AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Geschlechtergerechte Sprache - Bundeszentrale für politische ...

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Geschlechtergerechte Sprache - Bundeszentrale für politische ...
72. Jahrgang, 5–7/2022, 31. Januar 2022

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
 Geschlechtergerechte
       Sprache
     Anne Wizorek · Andreas und                 Miriam Lind · Damaris Nübling
  Silvana Rödder · Nele Pollatschek ·                  SPRACHE UND
 Anatol Stefanowitsch · Helga Kotthoff ·
                                                       BEWUSSTSEIN
         Thomas Kronschläger
      SECHS PERSPEKTIVEN                        Kristina Bedijs · Bettina Kluge ·
                                                      Dinah K. Leschzyk
             Horst J. Simon
                                            WIE GENDERN DIE ANDEREN?
 SPRACHE MACHT EMOTIONEN                       DISKURSE IN SPANIEN,
         Carolin Müller-Spitzer             BRASILIEN UND FRANKREICH
 ZUM STAND DER FORSCHUNG                               Kristina Peuschel
            Peter Eisenberg                  GENDERGERECHTE SPRACHE
           WEDER                              AUS DER PERSPEKTIVE DES
    GESCHLECHTERGERECHT                        LEHRENS UND LERNENS
    NOCH GENDERSENSIBEL

                       ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                            FÜR POLITISCHE BILDUNG
                   Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Geschlechtergerechte Sprache - Bundeszentrale für politische ...
Geschlechtergerechte Sprache
                            APuZ 5–7/2022
ANNE WIZOREK · ANDREAS UND                          MIRIAM LIND · DAMARIS NÜBLING
SILVANA RÖDDER · NELE POLLATSCHEK ·                 SPRACHE UND BEWUSSTSEIN
ANATOL STEFANOWITSCH · HELGA KOTTHOFF ·             Zwischen Sprache, Geschlecht und Bewusstsein
THOMAS KRONSCHLÄGER                                 besteht ein komplexes Beziehungsgeflecht. Um
SECHS PERSPEKTIVEN                                  es zu verstehen, braucht es die Einsicht, dass
Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit in der       Sprache bewusstseinsbildend sein kann – und
Sprache, und wie ließe sie sich herstellen? Die     einen differenzierten Geschlechterbegriff.
sechs Perspektiven bilden Schattierungen einer      Seite 36–42
Debatte ab, in der es mehr gibt als nur glasklare
Positionierungen für oder gegen das Gendern.
Seite 04–15                                         KRISTINA BEDIJS · BETTINA KLUGE ·
                                                    DINAH K. LESCHZYK
                                                    WIE GENDERN DIE ANDEREN?
HORST J. SIMON                                      DISKURSE IN SPANIEN, BRASILIEN
SPRACHE MACHT EMOTIONEN                             UND FRANKREICH
Welche Instanzen sind für sprachliche Normset-      Wie wird in Spanien, Brasilien und Frankreich
zung maßgeblich, und welche Akteure beeinflus-      über geschlechtersensible Sprache debattiert?
sen Sprachwandel am stärksten? In der Debatte       Die Beispiele zeigen, dass nicht die jeweilige
ums Gendern zeigt sich, dass Sprache vielleicht     Sprachstruktur entscheidend ist, sondern
gar nicht die primäre Diskursmotivation ist.        politische Gegebenheiten und Haltungen.
Seite 16–22                                         Seite 43–48

CAROLIN MÜLLER-SPITZER                              KRISTINA PEUSCHEL
ZUM STAND DER FORSCHUNG ZU                          GENDERGERECHTE SPRACHE AUS DER
GESCHLECHTERGERECHTER SPRACHE                       PERSPEKTIVE DES LEHRENS UND LERNENS
Die Diskussion um geschlechtergerechte Sprache      Im Kontext des Deutschlernens gibt es keinen
erschöpft sich allzu oft in Pro- und Contra-        Grund, gendergerechte Sprache nicht auch als
Positionen. Dabei gibt es eine Bandbreite           Lerngegenstand zu etablieren. Welche Chancen
von linguistischen Aspekten und empirischen         und Hürden damit verbunden sind, ist jedoch
Studien zum Thema zu betrachten.                    noch nicht ausreichend erforscht.
Seite 23–29                                         Seite 49–54

PETER EISENBERG
WEDER GESCHLECHTERGERECHT
NOCH GENDERSENSIBEL
Sprachliches Gendern vergeht sich an unserem
höchsten Kulturgut und führt oftmals zu
autoritärem, widerrechtlichem Verhalten. Mit
Geschlechtergerechtigkeit oder Gendersensibili-
tät hat all das kaum etwas zu tun.
Seite 30–35
EDITORIAL
„Nun sag’, wie hast du’s mit dem Gendern?“ Die Frage nach der Art und
Weise geschlechtergerechten Sprachgebrauchs scheint zur modernen Gretchen-
frage geworden sein. Sie betrifft nicht nur ausnahmslos alle, die Deutsch spre-
chen oder schreiben, sie ist oftmals auch mit einem Bekenntnis beziehungs-
weise der Zuschreibung einer Haltung verbunden, die weit über sprachliche
Geschmacksfragen hinausweist und bis ins Weltanschauliche reicht. Die vehe-
ment geführte Debatte um Gendersternchen und generisches Maskulinum –
und um alles, was dazwischen liegt – trägt mitunter Züge eines Kulturkampfs,
bei dem Sprache nur stellvertretend für andere gesellschaftliche Großthemen
verhandelt wird.
   Das Anliegen geschlechtergerechter Sprache erscheint indes nicht vermes-
sen: Es geht um die sprachliche Gleichberechtigung und Sichtbarmachung
aller Geschlechter, um die heutige gesellschaftliche Realität besser abzubilden,
als es allein mit männlichen Personenbezeichnungen möglich sei. Denn auch,
wenn sie geschlechterübergreifend gemeint sind, erzeugen männliche Formen
nach wie vor eher Vorstellungen von Männern. Während Beidnennungen wie
Bürgerinnen und Bürger oder Ärztinnen und Ärzte zumindest in öffentli-
chen Anreden mittlerweile Standard sind, entzündet sich Streit vor allem um
Schreib- und Sprechweisen, die auch nicht-binäre Menschen einschließen –
etwa Bürger*­innen und Ärzt:­innen.
   Der Rat für deutsche Rechtschreibung empfiehlt Genderzeichen im Wortin-
nern bislang nicht zur Aufnahme ins amtliche Regelwerk, konstatiert aber
zugleich, dass geschlechtergerechte Sprache eine gesellschaftliche Aufgabe sei,
„die nicht allein mit orthografischen Regeln und Änderungen der Rechtschrei-
bung gelöst werden kann“. Zugleich führen Kommunen und Hochschulen Leit-
fäden zur Umsetzung geschlechtergerechter Sprache ein, die ebendiese Zeichen
nahelegen. Die Vielfalt dazwischen spiegelt sich auch in APuZ wider: Ob und
wie gegendert wird, überlassen wir unseren Autorinnen und Autoren.

                                                 Johannes Piepenbrink

                                                                              03
APuZ 5–7/2022

      GESCHLECHTERGERECHTE SPRACHE?
                                      Sechs Perspektiven

                                                        zu verwenden. Genauer gesagt, benutze ich mitt-
     Vom Gender-Kampfplatz                              lerweile den Begriff „geschlechtergerechtere Spra-
                                                        che“. Damit lässt sich nicht nur der Gender-Kof-
      zum Sprachspielraum                               fer ablegen, sondern es wird klarer, dass Sprache
                                                        ohnehin nie hundertprozentig gerecht sein kann.
                Anne Wizorek                            Sie kann sich aber annähern und unserer Wirklich-
                                                        keit dabei gerechter werden, als sie es bisher mit
                                                        dem generischen Maskulinum war.
Gendern. Allein das Wort ist schon anstrengend.             Das sogenannte generische Maskulinum – also
Das liegt zunächst daran, dass der englische Begriff    so zu schreiben und zu sprechen, dass immer nur
gender, von dem es sich ableitet, bereits seit Jahr-    die männlichen Bezeichnungen wie Schüler, Leh-
zehnten als Kofferwort benutzt wird. Darin wird         rer, Autor etc. verwendet werden – das ist, entge-
alles verpackt, was lächerlich, absurd oder sogar be-   gen der allgemeinen Annahme, auch eine Form des
drohlich ist. Vor allem von konservativer und rech-     Genderns. In der Regel ist das generische Masku-
ter Seite wird der Gender-Begriff auf diese Weise mit   linum bloß die Variante des Genderns, die wir als
Zerrbildern und Lügen aufgeladen und damit von          erste gelernt haben und die uns damit am längsten
seiner tatsächlichen Bedeutung entfernt. Gender         geläufig ist. Wenn etwas zur Norm wird, ist diese
Main­stream­ing wird dann zum Beispiel als „Gen-        gleichzeitig allgegenwärtig und in ihrer Normalität
der-Wahnsinn“ verunglimpft oder die Geschlechter-       dennoch unsichtbar. Statt Sprache dann als unse-
forschung als „Gender-Ideologie“ zum übermäch-          ren eigenen Handlungsspielraum wahrzunehmen,
tigen Feindbild aufgebaut. Dabei steht Gender für       „haben [wir] das Gefühl, eine bereits vorhande-
das soziale, das gelebte und das gefühlte Geschlecht.   ne Sprache lediglich zu benutzen“.01 Beim gene-
Kurz gesagt, ist Gender das Geschlecht, was sich in     rischen Maskulinum führt es dazu, nicht groß zu
unserem Kopf abspielt – und nicht das, was wir in       hinterfragen, dass Männer jahrtausendelang über
unserer Unterhose haben. Für alle Menschen ohne         gesellschaftliche Strukturen und Konventionen
Fachwissen ist es aufgrund der anhaltenden Be-          bestimmten und sich das auch auf unsere Sprache
griffsverzerrung aber längst weniger nachvollzieh-      auswirkte. Stattdessen soll das generische Maskuli-
bar geworden, was die Diskussion über Gender soll.      num sogar als „neutral“ verkauft werden, obwohl
    Geht es wiederum ums Gendern und darum, wie         es unsere Sprache eindeutig männlich prägt. Ne-
Geschlecht in der Sprache Ausdruck findet, wird der     ben Männern gibt es nun mal auch Frauen und
Koffer an Verfälschungen bereits mitgeschleppt. Als     Menschen anderer Geschlechter. Das ist so, seit es
Anglizismus verdeckt er außerdem, worum es kon-         Menschen gibt, und damit keineswegs neu oder gar
kret geht, nämlich die geschlechtliche Vielfalt un-     irgendein „Trend“. Auch das Bundesverfassungs-
serer Wirklichkeit auch sprachlich besser abzubil-      gericht hat 2017 mit seinem Urteil zum dritten Ge-
den. Unsere Welt besteht nun einmal nicht nur aus       schlechtseintrag diese Realität endlich anerkannt.02
Männern, warum sollten wir sie also ausschließlich          Die Forderungen nach einer geschlechterge-
in männlicher Form denken? Wie wir sprechen und         rechteren Sprache weisen darauf hin, wie insbeson-
schreiben, drückt immer auch unsere eigene Vorstel-     dere Frauen und nicht-binäre Menschen heutzuta-
lungswelt aus und hat wiederum einen Einfluss da-       ge immer noch ausgeschlossen und diskriminiert
rauf, was wir uns eigentlich vorstellen. Hier besteht   werden. Über Sprache wird Macht ausgeübt, und
eine Wechselwirkung, denn: Sprache schafft Wirk-        es muss reflektiert werden, wie das auch in Bezug
lichkeit – und Wirklichkeit schafft Sprache.            auf Geschlechter geschieht. Mit Hilfe von Sprache
    Persönlich bevorzuge ich die Bezeichnung            drücken wir jeden Tag aus, was wir denken, was
„geschlechtergerechte Sprache“, statt „Gendern“         wir wollen, wer wir sind. Sie ist unser wichtigstes

04
Geschlechtergerechte Sprache APuZ

Werkzeug und unzertrennlich mit unserer Iden-                          Während es bei den einen darum geht, den Blick
tität verknüpft. Gerade mit zunehmendem Alter                      auf unsere Gesellschaft zu erweitern und das Be-
fällt es uns eher schwer, uns neuen sprachlichen                   wusstsein für Diskriminierungen zu schärfen, dür-
Vorschlägen zu öffnen, da wir uns so auch in un-                   fen wir nicht unterschätzen, dass die Zerrbilder und
serer Identität angegriffen fühlen. Diese Abwehr-                  Lügen von anderen mit Absicht verbreitet werden.
haltung gilt es zu hinterfragen. Wo kommt sie her?                 Die Debatte ums Gendern ist so anstrengend, weil
Und warum halte ich Sprache für wichtig genug,                     es nicht um den bloßen Austausch von Argumenten
um damit Männer anzusprechen, aber sträube                         auf einer abstrakten Metaebene geht. Hier wird ein
mich gegen die Sichtbarkeit anderer Geschlechter?                  Kulturkampf vom rechten politischen Lager geführt,
     In12 der Debatte ums Gendern wird gerne vorge-                der reale Konsequenzen hat, vor allem für Men-
schoben, dass es doch weitaus wichtigere Baustel-                  schen marginalisierter Geschlechter. Die Brutalität
len zu beseitigen gebe, um zur gewünschten Ge-                     der Angriffe gegen Gendersternchen, Unterstrich
schlechtergerechtigkeit zu gelangen. Den Gender                    & Co. zeigt immerhin auch, wie weit wir schon ge-
Pay Gap abzuschaffen, sei dringender, als das Gen-                 kommen sind. Der Backlash ist auch Teil des Erfolgs.
dersternchen in Schrift und Wort zu etablieren, weil               Noch vor zehn Jahren waren geschlechtergerechtere
dieses gar keine direkte Geschlechtergerechtigkeit                 Schreibweisen viel weniger verbreitet. Heute finden
auslösen könne. Das ist allerdings ein Strohmann-                  sie sich immer öfter auf den Webseiten und Social-
Argument, schließlich wird nirgends behauptet,                     Media-Kanälen großer Medienhäuser. Leider sind
dass geschlechtergerechtere Sprache wie ein Zau-                   ebenso viele Medienhäuser besessen davon, Pro-
berspruch direkt ins feministische Paradies führt.                 und-Contra-Diskussionen zum Thema Gendern zu
Auch die Einführung des Frauenwahlrechts vor gut                   führen, die selten einen Mehrwert haben, da sie in ih-
hundert Jahren hat uns nicht automatisch in den                    rer Zuspitzung so starr und binär bleiben wie unsere
Zustand einer geschlechtergerechten Gesellschaft                   momentane Geschlechterhierarchie. Dabei darf die
versetzt, ebenso wenig die Wahl der ersten Bundes-                 ablehnende Seite sogar Vergleiche mit der DDR oder
kanzlerin 2005. Zusammengenommen bringen uns                       dem Nazi-Regime ziehen. Währenddessen muss die
all diese Schritte aber immer weiter, um eine Gesell-              befürwortende Seite sachlich und ruhig bleiben, um
schaft möglicher zu machen, in der niemand mehr                    überhaupt gehört zu werden.
aufgrund des Geschlechts diskriminiert wird.                           Die realen Geschlechter- und Machtverhält-
     Geschlechtergerechtere34 Sprache anzuwenden,                  nisse werden so verzerrt und mitunter sogar als
ist also kein Allheilmittel, sondern vielmehr ein Bau-             „Terror der Minderheiten“ völlig umgekehrt.04
stein im Gesamtbild. Dabei dürfen wir bestehende                   Die Anti-Gender(n)-Rhetorik spielt dabei eine
Probleme nicht gegeneinander ausspielen, sondern                   zentrale Rolle, rechte Ideologie im gesamten poli-
können uns genauso gegen die schlechte Bezahlung                   tischen Spektrum der Gesellschaft anschlussfähig
in sozialen Berufen einsetzen wie gegen sexualisier-               zu machen und allgemein zum Angriff auf Ge-
te Gewalt, Altersarmut oder eben diskriminierende                  schlechtergerechtigkeit zu blasen. Das lässt sich
Sprache. Zumal diese Probleme mit dem Blick aufs                   nicht nur allein daran beobachten, wie zum Bei-
große Ganze alle miteinander verwoben sind und                     spiel AfD-Mitglieder rund um den Gender-Be-
deshalb die symbolische Ebene ebenso angegangen                    griff förmlich verbale Kriegsführung betreiben.
werden muss wie die praktische. „Jede unkonven-                        Die Frage ist also: Überlassen wir das Feld je-
tionelle Sprachänderung schafft eine Grundlage für                 nen, die Sprache in ein reines Waffenarsenal um-
eine veränderte Vorstellung. Daher verfügt sie auch                schmieden? Oder nehmen wir Sprache als lebendi-
über das Potenzial eines großen sozialen Wandels“,                 ge wie politische Handlungsform an? Wollen wir
bringt es Lann Hornscheidt, Professorens für Gen-                  weiter diskriminierende oder verletzende Sprache
der Studies und Sprachhandeln, auf den Punkt.03                    verwenden? Oder wollen wir etwas daran ändern
                                                                   und gemeinsam überlegen, wie das am besten mög-
01 Lann Hornscheidt, Sprachgewalt. Erkennen und sprachhan-         lich ist? Und: Finden wir dabei vielleicht auch end-
delnd verändern, Berlin 2018, S. 5.                                lich den Spaß an all dem wieder und die sprichwört-
02 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Leitsätze zum Beschluss des      lichen Spielräume, die uns unsere Sprache bietet?
Ersten Senats vom 10. Oktober 2017, 1 BvR 2019/16.
03 Hornscheidt (Anm. 1), S. 6. Hornscheidt versteht sich als
genderfrei und nutzt daher die Pronominaform -ens.
                                                                   ANNE WIZOREK
04 Vgl. Franziska Schutzbach, Die Rhetorik der Rechten.            ist Beraterin, Referentin und Autorin.
Rechtspopulistische Diskursstrategien im Überblick, Zürich 2018.   www.annewizorek.de

                                                                                                                        05
APuZ 5–7/2022

                                                       männlich dominierten universalen Rationalismus
                                                       zurückgewiesen – ein altes Dilemma des Postko-
        Sprache und Macht                              lonialismus, der den Grundlagen des westlichen
                                                       Rationalismus doch nicht entkommen kann. Und
     Andreas Rödder · Silvana Rödder                   so kann auch die gegenderte Sprache der argu-
                                                       mentativen Auseinandersetzung mit dem gene-
                                                       rischen Maskulinum nicht entgehen, die auf vier
Gegenderte Sprache soll Frauen und nicht-weib-         Ebenen geführt wird: einer semantischen, einer
liche oder -männliche Personen sprachlich sicht-       grammatikalischen, einer sprachpraktischen und
bar machen, die sich durch das generische Mas-         einer politisch-kulturellen.
kulinum nicht vertreten sehen. Dieser Annahme              Auf semantischer Ebene nimmt das gene-
liegt die Vorstellung zugrunde, dass Sprache ein       rische Maskulinum für sich in Anspruch, dass
Machtkonstrukt ist. Sie geht auf den französi-         grammatikalisches und biologisches Geschlecht
schen Dekonstruktivismus der 1970er und 80er           nicht identisch sind: Ich bin der Mensch, die Per-
Jahre und die berühmte Formulierung des Philo-         son und das Subjekt. Daher stelle das generische
sophen Jacques Derrida zurück: „Es gibt nichts         Maskulinum als genus commune eine vom biolo-
außer Text.“01 Mit anderen Worten: Es gibt keine       gischen Geschlecht unabhängige allgemeine und
Realität jenseits der Sprache, und diese Sprache ist   übergreifende Form der Bezeichnung dar. Dem-
Teil von Machtverhältnissen. Der Umkehrschluss         gegenüber schließt die oft als Kompromisslösung
liegt darin, mittels Sprache Benachteiligungsver-      verwendete Bezeichnungsform der Bürgerinnen
hältnisse sichtbar zu machen und abzubauen. Die-       und Bürger nicht-binäre Personen nicht ein, son-
se Bewegung hat in dem Maße zugenommen, wie            dern befestigt gerade die Binarität. Konsequen-
sich die identitätspolitische Kritik an als männ-      terweise ist dies ein Ausschlusskriterium gegen-
lich, weiß und heterosexuell markierten Ordnun-        derter Sprache, wenn es darum geht, nicht-binäre
gen vor allem in den 2010er Jahren verstärkt hat       Personen sichtbar zu machen. Alternativ gern
– wobei der Begriff „geschlechtergerechte Spra-        verwendete Partizipialkonstruktionen wie Stu-
che“ seinerseits ein machtpolitisches Instrument       dierende wiederum sind nicht immer möglich, sie
ist, weil er andere Formen des Sprechens impli-        sind oftmals sachlich falsch (ein schlafender Stu-
zit als „ungerecht“ bezeichnet und ihnen damit         dierender ist keiner, und ein toter Autofahrender
Legitimität abspricht. In der Tat hat die morali-      ist ein Widerspruch in sich), und sie funktionie-
sche Aufladung der Diskussion über Sprache, die        ren nur im Plural.
weit über den üblichen Sprachwandel hinausgeht             Um auch nicht-binäre Personen sprachlich
(in dem etwa ein Begriff wie der des „Fräuleins“       sichtbar zu machen, ist die einzig konsequen-
aus dem Verkehr gezogen wurde), zu einer Pola-         te Alternative zum generischen Maskulinum der
risierung und Verhärtung insbesondere über den         Genderstern. Er wirft aber auf grammatikalischer,
Genderstern geführt.                                   sprachpraktischer und politisch-kultureller Ebe-
     Denn in dieser Diskussion steht zur Debatte,      ne Probleme auf. Denn Sonderzeichen wie Stern,
wer durch Sprache transportierte Benachteiligun-       Doppelpunkt oder Unterstrich im Wortinneren
gen definiert und wer Regeln diskriminierungs-         passen nicht zum grammatikalischen System der
freier Sprache festlegt. Die identitätspolitische      deutschen Sprache, zumal mit ihren Artikeln und
Antwort lautet, dass diese Deutungsmacht bei           Genitivkonstruktionen, und sie stören den Fluss
denjenigen liegt, die Opfer von Diskriminierung        der Sprache. Wer eine*n Steuerberater*in sucht,
sind – und letztlich die Eigenwahrnehmung von          kann dies weder schriftlich noch mündlich kor-
Benachteiligung entscheidend ist. Damit sind           rekt tun, und das gilt erst recht, wenn man sich in
Grundfragen der gesellschaftlich-politischen Ver-      die Obhut des/der Ärzt*in begibt.
ständigung aufgerufen. Denn demgegenüber geht              Wenn der Rat für deutsche Rechtschreibung
die klassische Auffassung demokratischer Öf-           die Empfehlung formuliert, Texte sollten nicht
fentlichkeit davon aus, dass der rationale Diskurs     nur sachlich korrekt und verständlich, sondern
durch „gute Gründe“02 bestimmt wird, die in-           auch lesbar, vorlesbar und erlernbar sein,03 ist
tersubjektiv einsichtig und nachvollziehbar sind.      zugleich eine sprachpraktische Ebene angespro-
Aus identitätspolitischer Sicht hingegen wird die-     chen, auf der wortinterne Sonderzeichen grund-
se Auffassung als Machtkonstrukt eines weiß und        sätzliche Probleme hervorrufen. Dies gilt nicht

06
Geschlechtergerechte Sprache APuZ

zuletzt für die Fähigkeit zu vertieftem Lesen und                 Moralisierung und Polarisierung identifiziert der
zur konzentrierten Aneignung von Texten, die an                   Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel als we-
Schulen und Hochschulen ohnehin als ein zen-                      sentliche aktuelle Gefährdungen der Demokratie.06
trales Bildungsproblem identifiziert wird. Visuel-                    Sprache ist das zentrale Medium öffentlicher
le Stolpersteine beim Lesen erschweren diese ele-                 Auseinandersetzungen. Ihre Eigenschaft als Ge-
mentare Kulturtechnik123 weiter.04                                meingut ist zugleich der Schlüssel für einen kon-
    Bleibt noch die politisch-kulturelle Ebene, ist               struktiven Umgang mit ihr in der demokratischen
die „geschlechtergerechte Sprache“ doch ein we-                   Öffentlichkeit. Sie verträgt keine Anmaßung von
sentlicher Bestandteil der sogenannten Identitäts-                Wahrheit und kein Oktroi, sondern erfordert ratio-
politik. Der Genderstern ist Ausdruck einer be-                   nale Auseinandersetzung und „gute Gründe“. Da-
stimmten gesellschaftlich-politischen Auffassung,                 bei sprechen zu viele Argumente auf unterschied-
nämlich der Vorstellung „fluider Geschlechtlich-                  lichen Ebenen gegen die eingeführten Formen
keit“, die das tradierte binäre Geschlechtersystem                gegenderter Sprache, zumal sie als eingefordertes
von Männern und Frauen infrage stellt. Die Er-                    Novum der Begründungspflicht unterliegen und
wartung der Benutzung des Gendersterns wird                       nicht das generische Maskulinum. Dessen Eigen-
von dessen Kritikern daher als Geste der Affir-                   schaft als inklusives genus commune hingegen ist
mation und als Bekenntniszwang empfunden –                        sachlogisch nicht widerlegt worden. Zugleich haben
verstärkt durch (selbst erlebte) Markierungen                     auch die Vertreter gegenderter Sprache inzwischen
von Nutzern des generischen Maskulinums als                       erkannt, dass Sprache nicht automatisch die Realität
„rechts“ oder „transphob“.                                        verändert – vielmehr erinnert die Vorstellung, Reali-
    In solchen Fällen geht gegenderte Sprache mit                 tät durch Sprache zu verändern, an Praktiken totali-
der Anmaßung einer höheren Moral für die eige-                    tärer Regime. Umgekehrt haben sich fundamentale,
nen Auffassungen und der moralischen Diskredi-                    historische Veränderungen in den Geschlechterver-
tierung des Anderen einher. Die liberale Publizis-                hältnissen in den vergangenen Jahrzehnten ohne ge-
tin Anne Applebaum hat die Auswirkungen eines                     genderte Sprache durchsetzen lassen.
identitätspolitischen Puritanismus an amerikani-                      Eine angemessene Konsequenz all dieser Be-
schen Universitäten geschildert, der von einem                    funde könnte eine zweifache sein: zum einen ein
emanzipatorischen Anliegen in repressiven Kon-                    entspannterer Umgang mit der Sprache inklusi-
formitätsdruck umgeschlagen ist: Ein falsches, als                ve dem generischen Maskulinum; zum anderen
„verletzend“ verstandenes Wort reicht aus, um                     das Beharren auf Sprachsensibilität. In der per-
Mechanismen der Ausgrenzung in Gang zu setzen,                    sönlichen Anrede gilt das ohnehin – dort sagen
die bis zur Vernichtung der beruflichen und sozi-                 auch wir: „Liebe Bürgerinnen und Bürger, liebe
alen Existenz reichen.05 Den6 „neuen Puritanern“                  Anwesende.“ Ebenso gilt es bei Begriffen, die be-
stehen die Anhänger Donald Trumps gegenüber,                      stimmte Assoziationen hervorrufen – Soldaten
die sich in die Blase einer gestohlenen Wahl einge-               zum Beispiel ist nach wie vor mit der Vorstellung
sponnen haben und von dort aus die liberale De-                   von Männern verbunden –, und es gilt gegenüber
mokratie samt ihrer Institutionen unterminieren.                  allen Sprachformen, die als herabwürdigend emp-
                                                                  funden werden können. Das geht ohne Moralisie-
                                                                  rung, sondern durch sachliche Begründung und
01 Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, S. 227.
02 Julian Nida-Rümelin, Gründe und Lebenswelt, Oktober
                                                                  Bereitschaft zur Rücksicht, übrigens auf allen
2006, www.philosophie.uni-​muenchen.de/lehreinheiten/philoso-     Seiten. Denn Ignoranz wird in der Öffentlichkeit
phie_​4/dokumente/jnr_gruende_lebnswlt.pdf, S. 3.                 nicht mehr toleriert – auch das ein Beispiel für die
03 Vgl. Rat für deutsche Rechtschreibung, Geschlechtergerech-     Möglichkeiten zivilen Sprachwandels nach den
te Schreibung: Empfehlungen vom 26. 3. 2021, www.rechtschrei-
                                                                  Regeln der demokratischen Öffentlichkeit.
brat.com/DOX/rfdr_PM_​2021-​03-​26_Geschlechtergerech-
te_Schreibung.pdf.
04 Vgl. die Stavanger-Erklärung von 130 Leseforschern: Zur        ANDREAS RÖDDER
Zukunft des Lesens, 11. 1. 2019, www.faz.net/-​16000793.          ist Professor für Neueste Geschichte an der
05 Vgl. Anne Applebaum, The New Puritans, 31. 8. 2021, www.       Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
theatlantic.com/magazine/archive/​2021/​10/new-​puritans-​mob-​
justice-​canceled/​619818.
06 Vgl. Wolfgang Merkel, Neue Krisen. Wissenschaft, Mo-
                                                                  SILVANA RÖDDER
ralisierung und die Demokratie im 21. Jahrhundert, in: APuZ       ist Oberstudienrätin für Deutsch und katholische
26–27/2021, S. 4–11.                                              Religion am Rabanus-Maurus-Gymnasium Mainz.

                                                                                                                      07
APuZ 5–7/2022

                                                        nicht annähernd so weit verbreitet oder gramma-
                                                        tikalisch verwurzelt, wie es im Deutschen der Fall
 They: Gendern auf Englisch                             ist. Der englische Gedanke ist schlicht und ergrei-
                                                        fend dieser: Der Weg zur Gleichheit ist Gleichheit.
                Nele Pollatschek                        Wenn wir wollen, dass Männer und Frauen gleich
                                                        sind, dann müssen wir sie gleich behandeln, auch
                                                        in der Sprache. Jede sprachliche Sichtbarmachung
Während meiner Studienzeit in England fragte            von Geschlecht hebt das Geschlecht hervor, weist
mich ein Professor: „Stimmt es, dass ihr im Deut-       auf Unterschiede hin, betont, dass eben dieses Ge-
schen Angela Merkel immer ‚BundeskanzlerIN‘             schlecht so wichtig ist, dass es in jeder Lebensla-
nennt?“ „Ja“, antwortete ich. „Angela Merkel ist        ge erwähnt werden muss, und zementiert damit
‚BundeskanzlerIN‘. Helmut Kohl war Bundes-              die Ungleichheit. Als deutsche Zeitschriften anfin-
kanzler.“ „Aber machen denn die Feministen gar          gen, statt von Schauspielern von Schauspielern und
nichts gegen diesen Sexismus in der Sprache?“,          Schauspielerinnen, Schauspielenden, Schau­spie­ler­
fragte er erstaunt. Ich schaute verwirrt zurück.        Innen, Schau­spiel­er_­innen und Schau­spiel­er*­innen
„Es ist doch sexistisch, wenn das Wort für Frau-        zu schreiben, beschloss der „Guard­ian“ – die eng-
en, die einen Beruf ausüben, ein anderes ist!“, sag-    lische Zeitung der progressiven feministischen Lin-
te er. Ich atmete tief durch und erläuterte ihm die     ken – nur noch das Wort actor zuzulassen und ac-
Geschichte der geschlechtergerechten Sprache            tress zu streichen. In ihren Stilrichtlinien erklären
in Deutschland, erklärte die Sache mit dem Plu-         sie bis heute, dass actress, genau wie authoress, co-
ral, den Gender-Gaps und Gendersternchen und            medienne, manageress, lady doctor, male nurse und
dass es vor allem um die Sichtbarmachung weib-          ähnliche Termini, aus einer Zeit kommt, in der Be-
licher Identität geht. Dass viele Menschen, wenn        rufe größtenteils einem einzigen Geschlecht offen-
sie Berufsbezeichnungen hören, sofort das Bild ei-      standen (meistens dem männlichen). Und dass die-
nes Mannes im Kopf haben und dass wir weibliche         se gegenderten Berufsbezeichnungen heute, wo die
Wortformen verwenden – gerade auch in Stellen-          Berufe allen Geschlechtern offenstehen, nicht mehr
ausschreibungen –, um zu verdeutlichen, dass der        verwendet werden sollten.
Beruf auch von Frauen ausgeübt wird. „Und habt               Die Maskulinität von generischen Berufsbe-
ihr dann auch ein Morphem für schwarze, schwu-          zeichnungen wirft ein Henne-Ei-Problem auf:
le oder jüdische Menschen?“ „Nein, natürlich            Sind die Berufsbezeichnungen inhärent männlich
nicht“, antwortete ich. „Aber die Standardvorstel-      und brauchen daher eine parallele weibliche Form,
lung ist doch die eines weißen, christlichen, hete-     oder sind sie inhärent generisch und wirken nur
rosexuellen Mannes, wäre es dann nicht genauso          deswegen männlich, weil sie historisch nur von
wichtig, in einer Stellenausschreibung auch deut-       Männern ausgeführt werden durften? Aus engli-
lich zu machen, dass es auch Juden, Schwarze und        scher Perspektive ist Letzteres der Fall. Das Wort
Schwule machen können? Wenn Frauen durch                Prime Minister bezeichnet de facto für den Groß-
Morpheme sichtbar gemacht werden, warum dann            teil der englischen Geschichte einen Mann, einfach
nicht auch Juden?“ „Weil das antisemitisch wäre“,       schon deshalb, weil Frauen weder wählen noch
sagte ich, und noch bevor der Professor die nächs-      gewählt werden durften. Die englische Lösung für
te Frage stellen konnte, wusste ich, dass ich auf sie   dieses Problem ist es nicht, eine weibliche Form
keine Antwort haben würde. „Wie kann es richtig         einzuführen, obwohl Prime Ministress durchaus
sein, Weiblichkeit in jeder Berufsbezeichnung als       ginge, sondern eine Frau zu wählen. Spätestens ab
Morphem anzuzeigen, wenn es falsch wäre, Reli-          1979, als Margaret Thatcher Premier wurde, wur-
gion, Hautfarbe, Orientierung, Gewicht oder eine        de das Wort Prime Minister de facto generisch und
Behinderung mit einem Morphem sichtbar zu ma-           wird mit jedem weiblichen PM immer generischer,
chen?“ In diesem Moment wurde mir schlagartig           wobei zur vollen Gleichheit noch einige Dutzend
klar: Aus der englischen Perspektive ist das „Gen-      weibliche Prime Ministers fehlen.
dern“, wie wir es in Deutschland betreiben, sexis-           Hätte Deutschland den angelsächsischen
tisch, antiquiert und kein bisschen inklusiv.           Weg der Geschlechtergerechtigkeit eingeschla-
    Zwar hat das Englische, wie das Deutsche, die       gen, dann gäbe es heute Jugendliche, für die das
Möglichkeit, das weibliche Geschlecht sprachlich        Wort „Bundeskanzler“ in erster Assoziation ein
in Berufsbezeichnungen anzuzeigen. Diese ist aber       weibliches ist, weil dieses Amt zu ihren Lebzeiten

08
Geschlechtergerechte Sprache APuZ

vor allem von Angela Merkel ausgeführt wurde.         für die zweite Person Singular (du) zu verwen-
Durch die Verwendung der beiden unterschied-          den. Keiner käme heute mehr auf die Idee, „du“
lichen Wörter „Bundeskanzler“ und „Bundes-            mit thou zu übersetzen, obwohl dies historisch
kanzlerin“ haben wir uns um diesen Sprachwan-         die korrekte Form ist und you eigentlich „ihr“
del gebracht. Und das, obwohl wir durchaus an         bedeutet.
die Möglichkeit solchen Wandels glauben, weil              Geschlechtergerechte Sprache wird im Deut-
wir sie an anderer Stelle bereits erfolgreich ein-    schen zusätzlich dadurch erschwert, dass es Men-
gesetzt haben: Anstatt unverheiratete weibliche       schen gibt, die intersex sind, die also keine me-
Menschen als „Fräulein“ und nur verheiratete          dizinisch eindeutig als männlich oder weiblich
weibliche Menschen als „Frau“ zu bezeichnen,          bestimmbaren Genitalien, Hormonhaushalte oder
haben wir das Wort „Frau“ von der Bedeutungs-         Chromosomensätze haben. Diese biologische Re-
ebene „verheiratet“ getrennt. Wer sich erst mal       alität wird rechtlich mittlerweile anerkannt, und
daran gewöhnt hat, eine Frau zu sein, möchte          Formulierungen wie „Journalist (m/w/d)“ sind in
kein Fräulein mehr sein, und wer sich daran ge-       Stellenausschreibungen zum Standard geworden.
wöhnt hat, dass das eigene Geschlecht in der Be-      Dennoch stellt sich früher oder später die Fra-
rufsbezeichnung nichts verloren hat, der möchte       ge: Wie nennt man jemanden, der schauspielt und
oft nicht gegendert werden, egal, wie gerecht es      „divers“ ist? Schauspielende scheitert spätestens
gemeint ist. Für mich war es jedes Mal befremd-       am Artikel (der oder die?). Und wer glaubt, man
lich, wenn ich in Deutschland aus englischer Ge-      könne in jeder Singularverwendung mehrere Arti-
wohnheit auf die Frage, was ich beruflich ma-         kel und einen Gender-Gap mitsprechen, der sollte
che, antwortete, dass ich Student sei, und dann       das mal ausprobieren (Ein_e gute_r Schauspieler_
von meinem Gegenüber mit einem entschiedenen          in weiß, wie er/sie ihre/seine Zu­schau­er_­innen un-
„StudentIN“ verbessert wurde. Stimmt ja, dach-        terhalten kann). Noch akrobatischer sind nur die
te ich in solchen Momenten, in Deutschland bin        geschlechtsneutralen Zusammenziehungen und x-
ich ja nicht Student; in Deutschland bin ich Frau.    Formen (Einx gutx Schauspiel-erx weiß, wie xier
    Das größte Problem für einen Englisch-Ge-         xiese Zuschauerx unterhalten kann). Auf Englisch
schädigten wie mich ist aber, dass man diesem         ist ein Mensch, der schauspielt und divers ist, ein-
intuitiven Unbehagen auf keinen Fall Ausdruck         fach actor und they. Actor lässt sich durch beliebig
verleihen sollte. Denn wenn man das tut, dann         viele Geschlechteridentitäten erweitern, eben weil
bekommt man sofort Applaus aus der ganz fal-          es diese nicht anzeigt. Die Sätze, die so entstehen,
schen Richtung. Nämlich meistens von Konser-          sind leicht zu verstehen: „A good actor knows
vativen, die sich freuen, wenn eine junge Frau        how they can entertain their viewers.“
Schwierigkeiten mit dem Gendern hat, und dabei             Eine vergleichbare Lösung, die niemanden
nicht begreifen, dass die Perspektive – die ja nur    ausgrenzt, konnte ich für das Deutsche bis jetzt
die englische ist – gar nicht weiter weg sein könn-   nicht finden. Stattdessen wurschtel ich mich
te von der des durchschnittlichen deutschen Gen-      durch, versuche niemanden zu verletzen, gende-
der-Gegners.                                          re an den Stellen, wo ich weiß, dass es Menschen
    Was die Unsichtbarmachung von Geschlecht-         wichtig ist, wechsele im Zweifelsfall ins Engli-
lichkeit betrifft, ist im englischsprachigen Raum     sche und hoffe, dass es niemand merkt. Ich glau-
zunehmend das Wort they in der Einzahl ge-            be aber, dass wir in Sachen geschlechtergerechte
bräuchlich. Bei einem Satz wie „the professor said    Sprache früher oder später nach Großbritannien
they like the student“ wird an keiner Stelle mehr     blicken werden. Denn für echte Gleichheit und
angezeigt, welches Geschlecht die beteiligten Per-    die Inklusion geschlechtlicher Minderheiten mei-
sonen haben. Natürlich gibt es auch in Großbri-       ne ich im Vergleich zu erkennen, wer den besse-
tannien die konservativen Sprachpfleger, die da-      ren Lösungsansatz hat: They do.
rauf bestehen, dass man doch ein Pluralwort nicht
im Singular verwenden kann. Diese stehen aller-       NELE POLLATSCHEK
dings auf sehr dünnem Eis, zum einen, weil diese      ist promovierter Literaturwissenschaftler und Autor.
generische Verwendung von they bis ins 18. Jahr-      2020 erschien „Dear Oxbridge: Liebesbrief an
hundert weit verbreitet war. Zum anderen, weil        England“ (Verlag Galiani Berlin). Dieser Text ist eine
es schon seit Shakespeares Zeiten üblich ist, you     gekürzte Version des Kapitels „They: Gendern auf
sowohl für die zweite Person Plural (ihr) als auch    Englisch“.

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APuZ 5–7/2022

                                                       sprachaktivistisch engagierte und linguistisch for-
                                                       schende Menschen dazu inspiriert haben, inno-
 Diagnose: „Männersprache“                             vative Therapien zu entwickeln. Die Vorschläge
                                                       reichen dabei von orthografischen Neologismen
            Anatol Stefanowitsch                       mit Binnen-I (StudentIn), Unterstrich (Student_
                                                       in) oder Gendersternchen (Student*in), bis hin
                                                       zu tieferen Eingriffen in das Genussystem und
Wenn wir über das Für und Wider des „Genderns“         die Wortbildung des Deutschen, etwa mit ge-
diskutieren, darf dabei nicht die zugrundeliegende     schlechtsneutralen Nachsilben -x (dix Studierx)02
Diagnose aus dem Blick geraten, die die Sprach-        oder -y (das Studenty).03 Diese Lösungen müs-
wissenschaftlerin Luise Pusch vor über 40 Jahren       sen uns nicht auf Anhieb gefallen – sie widerspre-
gestellt hat: Das Deutsche ist eine Männerspra-        chen zwar nicht, wie oft behauptet, grundsätzli-
che.01 Der Mann ist der sprachliche Normalfall,        chen Regeln der deutschen Grammatik, aber sie
auf den immer zurückgegriffen wird, wenn es            kratzen an Sprachgewohnheiten von Menschen,
nicht explizit und ausschließlich um Frauen geht       in deren sprachlicher Sozialisation das Maskuli-
– und oft sogar dort, wo das doch der Fall ist.        num der Normalfall war.
    Deutlich zeigt sich das in der Gebrauchstra-           Aber das darf nicht dazu führen, dass die
dition des „generischen“ Maskulinums, mit dem          Diagnose wegdiskutiert wird, wie es etwa der
geschlechtlich gemischte Gruppen oder abstrak-         Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg versucht.
te Kategorien von Menschen sprachlich so darge-        Er zieht dabei die sogenannte Markiertheitstheo-
stellt werden, als bestünden sie nur aus Männern:      rie heran, die unter anderem auf der Beobachtung
„Viele Studenten haben finanzielle Probleme.“          beruht, dass bei Wortpaaren mit gegensätzlicher
Manchmal betrifft das sogar unmissverständlich         Bedeutung manchmal eines der Wörter als Ober-
weiblich markierte Einzelpersonen: „Meine Toch-        begriff für beide verwendet werden kann. So kann
ter ist Student.“ Es zeigt sich aber auch an tief in   das Wort „Tag“ den Zeitraum zwischen Sonnen-
der Grammatik versteckten Strukturen. Das Fra-         aufgang und Sonnenuntergang bezeichnen und
gepronomen „wer“, zum Beispiel, ist nicht nur          steht damit in Opposition zu „Nacht“ als Zeit-
sprachgeschichtlich in Analogie zum männlichen         raum zwischen Sonnenuntergang und Sonnen-
„er“ entstanden, es verhält sich auch heute noch       aufgang. „Tag“ kann aber auch in der Bedeutung
so, als beziehe es sich auf Männer. So beginnt ein     „0 bis 24 Uhr“ verwendet werden und damit ei-
Artikel in der „B. Z.“ vom 9. Februar 2003 mit der     nen Zeitraum bezeichnen, der Tag und Nacht
Frage: „Was spielt sich in den ersten Wochen im        umfasst. In der Markiertheitstheorie wird das da-
Bauch der Frau ab?“, um dann zu erklären: „Wer         mit erklärt, dass das Wort „Tag“ das Bedeutungs-
schwanger ist, der ist nicht krank, er muss nur        merkmal ablegen könne, das es von „Nacht“ un-
sorgfältiger mit seinem Körper umgehen.“               terscheide (hell vs. dunkel). So kann es dann den
    Nun hat das Deutsche immerhin Mittel, um           gesamten Zeitraum bezeichnen, der unter Einbe-
Frauen als solche zu benennen: „Viele Studentin-       ziehung dieses Merkmals in Tag (hell) und Nacht
nen“, „Meine Tochter ist Studentin“, „Eine Frau,       (dunkel) unterschieden würde.04 Genau so seien
die schwanger ist“ und so weiter. Wollen wir da-       Maskulina wie „Student“ in der Lage, das Merk-
gegen auf die Nennung des Geschlechts verzich-         mal „männlich“ abzulegen und als geschlechts-
ten oder über nonbinäre Personen sprechen, die         neutrale Oberbegriffe für Maskulina und Femi-
sich mit den Kategorien Mann und Frau nicht            nina zu dienen.
identifizieren, geht das nur noch im Plural, wo            Ob die Analogie zwischen „Tag“ als Ober-
wir aus einem Partizip oder Adjektiv abgeleite-        begriff für „Tag und Nacht“ und „Student“ als
te Substantive verwenden können, zum Beispiel          Oberbegriff für „Student und Studentin“ tatsäch-
Studierende oder Schwangere. Im Singular funk-         lich funktioniert, sei dahingestellt. Selbst, wenn
tioniert das nicht: Der Studierende ist männlich       wir sie akzeptieren, stellt sich ja die Frage, wa-
und die Studierende weiblich markiert. Für den         rum das Wort „Tag“ als Oberbegriff dient und
Satz „Mein (nonbinäres) Kind ist …“ fehlt eine         nicht das Wort „Nacht“. Eine offensichtliche
entsprechende Form.                                    Erklärung wäre, dass der (helle) Tag für uns der
    Es sind diese Diagnose und die fehlenden           Normalfall ist – die Zeit, in der die meisten ge-
Hausmittel zu ihrer Behandlung, die betroffene,        sellschaftlich und kulturell relevanten Aktivitä-

10
Geschlechtergerechte Sprache APuZ

ten stattfinden. Analog dazu ist es die männliche                  zu seiner auf Männer beschränkten Bedeutung
Form, die als Oberbegriff dient, weil der Mann                     gekommen. Diesen Prozess, so das Argument,
der gesellschaftliche und kulturelle Normalfall                    könnten wir umkehren, indem wir das Maskuli-
ist. Damit aber sind wir wieder bei der Ausgangs-                  num als einzige Form verwenden. Tatsächlich gibt
diagnose angelangt: Das Deutsche ist eine Män-                     es Hinweise darauf, dass die konsequente Ver-
nersprache. Das zeigt – jenseits aller sprachstruk-                wendung von Doppelformeln (Studentinnen und
turellen Überlegungen – im Übrigen auch die                        Studenten) die gesellschaftliche Akzeptanz des
psychologische Forschung, die in einem Experi-                     „generischen“ Maskulinums leicht verringert,06
ment nach dem anderen nachgewiesen hat, dass                       Die Interpretation von Maskulina als männlich
maskuline Personenbezeichnungen vorrangig                          findet sich aber auch in Sprachen wie dem Fran-
(und oft ausschließlich)1234 männlich interpretiert                zösischen, in denen das Maskulinum (noch) weit-
werden.05                                                          gehend unangefochtener Normalfall ist.07 Die
     Auf die Selbstheilungskräfte des Deutschen                    männliche Bedeutung maskuliner Personenbe-
zu bauen und zu hoffen, dass sich das Problem                      zeichnungen ist nämlich nicht nur dort angelegt,
im Zuge eines natürlichen Sprachwandels von al-                    wo sie generisch gebraucht werden, sondern auch
leine löst, ist ebenfalls keine Option. Im Engli-                  dort, wo das nicht der Fall ist: der Mann vs. die
schen, das man als heute weitgehend geschlechts-                   Frau, der Sohn vs. die Tochter, der Mönch vs. die
neutrales Vorbild heranziehen könnte, hat der                      Nonne und so weiter.
Abbau der grammatischen Markierung von Ge-                             Es hilft alles nichts: Die Diagnose vom Deut-
schlecht im Zuge eines allgemeineren Lautwan-                      schen als Männersprache hat allen Versuchen wi-
dels 500 Jahre gebraucht – solange können Frau-                    derstanden, sie zu bestreiten, und Hausmittel wie
en und non-binäre Personen nicht warten. Davon                     Partizipien und geschicktes Paraphrasieren kön-
abgesehen sind Sprachwandelprozesse keine Na-                      nen zwar Linderung verschaffen, bekämpfen aber
turgesetze, es wäre also weitgehend Zufall, wenn                   nicht die Ursachen. Wenn wir ein geschlechter-
das Deutsche denselben Weg gehen würde wie                         gerechteres Deutsch wollen, müssen sich unsere
das Englische.                                                     Hoffnungen auf die derzeit vorhandenen innova-
     Zuweilen678 findet sich die Behauptung, die Dia-              tiven Therapievorschläge richten. Auch die sind
gnose selbst habe das Problem überhaupt erst ver-                  keine Wundermittel – erste Forschungsergebnis-
ursacht – das Maskulinum habe ursprünglich eine                    se zeigen zum Beispiel, dass das Gendersternchen
generische Bedeutung gehabt und sei erst durch                     zwar (wie auch andere Formen des „Genderns“)
die verstärkte Verwendung weiblicher Formen                        die mentale Repräsentation von Frauen erhöht,
                                                                   aber (noch?) nicht die von nonbinären Perso-
                                                                   nen.08 Auf der Suche nach einer Lösung stehen
01 Vgl. Luise Pusch, Das Deutsche als Männersprache –
                                                                   wir also erst am Anfang. Die Aufgabe der Sprach-
Diagnose und Therapievorschläge, in: Linguistische Berichte
69/1980, S. 59–74.
                                                                   wissenschaft ist dabei nicht, eigene Vorschläge zu
02 Vgl. Lann Hornscheidt, feministische w_orte, Frank­furt/M.      machen. Wir können aber bestätigen, dass das
2012, S. 293–302.                                                  Problem ein reales ist. Wir können die Wirkungs-
03 Vgl. Thomas Kronschläger, Entgendern nach Phettberg,            weise und Wirksamkeit bestehender Vorschläge
Braunschweig 2020.
                                                                   untersuchen und auf der Grundlage linguistischer
04 Vgl. Eugenio Coseriu, Einführung in die strukturelle Betrach-
tung des Wortschatzes, Darmstadt 1978, S. 237 f.
                                                                   Modelle Ideen dazu beisteuern, wie neben neu-
05 Ein Überblick dieser Studien findet sich in Helga Kotthoff/     en Formen auch die beabsichtigten Bedeutungen
Damaris Nübling, Genderlinguistik, Tübingen 2018.                  etabliert werden könnten. Wir können der ro-
06 Vgl. Juliane Schröter/Angelika Linke/Noah Bubenhofer,           mantisierenden Vorstellung begegnen, die Spra-
„Ich als Linguist“ – Eine empirische Studie zur Einschätzung und
                                                                   che der Vergangenheit sei natürlich gewachsen
Verwendung des generischen Maskulinums, in: Susanne Günth-
ner/Dagmar Hüpper/Constanze Spieß, Genderlinguistik, Berlin
                                                                   und deshalb unantastbar. Und wir können Ängs-
2012, S. 359–379.                                                  ten begegnen, dass bewusste Eingriffe ins Sprach-
07 Vgl. Pascal Gygax et al., Generically Intended, but Specifi-    system zu dessen Kollaps führen.
cally Interpreted: When Beauticians, Musicians, and Mechanics
Are All Men, in: Language and Cognitive Processes 23/2008,
S. 464–485.
08 Vgl. Melissa Koch, Kognitive Effekte des generischen Mas-
                                                                   ANATOL STEFANOWITSCH
kulinums und genderneutraler Alternativen im Deutschen – eine      ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch
empirische Untersuchung, Braunschweig 2021.                        an der Freien Universität Berlin.

                                                                                                                          11
APuZ 5–7/2022

                                                     len Bilderwelt jenseits von Sprache verankert sein
                                                     muss. Ausgewogen waren die Nennungen von
      Zwischen berechtigtem                          Frauen und Männern bei den Schrägstrichschrei-

     Anliegen und bedenklicher                       bungen, während bei den Binnenmajuskeln mehr
                                                     Frauen genannt wurden. Umgekehrt schließt vor
           Symbolpolitik                             allem ein geschlechterübergreifendes Maskuli-
                                                     num im Plural weibliche Nennungen nicht aus,
                                                     es verringert sie aber je nach Kontext mehr oder
                Helga Kotthoff                       weniger deutlich.03
                                                         Das Spektrum der gendersensiblen Formu-
                                                     lierungen reicht von der Substantivierung von
Seit rund 40 Jahren beschäftigt uns im deutsch-      Präsenspartizipien (Studierende), über Beidnen-
sprachigen Raum die Debatte um den Zusam-            nungen (Studentinnen und Studenten) bis hin zu
menhang von Genus und Personenreferenz. Tra-         Kurzschreibungen mit verschiedenen Zeichen
ditionell galt in der Sprachwissenschaft dazu eine   an der Morphemgrenze (Stu­dent:­innen, Stu­
Ansicht, die der Linguist Theodor Lewandow-          dent_­innen, Stu­dent*­innen und andere mehr).
ski unter der Rubrik „Genus“ so formulierte:         Im Mündlichen gehört ein morphologischer Fe-
„Grammatisches Geschlecht; grammatische Ka-          mininplural mit ins Bild, der mit einem Glottis-
tegorie, Merkmal von Substantiv, Artikel, Ad-        schlag gesprochen wird: BäckerInnen wird also
jektiv, Pronomen, das sich im Allgemeinen von        „Bäcker-innen“ ausgesprochen. Des Weiteren
seiner Bindung an das natürliche Geschlecht fast     finden sich Feminisierungen lexikalischer Mas-
ganz gelöst hat.“01 Dies gelte uneingeschränkt       kulina (Gästin, Vorständin) – und zu all diesem
auch für Personenreferenz. Vor allem Luise           ein breiter Unterweisungsdiskurs durch ent-
Pusch stieß mit ihrem viel beachteten Buch „Das      sprechende Leitfäden von Städten, Hochschulen
Deutsche als Männersprache“ jedoch eine De-          und Firmen. Der Sprachwandel des Genderns
batte darüber an: „Seit Mitte der siebziger Jah-     wird auf diese Weise immer stärker institutio-
re erlebt mann mit wachsendem Befremden, wie         nell ­gelenkt.
frau die deutsche Sprache instandbesetzt. Frü-           Die stark im Pro und Contra geführte Debat-
her fand sie keinen Raum in dieser Herrberge,        te ließe sich dadurch entschärfen, dass das gene-
genannt ‚Muttersprache‘ (ausgerechnet). Inzwi-       relle Anliegen, in Texten etwas dafür zu tun, dass
schen jedoch hat frau sich eingerichtet und mit      nicht überwiegend männliche Personen vor un-
der Sanierung begonnen. Die Regeln der Gram-         ser inneres Auge treten, anerkannt wird – wohl-
matik, morsches Gebälk, werden feminisiert und       gemerkt: in Texten, nicht in Einzelsätzen. Wenn
dadurch humanisiert.“02                              man dabei auch Praktikabilitätsgesichtspunkte
    In der Sprach- und Kognitionspsychologie         ernst nimmt, kann eine Studie von Jutta Roth-
haben zahlreiche Experimentalstudien zur Wir-        mund und Brigitte Scheele als Anregung dienen:
kung von geschlechterübergreifend gemeinten          Die Psychologinnen gehören zu den wenigen, die
Maskulina jedoch differenziertere Befunde zu-        ihre Proband(inn)en längere Texte haben lesen
tage gefördert, als dass es „keinen Raum“ für        lassen.04 Ihre Studie zeigt, dass es je nach Kontext
Frauen gebe. Elke Heise ließ beispielsweise 150      und Gegenstand gar nicht nötig ist, einen gan-
Versuchspersonen Fortsetzungen von Geschich-         zen Text konsequent durchzugendern, wenn man
ten produzieren, deren Personennennungen mal         grundsätzlich um geschlechtersymmetrische Re-
als „Vegetarier“ vorkamen, mal als „Vegetari-        präsentation bemüht ist.
er/innen“ und mal als „VegetarierInnen“. Zu-             Statt sich also vermehrt Schreib- und Sprech-
dem enthielten die Texte „neutrale“ Nennungen        praktiken zu bedienen, die wenig irritieren
wie „Kinder“ und „Angestellte“. Sowohl die ge-       und doch zu gendersymmetrischen Assoziati-
schlechterübergreifenden Maskulina (im Artikel       onen führen, beobachten wir ein Hochschrau-
als „generisch“ bezeichnet) als auch die neutra-     ben von Symbolpolitiken. Verschiedene Grup-
len Substantive führten zu viel mehr männlichen      pierungen innerhalb der Pro-Gendern-Fraktion
Realisierungen in den Folgetexten. Dies deutet       grenzen sich beispielsweise darüber voneinan-
darauf hin, dass die Dominanz männlicher Per-        der ab, welche Zeichen vor dem Femininsuffix
sonenvorstellungen auch tief in einer kulturel-      gesetzt werden sollen. In den Ende September

12
Geschlechtergerechte Sprache APuZ

2021 beschlossenen Empfehlungen für eine ge-                                   Ebenso zeugen verschiedene Aussagen von
schlechtergerechte Sprache der Landeskonferenz                             Unterstützern und Betreiberinnen des Gen-
der Gleichstellungsbeauftragten an den wissen-                             derns davon, dass es ihnen mehr um eine allge-
schaftlichen Hochschulen Baden-Württembergs                                mein-progressive Haltungsanzeige geht als um
wird verkündet, insbesondere Asterisk, Unter-                              eine Sichtbarmachung von Frauen und anderen
strich und Doppelpunkt würden geschlechtliche                              nichtmännlichen Personen. So etwa auch im Falle
Vielfalt1234 ausdrücken.05 Damit wird eine Setzung                         der ehemaligen Fernsehmoderatorin Petra Gers-
vorgenommen.                                                               ter, die „Geschichte, Herkunft, Ethnie, Hautfar-
    Der Doppelpunkt gewinnt derzeit vor allem                              be und Geschlecht – kurz (…) Identität“ anzuzei-
an Hochschulen und in Museen an Terrain. In                                gen meint.07
der feministischen Zeitschrift „Missy Magazine“                                Im Leitfaden zu geschlechtergerechter Spra-
wird hingegen entschieden gegen diese Schrei-                              che der Stadt Freiburg heißt es sehr ähnlich im
bungsvariante geschrieben, weil sie zu wenig irri-                         Vorwort des Bürgermeisters Martin Horn: „Der
tiere: „Sternchen und Unterstrich sind konzipiert                          Gender-Gap soll die Grenzen der binären Kate-
worden, um zu einem Nachdenken über die bi-                                gorisierung in der Sprache auflösen und bindet
näre Vergeschlechtlichung der deutschen Sprache                            neben der geschlechtlichen Identität und der sexu-
anzuregen. Bei Sternchen und Unterstrich geht es                           ellen Orientierung weitere soziale Dimensionen
nicht um bloße Repräsentation, sondern um eine                             mit ein, u. a. Alter, eine mögliche Behinderung,
aktive Störung der Sprech-, Schreib- und Sehge-                            kulturelle Herkunft, Religion oder Weltanschau-
wohnheiten. Der Doppelpunkt sieht für Sehende                              ung.“08 Solche Verlautbarungen sind schlichtweg
aus wie ein kleines i, sticht weniger hervor, kommt                        Unsinn. Personenreferenzen wie „Freiburger“,
somit weniger radikal daher und stört sehende cis                          „Schwimmerin“, „Verkäufer“ oder „Chirurgin“
Menschen vermutlich viel weniger als Sternchen                             enthalten bestenfalls über die sie umgebenden
oder Unterstrich.“06 Hier wird eine Sprachpolitik                          Texte Informationen dazu, dass die Person eine
aktiver Störung favorisiert. Sprachwandel setzt                            spezifische Herkunft oder Religion hat. Welche
aber auf Ususbildung und kann mit permanenter                              Anzeige soll denn der Asterisk auf welche Weise
Störung gar nicht bewirkt werden. Es kommt so-                             in Richtung Alter bewirken? Soll ich mir Leh­rer_­
mit der Verdacht auf, dass den FreundInnen der                             innen älter vorstellen als Leh­rer/­innen? Welcher
laufenden Irritation gar nicht primär an einem                             Religion hängt der Schwimmer* an?
machbaren Sprachwandel in Richtung symmetri-                                   Gerster und die Freiburger Gleichstellungs-
scher Vorstellungen von Personen verschiedener                             stelle wollen kundtun, dass diejenigen, die diese
Geschlechter liegt.78                                                      Zeichen verwenden, einer Gruppe angehören, die
                                                                           sich über all dies Gedanken macht. Sprache kom-
                                                                           muniziert ja immer irgendwie auch Zugehörig-
01 Theodor Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch 1, Heidel-
berg 1979³, S. 230.
                                                                           keit. Wer etwa jugendsprachlich spricht, betreibt
02 Luise Pusch, Das Deutsche als Männersprache, Frank­furt/M.              das Anzeigen von doing youth, auch wenn sie
1984, S. 2.                                                                oder er die Jugend lange hinter sich hat. Die Pro-
03 Vgl. Elke Heise, Sind Frauen mitgemeint?, in: Zeitschrift für           gressivitätsanzeige der Sternchen-, Unterstrich-
Sprache und Kognition 9/2000, S. 3–13.
                                                                           und Doppelpunkt-Nutzung beansprucht zu-
04 Vgl. Jutta Rothmund/Brigitte Scheele, Personenbezeich-
nungsmodelle auf dem Prüfstand, in: Zeitschrift für Psycholo-
                                                                           sätzlich moralische Überlegenheit. Praktiken des
gie 1/2014, S. 40–54.                                                      Moralisierens so stark in mündliche und schriftli-
05 Siehe https://lakog-​bw.de/wp-​content/uploads/LaKoG-​                  che Ausdrucksweisen einzuschreiben, dient einer
Empfehlung-​Geschlechtergerechte-​Sprache-​2021.pdf.                       Verschärfung des Pro- und Contra-Diskurses.
06 Eddi Steinfeldt-Mehrtens, Hä? Was heißt denn: Genderdop-
                                                                           Ein gelassener Umgang mit je nach Kontext mehr
pelpunkt?, 8. 3. 2021, https://missy-​magazine.de/blog/​2021/​03/​
08/hae-​was-​heisst-​denn-​genderdoppelpunkt.
                                                                           oder weniger Gendern sieht anders aus.
07 Petra Gerster übers Gendern: „Mit so viel Wut hatte ich
nicht gerechnet“, 15. 11. 2021, www.rnd.de/medien/petra-​gers-
ter-​uebers-​gendern-​mit-​so-​viel-​wut-​hatte-​ich-​nicht-​gerechnet-​
HWPTSEWKOZFKJODOI34O7GN3IY.html.
08 Martin Horn, Vorwort, in: Stadt Freiburg im Breisgau, Ge-
schäftsstelle Gender und Diversity (Hrsg.), Gender & Diversity in
                                                                           HELGA KOTTHOFF
Wort und Bild. Formen antidiskriminierender Sprachhandlungen,              ist emeritierte Professorin für Germanistische
Leitfaden, Freiburg/Br. 2019³, S. 6.                                       Linguistik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

                                                                                                                                13
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