APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

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APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
                                  15/2011 · 11. April 2011

       Humanisierung der Arbeit
                                               Oskar Negt
                             Arbeit und menschliche Würde

 C. Keller · O. Groh-Samberg · M. Hofmann · S. Röbenack ·
         G. Reckinger · D. Reiners · K. Schrader · K. Englert
                       Ein halbes Leben. Vier Kurzporträts

                                           Dieter Sauer
  Von der „Humanisierung der Arbeit“ zur „Guten Arbeit“

                                    Eva Senghaas-Knobloch
Arbeiten in der postfordistischen Dienstleistungsgesellschaft

                                           Julia Lepperhoff
      Qualität von Arbeit: messen – analysieren – umsetzen

                                       Alexander Böhne
        „Humanisierung“ der Arbeit und Wirtschaftlichkeit

                                            Cordula Drautz
                Plädoyer für eine nachhaltige Arbeitspolitik
Editorial
  Die Teilhabe am (Erwerbs-)Arbeitsleben ist zentral für den
Zugang zu Ressourcen und gesellschaftlicher Anerkennung.
„Hauptsache Arbeit!“ lautet der Ruf folgerichtig, insbesonde-
re in Zeiten ökonomischer Krisen. Zweierlei tritt dabei in den
Hinter­grund: die ungleich verteilten Zugangschancen zum Ar-
beitsmarkt und die Qualität der Arbeitsplätze. Was „gute“ Arbeit
ausmacht, ist umstritten und nur schwer messbar. Der Begriff ist
ähnlich unscharf wie das Schlagwort von der „Humanisierung
der Arbeit“ aus den 1970er Jahren. Hinter beiden steht indes die
Überzeugung, dass die unantastbare Würde des Menschen der
kapitalistischen Verwertung seiner Arbeitskraft Grenzen setzt.

   Während die Anzahl der durch schwere körperliche Arbeit
 dauerhaft Geschädigten in den vergangenen Jahrzehnten zurück-
 ging, haben wir es heute mit einer neuen „Volkskrankheit“ zu tun:
Immer mehr Menschen erkranken an behandlungs­bedürftigen
Depressionen und Fehlzeiten und Früh­verrentungen aufgrund
­psychischer Erkrankungen nehmen zu. Prekäre Arbeitsverhält-
 nisse, fortschreitende Verdichtung der Arbeit mit steigendem
 Zeit- und Leistungsdruck und Entgrenzung zwischen Beruf und
 „freier“ Zeit resultieren immer häufiger im „überforderten Ich“.

  Ein Zurück in das vermeintlich „goldene Zeitalter“ eines
männlich dominierten „Normalarbeitsverhältnisses“ wird es
kaum geben. In den flexibilisierten Arbeitsformen der Wissens-
und Dienstleistungsgesellschaft, so oft sie auch zu (Selbst-)Aus-
beutung führen, liegen durchaus auch Chancen auf größere Au-
tonomieräume, auf eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit, Leben
und (Weiter-)Lernen – und nicht zuletzt auf langfristigen öko-
nomischen Wohlstand. Dazu bedarf es einer nachhaltigen Ar-
beitspolitik, die bei aller Flexibilisierung soziale Absicherungs-
mechanismen auf menschenwürdigem Niveau nicht vergisst.

                                                   Anne Seibring
Oskar Negt          Wesensgehalt ausdrückt: Er ist ganz aus den
                                                             Machtverwicklungen gelöst und zu einem be-
             Arbeit und                                      stimmenden Merkmal des aufrechten Gangs,
                                                             der Persönlichkeit aufgewertet. In dem Maße,

     menschliche Würde                                       wie sich die Warenproduktion ausbreitet und
                                                             in die Poren des gesellschaftlichen Lebens ein-
                                                             dringt, aber auch die Privatverhältnisse er-
                  Essay                                      greift, wird die Suche nach dem Unbedingten,
                                                             dem selbstverständlich Geltenden, zu einem
                                                             bestimmenden Motiv des modernen Denkens.

        J   ahrhunderte hat es gedauert, bis Würde die
            klassenspezifische Zuschreibung eines Sta-
                                                             Die Frage der Unaustauschbarkeit und der Un-
                                                             wiederholbarkeit wird zum Gegenpol des ge-
        tusmerkmals verloren hat und, angereichert           samten gesellschaftlichen Verkehrs. Das Un-
                                    mit moralischem An-      wiederholbare ist der absolute Gegenpol der
                       Oskar Negt sehen, zum Bestandteil     Warenproduktion; es lässt sich dem Allgemei-
   Dr. phil., Dr. h. c., geb. 1934; der Rechtskultur wur-    nen nicht subsumieren; aber lässt sich das Un-
  Professor (em.) der Sozialwis- de. Es ist offensicht-      wiederholbare als Allgemeines denken?
 senschaften an der Universität lich Lernresultat aus
Hannover; Podbielskistraße 31, Auschwitz und den                Kant ist der erste europäische Philosoph,
                30163 Hannover. sonstigen Staatsverbre-      der dem Unwiederholbaren, dem Unaus-
                                    chen, staatliches Han-   tauschbar-Besonderen den Status des Allge-
        deln rechtswirksam zu binden. Wenn der mo-           meinen verschafft. Solange der Begriff, der
        ralische Impuls, der selbst im Statusbegriff der     mit Würde verknüpft war, der autoritären
        Würde verborgen war, in die Verfahrensratio-         Sonderstellung von Einzelpersonen zugeord-
        nalität eines Verfassungssystems eingebunden         net wurde, war die Verknüpfung dieses Be-
        wird, ist dies ein gewaltiger Rechtsfortschritt.     griffs mit der Menschheit nichts weiter als
        Die Grundrechte binden Gesetzgebung, voll-           eine modernisierte Form der Herrschafts-
        ziehende Gewalt- und Rechtsprechung als un-          legitimation. In allen Hochkulturen enthält
        mittelbar geltendes Recht. Im normativen Ge-         der Sprachsymbolvorrat Begriffe für das, was
        halt unserer Verfassung sind hohe Maßstäbe           man nicht kaufen kann und was den unver-
        gesetzt; die Unantastbarkeit der Würde ist zu        wechselbaren, unaustauschbaren Eigensinn
        achten und zu schützen. Das deutsche Volk            des Einzelnen ausmacht. Nun scheint gera-
        bekennt sich zu unverletzlichen und unveräu-         de Arbeit in der modernen Welt der kapita-
        ßerlichen Menschenrechten als der Grundla-           listischen Produktion zu jenen Kategorien zu
        ge jeder menschlichen Gemeinschaft des Frie-         gehören, die von Tauschvorgängen überhaupt
        dens und der Gerechtigkeit in der Welt. Höher        nicht zu trennen sind; die lebendige Arbeit
        sind gesellschaftliche Humanisierungsan-             aus dem Zwangszusammenhang von Tausch
        sprüche kaum zu setzen; was dem zu Grunde            zu lösen, könnte nichts anderes bedeuten, als
        liegt, ist der utopische Entwurf einer friedens-     die Geschichte zurückzudrehen.
        fähigen und gerechten Gesellschaft. Man kann
        hier nicht nur von der Würde des Einzelnen              Einer der Gründe dafür, dass mittlerweile
        sprechen, sondern von der Würde des Gemein-          dieser Begriff der Würde im umfassenden Sin-
        wesens, denn ein würdevolles Leben der Ein-          ne menschlicher Lebensbedingungen auch auf
        zelnen kann es nur geben, wenn die Menschen          Arbeit bezogen wird, mag darin bestehen, dass
        diesen verfassungsrechtlich festgelegten Schutz      bei sichtbar wachsender Reichtumsproduktion
        und die Achtung in sichtbaren und spürbaren          die Gesellschaft in großen Bereichen immer är-
        Alltagserfahrungen der kollektiven Solidarität       mer wird. Man spricht von der Klasse der Wor-
        wahrnehmen.                                          king Poor, der arbeitenden Armen. Man sieht,
                                                             dass diejenigen, welche die Werte schaffen,
          Der Kulturbegriff der Würde, wie ihn Ci-           keinerlei Verfügungsrechte über ihre Verwen-
        cero prägte, war bis ins bürgerliche Zeitalter       dung haben. Die Arbeitsutopien, die ursprüng-
        hinein an Stand, Macht und Herrschaft ge-            lich darauf gerichtet waren, die technologische
        bunden. Noch bei Thomas Hobbes hat Wür-              Entwicklung zu fördern, um die Menschen
        de (Dignity) keinen Eigenwert der Person. Gut        vom Druck materieller Not zu befreien und
        100 Jahre später formuliert Immanuel Kant            Arbeitszeitverkürzungen zu ermöglichen, ha-
        einen Würdebegriff, der einen ganz anderen           ben sich weitgehend zersetzt. Der Erschöp-

                                                                                             APuZ 15/2011      3
fungszustand der Arbeitenden dieser Gesell-         mühsamen und aufwendigen Bildungspro-
    schaft hat einen Grad erreicht, der die Identität   zess erworben wurden und die – von ihren
    der Subjekte antastet und die Gesellschaft mit      gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten
    einer depressiven Gefühlslage überzieht.            abgeschnitten – in Gefahr sind, zu verrotten
                                                        und schwere Persönlichkeitsstörungen her-
       Das betrifft diejenigen, die am System ge-       vorzurufen. Vielfältige Formen der Selbstach-
    sellschaftlicher Arbeit irgendwie noch betei-       tung und der sozialen Anerkennung im fried-
    ligt sind. Hier bildet sich der objektive Schein    lichen Verkehr miteinander sind nach wie vor
    einer normalen Marktrationalität, bei welcher       in zentraler Weise mit dem Wesensgehalt ei-
    der Gebrauchswert lebendiger Arbeit Verwen-         ner Arbeit verknüpft, die ihres Lohnes wür-
    dung findet, wenn die Share-Holder-Interes-         dig ist. Wenn Entwürdigungen und Entrech-
    sen das erforderlich machen. Es wird jedoch         tungen der Menschen so im Alltagsleben der
    immer dringlicher, die moralische Kompo-            Gesellschaft auftreten und nicht lediglich auf
    nente des Umgangs mit lebendiger Arbeits-           eine Ausnahmesituation beschränkt sind, wie
    kraft öffentlich kenntlich zu machen. Eine          können dann Bedingungen hergestellt wer-
    Formulierung des Kategorischen Impera-              den, unter denen ein würdiges Leben möglich
    tivs Kants hat den Wortlaut: Behandle andere        ist? Würde ist doch ein aktiver, zur Umgestal-
    Menschen nie bloß als Mittel, sondern immer         tung der Verhältnisse drängender Begriff. Was
    zugleich als Zweck, als Selbstzweck. Arbeits-       sind die Grundbedingungen dafür, dass Men-
    plätze zu schaffen, die den Menschen ermög-         schen ohne Kraftaufwand, der sie überfor-
    lichen, auf angstfreier Existenzbasis zu leben,     dert, in Würde und in aufrechtem Gang ihren
    wäre ein solches Handlungsziel. Die zuneh-          Lebensweg beschreiten können? Ein auf Ver-
    mende Fragmentierung der Arbeitsplätze, die         teilungsgerechtigkeit, auf ein hohes Maß von
    Selbstverständlichkeit von Leiharbeit und vie-      sozialer Gleichheit beruhendes System gesell-
    len Formen der Job-Fragmentierung weisen            schaftlicher Arbeit ist wesentliche Grundlage
    dagegen in eine ganz andere Richtung.               einer friedensfähigen Gesellschaftsordnung.

       Inzwischen sind die sogenannten Arbeits-            Nach wie vor leben wir in einer Arbeitsge-
    agenturen soweit, dieses Fragmentierungs-           sellschaft; Hannah Arendts düstere Progno-
    geschäft des gegenwärtigen Kapitalismus als         se, dass wir in einem Dilemma stecken wür-
    ein destruktives Element der Gesellschaft           den, wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit
    zu benennen; wer in fortwährend prekären            ausginge, wir aber nur Kategorien der Arbeit
    Lebensverhältnissen existieren muss, ver-           zur Deutung der Krise zurückbehalten, ist
    liert den Sinn individueller Lebensplanung.         eine Halbwahrheit. Nicht alle Arbeit geht der
    Es ist eben nicht nur die aktuelle Arbeitslo-       Gesellschaft aus. Aber im Zeitalter des digi-
    sigkeit, welche die Zukunftsaussichten der          talisierten Kapitalismus drängt die Rationa-
    Menschen verdunkelt. Es bedarf vielmehr ei-         lisierung immer stärker ins gesellschaftliche
    ner neuen öffentlichen Aufmerksamkeit auf           Lebenszentrum; damit auch die Tendenz, le-
    das, was sich im Rahmen normaler Marktge-           bendige Arbeit durch Maschinensysteme zu
    setze abspielt, so, als wären es Naturgesetze,      ersetzen. Wenn sich diese Prozesse fortsetzen,
    die unabänderlich sind. Was die Arbeitslosen        werden wir eines Tages in der Tat menschen-
    empfinden, berührt zunehmend auch die Ge-           leere Fabrikationsorte haben. Wo bleiben unter
    fühlslage der in prekären Beschäftigungssitu-       solchen Strukturbedingungen die Menschen
    ationen Eingemauerten.                              mit ihrer lebendigen Arbeitskraft? 500 Jahre
                                                        hat es gedauert, bis Arbeit zum Bestandteil der
      Was diese Verbindungslinie Arbeit und             Identitätsbildung der Menschen wurde, zu ei-
    menschliche Würde betrifft, ist deshalb die         nem Persönlichkeitsanteil, um den herum sich
    empfundene Entwürdigung der Arbeitslosen            Selbstwertgefühle und soziale Anerkennung
    das Grundmuster des moralischen Skandals            organisieren. Wenn aber gegenständliche Tä-
    unserer Gesellschaft. Arbeitslosigkeit ist ein      tigkeit mit der Formung äußerer Objekte (in
    Gewaltakt. Sie ist ein Anschlag auf die kör-        der Warenproduktion) fundamentale Bedeu-
    perliche und seelisch-geistige Integrität, auf      tung für die Herstellung eines gesellschafts-
    die Unversehrtheit der davon betroffenen            fähigen Subjekts hat, dann müssen wir Ant-
    Menschen. Raub und Enteignung der Fähig-            worten auf die Frage finden, wo die Menschen
    keiten und Eigenschaften, die innerhalb der         bleiben, die Opfer der Rationalisierung der
    Familie, der Schule und der Lehre in einem          Warenproduktion sind.

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In dem Maße, wie die herkömmlichen Pro-           hältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch
duktionsbereiche in der Anwendung lebendi-           ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlas-
ger Arbeitskraft enger werden, wächst der Be-        senes, ein verächtliches Wesen ist“.❙1
darf an Gemeinwesenarbeit, die jedoch nicht
über den Markt, sondern über die zur gerech-            Wo der sozialdarwinistische Überlebens-
ten Verteilung der kollektiv erarbeiteten Werte      kampf der Menschen zum Prinzip einer auf
verpflichteten staatlichen Instanzen finanziert      Wachstum und Konkurrenz setzenden Ge-
werden muss. In den neoliberalen Ideologien          sellschaft erhoben wird, die darum bemüht ist,
steckt der Wunsch, zentrale staatliche Regu-         möglichst alle sozialstaatlichen Barrieren der
lierungsinstanzen in der Verteilung des gesell-      Kapitalentwicklung und der Kapital­entfaltung
schaftlichen Reichtums abzubauen. Das führt          beiseite zu schaffen, wird selbst das Scheitern
jedoch zwangsläufig zu einer Polarisierung von       und die individuelle Katastrophe noch als An-
Arm und Reich und am Ende zur Selbstzer-             reiz betrachtet, sich nicht zur Ruhe zu bege-
rissenheit und Spaltung der Gesellschaft. An         ben; das Selbstideal des unternehmerischen
sich müsste es unter heutigen Bedingungen so         Menschen schreckt auch davor nicht zurück,
sein, dass der analytische und praktische Blick      der Erniedrigung und der Vereinsamung posi-
der öffentlichen Vernunft konzentriert auf das       tive Akzente zu verleihen. Was gegenwärtig im
Schicksal der lebendigen Arbeitskraft in die-        Krisenzusammenhang der Arbeitsgesellschaft
ser Gesellschaft zu lenken wäre. Das Gegen-          abläuft, lässt sich als eine Art Akkumulation
teil ist jedoch der Fall. Von toter Arbeit spricht   des Angstrohstoffs bezeichnen; selbst die flei-
Karl Marx treffend, auch von verstorbener Ar-        ßig Arbeitenden haben in dieser Gesellschaft
beit, wenn er die Akkumulationsbewegung              keinen sicheren Platz mehr. Das hat es in dieser
des Kapitals untersucht. So werden lebendige         Ausdehnung geschichtlich noch nie gegeben.❙2
Menschen mit ihren Arbeitsbedürfnissen und
ihren Hoffnungen auf ein menschenfreundli-               In den Bereichen der Warenproduktion
ches Gemeinwesen immer wieder herabgestuft            scheint alles gewaltlos abzulaufen; das ist aber
auf bloße Anhängsel der Marktmechanismen,             eine gefährliche Täuschung. Die Ansamm-
die sich alternativlos geben. Wie in einer Über-      lung von Angstrohstoff verweist auf innerge-
flussökonomie, in der Mangelsituationen nicht         sellschaftliche Kriegszustände, auf Gewalt-
der Not, sondern dem bewussten Willen ge-             potenziale, die eines Tages auch politische
schuldet sind, mit den Lebensbedürfnissen der         Ausdrucksformen finden werden. Christa
Menschen umgegangen wird, ist ein skanda-             Wolf spricht mit Recht von einem Zustand
löser Akt der Entwürdigung. Das ist eine All-         des Vorkrieges: „Wann Krieg beginnt, das
tagsangelegenheit, nicht ein Ausnahmefall.            kann man wissen, aber wann beginnt der Vor-
                                                      krieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie
  Ich komme auf meinen Ausgangspunkt zu-              weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, über-
rück: Im geschichtlich-lebendigen Substanz-           liefern. Was stünde da. Da stünde unter an-
gehalt von Würde ist ein bestimmtes Men-              dern Sätzen: LASST EUCH NICHT VON
schenbild festgehalten; obwohl Artikel 1 des          DEN EIGNEN ­TÄUSCHEN.“❙3 Diesen
Grundgesetzes so klingt, als ginge es hier um        Zustand eines Vorkriegs gar nicht erst auf-
Tatbestandsfeststellungen, „ist unantastbar“,        kommen zu lassen, dazu wäre eine der Leis-
„ist Verpflichtung“, ist darin doch ein unbe-        tungsgerechtigkeit und der guten Arbeit ent-
dingtes Sollen gemeint, ein kategorischer Im-        sprechende Organisation der Gesellschaft am
perativ derart, dass die Tatsachenwelt, das          Besten geeignet. Das Bezugssystem von Ar-
scheinbar alternativlos Gegebene, ihre Legi-         beit und menschlicher Würde hat eine zen-
timationsgrundlagen verliert. Es sind inner-         trale Bedeutung für eine Humanisierung der
weltliche Maßstäbe gesetzt, für ein Bild vom         ­Gesellschaft.
Menschen, dessen charakteristische Merkma-
le Autonomie und Selbstbestimmung sind.              ❙1 Siegfried Landshut (Hrsg.), Karl Marx – Die Früh-
Der junge Marx, bewusst an Kant anknüp-              schriften, Stuttgart 20047, S. 283.
fend und die Arbeitswelt als entscheidende           ❙2 Vgl. dazu Oskar Negt, Arbeit und menschliche
Grundlage der entwürdigenden Abhängigkei-            Würde, Göttingen 2001; ders., Der politische Mensch,
                                                     Göttingen 2010.
ten betrachtend, bezeichnet den Horizont, in
                                                     ❙3 Christa Wolf, Kassandra. Erzählung, Darmstadt–
dem sich die Humanisierung unserer Lebens-           Neuwied 1983, S. 76 f. (Hervorhebung im Original).
welt zu bewegen hat; nämlich nach Maßstä-
ben eines kategorischen Imperativs, „alle Ver-

                                                                                         APuZ 15/2011       5
C. Keller · O. Groh-Samberg ·                       lich eine Fernsehproduktion aufzuziehen, die
                                                               jedoch in Insolvenz und Schulden mündet.
M. Hofmann · S. Röbenack · G. Reckinger ·                      Nach dieser Periode selbständiger Erwerbs-
      D. Reiners · K. Schrader · K. Englert                    tätigkeiten vermittelt ihm seine Frau im Jahr

      Ein halbes Leben.
                                                               1988, als er seine Arbeitserlaubnis erhält,
                                                               eine Stelle in jener Druckerei, wo sie seit vie-
                                                               len Jahren arbeitet. So tritt Herr Faruk nach
      Vier Kurzporträts                                        gut fünf Jahren seinen, wie er es ausdrückt,
                                                               „ersten richtigen Arbeitstag“ in Deutschland

   aus einer Arbeitswelt                                       an. In der Position des ungelernten „Produk-
                                                               tionshelfers“ lernt er die Welt des Industrie-

           im Umbruch
                                                               gewerbes kennen. Dabei erlebt Herr Faruk
                                                               die Herabwürdigung und Diskriminierung
                                                               der „Gastarbeiter“ in deutschen Betrieben.
                                                               Diesen will und kann er sich nicht gänz-
             Carsten Keller · Olaf Groh-Samberg                lich unterwerfen. Sicherlich auch wegen sei-
                                 Herr Faruk                    nes statushöheren Hintergrundes als Volks-
                                                               schullehrer verhält er sich eigensinnig und
                                                               bis zu einem gewissen Grad widerständig.

         H         err Faruk ist kein typischer Repräsentant
                   der türkischen „Gastarbeiter“. Im Jahr
            1983, zehn Jahre nach dem Anwerbestopp,
                                                               Die beständige Schlechterbehandlung seiner
                                                               ausländischen Kollegen im Betrieb zehrt je-
                                                               doch, und die Konflikthaftigkeit seiner Reni-
                                      emigriert er im Rah-     tenz führt ihn schließlich in eine psychische
                      Carsten Keller men des Familiennach-     Krise, so dass er nach 15 Jahren den Betrieb
  Dr. phil., geb. 1971; Vertretungs- zugs nach Deutsch-        verlässt.
professur für ethnische Heteroge- land. Seine Frau war
nität an der Universität Duisburg- dagegen schon 1970            Danach gefragt, wie sich die Arbeitswelt in
        Essen; Forscher am Centre nach Deutschland aus-        der Druckerei in diesen 15 Jahren verändert
      Marc Bloch, Friedrichstr. 191, gewandert, wo sie in      hat, antwortet Herr Faruk in Bildern: dem
                        10117 Berlin. einer Druckerei arbei-   eines Glases, in das beständig Wasser tropft,
carsten.keller@cmb.hu-berlin.de tete. Die Entscheidung,        bis es irgendwann überläuft; und dem eines
                                      seiner Frau nachzuzie-   ausgestreckten Armes, der ein Blatt Papier
                 Olaf Groh-Samberg hen, schildert Herr Fa-     zu halten hat, bis er irgendwann müde wird.
 Dr. phil., geb. 1971; Juniorprofes- ruk als das Ergebnis      Der technische Wandel und die Beschäfti-
 sor für Soziologie an der Bremen eines längeren Abwä-         gungskrise im Druckereigewerbe kommen
    International Graduate School gens. So hatte er in sei-    in der Erzählung von Herrn Faruk gar nicht
     of Social Sciences, ­University nem Herkunftsdorf ei-     vor. Vielmehr überwiegt schlicht die Per-
        of Bremen, Wiener Straße/­ nen angesehenen Status      manenz der „ethnischen Unterschichtung“,
 Celsiusstraße, Postfach 330 440, als Volksschul­lehrer        der Schlechterbehandlung und Diskrimi-
                     28334 Bremen. inne; in Deutschland        nierung ausländischer Arbeiter, die kaum
                   ogrohsamberg@ würde er nach eigener         eine Aussicht auf innerbetrieblichen Auf-
              bigsss.uni-bremen.de Einschätzung jedoch         stieg ­haben.❙1
                                      „ganz unten“ anfan-
            gen müssen. Ausschlaggebend für die Emigra-        Die vier Kurzporträts sind gekürzte und bearbeitete
            tion seien dann auch angesichts der Umbrüche       Versionen aus: Franz Schultheis/Berthold Vogel/Mi-
            in der Türkei politische Motive gewesen.           chael Gemperle (Hrsg.), Ein halbes Leben. Biogra-
                                                               fische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch,
                                                               Konstanz 2010.
            In Deutschland bleibt Herr Faruk zunächst          ❙1 Das Gespräch wurde von Carsten Keller im April
         fünf Jahre ohne Arbeitserlaubnis. Konfron-            2009 in Anwesenheit einer Übersetzerin geführt. Der
         tiert mit der Unmöglichkeit, eine Anstellung          Interviewer spricht nur deutsch, der Interviewte ant-
         als Lehrer zu finden, und der als belastend           wortet in der Regel direkt auf die Fragen. Er spricht
         empfundenen Situation, nur für den Haushalt           überwiegend türkisch, zeitweise aber auch deutsch.
                                                               Die deutschen Passagen des Interviewten sind daher
         zuständig zu sein, beginnt er seine dortige           in K apitälchen gesetzt. Wir haben die Erzählungen
         Arbeitsbiografie mit einer Reihe selbständi-          des Interviewten von Beate Klammt – ihr sei an die-
         ger Tätigkeiten. Er arbeitet als Marktverkäu-         ser Stelle herzlich gedankt – aus dem Türkischen ins
         fer, führt einige Jahre ein Café, um schließ-         Deutsche übersetzen lassen.

     6     APuZ 15/2011
„An so einen Punkt                                       Dadurch kann man sich dann distanzie-
                                                       ren?
bin ich gekommen“
                                                          Dieses Verhalten von mir hat dort zu stän-
     Herr Faruk: 8.8.88. Das ist mein erster rich-     digen Konflikten geführt. Meine Regeln.
     tiger A rbeitstag. (…) A ngefangen. In Ber-       Normalerweise waren die Regeln der Fabrik
     lin, Druckerei.                                   verbindlich. Aber ich habe meine Regeln da-
                                                       neben gestellt. Zum Beispiel gab es Folgen-
       Carsten Keller: Wo Ihre Frau auch gearbei-      des. Ich habe meine Arbeit richtig gemacht,
     tet hat?                                          immer. So wie ich es konnte. Wenn zum
                                                       Beispiel der Chef kam, ist jeder aufgestan-
       Ja, diese Firma (…), das ist eine traditio-     den. Sogar wenn es keine Arbeit gab, es gibt
     nelle  Firma, 130 Jahre vorher gegründet.         nichts zu tun, also, Stillstand, aber jeder ver-
     Natürlich ich hab geschuldigt in Bank.            sucht, irgendetwas zu tun, zu fegen und so.
     Ich bin pleite. In dieser Zeit haben wir auch     Bei mir war alles sauber, egal ob ich zu tun
     die Arbeitserlaubnis geholt. Das war in den       hatte oder nicht. Ich habe alles in Ordnung
     Zeiten dieser Fernsehsache. (…) Und dann,         gebracht und so beendet. (…) Wenn der Chef
     habe ich halt dort angefangen zu arbeiten, als    kam, bin ich nicht aufgestanden, denn ich
     Produktionshelfer. (…) Ich habe zum ers-          hatte meine Arbeit schon vollbracht. Aber
     ten Mal in meinem Leben angefangen, als Ar-       die, die machten nichts und wenn der Chef
     beiter zu arbeiten. Zuerst hat es mich gestört,   kam, haben sie sofort angefangen irgend-
     weil ich als Arbeiter, das was mich gestört hat   was zu tun. Das war in der ganzen Fabrik
     als Arbeiter … , eigentlich war das, was mich     so. Ich saß, der Chef, alle schauten sie mich
     störte nicht die Arbeit, sondern das Verhal-      an, hinter dem Fenster haben sie gespäht. Da
     ten der Menschen dort, die Umgangsformen.         sitzt er, der Chef wird jetzt rumgehen, zu-
     Das war für mich eine Lehre, die ich zum ers-     erst sagt er nichts zu mir. Dann kommt er
     ten Mal im Leben hatte. Weil ich nicht so ge-     an meine Seite und sagt: „Warum sitzt du?“
     arbeitet habe, nicht mit Deutschen gearbeitet     Er meckert. „Ich sitze, ja!“ „Ja, und wieso?“
     hatte. Ich hatte, in meinem Leben, noch nie       „Ich habe schon alles geputzt!“, sagte ich
     Anordnungen erhalten. Also: „Das machst           dann, „alles, alles sauber“, und, und, und.
     du! Dies machst du! Das sollst du so machen!      Das hat ihm die Laune verdorben. Also ei-
     Das sollst du so machen! Das wirst du tun!        gentlich sah er mich als respektlos an, in dem
     Tu dies, tu das!“ (…)                             Sinn, dass ich ihm gegenüber keinen Respekt
                                                       zeigte. Aber ich lasse mir nichts nehmen, ich
       Die deutsche …, die in Europa vorhandene        blieb aufrecht.
     Arbeits- …, die Innenansicht habe ich ken-
     nengelernt. Zum Beispiel wir arbeiten locker        Und die Kollegen? Waren das auch türki-
     in der Türkei. Ja, hier ist es sehr, so, sehr –   sche Arbeiter, oder?
     streng. Streng, ja. Wenn du dir einen Tee
     holst oder zur Toilette gehst, musst du erst        12 Türken gab es. ­Produktionshelfer.
     die Erlaubnis einholen. Ja, klar okay, aber es
     war sehr streng. Wir haben natürlich in drei         Ja, Produktionshelfer. Was haben Sie da
     Schichten gearbeitet. Unsere deutschen Kol-       ­genau gemacht in der Druckerei?
     legen waren in der Regel ausgebildete, ge-
     bildete Menschen. Die waren die Drucker.            Wir haben die aus der Maschine kommende
     Und wir haben ihnen zugearbeitet. Waren           Ware genommen, sie zu Paketen verpackt, auf
     studiert, sowas. (…) Ich war auch gar nicht       Paletten gestapelt. Dann haben wir die Palet-
     in der Lage M aschinenführer zu werden.           ten genommen und in das Lager gebracht.
     Das war ja das erste Mal in meinem Leben,         Dann haben wir die Paletten in den Keller ge-
     dass ich eine Druckerei betreten habe. Aber       bracht und da dann halt ­gestapelt. (…)
     ich hatte meine Wahrheiten in meinem Le-
     ben. Das ist überhaupt nicht wichtig. Egal         Also es war im Grunde eine ganz einfache
     wo ich bin, das was mir richtig oder nicht        Arbeit.
     richtig erscheint, wo auch immer, was auch
     immer das ist, dem stelle ich mich. Das heißt      Ja, aber, wenn die Maschine lief, war unsere
     hier …                                            Arbeit natürlich schwer. (…)

                                                                                        APuZ 15/2011      7
Und wie viele Leute haben in der Fabrik       im Sozialleben, das was sie schmerzte, ihnen
    gearbeitet?                                     Sorgen bereitete, gleichzeitig mit zur Arbeit
                                                    gebracht. Das ist normal. Jeder bringt sich,
      Am Anfang waren wir 140 Personen, die         seinen Stress mit zur Arbeit. (…) Was passiert
    gearbeitet haben. Es war ein Familienbetrieb.   dann? Diejenigen, die in den unteren Sekto-
    Groß, also mit 140 Personen arbeiteten wir,     ren sind, wir zum Beispiel. Ausbildung, das
    in unterschiedlichen Bereichen. Zum Beispiel    ist nicht gebildet. Ausbildung ist etwas an-
    gab es welche, die im Büro arbeiteten, welche   deres. Er hat schlechte Laune und sitzt da:
    die in der Kopie arbeiteten. Wir waren in der   „Mach dies, mach das, mach, mach, mach!“
    Produktion. Produktionshelfer.                  Seine eigene Arbeit hat er uns machen lassen
                                                    zum Beispiel. (…)
      Wie groß war der Anteil von ausländischen
    Arbeitern in der Fabrik? Also von türkischen      Es gibt so einen Innenvertrag, aus dem
    oder, oder …?                                   bricht man in dem Moment aus, wenn man
                                                    sagt: „Nein, das mache ich nicht.“ Dann
      Wir waren 12, 13 Personen. Wir sind nur       wird dir gesagt: „Geh nach Hause. Du
    unten, Produktion. Griechen gab es auch,        musst es machen, du hast so oder so keine
    mit uns zusammen. Griechen und Türken,          Alternative!“ Dies trägt dazu bei, dich in
    unten. Es gab auch Deutsche. Es gab auch        deine Krise hinein zu ziehen. Dann kommst
    Deutsche, die mit uns zusammengearbeitet        du nach Hause …, wir haben unter Freun-
    haben.                                          den darüber gesprochen, warum das so
                                                    ist. Manchmal habe ich mich auch mit den
     Aber der überwiegende Teil waren deutsche      Deutschen gestritten, Streit, naja, Wortge-
    Arbeiter?                                       fechte gab es. Aber wenn wir nach Hause
                                                    kamen, trugen wir den Stress, den wir hat-
      Das waren die mit Ausbildung. Wir zum         ten, auf Händen. Wenn wir uns mit dem
    Beispiel, da wir ohne Ausbildung waren, dort    Ehepartner unterhalten haben, die Deut-
    Produktionshelfer, also, zuerst ist man als     schen haben dies gemacht, die Deutschen
    Hilfsarbeiter eingestiegen. Dann Produk-        haben jenes auf Arbeit gemacht. Das war
    tionshelfer zwischen Drucker und H ilfs-        für eine lange, ausgedehnte Zeit so in die-
    arbeiter. Normalerweise H ilfsarbeiter. Da      sem Arbeitssystem.
    kommt man gar nicht in die Maschine rein
    um zu ­arbeiten. (…)                              In diesem Arbeitssystem tragen wir alle
                                                    diese Angriffe mit nach Hause. Wenn wir sie
      Sie sind dann vom Hilfsarbeiter …             nach Hause getragen haben, reden wir. Da
                                                    ist unser Kind, ein dreijähriges Kind. „Sieh
      H ilfsarbeiter   und dann  P roduktions-      mal, mit meinem Papa haben die Deutschen
    helfer und dann    Drucker. Drucker , das       das so gemacht, bei seiner Arbeitsstelle!“
    waren natürlich die mit der Ausbildung. Die     Wenn das Kind anfängt, das zu hören. Wir
    Deutschen. M aschinenführer , so was . (…)      haben es nicht bemerkt, waren uns nicht be-
    Ich habe gesehen, wie die Deutschen über        wusst darüber, dass wir angefangen haben,
    die Ausländer … , die Zuständigkeiten auf       unsere Kinder den Deutschen gegenüber
    sie abgewälzt haben, die Last. Die Um-          feindlich zu erziehen. Ja! Sagen wir nicht
    gangsformen habe ich kennengelernt. Also,       Feind, also, dagegen. Zum Beispiel, mein
    im Arbeitsleben, dort. Zum Beispiel, brül-      Kind ist hier geboren, hier aufgewachsen,
    lend, beleidigend: „Mach dies, mach das,        kennt die Türkei überhaupt nicht. Bei ei-
    mach das so, das so!“ Immer dieser Befehl-      nem Nationalfußballspiel, wenn Deutsch-
    ston. Okay, das sind untergeordnete Men-        land und Italien spielen, ist es nicht für
    schen, nun gut. Aber zu einem Deutschen,        Deutschland, es ist zum Beispiel für Italien.
    einem Deutschen: „H ans , bitte machen Sie      Ich habe das irgendwann vor mir entstehen
    das .“ (…)                                      sehen. Hier gibt es Tausende von Türken,
                                                    die füllen Stadien mit türkischen Fahnen
      Das war langfristig, diese Arten des Um-      aus. Wie ist denn dieses Gefühl aufgekom-
    gangs. Also jetzt, klar, einige von den Dru-    men? Das Soziale bringt den Menschen halt
    ckern haben ihre eigenen psychischen Pro-       an diesen Punkt. Ein besorgniserregender
    bleme, die Probleme zu Hause, die Probleme      Umfang. (…)

8    APuZ 15/2011
Und gab es in diesen 15 Jahren [von 1988          Michael Hofmann · Silke Röbenack
bis 2003] eine Entwicklung in diese Richtung?
Waren das immer Phasen, dass die Vorarbei-          Herr Volkert
ter schlecht gelaunt waren und ihre schlech-
te Laune an den ausländischen Mitarbei-
tern abgelassen haben, oder gab es auch eine
Entwicklung, dass sie innerhalb von diesen
15 Jahren zunehmend belastet wurden, als
                                                    H     err Volkert arbeitet seit über 40 Jah-
                                                          ren als Stahlbauschlosser im ostdeut-
                                                    schen Lingner Werk in M.❙2 Sein ganzes Ar-
Gastarbeiter?                                       beitsleben verbindet
                                                    sich mit diesem Un- Michael Hofmann
   Das war so. Eigentlich findet sich der Druck     ternehmen: Er hat Dr. phil., geb. 1952; seit 2007
in den Gefühlen und Gedanken eines Men-             in den 1960er Jahren apl. Professor für Soziologie,
schen. Wenn auf der Arbeit etwas schief läuft,      bei Lingner gelernt; Geschäftsführer des Sonderfor-
geht der Chef zu den Druckern und brüllt            er hat dessen Blüte- schungsbereiches 580 „Gesell-
und meckert den Arbeitenden an. Wenn es             zeit erlebt – Ling- schaftliche Entwicklungen nach
gut läuft, gibt es keine Probleme. Aber wenn        ner galt weltweit als dem Systembruch“, Univer-
man etwas ununterbrochen erlebt, also, zum          ein großer Name sität Jena, Bachstraße 18 k,
Beispiel, ich habe die Vorstellung von Druck,       im Schwerlastgeräte­ 07743 Jena.
in unserem Arbeitsbereich gab es Nachtei-           bau – und auch die michael.hofman@uni-jena.de
le. Sagen wir [nimmt ein Blatt Papier]: das ist     schwierigen Jahre ge-
zwei Gramm, ne? (…) Das ist noch leicht.            gen Ende der DDR. Silke Röbenack
Okay, kommen wir zu einer anderen Per-              Er gehört zu den We- Dr. phil., geb. 1963; seit 2008
spektive. Ich trage so [hält das Papier mit         nigen, die Massenent- Personal- und Organisationsbe-
ausgestrecktem Arm]. Eine Stunde, kann              lassungen und Pri- raterin sowie Coach, ffw GmbH
ich, ne? (…) Zwei Stunden? Geht (…)                 vatisierung am An- Gesellschaft für Personal- und
                                                    fang der 1990er Jahre Organisationsentwicklung,
  A ber drei Stunden, schaff ich nicht.             überstanden haben. Allersberger Straße 185/F,
Meine A rme ist …, tut weh. Das ist das.            Alles in allem kann 90461 Nürnberg.
Wenn lange Zeit arbeitest du dort, jeden            Herr Volkert 20 Jahre roebenack@ffw-nuernberg.de
Tag kommt eine, äh. Was war [das Sinnbild]          Berufserfahrung im
noch mal [mit den] Tropfen? Zum Beispiel            volkseigenen Betrieb und 20 Jahre im Pri-
ich … Was war nochmal sich aufrecht halten?         vatunternehmen Lingner ­a ddieren. Herr
Ja. Über diese lange Zeit kann man das nicht        Volkert steht wie viele Arbeiter für ein tra-
mehr tragen. Die kleinste Sache, ohne Unter-        ditionelles Arbeiterethos – mit Disziplin
brechung, macht das Glas voll. Und irgend-          und Pflichtgefühl: „Ich stehe jeden Tag um
wann kommst du an einen Punkt, an dem du            viertel Fünfe auf. Das fällt mir schon schwer,
es nicht mehr ertragen kannst.                      das Aufstehen. Gut, ich könnte schon ein
                                                    bissel länger schlafen, aber dann wird das
  Ich selber, bin im Jahr 2002, also zu der Zeit,   alles früh ein bissel hektischer. Wir sind alt
als die Fabrik nicht mehr so lief, alles fing an,   und darauf programmiert, schon eine hal-
mir schwer zu fallen. Zum Beispiel, ich habe        be Stunde vorher da zu sein. Es gibt kei-
neben mich eine Eisenstange gelegt. „Wenn           nen, der sagt, ich komme fünf vor um sechs.
der jetzt noch einmal kommt und mir noch            Nee, man ist schon halb sechs hier. Ich weiß
mal was sagt, dann schlage ich den Chef mit         auch nicht warum. Das ist schon das ganze
dem Teil“, dachte ich mir. An so einen Punkt        Leben so gewesen.“ Seine Arbeit als Stahl­
bin ich gekommen. Ja, ein Mensch wie ich!           bausschlosser beschreibt Herr Volkert vol-
Kannst du dir das vorstellen?! An was für ei-       ler Stolz und Selbstbewusstsein: „Man
nem Punkt ich angekommen war! Dann habe             kriegt da Unterlagen, so einen Packen Pa-
ich angefangen, über mich selber zu lachen          pier mit Zeichnungen. Und dann muss ich
und nachzudenken. Das war meine Entschei-           das zusammenbauen. (…) So wie ein Auto
dung, den Chef schlagen zu wollen. Also, die        in der Taktstraße. Das ist eigentlich die Ar-
spielen mit deinem Selbstwertgefühl, von Zeit       beit eines Stahlbauschlossers.“
zu Zeit. Da kommen natürlich viele Sachen
zusammen. Ich bin dann in eine Krise gera-            Es ist eine anspruchsvolle Arbeit, de-
ten. Ich selber, ich sehe mich ja selber, ich war   ren Anforderungen oft unterschätzt wer-
dann drei, vier Monate krank ­geschrieben.          den: „Also ein Dummer schafft es nicht.

                                                                                  APuZ 15/2011    9
Man muss ja so eine Zeichnung lesen kön-                                        „Man wird getrieben“
     nen. Ohne ein bisschen Mitdenken schafft
     man es nicht. (…) Da muss man wirklich                 Seit ein paar Jahren fällt ihm die Stahlbau-
     nach Millimetern arbeiten können und                   schlosserei zunehmend schwerer, was nur auf
     nicht wie auf dem Bau nach Zentimetern.                den ersten Blick etwas mit dem Älterwerden
     Bei uns muss das schon ein bisschen genau-             zu tun hat. „Die Arbeit ist nicht schlecht, aber
     er gemacht werden. (…) Das ist schon eine              sie fällt mir doch schon schwer. 45 Jahre, da
     komplizierte Arbeit und die wird immer                 wird es Zeit, dass man zur Ruhe kommt, (…)
     unterschätzt, zumindest von den höheren                also Zeit, immer in der Leistung stehen, dass
     Kräften. ‚Stahlbau‘, sagen die, ‚ist nur min-          man es schaffen muss.“ Herr Volkert erlebt
     derwertige Arbeit, die wird nach Kilopreis             seit Jahren einen steigenden Anforderungs-
     bezahlt (…)‘. Also das kann man so nicht               und Termindruck. Der Durchgriff vom Ma-
     sagen, dass die Arbeit so minderwertig ist,            nagement auf die Ebene der Facharbeit er-
     wie sie immer dargestellt wird. Wie gesagt,            folgt immer direkter, und die Termine für die
     es ist eine interessante Arbeit. Es ist ja nicht,      Produktion werden stetig enger: „Wir haben
     dass man immer dasselbe baut, man baut ja              jetzt grade wieder gehört, dass die Chinesen
     auch immer mal was anderes. Und man ist                Schwerlastgeräte von uns haben wollen. Also
     natürlich auch stolz, wenn man es geschafft            wenn der Termin so kurz wie möglich ge-
     hat am Ende.“                                          macht wurde, also ein Jahr und länger nicht,
                                                            dann geht es noch lange nicht los. Wenn dann
       Auch wenn Herr Volkert von seiner per-               alles mal da ist, dann geht es los, und dann
     sönlichen Arbeitsleistung überzeugt war                muss man da hetzen, damit der Termin gehal-
     und ist, hat er seine Weiterbeschäftigung              ten wird, weil sonst dann Vertragsstrafe be-
     bei Lingner trotz der mehrfachen Entlas-               zahlt wird und so was.“
     sungswellen in den frühen 1990er Jahren
     eher als glückliche Fügung denn als Folge                Der Erfahrungsschatz seines langen Ar-
     seiner Leistung erlebt: „Ein bisschen Glück            beitslebens reicht zunehmend weniger aus,
     ist schon dabei, ja ja. Denn wie gesagt, ich           um die komplexeren und kürzeren Arbeits-
     hätte auch mit entlassen werden können,                sequenzen erfolgreich zu bewältigen, und
     hätte ich jetzt keine Kinder gehabt. Da hät-           so schleicht sich in seinen Facharbeiterstolz
     te der gesagt, der hat keine große soziale             ein Gefühl der Überforderung: „Und das ist
     Verantwortung hier, raus. (…) Na ja, da wa-            so das Schwierigste an der Sache, wenn man
     ren natürlich, manche, die gehen mussten,              die Anforderungen nicht schafft, zeitmäßig,
     dann ein bissel betröppelt, aber da konnten            dann wird man getrieben, getrieben und dann
     ja die nichts dafür, die überlebt haben. (…)           macht man gleich was verkehrt, weil man ge-
     Da ist eine Auswahl getroffen worden,                  trieben wird und das ist das Nicht-Schöne im
     meist eben von einem Vorgesetzten. Am                  Arbeitsprozess. Man muss mit Ruhe arbeiten
     Ende, ich konnte ja nichts machen dafür.               können.“
     Man hätte mehr protestieren können viel-
     leicht, aber ich glaube, das hätte auch nichts            Ein ehrenvoller Abgang in den Vorruhe-
     mehr ­gebracht.“                                       stand scheint die beste Lösung für dieses An-
                                                            forderungsdilemma zu sein: „Na ja, aber das
                                                            ist ganz normal, wenn man 45 Jahre hier so
      ❙2 Das Lingner Werk blickt auf eine fast 130-jähri-   was gemacht hat, dann kann es nicht mehr
     ge wechselvolle Geschichte des Schwerlastgerätebaus    gut gehen. Da wird es Zeit, dass man langsam
     zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst SAG-       zur Rente kommt. In zwei Jahren, da denke
     Betrieb avancierte Lingner in den 1960/70er Jahren
                                                            ich mir, dass ich dann ausscheiden kann in
     zum größten Anbieter für Schwerlastgeräte in Ost-
     europa. Der wirtschaftliche Zusammenbruch und die      Altersteilzeit. Ich will dann raus.“
     Privatisierung in den 1990er Jahren waren mit erheb-
     lichem personellem Abbau verbunden. Von gut 2400         Angesichts des Pflichtgefühls und des Ar-
     Beschäftigten 1990 waren 2009 noch 150 Personen        beiterstolzes überrascht es, dass Herr Volkert
     tätig. Lingner beschäftigt zusätzlich etwa 100 Leih-   seinem Abschied von 45 Jahren Arbeitsleben
     arbeiter – einige von ihnen schon seit mehreren Jah-
                                                            scheinbar ohne Bedauern und Trauer entge-
     ren. Mittlerweile zählt Lingner zu den so genannten
     ­Hidden Champions. Von Mai bis Juli 2008 wurden        gensieht. Aber er erlebt, dass seine Zeit im
     Interviews mit ausgesuchten Angehörigen des Wer-       Werk abgelaufen ist. Zwar produziert Ling-
     kes geführt.                                           ner wie eh und je Schwerlastgeräte, aber der

10    APuZ 15/2011
Arbeitsalltag hat kaum noch etwas mit dem          noch unser Logo draufgeklebt. Das ist seine
Werk zu tun, in dem er sein Arbeitsleben als       Philosophie. Das haben wir schon von An-
Lehrling begonnen hat.                             fang an mitgekriegt. Der hat nicht so viel
                                                   Interesse am Werk. Der will viel mehr Profit
   Mit den Eigentumsverhältnissen hat sich         machen. Aber das geht nicht so einfach. Das
auch das Betriebsklima gewandelt, insbe-           hat er gemerkt, als er Aufträge ins Ausland
sondere die Beziehungen zwischen den Ar-           gegeben hat. Aber das wäre hier sein Traum:
beitern und der Geschäftsführung. Gerade           Nur noch Bürogebäude, alles schön sauber
das Verhalten des Geschäftsführers schnei-         und das alles wird vermietet. Da machen
det im Vergleich zum Werksleiter aus DDR-          wir eine Kaufhalle rein, hinten einen Auto-
Zeiten deutlich schlechter ab: „Die [DDR-          händler, so ungefähr. Das sind seine Gedan-
­Direktoren] standen einem vielleicht ein          ken. Er hat kein bisschen soziales Verständ-
 bisschen näher. Die waren vielleicht nicht        nis für die Leute hier. Dass er die Leute alle
 ganz so arrogant, wie sie heute sind. Der, den    in Arbeit hat, dass es denen gut geht, dass
 wir jetzt haben, das ist ein ganz ein Arrogan-    die auch leben können. Das ist nicht seine
 ter. Der grüßt nicht mal, wenn er durch die       Welt. Das ist jetzt ein ganz anderer Typ von
 Halle geht. Das ist ein komischer Mensch.         Unternehmer. Mit Künstlern tut er sich ver-
 Da ist eher sein zweiter Vorstand noch pa-        stehen. Die tut er auch sponsern, die Künst-
 tent, der grüßt wenigstens in der Werk-           ler. Da hat er eine ganze Halle hier zur Ver-
 statt jeden. Früher, zu DDR-Zeiten, da ha-        fügung gestellt. Die Künstler lässt er hier
 ben wir auch den Chef nicht geduzt, aber es       umsonst wohnen. Da drüben wohnen auch
 war kumpelhafter. Der Werksleiter hat mit-        Künstler oben in der Etage. So eine Dunkel-
 gespielt in der Betriebsmannschaft. Und da        häutige, die bastelt auch irgendwas. Die ist
 waren wir sogar per Du. Und das war eben          schon zehn Jahre dort. Ich weiß nicht, was
 doch der Werksleiter. Der war echt prima.         die macht, ob die Bilder aushängt oder was.
 Der war eine Kapazität. Der war Mathema-          Und Fotografen hat er auch schon gehabt.
 tiker, ein großer Fuchs war das. Der hat sich     Hier am Kunstzentrum im Ort engagiert er
 aber so in der Masse, so unter den Arbei-         sich so ein bisschen. Das ist das ehemalige
 tern, trotzdem noch wohl gefühlt. Der hat         Kino, da sind auch die Künstler dabei. Aber
 nicht den Chef raushängen lassen. Es war,         dafür gibt er Geld aus. Nur für das Soziale,
 wie es eigentlich sein sollte, will ich mal sa-   für die Leute nicht. Mit den Künstlern, da
 gen – eher gut. Aber heute! Das sind heute        kann er gut harmonieren. Da schleichen be-
 andere Zeiten. Ein Chef, dem die ganze Fir-       stimmt 30, 20 Stück herum, die hier im Be-
 ma gehört und der Millionär ist, der lässt        trieb leben. Die leben hier. Die wohnen hier
 sich mit uns nicht ein. Das macht der nicht.      in der Halle, oben haben die ausgebaut so
 Auch wenn wir mal zusammen Fußball ge-            irgendwas.“
 spielt haben. Es gab nämlich auch eine Be-
 triebsmannschaft Fußball. Da waren wir mit          Lediglich mit den jährlichen Betriebsfei-
 dem Fußball spielen in D., irgend so ein Tur-     ern wird ein wenig an DDR-Zeiten ange-
 nier, aber da kam er schon mit dem Privatau-      knüpft: „Das gibt’s, ja. Jedes Jahr gibt’s ei-
 to. Wir sind alle mit dem Bus gefahren. Und       gentlich ein Sommerfest. Da gehen wir
 der kam natürlich hinterher mit dem Audi          immer Bowlen hier mit dem ganzen Betrieb
 gefahren und hat dann mitgespielt. Da hab         und da gibt es schön zu Essen und so. Das
 ich dann auch Du zu dem gesagt beim Spiel,        muss man ihm zugestehen – fairer Weise.“
 na wie’s so ist beim Sport. Aber der kennt ei-    Die Distanz des „Millionärs“ zu den einfa-
 nen nicht mehr.“                                  chen Arbeitern ist für Herrn Volkert noch
                                                   irgendwie nachvollziehbar. Aber dessen spe-
   Es ist aber nicht nur das Führungsver-          zifisches Engagement im Kunstbereich kann
halten und die Distanz zu den Beschäftig-          er nur als unerhörte Missachtung gegenüber
ten, die Herr Volkert am jetzigen Eigentü-         dem Werk, dem Produkt und den Arbeitern
mer beobachtet. Besonders kritisch sieht er        deuten. Hatte sich der „alte Chef“, der das
dessen Betriebspolitik: „Seine Politik, die        Unternehmen ursprünglich gekauft hatte,
ist eigentlich, die ganze Produktion auszu-        als klar gewinnorientierter, aber doch pa­
lagern. Nur das Glashaus, nur konstruieren         triar­cha­l i­scher Unternehmer erwiesen, ver-
und die Konstruktion verkaufen. Das alles          weigert sich „der Sohn“ traditionellen Für-
woanders bauen lassen. Und dann wird nur           sorgeerwartungen. Dieser „ganz andere Typ

                                                                                   APuZ 15/2011     11
Unternehmer“ verkörpert für Herrn Volkert         Gilles Reckinger · Diana Reiners
     einen Verfall der Traditionen und der Kultur
     der ­Metallindustriebranche.                      Frau Polz
       Mit Rückblick auf sein Arbeitsleben bereut
     Herr Volkert nicht, dass er nach der Schu-
     le ohne großes Nachdenken den Beruf des
     Stahlbauschlossers ergriffen hat. Für ihn und
                                                       I  ch treffe mich mit der 46-jährigen Frau
                                                          Polz in einem Café in ihrem Wohnort, der
                                                       20 Kilometer von ihrer Arbeitsstätte entfernt
     die damalige Zeit war das die richtige Ent-       am Rande einer öster-
     scheidung: „(…) und ich will mal sagen, ich       reichischen Landes- Gilles Reckinger
     hab’s auch nicht bereut. Ich bin gut durch’s      hauptstadt liegt.❙3 Sie Dr. phil.; freischaffender Kultur-
     Leben gekommen – bis jetzt.“ Müsste er sich       raucht viel, und wirkt anthropologe und Dokumentar-
     jedoch unter den heutigen Bedingungen neu         von den Anstrengun- filmer; Lehrbeauftragter an der
     entscheiden, würde seine Wahl anders aus-         gen der vergangenen Universität St. Gallen, Seminar
     sehen: „Na gut, nach den heutigen Erkennt-        Jahre körperlich aus- für Soziologie, Tigerbergstr. 2,
     nissen würde ich sagen, nein, da lieber was       gezehrt. Sie ist allein- 9000 St. Gallen/Schweiz.
     im Büro machen. Da muss ich mich nicht so         stehend und wohnt in gilles.reckinger@unisg.ch
     schinden.“                                        ihrem Elternhaus. Sie
                                                       hat ihre schwer pfle- Diana Reiners
       In den letzten Berufsjahren erlebt Herr         gebedürftigen Eltern Dr. phil.; Kulturan­thro­pologin
     Volkert mehr denn je den Statusverlust der        zehn Jahre lang bis zu und Kunsthistorikerin; Nach-
     Arbeiter. Noch braucht das Management             deren Tod vor einem wuchsdozentin für Biogra-
     den Stahlbau, weil osteuropäische Zuliefe-        bzw. einem halben Jahr fieforschung am Seminar für
     rer bislang nicht die nötige Qualität erbrach-    rund um die Uhr zu Soziologie der Universität
     ten. Das Damoklesschwert des Outsourcing          Hause gepflegt. Wegen St. Gallen (s. o.).
     schwebt weiter über dem Stahlbau und eben-        der zeitaufwändigen diana.reiners@unisg.ch
     so bleibt die Geringschätzung seitens des Un-     Verpflichtung konnte
     ternehmers: „Eigentlich sind wir das fünfte       sie in den vergangenen fünf Jahren nur Teil-
     Rad am Wagen, der Stahlbau, obwohl wir gut        zeit arbeiten, was mit erheblichen finanziellen
     arbeiten und das immer ordentlich machen.“        Engpässen verbunden war.
     Der Eigentümer verkörpert für den Stahl-
     bauer Volkert die Missachtung traditionellen         Frau Polz hat eine Lehre als Handels-
     Produzentenstolzes und die Abkehr von ei-         kauffrau abgeschlossen. Sie begann 1985 bei
     ner langen Metall- und Techniktradition im        M-Mode, einem traditionsreichen österrei-
     Lingner Werk. Die Investitionen in Glas, Be-      chischen Versandhaus, in der Retourenstel-
     ton und Kunst lassen den vernachlässigten         le zu arbeiten. Seit 23 Jahren arbeitet sie nun
     Stahlbau dabei noch schmutziger, unbedeu-         im gleichen Lager als „normaler Arbeiter“,
     tender ­aussehen.                                 wie sie sagt. 1994 wurde M-Mode durch ein
                                                       deutsches Versandhandelsunternehmen auf-
        Mit Herrn Volkert endet die stolze Fach-       gekauft, das inzwischen zum größten Ver-
     arbeitertradition in der Familie, denn ge-        sandhandelskonzern der Welt expandierte
     ringes Ansehen des Stahlbauerberufs trotz         („Samson“). Die Lagerzentrale, in der Frau
     nach wie vor körperlich schwerer Arbeits-         Polz arbeitete, wurde zur zentralen Retou-
     bedingungen sind keine Basis für die beruf-       renstelle ausgebaut. Die 20 Mitarbeiter/in-
     liche Zukunft der Söhne: „Nein. Da haben          nen, die bei M-Mode in der Retourenab-
     wir abgeraten. Das ist mein Tipp gewesen          teilung beschäftigt waren, wurden auf 250
     oder sagen wir mal, der Tipp meiner Frau.         Beschäftigte aufgestockt. Daneben waren in
     Die hat gesagt, nicht ins Gewerbliche. Die        dem Logistikzentrum auch der Versand für
     werden immer arrogant behandelt, immer.           Österreich und ein privater Paketzusteller
     Im Moment werden sie gesucht hier, aber           untergebracht, der ebenfalls zum Konzern
     behandelt werden sie immer wie die Letz-          gehört. Von den 400 Beschäftigten, die mehr-
     ten. Das ist eben so, der Kapitalismus, der ist   heitlich im Schichtdienst arbeiteten, waren
     so. Da ist der Gewerbliche der Letzte in der      etwa 50 Leiharbeiter/innen.
     Reihe. Da gibt’s nicht mehr viel, was noch
     dahinter kommt. Und so wird das auch ge-          ❙3 Das Gespräch wurde im Juli 2008 von Gilles Re-
     handhabt – alles.“                                ckinger geführt.

12    APuZ 15/2011
Seit zehn Jahren engagiert sich Frau Polz in    Köpfe, weil ich finde immer, es gehört auch
      der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung         ein Herz zum Menschen und nicht nur der
      und ist seit zweieinhalb Jahren Vorsitzende       Kopf! Aber da muss man um jeden Einzelnen
      des Arbeiterbetriebsrates. In dieser Funktion     kämpfen. (…)
      erhielt sie Einblick in die Auswirkungen der
      Veränderungen in der Organisationsstruk-             Es ist viel stressiger geworden, weil wir jetzt
      tur des Betriebes und den stetig wachsenden       mehr machen müssen in der gleichen Zeit. Ich
      Druck, mehr leisten zu müssen. Als beson-         weiß nicht, wie ich das sagen soll: Es ist sicher
      ders einschneidend erlebte Frau Polz die Ver-     einfacher geworden, weil man ja durch den
      änderungen in Folge der Einführung der in-        Computer jetzt leichter einen Fehler selber
      formatischen Erfassung der Waren. Einerseits      entdeckt. (…) Nur: Dadurch, dass man so eine
      vereinfachten sich durch die Computerein-         hohe Stückzahl hat, schaut man nicht mehr so
      gabe die Arbeitsabläufe, zugleich fand aber       genau, und jetzt ist die Fehlerquote natürlich
      eine Intensivierung der Arbeit statt, denn mit    trotzdem da. Auf der einen Seite ist es natür-
      dem Rationalisierungsprozess vervielfachten       lich gut, dass die Stückzahl so hoch ist, und
      sich gleichzeitig die Stückzahlvorgaben, wel-     auf der anderen Seite sollten halt keine Fehler
      che die Mitarbeiter/innen einzuhalten haben,      sein. Weil der nächste Kunde hat auch keine
      und auch die Kontrolle der Arbeitsgeschwin-       Freude, wenn er eine ganz andere Jeans zum
      digkeit nahm zu. Der dadurch entstehende          Beispiel kriegt als was er bestellt. Und da-
      Druck verschärfte sich zusätzlich durch die       durch ist es auch nicht leichter geworden mit
      latente Drohung, bei Nichteinhaltung der          dem Computer. Das Betriebsklima hat sich
      Stückzahlen der nächsten Kündigungswelle          dadurch auch sehr verändert. Das hat damit
      zum Opfer zu fallen.                              zu tun, dass auch einfach eine größere Menge
                                                        an Personal da ist. Wenn man mit 20 zusam-
        Für flexibilisierte Arbeitsverträge, Perso-     menarbeitet, ist das anders, wie wenn man
      nalabbau und die Konzentration der Stand-         mit 250 zusammenarbeitet. Man kennt sich
      orte wurde seitens der Konzernleitung der         nicht mehr wirklich. Früher hat man immer
      stetige Niedergang des Versandhandels ver-        so kleine Feiern gemacht, zu Weihnachten
      antwortlich gemacht. Gerade weil es dem           oder so, das gibt’s nicht mehr, das kann man
      Konzern schlecht gehe, verlangt die Lei-          nicht mehr, bei so vielen … und das kostet ja
      tung von den Beschäftigten mehr Leistung,         auch viel mehr! Das Familiäre verliert sich.
      und setzt das drohende Schicksal der Arbei-       (…) Und viele der Jetzigen kennen das auch
      ter mit dem des Unternehmens gleich. Aber:        gar nicht mehr. Wie gesagt, von vor 20 Jahren,
      Für die 400 Beschäftigten bedeutet die dro-       da sind nicht mehr sehr viele, die noch drin-
      hende Schließung des Versandzentrums den          nen sind. Ich gehöre zum alten Eisen. Es sind
      Entzug der Existenzgrundlage, während der         viele nicht mehr dabei, weil der Druck einfach
      Konzern trotz der Krisenrhetorik Gewinn-          zu groß ist. Der Verdienst nicht so …
      zuwächse ­verzeichnet.
                                                           Gilles Reckinger: Und wie geht’s Ihnen
        Seit unserem Gespräch hat die Lage sich         ­dabei?
      noch einmal drastisch gewendet. Das Ver-
      teilerzentrum in Österreich wurde 2010 ge-           Hmm … wie soll ich sagen. Ich denke mir
      schlossen. Alle Mitarbeiter/innen des Lagers      auch manchmal: wenn ich nicht so viel ver-
      wurden entlassen.                                 lieren würde … Und: was machen, mit 46?
                                                        Weiß nicht, ob ich noch dort wäre. Ich habe
                                                        mich inzwischen schon ein paar Mal umge-
„Also jetzt zählt nur mehr das Stück,                   schaut um was anderes, aber … es ist schwie-
der Mensch nicht mehr“                                  rig. Ich habe im Handel, also im Verkauf ei-
                                                        gentlich nur meine Lehrzeit. Ich hab’ keine
      Frau Polz: Es sind immer wieder starke Kämp-      Praxis. Und das ist ein Problem, jetzt fängt
      fe. Wie ich angefangen habe [war’s] eigentlich    man von null an im Endeffekt. Wer will je-
      sehr sozial. Und das hat sich mittlerweile sehr   manden, der über 20 Jahre weg ist? Unqua-
      geändert. Also jetzt zählt nur mehr … das         lifiziert trotz Lehre! (…) Wenn man ausrech-
      Stück, der Mensch nicht mehr. Also da muss        net, was man vorher in Schilling verdient hat
      man um jeden einzelnen „Kopf“ … sagen die         und jetzt in Euro, ist es natürlich gestiegen,
      Höheren, was mich immer so stört, das sind        jedes Jahr um ein paar Prozent. Aber das ist

                                                                                          APuZ 15/2011       13
nicht genug. Also wir Arbeiter verdienen ca.      kriegen die Leiharbeiter nicht. Wir können
     1000 Euro netto. Mit dem Geld – für Voll-         Minusstunden machen und Überstunden ma-
     zeit – ist nicht wirklich zu leben. (…)           chen, das gibt’s bei den Leiharbeitern nicht.
                                                       Also zumindest bei der Firma nicht. Also die
        Vom Betriebsrat aus machen wir nach wie        Stunden, die die machen, die kriegen sie be-
     vor Betriebsausflüge. Und ­Weihnachtsfeiern       zahlt. Machen sie mehr, dann kriegen sie in
     werden auch – bis auf letztes Jahr – immer        dem Monat mehr, machen sie weniger, krie-
     wieder gemacht, von der Firma aus. Aber das       gen sie in dem Monat weniger. Ist keine Ar-
     ist ziemlich alles. Oder wenn so Jubiläums-       beit, werden die als Erstes nach Hause ge-
     feiern sind, so wie vor zwei Jahren, da war       schickt. Und dann: keinen Urlaub.
     50 Jahre Samson. Aber … es kommt drauf
     an, wie die Stimmung ist: Voriges Jahr zu           Und der Betriebsrat greift dann auch nicht
     Weihnachten sind, glaube ich, 100 von den         für die Leiharbeiter …
     Leuten, die zugesagt haben, gar nicht ge-
     kommen. Da war gerade so eine Arbeitszeit-          Also ich versuche schon auch denen zu hel-
     umstellung und sehr große Unzufriedenheit.        fen, und sie kommen auch zu mir. Ich habe
     Kündigungen … und dann ist die Unzufrie-          nur die Schwierigkeit, dass ich keine An-
     denheit groß, und dann hat keiner mehr ein        sprechperson hab’ für sie! Das ist das Pro-
     Bedürfnis zum Feiern. Und schon gar nicht         blem. Nur, wenn’s um Gesetze geht und so …
     mit der Geschäftsführung. Und es ist in Fra-      die Information, die versuche ich ihnen wei-
     ge gestanden, ob man überhaupt in Öster-          terzugeben. Die Entsolidarisierung, die spürt
     reich weitermacht oder nicht. Also ob’s kom-      man bei uns sehr. Und die Stimmung wird na-
     plett geschlossen wird oder … Im Moment ist       türlich noch verschlechtert. Noch mehr. (…)
     das vom Tisch. Im Moment! Bis zur nächsten
     Vorstandssitzung. Werden wir sehen.                 Weil Sie gesagt haben, die können das so
                                                       einrichten, dass jemand freiwillig geht: Gibt
       Die halten Sie die ganze Zeit so in der         es Leute, die kündigen und sagen: „Ich halte
     Schwebe …                                         das hier nicht mehr aus“?

       Ja, immer wieder das Gleiche! Und deswe-           „… halte den Druck nicht mehr aus.“ Ja,
     gen ist der Druck eben so groß. Und das zieht     sehr viele. Viele! Immer wieder. Also das
     auch vieles mit sich. Weil man weiß: Wenn         hat’s früher nicht so gegeben. Das nimmt zu.
     wir gewisse Sachen nicht erreichen, dass wir      Der Stress und der Druck … Ich glaube, das
     dann weg sind. Dann gibt’s nicht einen Ar-        ist auch, weil’s eben so unfamiliär geworden
     beitskollegen der unzufrieden ist, sondern        ist. Es wird nicht mehr gelobt. Es wird nicht
     400, die wir sind. Das ist Erpressung, aber       mehr geschätzt, was man an Leistung bringt.
     Tatsache!                                         Es wird nicht mehr gesagt. Und das fehlt. Es
                                                       wird immer nur Druck weitergegeben, aber
        Wie funktioniert das bei Ihnen dann mit        nie, dass was Positives kommt. Also das Bes-
     den Kündigungen? Frühpensionierung oder           te, was wir machen können, ist, dass wir das
     stellen die einfach nicht mehr ein, kündigen      Soll erreichen, und wenn nicht, dann werden’s
     sie auch oder …                                   halt geschimpft. Die Psyche leidet darunter.
                                                       Und dann … geht man halt. Was machst du?
       Alles! Durch die Bank. Ist alles passiert.      Und das wird immer mehr, dass eben aus psy-
     Alle die eben so vertrags-gearbeitet haben, die   chischen Problemen Krankheiten entstehen
     haben alle müssen aufhören. Die haben den         und dann die Leute eben gehen, weil sie sa-
     Vorschlag bekommen von einer Leihfirma,           gen, das können sie nicht mehr. Burn-out sagt
     über die Leihfirma bei uns zu arbeiten. Damit     man in den höheren Kreisen, aber das gibt’s
     ersparen sie sich, wenn es schlechter geht, die   auch bei den Arbeitern! Dass sie sich der Situ-
     Kündigungen. Also die arbeiten im Endeffekt       ation nicht mehr gewachsen fühlen.
     gleich weiter, nur: Sie sind nicht über Samson
     angestellt. Und natürlich: Die sind nicht so       Wie geht es Ihnen dann, wenn Sie von der
     zufrieden. Weil die sagen sich auch: Im Grun-     Arbeit kommen, wie fühlen Sie sich da?
     de genommen machen sie das Gleiche, aber sie
     haben gewisse Vorteile nicht. Zum Beispiel         Fertig! (…) Ich lasse es auf mich zukommen.
     zu Weihnachten kriegen wir Gutscheine. Das        Ohne Hoffnungen. Ohne Ängste. Das habe

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