APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE
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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 15/2011 · 11. April 2011 Humanisierung der Arbeit Oskar Negt Arbeit und menschliche Würde C. Keller · O. Groh-Samberg · M. Hofmann · S. Röbenack · G. Reckinger · D. Reiners · K. Schrader · K. Englert Ein halbes Leben. Vier Kurzporträts Dieter Sauer Von der „Humanisierung der Arbeit“ zur „Guten Arbeit“ Eva Senghaas-Knobloch Arbeiten in der postfordistischen Dienstleistungsgesellschaft Julia Lepperhoff Qualität von Arbeit: messen – analysieren – umsetzen Alexander Böhne „Humanisierung“ der Arbeit und Wirtschaftlichkeit Cordula Drautz Plädoyer für eine nachhaltige Arbeitspolitik
Editorial Die Teilhabe am (Erwerbs-)Arbeitsleben ist zentral für den Zugang zu Ressourcen und gesellschaftlicher Anerkennung. „Hauptsache Arbeit!“ lautet der Ruf folgerichtig, insbesonde- re in Zeiten ökonomischer Krisen. Zweierlei tritt dabei in den Hintergrund: die ungleich verteilten Zugangschancen zum Ar- beitsmarkt und die Qualität der Arbeitsplätze. Was „gute“ Arbeit ausmacht, ist umstritten und nur schwer messbar. Der Begriff ist ähnlich unscharf wie das Schlagwort von der „Humanisierung der Arbeit“ aus den 1970er Jahren. Hinter beiden steht indes die Überzeugung, dass die unantastbare Würde des Menschen der kapitalistischen Verwertung seiner Arbeitskraft Grenzen setzt. Während die Anzahl der durch schwere körperliche Arbeit dauerhaft Geschädigten in den vergangenen Jahrzehnten zurück- ging, haben wir es heute mit einer neuen „Volkskrankheit“ zu tun: Immer mehr Menschen erkranken an behandlungsbedürftigen Depressionen und Fehlzeiten und Frühverrentungen aufgrund psychischer Erkrankungen nehmen zu. Prekäre Arbeitsverhält- nisse, fortschreitende Verdichtung der Arbeit mit steigendem Zeit- und Leistungsdruck und Entgrenzung zwischen Beruf und „freier“ Zeit resultieren immer häufiger im „überforderten Ich“. Ein Zurück in das vermeintlich „goldene Zeitalter“ eines männlich dominierten „Normalarbeitsverhältnisses“ wird es kaum geben. In den flexibilisierten Arbeitsformen der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, so oft sie auch zu (Selbst-)Aus- beutung führen, liegen durchaus auch Chancen auf größere Au- tonomieräume, auf eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit, Leben und (Weiter-)Lernen – und nicht zuletzt auf langfristigen öko- nomischen Wohlstand. Dazu bedarf es einer nachhaltigen Ar- beitspolitik, die bei aller Flexibilisierung soziale Absicherungs- mechanismen auf menschenwürdigem Niveau nicht vergisst. Anne Seibring
Oskar Negt Wesensgehalt ausdrückt: Er ist ganz aus den Machtverwicklungen gelöst und zu einem be- Arbeit und stimmenden Merkmal des aufrechten Gangs, der Persönlichkeit aufgewertet. In dem Maße, menschliche Würde wie sich die Warenproduktion ausbreitet und in die Poren des gesellschaftlichen Lebens ein- dringt, aber auch die Privatverhältnisse er- Essay greift, wird die Suche nach dem Unbedingten, dem selbstverständlich Geltenden, zu einem bestimmenden Motiv des modernen Denkens. J ahrhunderte hat es gedauert, bis Würde die klassenspezifische Zuschreibung eines Sta- Die Frage der Unaustauschbarkeit und der Un- wiederholbarkeit wird zum Gegenpol des ge- tusmerkmals verloren hat und, angereichert samten gesellschaftlichen Verkehrs. Das Un- mit moralischem An- wiederholbare ist der absolute Gegenpol der Oskar Negt sehen, zum Bestandteil Warenproduktion; es lässt sich dem Allgemei- Dr. phil., Dr. h. c., geb. 1934; der Rechtskultur wur- nen nicht subsumieren; aber lässt sich das Un- Professor (em.) der Sozialwis- de. Es ist offensicht- wiederholbare als Allgemeines denken? senschaften an der Universität lich Lernresultat aus Hannover; Podbielskistraße 31, Auschwitz und den Kant ist der erste europäische Philosoph, 30163 Hannover. sonstigen Staatsverbre- der dem Unwiederholbaren, dem Unaus- chen, staatliches Han- tauschbar-Besonderen den Status des Allge- deln rechtswirksam zu binden. Wenn der mo- meinen verschafft. Solange der Begriff, der ralische Impuls, der selbst im Statusbegriff der mit Würde verknüpft war, der autoritären Würde verborgen war, in die Verfahrensratio- Sonderstellung von Einzelpersonen zugeord- nalität eines Verfassungssystems eingebunden net wurde, war die Verknüpfung dieses Be- wird, ist dies ein gewaltiger Rechtsfortschritt. griffs mit der Menschheit nichts weiter als Die Grundrechte binden Gesetzgebung, voll- eine modernisierte Form der Herrschafts- ziehende Gewalt- und Rechtsprechung als un- legitimation. In allen Hochkulturen enthält mittelbar geltendes Recht. Im normativen Ge- der Sprachsymbolvorrat Begriffe für das, was halt unserer Verfassung sind hohe Maßstäbe man nicht kaufen kann und was den unver- gesetzt; die Unantastbarkeit der Würde ist zu wechselbaren, unaustauschbaren Eigensinn achten und zu schützen. Das deutsche Volk des Einzelnen ausmacht. Nun scheint gera- bekennt sich zu unverletzlichen und unveräu- de Arbeit in der modernen Welt der kapita- ßerlichen Menschenrechten als der Grundla- listischen Produktion zu jenen Kategorien zu ge jeder menschlichen Gemeinschaft des Frie- gehören, die von Tauschvorgängen überhaupt dens und der Gerechtigkeit in der Welt. Höher nicht zu trennen sind; die lebendige Arbeit sind gesellschaftliche Humanisierungsan- aus dem Zwangszusammenhang von Tausch sprüche kaum zu setzen; was dem zu Grunde zu lösen, könnte nichts anderes bedeuten, als liegt, ist der utopische Entwurf einer friedens- die Geschichte zurückzudrehen. fähigen und gerechten Gesellschaft. Man kann hier nicht nur von der Würde des Einzelnen Einer der Gründe dafür, dass mittlerweile sprechen, sondern von der Würde des Gemein- dieser Begriff der Würde im umfassenden Sin- wesens, denn ein würdevolles Leben der Ein- ne menschlicher Lebensbedingungen auch auf zelnen kann es nur geben, wenn die Menschen Arbeit bezogen wird, mag darin bestehen, dass diesen verfassungsrechtlich festgelegten Schutz bei sichtbar wachsender Reichtumsproduktion und die Achtung in sichtbaren und spürbaren die Gesellschaft in großen Bereichen immer är- Alltagserfahrungen der kollektiven Solidarität mer wird. Man spricht von der Klasse der Wor- wahrnehmen. king Poor, der arbeitenden Armen. Man sieht, dass diejenigen, welche die Werte schaffen, Der Kulturbegriff der Würde, wie ihn Ci- keinerlei Verfügungsrechte über ihre Verwen- cero prägte, war bis ins bürgerliche Zeitalter dung haben. Die Arbeitsutopien, die ursprüng- hinein an Stand, Macht und Herrschaft ge- lich darauf gerichtet waren, die technologische bunden. Noch bei Thomas Hobbes hat Wür- Entwicklung zu fördern, um die Menschen de (Dignity) keinen Eigenwert der Person. Gut vom Druck materieller Not zu befreien und 100 Jahre später formuliert Immanuel Kant Arbeitszeitverkürzungen zu ermöglichen, ha- einen Würdebegriff, der einen ganz anderen ben sich weitgehend zersetzt. Der Erschöp- APuZ 15/2011 3
fungszustand der Arbeitenden dieser Gesell- mühsamen und aufwendigen Bildungspro- schaft hat einen Grad erreicht, der die Identität zess erworben wurden und die – von ihren der Subjekte antastet und die Gesellschaft mit gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten einer depressiven Gefühlslage überzieht. abgeschnitten – in Gefahr sind, zu verrotten und schwere Persönlichkeitsstörungen her- Das betrifft diejenigen, die am System ge- vorzurufen. Vielfältige Formen der Selbstach- sellschaftlicher Arbeit irgendwie noch betei- tung und der sozialen Anerkennung im fried- ligt sind. Hier bildet sich der objektive Schein lichen Verkehr miteinander sind nach wie vor einer normalen Marktrationalität, bei welcher in zentraler Weise mit dem Wesensgehalt ei- der Gebrauchswert lebendiger Arbeit Verwen- ner Arbeit verknüpft, die ihres Lohnes wür- dung findet, wenn die Share-Holder-Interes- dig ist. Wenn Entwürdigungen und Entrech- sen das erforderlich machen. Es wird jedoch tungen der Menschen so im Alltagsleben der immer dringlicher, die moralische Kompo- Gesellschaft auftreten und nicht lediglich auf nente des Umgangs mit lebendiger Arbeits- eine Ausnahmesituation beschränkt sind, wie kraft öffentlich kenntlich zu machen. Eine können dann Bedingungen hergestellt wer- Formulierung des Kategorischen Impera- den, unter denen ein würdiges Leben möglich tivs Kants hat den Wortlaut: Behandle andere ist? Würde ist doch ein aktiver, zur Umgestal- Menschen nie bloß als Mittel, sondern immer tung der Verhältnisse drängender Begriff. Was zugleich als Zweck, als Selbstzweck. Arbeits- sind die Grundbedingungen dafür, dass Men- plätze zu schaffen, die den Menschen ermög- schen ohne Kraftaufwand, der sie überfor- lichen, auf angstfreier Existenzbasis zu leben, dert, in Würde und in aufrechtem Gang ihren wäre ein solches Handlungsziel. Die zuneh- Lebensweg beschreiten können? Ein auf Ver- mende Fragmentierung der Arbeitsplätze, die teilungsgerechtigkeit, auf ein hohes Maß von Selbstverständlichkeit von Leiharbeit und vie- sozialer Gleichheit beruhendes System gesell- len Formen der Job-Fragmentierung weisen schaftlicher Arbeit ist wesentliche Grundlage dagegen in eine ganz andere Richtung. einer friedensfähigen Gesellschaftsordnung. Inzwischen sind die sogenannten Arbeits- Nach wie vor leben wir in einer Arbeitsge- agenturen soweit, dieses Fragmentierungs- sellschaft; Hannah Arendts düstere Progno- geschäft des gegenwärtigen Kapitalismus als se, dass wir in einem Dilemma stecken wür- ein destruktives Element der Gesellschaft den, wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit zu benennen; wer in fortwährend prekären ausginge, wir aber nur Kategorien der Arbeit Lebensverhältnissen existieren muss, ver- zur Deutung der Krise zurückbehalten, ist liert den Sinn individueller Lebensplanung. eine Halbwahrheit. Nicht alle Arbeit geht der Es ist eben nicht nur die aktuelle Arbeitslo- Gesellschaft aus. Aber im Zeitalter des digi- sigkeit, welche die Zukunftsaussichten der talisierten Kapitalismus drängt die Rationa- Menschen verdunkelt. Es bedarf vielmehr ei- lisierung immer stärker ins gesellschaftliche ner neuen öffentlichen Aufmerksamkeit auf Lebenszentrum; damit auch die Tendenz, le- das, was sich im Rahmen normaler Marktge- bendige Arbeit durch Maschinensysteme zu setze abspielt, so, als wären es Naturgesetze, ersetzen. Wenn sich diese Prozesse fortsetzen, die unabänderlich sind. Was die Arbeitslosen werden wir eines Tages in der Tat menschen- empfinden, berührt zunehmend auch die Ge- leere Fabrikationsorte haben. Wo bleiben unter fühlslage der in prekären Beschäftigungssitu- solchen Strukturbedingungen die Menschen ationen Eingemauerten. mit ihrer lebendigen Arbeitskraft? 500 Jahre hat es gedauert, bis Arbeit zum Bestandteil der Was diese Verbindungslinie Arbeit und Identitätsbildung der Menschen wurde, zu ei- menschliche Würde betrifft, ist deshalb die nem Persönlichkeitsanteil, um den herum sich empfundene Entwürdigung der Arbeitslosen Selbstwertgefühle und soziale Anerkennung das Grundmuster des moralischen Skandals organisieren. Wenn aber gegenständliche Tä- unserer Gesellschaft. Arbeitslosigkeit ist ein tigkeit mit der Formung äußerer Objekte (in Gewaltakt. Sie ist ein Anschlag auf die kör- der Warenproduktion) fundamentale Bedeu- perliche und seelisch-geistige Integrität, auf tung für die Herstellung eines gesellschafts- die Unversehrtheit der davon betroffenen fähigen Subjekts hat, dann müssen wir Ant- Menschen. Raub und Enteignung der Fähig- worten auf die Frage finden, wo die Menschen keiten und Eigenschaften, die innerhalb der bleiben, die Opfer der Rationalisierung der Familie, der Schule und der Lehre in einem Warenproduktion sind. 4 APuZ 15/2011
In dem Maße, wie die herkömmlichen Pro- hältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch duktionsbereiche in der Anwendung lebendi- ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlas- ger Arbeitskraft enger werden, wächst der Be- senes, ein verächtliches Wesen ist“.❙1 darf an Gemeinwesenarbeit, die jedoch nicht über den Markt, sondern über die zur gerech- Wo der sozialdarwinistische Überlebens- ten Verteilung der kollektiv erarbeiteten Werte kampf der Menschen zum Prinzip einer auf verpflichteten staatlichen Instanzen finanziert Wachstum und Konkurrenz setzenden Ge- werden muss. In den neoliberalen Ideologien sellschaft erhoben wird, die darum bemüht ist, steckt der Wunsch, zentrale staatliche Regu- möglichst alle sozialstaatlichen Barrieren der lierungsinstanzen in der Verteilung des gesell- Kapitalentwicklung und der Kapitalentfaltung schaftlichen Reichtums abzubauen. Das führt beiseite zu schaffen, wird selbst das Scheitern jedoch zwangsläufig zu einer Polarisierung von und die individuelle Katastrophe noch als An- Arm und Reich und am Ende zur Selbstzer- reiz betrachtet, sich nicht zur Ruhe zu bege- rissenheit und Spaltung der Gesellschaft. An ben; das Selbstideal des unternehmerischen sich müsste es unter heutigen Bedingungen so Menschen schreckt auch davor nicht zurück, sein, dass der analytische und praktische Blick der Erniedrigung und der Vereinsamung posi- der öffentlichen Vernunft konzentriert auf das tive Akzente zu verleihen. Was gegenwärtig im Schicksal der lebendigen Arbeitskraft in die- Krisenzusammenhang der Arbeitsgesellschaft ser Gesellschaft zu lenken wäre. Das Gegen- abläuft, lässt sich als eine Art Akkumulation teil ist jedoch der Fall. Von toter Arbeit spricht des Angstrohstoffs bezeichnen; selbst die flei- Karl Marx treffend, auch von verstorbener Ar- ßig Arbeitenden haben in dieser Gesellschaft beit, wenn er die Akkumulationsbewegung keinen sicheren Platz mehr. Das hat es in dieser des Kapitals untersucht. So werden lebendige Ausdehnung geschichtlich noch nie gegeben.❙2 Menschen mit ihren Arbeitsbedürfnissen und ihren Hoffnungen auf ein menschenfreundli- In den Bereichen der Warenproduktion ches Gemeinwesen immer wieder herabgestuft scheint alles gewaltlos abzulaufen; das ist aber auf bloße Anhängsel der Marktmechanismen, eine gefährliche Täuschung. Die Ansamm- die sich alternativlos geben. Wie in einer Über- lung von Angstrohstoff verweist auf innerge- flussökonomie, in der Mangelsituationen nicht sellschaftliche Kriegszustände, auf Gewalt- der Not, sondern dem bewussten Willen ge- potenziale, die eines Tages auch politische schuldet sind, mit den Lebensbedürfnissen der Ausdrucksformen finden werden. Christa Menschen umgegangen wird, ist ein skanda- Wolf spricht mit Recht von einem Zustand löser Akt der Entwürdigung. Das ist eine All- des Vorkrieges: „Wann Krieg beginnt, das tagsangelegenheit, nicht ein Ausnahmefall. kann man wissen, aber wann beginnt der Vor- krieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie Ich komme auf meinen Ausgangspunkt zu- weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, über- rück: Im geschichtlich-lebendigen Substanz- liefern. Was stünde da. Da stünde unter an- gehalt von Würde ist ein bestimmtes Men- dern Sätzen: LASST EUCH NICHT VON schenbild festgehalten; obwohl Artikel 1 des DEN EIGNEN TÄUSCHEN.“❙3 Diesen Grundgesetzes so klingt, als ginge es hier um Zustand eines Vorkriegs gar nicht erst auf- Tatbestandsfeststellungen, „ist unantastbar“, kommen zu lassen, dazu wäre eine der Leis- „ist Verpflichtung“, ist darin doch ein unbe- tungsgerechtigkeit und der guten Arbeit ent- dingtes Sollen gemeint, ein kategorischer Im- sprechende Organisation der Gesellschaft am perativ derart, dass die Tatsachenwelt, das Besten geeignet. Das Bezugssystem von Ar- scheinbar alternativlos Gegebene, ihre Legi- beit und menschlicher Würde hat eine zen- timationsgrundlagen verliert. Es sind inner- trale Bedeutung für eine Humanisierung der weltliche Maßstäbe gesetzt, für ein Bild vom Gesellschaft. Menschen, dessen charakteristische Merkma- le Autonomie und Selbstbestimmung sind. ❙1 Siegfried Landshut (Hrsg.), Karl Marx – Die Früh- Der junge Marx, bewusst an Kant anknüp- schriften, Stuttgart 20047, S. 283. fend und die Arbeitswelt als entscheidende ❙2 Vgl. dazu Oskar Negt, Arbeit und menschliche Grundlage der entwürdigenden Abhängigkei- Würde, Göttingen 2001; ders., Der politische Mensch, Göttingen 2010. ten betrachtend, bezeichnet den Horizont, in ❙3 Christa Wolf, Kassandra. Erzählung, Darmstadt– dem sich die Humanisierung unserer Lebens- Neuwied 1983, S. 76 f. (Hervorhebung im Original). welt zu bewegen hat; nämlich nach Maßstä- ben eines kategorischen Imperativs, „alle Ver- APuZ 15/2011 5
C. Keller · O. Groh-Samberg · lich eine Fernsehproduktion aufzuziehen, die jedoch in Insolvenz und Schulden mündet. M. Hofmann · S. Röbenack · G. Reckinger · Nach dieser Periode selbständiger Erwerbs- D. Reiners · K. Schrader · K. Englert tätigkeiten vermittelt ihm seine Frau im Jahr Ein halbes Leben. 1988, als er seine Arbeitserlaubnis erhält, eine Stelle in jener Druckerei, wo sie seit vie- len Jahren arbeitet. So tritt Herr Faruk nach Vier Kurzporträts gut fünf Jahren seinen, wie er es ausdrückt, „ersten richtigen Arbeitstag“ in Deutschland aus einer Arbeitswelt an. In der Position des ungelernten „Produk- tionshelfers“ lernt er die Welt des Industrie- im Umbruch gewerbes kennen. Dabei erlebt Herr Faruk die Herabwürdigung und Diskriminierung der „Gastarbeiter“ in deutschen Betrieben. Diesen will und kann er sich nicht gänz- Carsten Keller · Olaf Groh-Samberg lich unterwerfen. Sicherlich auch wegen sei- Herr Faruk nes statushöheren Hintergrundes als Volks- schullehrer verhält er sich eigensinnig und bis zu einem gewissen Grad widerständig. H err Faruk ist kein typischer Repräsentant der türkischen „Gastarbeiter“. Im Jahr 1983, zehn Jahre nach dem Anwerbestopp, Die beständige Schlechterbehandlung seiner ausländischen Kollegen im Betrieb zehrt je- doch, und die Konflikthaftigkeit seiner Reni- emigriert er im Rah- tenz führt ihn schließlich in eine psychische Carsten Keller men des Familiennach- Krise, so dass er nach 15 Jahren den Betrieb Dr. phil., geb. 1971; Vertretungs- zugs nach Deutsch- verlässt. professur für ethnische Heteroge- land. Seine Frau war nität an der Universität Duisburg- dagegen schon 1970 Danach gefragt, wie sich die Arbeitswelt in Essen; Forscher am Centre nach Deutschland aus- der Druckerei in diesen 15 Jahren verändert Marc Bloch, Friedrichstr. 191, gewandert, wo sie in hat, antwortet Herr Faruk in Bildern: dem 10117 Berlin. einer Druckerei arbei- eines Glases, in das beständig Wasser tropft, carsten.keller@cmb.hu-berlin.de tete. Die Entscheidung, bis es irgendwann überläuft; und dem eines seiner Frau nachzuzie- ausgestreckten Armes, der ein Blatt Papier Olaf Groh-Samberg hen, schildert Herr Fa- zu halten hat, bis er irgendwann müde wird. Dr. phil., geb. 1971; Juniorprofes- ruk als das Ergebnis Der technische Wandel und die Beschäfti- sor für Soziologie an der Bremen eines längeren Abwä- gungskrise im Druckereigewerbe kommen International Graduate School gens. So hatte er in sei- in der Erzählung von Herrn Faruk gar nicht of Social Sciences, University nem Herkunftsdorf ei- vor. Vielmehr überwiegt schlicht die Per- of Bremen, Wiener Straße/ nen angesehenen Status manenz der „ethnischen Unterschichtung“, Celsiusstraße, Postfach 330 440, als Volksschullehrer der Schlechterbehandlung und Diskrimi- 28334 Bremen. inne; in Deutschland nierung ausländischer Arbeiter, die kaum ogrohsamberg@ würde er nach eigener eine Aussicht auf innerbetrieblichen Auf- bigsss.uni-bremen.de Einschätzung jedoch stieg haben.❙1 „ganz unten“ anfan- gen müssen. Ausschlaggebend für die Emigra- Die vier Kurzporträts sind gekürzte und bearbeitete tion seien dann auch angesichts der Umbrüche Versionen aus: Franz Schultheis/Berthold Vogel/Mi- in der Türkei politische Motive gewesen. chael Gemperle (Hrsg.), Ein halbes Leben. Biogra- fische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch, Konstanz 2010. In Deutschland bleibt Herr Faruk zunächst ❙1 Das Gespräch wurde von Carsten Keller im April fünf Jahre ohne Arbeitserlaubnis. Konfron- 2009 in Anwesenheit einer Übersetzerin geführt. Der tiert mit der Unmöglichkeit, eine Anstellung Interviewer spricht nur deutsch, der Interviewte ant- als Lehrer zu finden, und der als belastend wortet in der Regel direkt auf die Fragen. Er spricht empfundenen Situation, nur für den Haushalt überwiegend türkisch, zeitweise aber auch deutsch. Die deutschen Passagen des Interviewten sind daher zuständig zu sein, beginnt er seine dortige in K apitälchen gesetzt. Wir haben die Erzählungen Arbeitsbiografie mit einer Reihe selbständi- des Interviewten von Beate Klammt – ihr sei an die- ger Tätigkeiten. Er arbeitet als Marktverkäu- ser Stelle herzlich gedankt – aus dem Türkischen ins fer, führt einige Jahre ein Café, um schließ- Deutsche übersetzen lassen. 6 APuZ 15/2011
„An so einen Punkt Dadurch kann man sich dann distanzie- ren? bin ich gekommen“ Dieses Verhalten von mir hat dort zu stän- Herr Faruk: 8.8.88. Das ist mein erster rich- digen Konflikten geführt. Meine Regeln. tiger A rbeitstag. (…) A ngefangen. In Ber- Normalerweise waren die Regeln der Fabrik lin, Druckerei. verbindlich. Aber ich habe meine Regeln da- neben gestellt. Zum Beispiel gab es Folgen- Carsten Keller: Wo Ihre Frau auch gearbei- des. Ich habe meine Arbeit richtig gemacht, tet hat? immer. So wie ich es konnte. Wenn zum Beispiel der Chef kam, ist jeder aufgestan- Ja, diese Firma (…), das ist eine traditio- den. Sogar wenn es keine Arbeit gab, es gibt nelle Firma, 130 Jahre vorher gegründet. nichts zu tun, also, Stillstand, aber jeder ver- Natürlich ich hab geschuldigt in Bank. sucht, irgendetwas zu tun, zu fegen und so. Ich bin pleite. In dieser Zeit haben wir auch Bei mir war alles sauber, egal ob ich zu tun die Arbeitserlaubnis geholt. Das war in den hatte oder nicht. Ich habe alles in Ordnung Zeiten dieser Fernsehsache. (…) Und dann, gebracht und so beendet. (…) Wenn der Chef habe ich halt dort angefangen zu arbeiten, als kam, bin ich nicht aufgestanden, denn ich Produktionshelfer. (…) Ich habe zum ers- hatte meine Arbeit schon vollbracht. Aber ten Mal in meinem Leben angefangen, als Ar- die, die machten nichts und wenn der Chef beiter zu arbeiten. Zuerst hat es mich gestört, kam, haben sie sofort angefangen irgend- weil ich als Arbeiter, das was mich gestört hat was zu tun. Das war in der ganzen Fabrik als Arbeiter … , eigentlich war das, was mich so. Ich saß, der Chef, alle schauten sie mich störte nicht die Arbeit, sondern das Verhal- an, hinter dem Fenster haben sie gespäht. Da ten der Menschen dort, die Umgangsformen. sitzt er, der Chef wird jetzt rumgehen, zu- Das war für mich eine Lehre, die ich zum ers- erst sagt er nichts zu mir. Dann kommt er ten Mal im Leben hatte. Weil ich nicht so ge- an meine Seite und sagt: „Warum sitzt du?“ arbeitet habe, nicht mit Deutschen gearbeitet Er meckert. „Ich sitze, ja!“ „Ja, und wieso?“ hatte. Ich hatte, in meinem Leben, noch nie „Ich habe schon alles geputzt!“, sagte ich Anordnungen erhalten. Also: „Das machst dann, „alles, alles sauber“, und, und, und. du! Dies machst du! Das sollst du so machen! Das hat ihm die Laune verdorben. Also ei- Das sollst du so machen! Das wirst du tun! gentlich sah er mich als respektlos an, in dem Tu dies, tu das!“ (…) Sinn, dass ich ihm gegenüber keinen Respekt zeigte. Aber ich lasse mir nichts nehmen, ich Die deutsche …, die in Europa vorhandene blieb aufrecht. Arbeits- …, die Innenansicht habe ich ken- nengelernt. Zum Beispiel wir arbeiten locker Und die Kollegen? Waren das auch türki- in der Türkei. Ja, hier ist es sehr, so, sehr – sche Arbeiter, oder? streng. Streng, ja. Wenn du dir einen Tee holst oder zur Toilette gehst, musst du erst 12 Türken gab es. Produktionshelfer. die Erlaubnis einholen. Ja, klar okay, aber es war sehr streng. Wir haben natürlich in drei Ja, Produktionshelfer. Was haben Sie da Schichten gearbeitet. Unsere deutschen Kol- genau gemacht in der Druckerei? legen waren in der Regel ausgebildete, ge- bildete Menschen. Die waren die Drucker. Wir haben die aus der Maschine kommende Und wir haben ihnen zugearbeitet. Waren Ware genommen, sie zu Paketen verpackt, auf studiert, sowas. (…) Ich war auch gar nicht Paletten gestapelt. Dann haben wir die Palet- in der Lage M aschinenführer zu werden. ten genommen und in das Lager gebracht. Das war ja das erste Mal in meinem Leben, Dann haben wir die Paletten in den Keller ge- dass ich eine Druckerei betreten habe. Aber bracht und da dann halt gestapelt. (…) ich hatte meine Wahrheiten in meinem Le- ben. Das ist überhaupt nicht wichtig. Egal Also es war im Grunde eine ganz einfache wo ich bin, das was mir richtig oder nicht Arbeit. richtig erscheint, wo auch immer, was auch immer das ist, dem stelle ich mich. Das heißt Ja, aber, wenn die Maschine lief, war unsere hier … Arbeit natürlich schwer. (…) APuZ 15/2011 7
Und wie viele Leute haben in der Fabrik im Sozialleben, das was sie schmerzte, ihnen gearbeitet? Sorgen bereitete, gleichzeitig mit zur Arbeit gebracht. Das ist normal. Jeder bringt sich, Am Anfang waren wir 140 Personen, die seinen Stress mit zur Arbeit. (…) Was passiert gearbeitet haben. Es war ein Familienbetrieb. dann? Diejenigen, die in den unteren Sekto- Groß, also mit 140 Personen arbeiteten wir, ren sind, wir zum Beispiel. Ausbildung, das in unterschiedlichen Bereichen. Zum Beispiel ist nicht gebildet. Ausbildung ist etwas an- gab es welche, die im Büro arbeiteten, welche deres. Er hat schlechte Laune und sitzt da: die in der Kopie arbeiteten. Wir waren in der „Mach dies, mach das, mach, mach, mach!“ Produktion. Produktionshelfer. Seine eigene Arbeit hat er uns machen lassen zum Beispiel. (…) Wie groß war der Anteil von ausländischen Arbeitern in der Fabrik? Also von türkischen Es gibt so einen Innenvertrag, aus dem oder, oder …? bricht man in dem Moment aus, wenn man sagt: „Nein, das mache ich nicht.“ Dann Wir waren 12, 13 Personen. Wir sind nur wird dir gesagt: „Geh nach Hause. Du unten, Produktion. Griechen gab es auch, musst es machen, du hast so oder so keine mit uns zusammen. Griechen und Türken, Alternative!“ Dies trägt dazu bei, dich in unten. Es gab auch Deutsche. Es gab auch deine Krise hinein zu ziehen. Dann kommst Deutsche, die mit uns zusammengearbeitet du nach Hause …, wir haben unter Freun- haben. den darüber gesprochen, warum das so ist. Manchmal habe ich mich auch mit den Aber der überwiegende Teil waren deutsche Deutschen gestritten, Streit, naja, Wortge- Arbeiter? fechte gab es. Aber wenn wir nach Hause kamen, trugen wir den Stress, den wir hat- Das waren die mit Ausbildung. Wir zum ten, auf Händen. Wenn wir uns mit dem Beispiel, da wir ohne Ausbildung waren, dort Ehepartner unterhalten haben, die Deut- Produktionshelfer, also, zuerst ist man als schen haben dies gemacht, die Deutschen Hilfsarbeiter eingestiegen. Dann Produk- haben jenes auf Arbeit gemacht. Das war tionshelfer zwischen Drucker und H ilfs- für eine lange, ausgedehnte Zeit so in die- arbeiter. Normalerweise H ilfsarbeiter. Da sem Arbeitssystem. kommt man gar nicht in die Maschine rein um zu arbeiten. (…) In diesem Arbeitssystem tragen wir alle diese Angriffe mit nach Hause. Wenn wir sie Sie sind dann vom Hilfsarbeiter … nach Hause getragen haben, reden wir. Da ist unser Kind, ein dreijähriges Kind. „Sieh H ilfsarbeiter und dann P roduktions- mal, mit meinem Papa haben die Deutschen helfer und dann Drucker. Drucker , das das so gemacht, bei seiner Arbeitsstelle!“ waren natürlich die mit der Ausbildung. Die Wenn das Kind anfängt, das zu hören. Wir Deutschen. M aschinenführer , so was . (…) haben es nicht bemerkt, waren uns nicht be- Ich habe gesehen, wie die Deutschen über wusst darüber, dass wir angefangen haben, die Ausländer … , die Zuständigkeiten auf unsere Kinder den Deutschen gegenüber sie abgewälzt haben, die Last. Die Um- feindlich zu erziehen. Ja! Sagen wir nicht gangsformen habe ich kennengelernt. Also, Feind, also, dagegen. Zum Beispiel, mein im Arbeitsleben, dort. Zum Beispiel, brül- Kind ist hier geboren, hier aufgewachsen, lend, beleidigend: „Mach dies, mach das, kennt die Türkei überhaupt nicht. Bei ei- mach das so, das so!“ Immer dieser Befehl- nem Nationalfußballspiel, wenn Deutsch- ston. Okay, das sind untergeordnete Men- land und Italien spielen, ist es nicht für schen, nun gut. Aber zu einem Deutschen, Deutschland, es ist zum Beispiel für Italien. einem Deutschen: „H ans , bitte machen Sie Ich habe das irgendwann vor mir entstehen das .“ (…) sehen. Hier gibt es Tausende von Türken, die füllen Stadien mit türkischen Fahnen Das war langfristig, diese Arten des Um- aus. Wie ist denn dieses Gefühl aufgekom- gangs. Also jetzt, klar, einige von den Dru- men? Das Soziale bringt den Menschen halt ckern haben ihre eigenen psychischen Pro- an diesen Punkt. Ein besorgniserregender bleme, die Probleme zu Hause, die Probleme Umfang. (…) 8 APuZ 15/2011
Und gab es in diesen 15 Jahren [von 1988 Michael Hofmann · Silke Röbenack bis 2003] eine Entwicklung in diese Richtung? Waren das immer Phasen, dass die Vorarbei- Herr Volkert ter schlecht gelaunt waren und ihre schlech- te Laune an den ausländischen Mitarbei- tern abgelassen haben, oder gab es auch eine Entwicklung, dass sie innerhalb von diesen 15 Jahren zunehmend belastet wurden, als H err Volkert arbeitet seit über 40 Jah- ren als Stahlbauschlosser im ostdeut- schen Lingner Werk in M.❙2 Sein ganzes Ar- Gastarbeiter? beitsleben verbindet sich mit diesem Un- Michael Hofmann Das war so. Eigentlich findet sich der Druck ternehmen: Er hat Dr. phil., geb. 1952; seit 2007 in den Gefühlen und Gedanken eines Men- in den 1960er Jahren apl. Professor für Soziologie, schen. Wenn auf der Arbeit etwas schief läuft, bei Lingner gelernt; Geschäftsführer des Sonderfor- geht der Chef zu den Druckern und brüllt er hat dessen Blüte- schungsbereiches 580 „Gesell- und meckert den Arbeitenden an. Wenn es zeit erlebt – Ling- schaftliche Entwicklungen nach gut läuft, gibt es keine Probleme. Aber wenn ner galt weltweit als dem Systembruch“, Univer- man etwas ununterbrochen erlebt, also, zum ein großer Name sität Jena, Bachstraße 18 k, Beispiel, ich habe die Vorstellung von Druck, im Schwerlastgeräte 07743 Jena. in unserem Arbeitsbereich gab es Nachtei- bau – und auch die michael.hofman@uni-jena.de le. Sagen wir [nimmt ein Blatt Papier]: das ist schwierigen Jahre ge- zwei Gramm, ne? (…) Das ist noch leicht. gen Ende der DDR. Silke Röbenack Okay, kommen wir zu einer anderen Per- Er gehört zu den We- Dr. phil., geb. 1963; seit 2008 spektive. Ich trage so [hält das Papier mit nigen, die Massenent- Personal- und Organisationsbe- ausgestrecktem Arm]. Eine Stunde, kann lassungen und Pri- raterin sowie Coach, ffw GmbH ich, ne? (…) Zwei Stunden? Geht (…) vatisierung am An- Gesellschaft für Personal- und fang der 1990er Jahre Organisationsentwicklung, A ber drei Stunden, schaff ich nicht. überstanden haben. Allersberger Straße 185/F, Meine A rme ist …, tut weh. Das ist das. Alles in allem kann 90461 Nürnberg. Wenn lange Zeit arbeitest du dort, jeden Herr Volkert 20 Jahre roebenack@ffw-nuernberg.de Tag kommt eine, äh. Was war [das Sinnbild] Berufserfahrung im noch mal [mit den] Tropfen? Zum Beispiel volkseigenen Betrieb und 20 Jahre im Pri- ich … Was war nochmal sich aufrecht halten? vatunternehmen Lingner a ddieren. Herr Ja. Über diese lange Zeit kann man das nicht Volkert steht wie viele Arbeiter für ein tra- mehr tragen. Die kleinste Sache, ohne Unter- ditionelles Arbeiterethos – mit Disziplin brechung, macht das Glas voll. Und irgend- und Pflichtgefühl: „Ich stehe jeden Tag um wann kommst du an einen Punkt, an dem du viertel Fünfe auf. Das fällt mir schon schwer, es nicht mehr ertragen kannst. das Aufstehen. Gut, ich könnte schon ein bissel länger schlafen, aber dann wird das Ich selber, bin im Jahr 2002, also zu der Zeit, alles früh ein bissel hektischer. Wir sind alt als die Fabrik nicht mehr so lief, alles fing an, und darauf programmiert, schon eine hal- mir schwer zu fallen. Zum Beispiel, ich habe be Stunde vorher da zu sein. Es gibt kei- neben mich eine Eisenstange gelegt. „Wenn nen, der sagt, ich komme fünf vor um sechs. der jetzt noch einmal kommt und mir noch Nee, man ist schon halb sechs hier. Ich weiß mal was sagt, dann schlage ich den Chef mit auch nicht warum. Das ist schon das ganze dem Teil“, dachte ich mir. An so einen Punkt Leben so gewesen.“ Seine Arbeit als Stahl bin ich gekommen. Ja, ein Mensch wie ich! bausschlosser beschreibt Herr Volkert vol- Kannst du dir das vorstellen?! An was für ei- ler Stolz und Selbstbewusstsein: „Man nem Punkt ich angekommen war! Dann habe kriegt da Unterlagen, so einen Packen Pa- ich angefangen, über mich selber zu lachen pier mit Zeichnungen. Und dann muss ich und nachzudenken. Das war meine Entschei- das zusammenbauen. (…) So wie ein Auto dung, den Chef schlagen zu wollen. Also, die in der Taktstraße. Das ist eigentlich die Ar- spielen mit deinem Selbstwertgefühl, von Zeit beit eines Stahlbauschlossers.“ zu Zeit. Da kommen natürlich viele Sachen zusammen. Ich bin dann in eine Krise gera- Es ist eine anspruchsvolle Arbeit, de- ten. Ich selber, ich sehe mich ja selber, ich war ren Anforderungen oft unterschätzt wer- dann drei, vier Monate krank geschrieben. den: „Also ein Dummer schafft es nicht. APuZ 15/2011 9
Man muss ja so eine Zeichnung lesen kön- „Man wird getrieben“ nen. Ohne ein bisschen Mitdenken schafft man es nicht. (…) Da muss man wirklich Seit ein paar Jahren fällt ihm die Stahlbau- nach Millimetern arbeiten können und schlosserei zunehmend schwerer, was nur auf nicht wie auf dem Bau nach Zentimetern. den ersten Blick etwas mit dem Älterwerden Bei uns muss das schon ein bisschen genau- zu tun hat. „Die Arbeit ist nicht schlecht, aber er gemacht werden. (…) Das ist schon eine sie fällt mir doch schon schwer. 45 Jahre, da komplizierte Arbeit und die wird immer wird es Zeit, dass man zur Ruhe kommt, (…) unterschätzt, zumindest von den höheren also Zeit, immer in der Leistung stehen, dass Kräften. ‚Stahlbau‘, sagen die, ‚ist nur min- man es schaffen muss.“ Herr Volkert erlebt derwertige Arbeit, die wird nach Kilopreis seit Jahren einen steigenden Anforderungs- bezahlt (…)‘. Also das kann man so nicht und Termindruck. Der Durchgriff vom Ma- sagen, dass die Arbeit so minderwertig ist, nagement auf die Ebene der Facharbeit er- wie sie immer dargestellt wird. Wie gesagt, folgt immer direkter, und die Termine für die es ist eine interessante Arbeit. Es ist ja nicht, Produktion werden stetig enger: „Wir haben dass man immer dasselbe baut, man baut ja jetzt grade wieder gehört, dass die Chinesen auch immer mal was anderes. Und man ist Schwerlastgeräte von uns haben wollen. Also natürlich auch stolz, wenn man es geschafft wenn der Termin so kurz wie möglich ge- hat am Ende.“ macht wurde, also ein Jahr und länger nicht, dann geht es noch lange nicht los. Wenn dann Auch wenn Herr Volkert von seiner per- alles mal da ist, dann geht es los, und dann sönlichen Arbeitsleistung überzeugt war muss man da hetzen, damit der Termin gehal- und ist, hat er seine Weiterbeschäftigung ten wird, weil sonst dann Vertragsstrafe be- bei Lingner trotz der mehrfachen Entlas- zahlt wird und so was.“ sungswellen in den frühen 1990er Jahren eher als glückliche Fügung denn als Folge Der Erfahrungsschatz seines langen Ar- seiner Leistung erlebt: „Ein bisschen Glück beitslebens reicht zunehmend weniger aus, ist schon dabei, ja ja. Denn wie gesagt, ich um die komplexeren und kürzeren Arbeits- hätte auch mit entlassen werden können, sequenzen erfolgreich zu bewältigen, und hätte ich jetzt keine Kinder gehabt. Da hät- so schleicht sich in seinen Facharbeiterstolz te der gesagt, der hat keine große soziale ein Gefühl der Überforderung: „Und das ist Verantwortung hier, raus. (…) Na ja, da wa- so das Schwierigste an der Sache, wenn man ren natürlich, manche, die gehen mussten, die Anforderungen nicht schafft, zeitmäßig, dann ein bissel betröppelt, aber da konnten dann wird man getrieben, getrieben und dann ja die nichts dafür, die überlebt haben. (…) macht man gleich was verkehrt, weil man ge- Da ist eine Auswahl getroffen worden, trieben wird und das ist das Nicht-Schöne im meist eben von einem Vorgesetzten. Am Arbeitsprozess. Man muss mit Ruhe arbeiten Ende, ich konnte ja nichts machen dafür. können.“ Man hätte mehr protestieren können viel- leicht, aber ich glaube, das hätte auch nichts Ein ehrenvoller Abgang in den Vorruhe- mehr gebracht.“ stand scheint die beste Lösung für dieses An- forderungsdilemma zu sein: „Na ja, aber das ist ganz normal, wenn man 45 Jahre hier so ❙2 Das Lingner Werk blickt auf eine fast 130-jähri- was gemacht hat, dann kann es nicht mehr ge wechselvolle Geschichte des Schwerlastgerätebaus gut gehen. Da wird es Zeit, dass man langsam zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst SAG- zur Rente kommt. In zwei Jahren, da denke Betrieb avancierte Lingner in den 1960/70er Jahren ich mir, dass ich dann ausscheiden kann in zum größten Anbieter für Schwerlastgeräte in Ost- europa. Der wirtschaftliche Zusammenbruch und die Altersteilzeit. Ich will dann raus.“ Privatisierung in den 1990er Jahren waren mit erheb- lichem personellem Abbau verbunden. Von gut 2400 Angesichts des Pflichtgefühls und des Ar- Beschäftigten 1990 waren 2009 noch 150 Personen beiterstolzes überrascht es, dass Herr Volkert tätig. Lingner beschäftigt zusätzlich etwa 100 Leih- seinem Abschied von 45 Jahren Arbeitsleben arbeiter – einige von ihnen schon seit mehreren Jah- scheinbar ohne Bedauern und Trauer entge- ren. Mittlerweile zählt Lingner zu den so genannten Hidden Champions. Von Mai bis Juli 2008 wurden gensieht. Aber er erlebt, dass seine Zeit im Interviews mit ausgesuchten Angehörigen des Wer- Werk abgelaufen ist. Zwar produziert Ling- kes geführt. ner wie eh und je Schwerlastgeräte, aber der 10 APuZ 15/2011
Arbeitsalltag hat kaum noch etwas mit dem noch unser Logo draufgeklebt. Das ist seine Werk zu tun, in dem er sein Arbeitsleben als Philosophie. Das haben wir schon von An- Lehrling begonnen hat. fang an mitgekriegt. Der hat nicht so viel Interesse am Werk. Der will viel mehr Profit Mit den Eigentumsverhältnissen hat sich machen. Aber das geht nicht so einfach. Das auch das Betriebsklima gewandelt, insbe- hat er gemerkt, als er Aufträge ins Ausland sondere die Beziehungen zwischen den Ar- gegeben hat. Aber das wäre hier sein Traum: beitern und der Geschäftsführung. Gerade Nur noch Bürogebäude, alles schön sauber das Verhalten des Geschäftsführers schnei- und das alles wird vermietet. Da machen det im Vergleich zum Werksleiter aus DDR- wir eine Kaufhalle rein, hinten einen Auto- Zeiten deutlich schlechter ab: „Die [DDR- händler, so ungefähr. Das sind seine Gedan- Direktoren] standen einem vielleicht ein ken. Er hat kein bisschen soziales Verständ- bisschen näher. Die waren vielleicht nicht nis für die Leute hier. Dass er die Leute alle ganz so arrogant, wie sie heute sind. Der, den in Arbeit hat, dass es denen gut geht, dass wir jetzt haben, das ist ein ganz ein Arrogan- die auch leben können. Das ist nicht seine ter. Der grüßt nicht mal, wenn er durch die Welt. Das ist jetzt ein ganz anderer Typ von Halle geht. Das ist ein komischer Mensch. Unternehmer. Mit Künstlern tut er sich ver- Da ist eher sein zweiter Vorstand noch pa- stehen. Die tut er auch sponsern, die Künst- tent, der grüßt wenigstens in der Werk- ler. Da hat er eine ganze Halle hier zur Ver- statt jeden. Früher, zu DDR-Zeiten, da ha- fügung gestellt. Die Künstler lässt er hier ben wir auch den Chef nicht geduzt, aber es umsonst wohnen. Da drüben wohnen auch war kumpelhafter. Der Werksleiter hat mit- Künstler oben in der Etage. So eine Dunkel- gespielt in der Betriebsmannschaft. Und da häutige, die bastelt auch irgendwas. Die ist waren wir sogar per Du. Und das war eben schon zehn Jahre dort. Ich weiß nicht, was doch der Werksleiter. Der war echt prima. die macht, ob die Bilder aushängt oder was. Der war eine Kapazität. Der war Mathema- Und Fotografen hat er auch schon gehabt. tiker, ein großer Fuchs war das. Der hat sich Hier am Kunstzentrum im Ort engagiert er aber so in der Masse, so unter den Arbei- sich so ein bisschen. Das ist das ehemalige tern, trotzdem noch wohl gefühlt. Der hat Kino, da sind auch die Künstler dabei. Aber nicht den Chef raushängen lassen. Es war, dafür gibt er Geld aus. Nur für das Soziale, wie es eigentlich sein sollte, will ich mal sa- für die Leute nicht. Mit den Künstlern, da gen – eher gut. Aber heute! Das sind heute kann er gut harmonieren. Da schleichen be- andere Zeiten. Ein Chef, dem die ganze Fir- stimmt 30, 20 Stück herum, die hier im Be- ma gehört und der Millionär ist, der lässt trieb leben. Die leben hier. Die wohnen hier sich mit uns nicht ein. Das macht der nicht. in der Halle, oben haben die ausgebaut so Auch wenn wir mal zusammen Fußball ge- irgendwas.“ spielt haben. Es gab nämlich auch eine Be- triebsmannschaft Fußball. Da waren wir mit Lediglich mit den jährlichen Betriebsfei- dem Fußball spielen in D., irgend so ein Tur- ern wird ein wenig an DDR-Zeiten ange- nier, aber da kam er schon mit dem Privatau- knüpft: „Das gibt’s, ja. Jedes Jahr gibt’s ei- to. Wir sind alle mit dem Bus gefahren. Und gentlich ein Sommerfest. Da gehen wir der kam natürlich hinterher mit dem Audi immer Bowlen hier mit dem ganzen Betrieb gefahren und hat dann mitgespielt. Da hab und da gibt es schön zu Essen und so. Das ich dann auch Du zu dem gesagt beim Spiel, muss man ihm zugestehen – fairer Weise.“ na wie’s so ist beim Sport. Aber der kennt ei- Die Distanz des „Millionärs“ zu den einfa- nen nicht mehr.“ chen Arbeitern ist für Herrn Volkert noch irgendwie nachvollziehbar. Aber dessen spe- Es ist aber nicht nur das Führungsver- zifisches Engagement im Kunstbereich kann halten und die Distanz zu den Beschäftig- er nur als unerhörte Missachtung gegenüber ten, die Herr Volkert am jetzigen Eigentü- dem Werk, dem Produkt und den Arbeitern mer beobachtet. Besonders kritisch sieht er deuten. Hatte sich der „alte Chef“, der das dessen Betriebspolitik: „Seine Politik, die Unternehmen ursprünglich gekauft hatte, ist eigentlich, die ganze Produktion auszu- als klar gewinnorientierter, aber doch pa lagern. Nur das Glashaus, nur konstruieren triarchal ischer Unternehmer erwiesen, ver- und die Konstruktion verkaufen. Das alles weigert sich „der Sohn“ traditionellen Für- woanders bauen lassen. Und dann wird nur sorgeerwartungen. Dieser „ganz andere Typ APuZ 15/2011 11
Unternehmer“ verkörpert für Herrn Volkert Gilles Reckinger · Diana Reiners einen Verfall der Traditionen und der Kultur der Metallindustriebranche. Frau Polz Mit Rückblick auf sein Arbeitsleben bereut Herr Volkert nicht, dass er nach der Schu- le ohne großes Nachdenken den Beruf des Stahlbauschlossers ergriffen hat. Für ihn und I ch treffe mich mit der 46-jährigen Frau Polz in einem Café in ihrem Wohnort, der 20 Kilometer von ihrer Arbeitsstätte entfernt die damalige Zeit war das die richtige Ent- am Rande einer öster- scheidung: „(…) und ich will mal sagen, ich reichischen Landes- Gilles Reckinger hab’s auch nicht bereut. Ich bin gut durch’s hauptstadt liegt.❙3 Sie Dr. phil.; freischaffender Kultur- Leben gekommen – bis jetzt.“ Müsste er sich raucht viel, und wirkt anthropologe und Dokumentar- jedoch unter den heutigen Bedingungen neu von den Anstrengun- filmer; Lehrbeauftragter an der entscheiden, würde seine Wahl anders aus- gen der vergangenen Universität St. Gallen, Seminar sehen: „Na gut, nach den heutigen Erkennt- Jahre körperlich aus- für Soziologie, Tigerbergstr. 2, nissen würde ich sagen, nein, da lieber was gezehrt. Sie ist allein- 9000 St. Gallen/Schweiz. im Büro machen. Da muss ich mich nicht so stehend und wohnt in gilles.reckinger@unisg.ch schinden.“ ihrem Elternhaus. Sie hat ihre schwer pfle- Diana Reiners In den letzten Berufsjahren erlebt Herr gebedürftigen Eltern Dr. phil.; Kulturanthropologin Volkert mehr denn je den Statusverlust der zehn Jahre lang bis zu und Kunsthistorikerin; Nach- Arbeiter. Noch braucht das Management deren Tod vor einem wuchsdozentin für Biogra- den Stahlbau, weil osteuropäische Zuliefe- bzw. einem halben Jahr fieforschung am Seminar für rer bislang nicht die nötige Qualität erbrach- rund um die Uhr zu Soziologie der Universität ten. Das Damoklesschwert des Outsourcing Hause gepflegt. Wegen St. Gallen (s. o.). schwebt weiter über dem Stahlbau und eben- der zeitaufwändigen diana.reiners@unisg.ch so bleibt die Geringschätzung seitens des Un- Verpflichtung konnte ternehmers: „Eigentlich sind wir das fünfte sie in den vergangenen fünf Jahren nur Teil- Rad am Wagen, der Stahlbau, obwohl wir gut zeit arbeiten, was mit erheblichen finanziellen arbeiten und das immer ordentlich machen.“ Engpässen verbunden war. Der Eigentümer verkörpert für den Stahl- bauer Volkert die Missachtung traditionellen Frau Polz hat eine Lehre als Handels- Produzentenstolzes und die Abkehr von ei- kauffrau abgeschlossen. Sie begann 1985 bei ner langen Metall- und Techniktradition im M-Mode, einem traditionsreichen österrei- Lingner Werk. Die Investitionen in Glas, Be- chischen Versandhaus, in der Retourenstel- ton und Kunst lassen den vernachlässigten le zu arbeiten. Seit 23 Jahren arbeitet sie nun Stahlbau dabei noch schmutziger, unbedeu- im gleichen Lager als „normaler Arbeiter“, tender aussehen. wie sie sagt. 1994 wurde M-Mode durch ein deutsches Versandhandelsunternehmen auf- Mit Herrn Volkert endet die stolze Fach- gekauft, das inzwischen zum größten Ver- arbeitertradition in der Familie, denn ge- sandhandelskonzern der Welt expandierte ringes Ansehen des Stahlbauerberufs trotz („Samson“). Die Lagerzentrale, in der Frau nach wie vor körperlich schwerer Arbeits- Polz arbeitete, wurde zur zentralen Retou- bedingungen sind keine Basis für die beruf- renstelle ausgebaut. Die 20 Mitarbeiter/in- liche Zukunft der Söhne: „Nein. Da haben nen, die bei M-Mode in der Retourenab- wir abgeraten. Das ist mein Tipp gewesen teilung beschäftigt waren, wurden auf 250 oder sagen wir mal, der Tipp meiner Frau. Beschäftigte aufgestockt. Daneben waren in Die hat gesagt, nicht ins Gewerbliche. Die dem Logistikzentrum auch der Versand für werden immer arrogant behandelt, immer. Österreich und ein privater Paketzusteller Im Moment werden sie gesucht hier, aber untergebracht, der ebenfalls zum Konzern behandelt werden sie immer wie die Letz- gehört. Von den 400 Beschäftigten, die mehr- ten. Das ist eben so, der Kapitalismus, der ist heitlich im Schichtdienst arbeiteten, waren so. Da ist der Gewerbliche der Letzte in der etwa 50 Leiharbeiter/innen. Reihe. Da gibt’s nicht mehr viel, was noch dahinter kommt. Und so wird das auch ge- ❙3 Das Gespräch wurde im Juli 2008 von Gilles Re- handhabt – alles.“ ckinger geführt. 12 APuZ 15/2011
Seit zehn Jahren engagiert sich Frau Polz in Köpfe, weil ich finde immer, es gehört auch der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung ein Herz zum Menschen und nicht nur der und ist seit zweieinhalb Jahren Vorsitzende Kopf! Aber da muss man um jeden Einzelnen des Arbeiterbetriebsrates. In dieser Funktion kämpfen. (…) erhielt sie Einblick in die Auswirkungen der Veränderungen in der Organisationsstruk- Es ist viel stressiger geworden, weil wir jetzt tur des Betriebes und den stetig wachsenden mehr machen müssen in der gleichen Zeit. Ich Druck, mehr leisten zu müssen. Als beson- weiß nicht, wie ich das sagen soll: Es ist sicher ders einschneidend erlebte Frau Polz die Ver- einfacher geworden, weil man ja durch den änderungen in Folge der Einführung der in- Computer jetzt leichter einen Fehler selber formatischen Erfassung der Waren. Einerseits entdeckt. (…) Nur: Dadurch, dass man so eine vereinfachten sich durch die Computerein- hohe Stückzahl hat, schaut man nicht mehr so gabe die Arbeitsabläufe, zugleich fand aber genau, und jetzt ist die Fehlerquote natürlich eine Intensivierung der Arbeit statt, denn mit trotzdem da. Auf der einen Seite ist es natür- dem Rationalisierungsprozess vervielfachten lich gut, dass die Stückzahl so hoch ist, und sich gleichzeitig die Stückzahlvorgaben, wel- auf der anderen Seite sollten halt keine Fehler che die Mitarbeiter/innen einzuhalten haben, sein. Weil der nächste Kunde hat auch keine und auch die Kontrolle der Arbeitsgeschwin- Freude, wenn er eine ganz andere Jeans zum digkeit nahm zu. Der dadurch entstehende Beispiel kriegt als was er bestellt. Und da- Druck verschärfte sich zusätzlich durch die durch ist es auch nicht leichter geworden mit latente Drohung, bei Nichteinhaltung der dem Computer. Das Betriebsklima hat sich Stückzahlen der nächsten Kündigungswelle dadurch auch sehr verändert. Das hat damit zum Opfer zu fallen. zu tun, dass auch einfach eine größere Menge an Personal da ist. Wenn man mit 20 zusam- Für flexibilisierte Arbeitsverträge, Perso- menarbeitet, ist das anders, wie wenn man nalabbau und die Konzentration der Stand- mit 250 zusammenarbeitet. Man kennt sich orte wurde seitens der Konzernleitung der nicht mehr wirklich. Früher hat man immer stetige Niedergang des Versandhandels ver- so kleine Feiern gemacht, zu Weihnachten antwortlich gemacht. Gerade weil es dem oder so, das gibt’s nicht mehr, das kann man Konzern schlecht gehe, verlangt die Lei- nicht mehr, bei so vielen … und das kostet ja tung von den Beschäftigten mehr Leistung, auch viel mehr! Das Familiäre verliert sich. und setzt das drohende Schicksal der Arbei- (…) Und viele der Jetzigen kennen das auch ter mit dem des Unternehmens gleich. Aber: gar nicht mehr. Wie gesagt, von vor 20 Jahren, Für die 400 Beschäftigten bedeutet die dro- da sind nicht mehr sehr viele, die noch drin- hende Schließung des Versandzentrums den nen sind. Ich gehöre zum alten Eisen. Es sind Entzug der Existenzgrundlage, während der viele nicht mehr dabei, weil der Druck einfach Konzern trotz der Krisenrhetorik Gewinn- zu groß ist. Der Verdienst nicht so … zuwächse verzeichnet. Gilles Reckinger: Und wie geht’s Ihnen Seit unserem Gespräch hat die Lage sich dabei? noch einmal drastisch gewendet. Das Ver- teilerzentrum in Österreich wurde 2010 ge- Hmm … wie soll ich sagen. Ich denke mir schlossen. Alle Mitarbeiter/innen des Lagers auch manchmal: wenn ich nicht so viel ver- wurden entlassen. lieren würde … Und: was machen, mit 46? Weiß nicht, ob ich noch dort wäre. Ich habe mich inzwischen schon ein paar Mal umge- „Also jetzt zählt nur mehr das Stück, schaut um was anderes, aber … es ist schwie- der Mensch nicht mehr“ rig. Ich habe im Handel, also im Verkauf ei- gentlich nur meine Lehrzeit. Ich hab’ keine Frau Polz: Es sind immer wieder starke Kämp- Praxis. Und das ist ein Problem, jetzt fängt fe. Wie ich angefangen habe [war’s] eigentlich man von null an im Endeffekt. Wer will je- sehr sozial. Und das hat sich mittlerweile sehr manden, der über 20 Jahre weg ist? Unqua- geändert. Also jetzt zählt nur mehr … das lifiziert trotz Lehre! (…) Wenn man ausrech- Stück, der Mensch nicht mehr. Also da muss net, was man vorher in Schilling verdient hat man um jeden einzelnen „Kopf“ … sagen die und jetzt in Euro, ist es natürlich gestiegen, Höheren, was mich immer so stört, das sind jedes Jahr um ein paar Prozent. Aber das ist APuZ 15/2011 13
nicht genug. Also wir Arbeiter verdienen ca. kriegen die Leiharbeiter nicht. Wir können 1000 Euro netto. Mit dem Geld – für Voll- Minusstunden machen und Überstunden ma- zeit – ist nicht wirklich zu leben. (…) chen, das gibt’s bei den Leiharbeitern nicht. Also zumindest bei der Firma nicht. Also die Vom Betriebsrat aus machen wir nach wie Stunden, die die machen, die kriegen sie be- vor Betriebsausflüge. Und Weihnachtsfeiern zahlt. Machen sie mehr, dann kriegen sie in werden auch – bis auf letztes Jahr – immer dem Monat mehr, machen sie weniger, krie- wieder gemacht, von der Firma aus. Aber das gen sie in dem Monat weniger. Ist keine Ar- ist ziemlich alles. Oder wenn so Jubiläums- beit, werden die als Erstes nach Hause ge- feiern sind, so wie vor zwei Jahren, da war schickt. Und dann: keinen Urlaub. 50 Jahre Samson. Aber … es kommt drauf an, wie die Stimmung ist: Voriges Jahr zu Und der Betriebsrat greift dann auch nicht Weihnachten sind, glaube ich, 100 von den für die Leiharbeiter … Leuten, die zugesagt haben, gar nicht ge- kommen. Da war gerade so eine Arbeitszeit- Also ich versuche schon auch denen zu hel- umstellung und sehr große Unzufriedenheit. fen, und sie kommen auch zu mir. Ich habe Kündigungen … und dann ist die Unzufrie- nur die Schwierigkeit, dass ich keine An- denheit groß, und dann hat keiner mehr ein sprechperson hab’ für sie! Das ist das Pro- Bedürfnis zum Feiern. Und schon gar nicht blem. Nur, wenn’s um Gesetze geht und so … mit der Geschäftsführung. Und es ist in Fra- die Information, die versuche ich ihnen wei- ge gestanden, ob man überhaupt in Öster- terzugeben. Die Entsolidarisierung, die spürt reich weitermacht oder nicht. Also ob’s kom- man bei uns sehr. Und die Stimmung wird na- plett geschlossen wird oder … Im Moment ist türlich noch verschlechtert. Noch mehr. (…) das vom Tisch. Im Moment! Bis zur nächsten Vorstandssitzung. Werden wir sehen. Weil Sie gesagt haben, die können das so einrichten, dass jemand freiwillig geht: Gibt Die halten Sie die ganze Zeit so in der es Leute, die kündigen und sagen: „Ich halte Schwebe … das hier nicht mehr aus“? Ja, immer wieder das Gleiche! Und deswe- „… halte den Druck nicht mehr aus.“ Ja, gen ist der Druck eben so groß. Und das zieht sehr viele. Viele! Immer wieder. Also das auch vieles mit sich. Weil man weiß: Wenn hat’s früher nicht so gegeben. Das nimmt zu. wir gewisse Sachen nicht erreichen, dass wir Der Stress und der Druck … Ich glaube, das dann weg sind. Dann gibt’s nicht einen Ar- ist auch, weil’s eben so unfamiliär geworden beitskollegen der unzufrieden ist, sondern ist. Es wird nicht mehr gelobt. Es wird nicht 400, die wir sind. Das ist Erpressung, aber mehr geschätzt, was man an Leistung bringt. Tatsache! Es wird nicht mehr gesagt. Und das fehlt. Es wird immer nur Druck weitergegeben, aber Wie funktioniert das bei Ihnen dann mit nie, dass was Positives kommt. Also das Bes- den Kündigungen? Frühpensionierung oder te, was wir machen können, ist, dass wir das stellen die einfach nicht mehr ein, kündigen Soll erreichen, und wenn nicht, dann werden’s sie auch oder … halt geschimpft. Die Psyche leidet darunter. Und dann … geht man halt. Was machst du? Alles! Durch die Bank. Ist alles passiert. Und das wird immer mehr, dass eben aus psy- Alle die eben so vertrags-gearbeitet haben, die chischen Problemen Krankheiten entstehen haben alle müssen aufhören. Die haben den und dann die Leute eben gehen, weil sie sa- Vorschlag bekommen von einer Leihfirma, gen, das können sie nicht mehr. Burn-out sagt über die Leihfirma bei uns zu arbeiten. Damit man in den höheren Kreisen, aber das gibt’s ersparen sie sich, wenn es schlechter geht, die auch bei den Arbeitern! Dass sie sich der Situ- Kündigungen. Also die arbeiten im Endeffekt ation nicht mehr gewachsen fühlen. gleich weiter, nur: Sie sind nicht über Samson angestellt. Und natürlich: Die sind nicht so Wie geht es Ihnen dann, wenn Sie von der zufrieden. Weil die sagen sich auch: Im Grun- Arbeit kommen, wie fühlen Sie sich da? de genommen machen sie das Gleiche, aber sie haben gewisse Vorteile nicht. Zum Beispiel Fertig! (…) Ich lasse es auf mich zukommen. zu Weihnachten kriegen wir Gutscheine. Das Ohne Hoffnungen. Ohne Ängste. Das habe 14 APuZ 15/2011
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