 7a). Die vielgestaltige Sippe der Zistrosen kommt im medi- Bei Untersuchungen zu den Schwankungen von Wirk- terranen Raum in der immergrünen, sekundär entstandenen stoffgehalten unterschiedlicher Zistrosenchargen stellte sich Gebüschformation, der Macchie, und der offenen medi- heraus, dass bei dieser Pflanzengattung ein erheblicher Poly- terranen Strauchheidenformation, der Garigue, bis ca. morphismus (Vorkommen einer Genvariation) auftritt. Man 1.000 –1.300 m Meereshöhe vor und ist eine für diese Ve- kann an den mediterranen Zistrosen sogar saisonale Di- Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 www.chiuz.de © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 269
Bitterstoffe ABB. 8 | B I T T E R S TO F F E OH OCH3 Bitterstoffe stellen eine heterogene Stoffgruppe dar, die sich durch einen bitteren Geschmack und eine gute Wasserlös- CH3 CH3 O lichkeit auszeichnet. Unterschieden werden terpenoide und HO O HO CH3 O nicht-terpenoide Bitterstoffe [3] (Abbildung 8). H OH H H3CO Terpenoide Bitterstoffe bestehen aus Terpenen, auch O H2C H O O H H Isoprenoide genannt, bei denen die Anzahl der Kohlen- O O Carnosol H H O stoffatome meist ein Vielfaches von fünf beträgt. Der Name O O H3C CH3 Intybin Quassin leitet sich von Terpentinöl (Oleum Terebinthinae) ab, wel- ches reich an Kohlenwasserstoffen ist. Terpene selbst, die Beispielhafte Strukuren aus der heterogenen Stoffgruppe der Bitterstoffe sich formal vom Isopren ableiten, werden aus einer aktiven C5-Einheit, meist Isopentenylpyrophosphat, biosyntheti- siert. Sesquiterpenlactone und Iridoide sind terpenoide Bit- morphismen (zwei deutlich verschiedene Erscheinungs- terstoffe. Hierzu gehören z.B. Absinthin und Marrubiin als vorkommen bei gleicher Art) erkennen, was ihre botanisch- Bestandteile von Pflanzen der Gattung Artemisia L. (Beifuß systematische Bestimmung oft erschweren kann. Aufgrund oder Wermut) und Marrubium L. (Andorn). Als nichtter- regional bedingter unterschiedlicher Umwelteinflüsse bil- penoide Bitterstoffe haben besonders die in Zitrusarten vor- den sich infolge radiärer Adaptation sogar neue stabile Un- kommenden Flavanonglykoside Naringin und Neohesperi- terarten der Pflanze heraus. Den höchsten Gehalt hoch- din sowie die Phloroglucinderivate des Hopfens (Humulus polymerer Polyphenole zeigt nach derzeitigem Wissen nur lupulus L.), Humulon und Lupulon, pharmazeutische Be- die in begrenzten Regionen Griechenlands vorkommende, deutung [9]. oben genannte Subspezies C. tauricus. Diese Unterart ist Bitterstoffe bzw. bitterstoffhaltige Drogen werden auf- auch die einzige, bei der die natürliche antivirale Aktivität grund ihres bitteren Geschmacks therapeutisch genutzt. An- nachgewiesen worden ist. dere pflanzliche Naturstoffe, die ebenfalls bitter schmecken, bei denen jedoch pharmakologische Wirkungen im Vor- dergrund stehen, z.B. Chinarinde, Aloe oder Enzian sind TA B . 3 AU S G E W Ä H LT E B I T T E R S TO F F D RO G E N U N D | I H R E B I T T E R S TO F F W E R T E [ N AC H 9 ] keine Bitterstoffdrogen im engeren Sinne. Allerdings finden solche Drogen bei geeigneter Verdünnung ebenfalls als Bit- terstoffe Verwendung. Weil die Wirkung der Bitterstoffe an Ausgewählte Bitterstoffdrogen ihren bitteren Geschmack gebunden ist, werden sie zumeist Droge Pflanze Bitter- Strukturtyp als Tees, Tinkturen oder Extrakte verabreicht [22]. wert Monoterpene Gustatorik und Bitter-Wirkungen Gentianae radix Gentiana lutea 10.000 Gentiopikrin u.a. Das durch Bitterstoffe ausgelöste Geschmacksempfinden (Gelber Enzian) „bitter“ wird durch die Erregung der Bitterrezeptoren in Centaurii herba Centaurium minus 2.000 Gentapikrin u.a. den Geschmacksknospen der Zunge ausgelöst. Die Hetero- (Echtes Tausendgüldenkraut) genität der Strukturen der bekannten Bitterstoffe ermög- Menyanthidis Menyanthes trifoliata 4.000 Foliamenthin u.a. licht lediglich eine Wertbestimmung auf physiologischem folium (Fieberklee) Wege, d.h. den durch Geschmacksprüfung (sensorische Sesquiterpene Analyse) ermittelten Bitterwert [23]. Dieser entspricht dem Cnici benedicti Cnicus benedictus 800 Cnicin u.a. reziproken Wert derjenigen Drogenkonzentration, die ge- herba (Benediktenkraut) rade noch bitter schmeckt. Um die Abhängigkeit vom sub- Absinthii herba Artemisia absinthium 10.000 Absinthin u.a. jektiven Empfinden zu minimieren, wurde für die Ver- (Wermutkraut) gleichssubstanz Chininhydrochlorid ein Bitterwert von Diterpene 200.000 festgelegt. Dies bedeutet, dass 1 g Chininhydro- Marrubii herba Marrubium vulgare 3.000 Marrubiin chlorid 200 l Wasser bitter macht. Die bitterste bekannte (Gewöhnlicher Adorn) Substanz ist Denatoniumbenzoat mit einem Bitterwert von Salviae folium Salvia officinalis – Carnosol über 100.000.000. Der Streuungsbereich der Bitterwert- (Echter Salbei) (Abb. 8) u.a. angaben beträgt ca. ± 20 %. Colombo radix Jateorhiza palmata – Columbin u.a. Mit rund 9.000 Geschmacksknospen (bei jungen Er- (Kolombowurzel) wachsenen, im Alter abnehmend) ergibt sich eine Emp- Triterpene findlichkeitsschwelle von etwa 1016 Moleküle/ml. Bezogen Aurantii pericarpium Citrus aurantium ssp. aurant. 600 Limonin u.a. auf Bitterstoffe (Chininsulfat) entspricht dies 5 mg/l Wasser. (Bitterorange) Abgesehen vom Alter sind Abweichungen der Geschmacks- Quassiae lignum Quassia amara 40.000 Quassin (Abb. 8) empfindlichkeit auch genetisch bedingt und werden zu- (Bitterholzbaum) sätzlich durch äußere Faktoren (Stress, Nikotin, Medika- 270 © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 |
WIRK STOFFE AUS PFLANZEN N AT U R S TO F F E | mente) beeinflusst. Entscheidend für die Geschmackserre- durch Bitterstoffe bewirkte Sekretionssteigerung führt nach gung ist die Bindung des Bitterstoffes an die Bitterrezepto- klassischer Auffassung zu einer als „verdauungsfördernd“ ren, wobei der eigentliche Rezeptor ein Glykoproteid ist. beschriebenen verbesserten Nahrungsausnutzung [9]. Weitergeleitet wird die Geschmacksempfindung vor allem über den Nervus glossopharyngeus (IX. Hirnnerv), ver- Beispiel: Gewichtsreduktion bunden mit einer zusätzlichen Beeinflussung des Nervus Die geschmackliche Wahrnehmung „bitter“, mit der zen- vagus (X. Hirnnerv). Schließlich wird die unmittelbare Emp- tralen Botschaft „Vorsicht ungenießbar“, übertönt in Spei- findung „bitter“ im Wahrnehmungszentrum der Großhirn- sen oder Getränken das Signal „süß“ deutlich. Vermutlich rinde ausgelöst [24, 25]. weil „bitter“ rund 10.000mal stärker als „süß“ wirkt, weil Bitterstoffe regen über den Nervus vagus reflektorisch bislang 25 verschiedene Zell-Rezeptoren für „bitter“, aber die Speichel- und Magensaftsekretion an, die mit Salzsäure- nur einer für „süß“ nachgewiesen worden ist und weil bei- und Pepsinsekretion im Magen verbunden ist. Die dabei ge- de Signale um den gleichen Übertragungsweg im Nerven- steigerte Ausschüttung des Gewebehormons Gastrin erhöht system konkurrieren. All dies verdeutlicht nicht nur die die Motilität (Beweglichkeit) und Muskelkraft von Speise- überlebenswichtige Bedeutung der Geschmacksqualität röhre, Magen, Zwölffinger- oder Dünndarm und steigert die „bitter“, sondern weist auch auf den zuckerbasierten Ener- Sekretion des Pankreas. Insgesamt können Bitterstoffe die giestoffwechsel als einen gemeinsamen Funktionskreis von Sekretion um bis zu 25–30 % zusätzlich ansteigen lassen. Die „süß“ und „bitter“ hin [26]. Neuere Untersuchungen zeigen, dass zahlreiche bitterstoffhaltige Nahrungsmittel im Tier- versuch nicht nur die Gewichtszunahme bei energiereicher Nahrung verhindern, sondern auch über bislang unbe- kannte Signalwege vor allem die Einlagerung überschüssi- ger Energie als Viszeralfett (in der freien Bauchhöhle ein- gelagertes Fett) verringern. Umgekehrt zeigt sich, dass Men- schen, denen die Fähigkeit fehlt, bestimmte bittere Sub- stanzen wahrzunehmen, häufiger als andere übergewichtig werden [27]. Diese Befunde unterstützen die Annahme, dass Bitterstoffe nicht allein – wie bei ihrer traditionellen Anwendung – die Verdauung optimieren und beschleuni- gen, sondern über die Reizung der Geschmacksknospen ei- ne direkte Wirkung auf den (Energie-)Stoffwechsel haben. Hierauf weisen auch neueste Forschungen hin, die Bitter- rezeptoren, ähnlich jenen auf der Zunge, auch in der Ma- gen-Darmschleimhaut gefunden haben. Diese Rezeptoren sind in der Lage, selbst verdauungs- und stoffwechselsteu- ernde Hormone zu bilden und freizusetzen (sog. entero- endokrine Zellen) [28]. Abgesehen von einer Bitterstoff-Wirkung zeigen einige Sesquiterpenlactone und Diterpene, z.B. aus Arnika- oder Salbeiblüten, entzündungshemmende, antibakterielle und fungistatische Eigenschaften. Bestimmte Bitterstoffe haben uteruskontrahierende oder blutdrucksenkende Eigenschaf- ten, einige wirken positiv-inotrop (Steigerung der Kontrak- tionsfähigkit von Muskelgewebe). Für Wermut sowie Fieber- klee wird eine immunstimulierende Wirkung diskutiert. Für die Bitterstoffe des Enzians sind eine Anregung der T-Lym- phozyten sowie ein positiver Einfluss auf das darmassozi- ierte Immunsystem (GALT) nachgewiesen worden [23]. Anwendung Wichtig für die Wirkung der Bitterstoffe bei der traditio- nellen Anwendung ist die Einnahme etwa eine halbe Stun- de vor der Nahrungsaufnahme. Wie erwähnt ist dabei eine Sekretionszunahme von 25-30 % möglich. Zur Anwendung Abb. 9 Cichorium intybus L. dient schon seit vorgeschicht- kommen bitterstoffhaltige Drogen bei Appetitlosigkeit, in licher Zeit als Wildgemüse. Es enthält den Bitterstoff Intybin. Zeiten von Rekonvaleszenz (Genesung), bei Völlegefühl und Die Wegwarte wächst vorwiegend an Ruderalstandorten. Blähungen sowie als Cholagoga, also galletreibende Mittel. Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 www.chiuz.de © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 271
> Abb. 10 Atropa Europa verbreitet hat. Zu ihren botanischen Verwandten belladonna L., die zählen die heute als Salatpflanze genutzte Endivie und die Tollkirsche aus der Kaffeezichorie. Die Waldwegwarte ist eine mehrjährige Familie der Nacht- schattengewächse Pflanze und kann eine stattliche Höhe von bis zu zwei Me- (Solanaceae) ist tern erreichen, wird aber auf kargen Böden mitunter nicht eine stickstoffzei- größer als fünfzehn Zentimeter. Sie zeichnet sich durch ih- gende, einheimi- re schrotsägeförmigen, oftmals auf der Unterseite steif be- sche Hochstaude an Lichtungen in haarten Laubblätter und ihre zungenförmigen Blütenblätter Kalkbuchen- aus. Ins Auge fallen vor allem die weiblichen Blumenköpfe wäldern. aufgrund ihrer leuchtend hellblauen Farbe. >> Abb. 11 Aconi- Als Gemüsepflanze hat Cichorium eine lange Tradition: tum variegatum L., Bereits im Altertum bereitete man aus ihren bitter-pikanten der Bunte Eisenhut Blättern Salate zu. In Salzwasser gekocht und mit Butter ge- aus der Familie der schmort haben unsere Vorfahren die jungen Blatttriebe auch Ranunculaceae ist eine stickstoff- Bitterstoffe kommen vor allem in den Pflanzenfamilien As- als Gemüse gegessen. Bei der Endivie (Cichorium endivia) zeigende, einhei- clepiadaceae (Schwalbenwurzgewächse), Asteraceae (Korb- aus dem Mittelmeergebiet hat man in der langen Ver- mische Hochstaude blütler), Gentianaceae (Enziangewächse), Lamiaceae (Lip- brauchsgeschichte inzwischen bitterstoffärmere Varianten in der Krautschicht penblütler), Menyanthaceae (Fieberkleegewächse) und Ru- gezüchtet (Varietät crispum). Als Salat verwendete Pflanzen offener Bruch- und Auenwälder sowie taceae (Rautengewächse) vor (Tabelle 3). Die Anwendung werden zwei bis drei Wochen vor der Ernte oben zusam- in subalpinen zur Gewichtsreduktion erfolgt durch intensives Kauen zum mengebunden, damit das „Herz“ bleich und zart bleibt und Hochstauden- Beispiel eines aus Wegwartenkraut, Löwenzahnkraut, Wild- weniger Bitterstoffe gebildet werden. Beim Chicorée (Ci- fluren. Artischockenblättern, Hagebuttenschalen und anderen Bit- chorium intybus var. foliosum) wird durch Treiben im Dun- terstoffdrogen bestehenden, hochbitteren Wildgemüse- keln ein weiß bleibender Spross gezüchtet, der als Salat produktes unmittelbar vor der Nahrungsaufnahme. Solche oder Gemüse gegessen wird. Aus Italien stammt eine durch Produkte sind in Apotheken erhältlich. Anthocyane rot gefärbte Varietät, als Radicchio bekannt, Die Waldwegwarte (Cichorium intybus var. sylvestre, die ebenfalls Intybin enthält. Abbildung 9) ist ein Wildgemüse (Bitterstoff: Intybin, Ab- bildung 8), das bereits bei unseren Vorfahren sehr beliebt Alkaloide war und das sich schon in vorgeschichtlicher Zeit über ganz Alkaloide sind stickstoffhaltige, komplex aufgebaute, meist basisch (alkalisch, daher der Name) reagierende Verbin- dungen, wobei das Stickstoffatom meist in ein Ringsystem ABB. 12 | A L K A LO I D E O eingebunden ist. Es sind wohl über 10.000 Alkaloide be- kannt. Deren Namen leiten sich zumeist vom Gattungs- oder Artname der Pflanze ab, z.B. Atropin aus Atropa belladon- CH3 H H3C N na (Abbildung 10) oder Aconitin aus Aconitum napellus N N und A.variegatum (Abbildung 11). Alkaloide zeigen im Or- H N ganismus eine hochgradige biologische Aktivität mit aus- O N N H H CH3 geprägter pharmakologischer Wirkung [3]. N H Nicotin Alkaloide werden nach ihrer chemischen Struktur in CH3 N O Coffein H N-heterozyklische Naturstoffe und nichtheterozyklische or- O Strychnin ganische Verbindungen unterteilt. Sie haben meist ein von Aminosäuren abgeleitetes Grundgerüst mit einem oder Phenylalkylamine O mehreren Stickstoffatomen (Abbildung 12). Alkaloide sind OH H MeO CH3 fast immer lipophil, bilden jedoch in der Pflanze wasser- N lösliche Salze mit organischen Säuren (Essig-, Oxal- oder H Capsaicin Milchsäure). Aus historischen Gründen werden auch eini- HO HN CH3 ge N-heterozyklische Verbindungen, die neutral bzw. sauer Ephedrin reagieren, z.B. Coffein oder Amine mit aromatischem Ring MeO (u.a. Capsaicin und Ephedrin), den Alkaloiden zugerech- NHAc net. Dies gilt auch für sich von Alkaloiden ableitende Ver- MeO bindungen wie etwa Colchicin. Antibiotika werden hinge- gen, obwohl einige von ihnen alle Merkmale von Alkaloiden MeO aufweisen (z.B. Mitomycin C), aus dieser Gruppe ausge- O Colchicin schlossen [29]. OMe Beispiele für verschiedene Alkaloide. Neben Pflanzen synthetisieren auch Mikroorganismen und manche Tiere (z.B. Salamander, Kröten) Alkaloide. Letz- 272 © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 |
WIRK STOFFE AUS PFLANZEN N AT U R S TO F F E | teres ist jedoch äußerst selten. Da die Alkaloide auch auf den tierischen Erzeuger-Organismus als Nervengifte wir- ken, sind sie meist peripher in Hautdrüsen isoliert. Auch Pflanzen versuchen eine Alkaloid-Selbstvergiftung zu ver- hindern, z.B. durch besonderen Exkretzellen wie bei den Milchröhren der Papaveraceae (Mohngewächse), deren Milchsaft viele Alkaloide (u.a. Morphin) enthält (Abbil- dung 13). Zudem sind die Alkaloide oft nur in bestimmten Teilen der Pflanzen zu finden, wobei Synthese- und Spei- cherort nicht identisch sein müssen (z.B. Nicotiana (Ta- bak): Synthese in den Wurzeln, Speicherung in den Blät- tern). Alkaloide sind Produkte des Sekundärstoffwechsels und entstehen über eine Vielzahl von Biosynthesewegen. Sie sollen Pflanzen wegen ihres bitteren Geschmacks Schutz vor Fressfeinden bieten [30]. Ihre sonstigen Funktionen sind weitgehend unbekannt, für die Organismen sind sie nicht essentiell. Trotz der unklaren biologischen Funktionen [10] der chemisch extrem heterogenen Alkaloidgruppe fällt die aus- Abb. 13 Papaver Somniferum L.; Der Schlafmohn aus der Familie der Papaveraceae gesprochen homogene Affinität zum Nervensystem (Neu- ist ein in Einbürgerung befindlicher Neophyt und eine alte Kulturpflanze. Ihr Wert rotropie) auf. Die meisten Alkaloide sind starke Gifte, die ist ambivalent: Opium – Krieg, Verbrechen, Gesundheit – kaum eine Droge hat so spezifisch auf bestimmte Zentren des Nervensystems wir- viele Gesichter. ken (z.B. Strychnin, Nicotin). Vergiftungen mit Pflanzen werden oft durch Alkaloide verursacht. Durch ihre struk- turelle Ähnlichkeit mit Neurotransmittern können Alkaloi- dürfen nur als normierte, auf ein Mindest- und Maximalge- de in die nervale Regulation als Agonisten (Substanzen, die halt eingestellte Drogen-Zubereitungen verwendet werden. einen Transmitter imitieren), so z.B. Morphin, oder als An- Weitere Heilpflanzen mit schwächerer Alkaloidwirkung sind tagonisten (hemmen Agonisten), z.B. Hyoscyamin und Sco- beispielsweise Schöllkraut, Erdrauch oder Besenginster. Al- polamin, eingreifen. Ebenso können sie, wie z.B. Ephedrin, kaloide wie Taxol, Vinblastin und Colchicin, bei denen es die Transmitterfreisetzung erhöhen. Durch Alkaloide sich um teils partialsynthetisch gewonnene Reinsubstanzen kommt es zur Blockade von Ionenkanälen sowie zu einer handelt, kommen in der Onkologie (Krebswissenschaft) zur Inaktivierung oder Hemmung von Enzymen, die Neuro- Anwendung und beeinflussen die Zellteilung [9, 23]. transmitter blockieren oder sogenannte „second Messen- ger“ abbauen. Teilweise sind sie in geeigneter Dosierung Schlagworte auch als Heilmittel einsetzbar (z.B. Morphin, Chinin, Atro- Biodiversität, Naturstoffe, Kohlenhydrate, Polyphenole, pin). Intrazellulär wirkende Alkaloide (Colchicin, Vincristin, Bitterstoffe, Alkaloide Vinblastin) blockieren die Zellteilung und spielen in der Krebstherapie als Zytostatika eine Rolle. Andere Alkaloide TA B . 4 A L K A LO I D R E I C H E D RO G E N M I T werden als Anregungsmittel z.B. in Kaffee (Coffein), Tee (Theophyllin) oder Kakao (Theobromin) genossen. Zu den Alkaloiden zählen auch Halluzinogene (LSD, Psilocybin) und | M E D I Z I N I S C H E R B E D E U T U N G [ AU S 3 ] Betäubungsmittel. Die euphorisierende Wirkung mancher Alkaloidreiche Drogen (Auswahl) Alkaloide (Morphin, Cocain) kann zu Gewöhnung und Symphyti radix (Beinwellwurzel) Cytisi scoparii herba (Besenginsterkraut) Sucht führen. Alkaloide zählen zu den ältesten Rausch- und Hyoscyami folium (Bilsenkrautblätter) Boldo folium (Boldoblätter) Genussmittel der Menschheit (z.B. Opium) [6, 31]. Die Re- Ipecacuanha radix (Brechwurzel) Cinchonae cortex (Chinarinde) sorption der im alkalischen Milieu des Darmes als lipophi- Colombo radix (Colombowurzel) Aconiti tuber (Eisenhutknolle) le Basen vorliegenden Alkaloide erfolgt rasch und fast voll- Ephedrae herba (Ephedrakraut) Fumariae herba (Erdrauchkraut) ständig (Ausnahmen: Alkaloide mit quartärem N-Atom oder Eschscholziae herba (Eschscholtzienkraut) Colchici tuber (Herbstzeitlosenknolle) freien phenolischen OH-Gruppen). Fast alle Alkaloide pas- Jaborandi folia (Jaborandiblätter) Hydrastis rhizoma sieren die Blut-Hirn-Schranke sowie die Plazentaschranke (Kanadischer Gelbwurzelstock) und treten auch in die Muttermilch über. Lobeliae herba (Lobelienkraut) Secale cornutum (Mutterkorn) Papaver somniferum (Opium) Serpentinae radix (Schlangenwurz) Phytotherapie In der Phytotherapie (Pflanzenheilkunde) werden standar- Chelidonii herba (Schöllkraut) Thea nigra (Schwarzer Tee) disierte Extrakte oder Drogen aus Heilpflanzen angewendet Stramonii folia (Stechapfelblatt) Belladonnae folium/radix (Tabelle 4). Alkaloiddrogen wie Tollkirsche oder Bilsenkraut (Tollkirschblätter/-wurzel) Chem. Unserer Zeit, 2010, 44, 260 – 274 www.chiuz.de © 2010 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 273
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