AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung

Die Seite wird erstellt Fritz Mertens
 
WEITER LESEN
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung
71. Jahrgang, 12/2021, 22. März 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
       Wasser
          Alok Jha                              Christiane Fröhlich
    AM ANFANG WAR                       WASSER UND SICHERHEIT.
      DAS WASSER                         ZWISCHEN KONFLIKT
                                          UND KOOPERATION
     Dietrich Borchardt
 TRINKWASSERSICHERUNG                     Britta Weisser · Jörn Birkmann
     IN DEUTSCHLAND                       RISIKO STARKREGEN.
    Anne-Barbara Walter
                                       STADTPLANUNG IM ZEICHEN
  DAS RECHT AM WASSER                     DES KLIMAWANDELS

     Tobias von Lossow ·                         Felix Schürmann
     Annabelle Houdret                           KONGO:
 WASSER AUF DIE MÜHLEN                        KONTUREN EINER
 DER ENTWICKLUNGSZIELE                        FLUSSBIOGRAFIE

                 ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                      FÜR POLITISCHE BILDUNG
             Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung
Wasser
                                       APuZ 12/2021
ALOK JHA                                           CHRISTIANE FRÖHLICH
AM ANFANG WAR DAS WASSER                           WASSER UND SICHERHEIT.
Wasser ist eine höchst seltsame Substanz. Zu       ZWISCHEN KONFLIKT UND KOOPERATION
behaupten, es sei ein integraler Bestandteil des   Wasser ist eine Ressource, durch die Macht­
Lebens, wäre allerdings noch eine Untertrei­       ungleichgewichte innerhalb und zwischen
bung. Jede biochemische Reaktion, die benötigt     gesellschaftlichen Gruppen unmittelbar sichtbar
wird, um etwas am Leben, in Bewegung, am           und Konflikte potenziell verstärkt werden.
Wachsen zu halten, hängt von ihm ab.               Zwischenstaatliche „Wasserkriege“ gelten
Seite 04–09                                        inzwischen indes als unwahrscheinlich.
                                                   Seite 33–37
DIETRICH BORCHARDT
TRINKWASSERSICHERUNG IN DEUTSCHLAND                BRITTA WEISSER · JÖRN BIRKMANN
Deutschland gilt als wasserreiches Land,           RISIKO STARKREGEN.
dennoch steht die Trinkwasserversorgung vor        STADTPLANUNG IM ZEICHEN
Herausforderungen. Ihr Rückgrat bilden die         DES KLIMAWANDELS
Grundwasservorkommen und die öffentliche           Mit dem Klimawandel nehmen Extremereignisse
Wasserversorgung. Aber wie groß sind die           wie Starkregen zu. Diese müssen jedoch nicht
Reserven, und wie werden sie gesichert?            zwangsläufig zu Katastrophen führen. Das
Seite 10–17                                        Ausmaß der Schäden in Städten und Kommunen
                                                   kann durch vorausschauende Raum- und
                                                   Flächenplanung maßgeblich beeinflusst werden.
ANNE-BARBARA WALTER                                Seite 38–44
DAS RECHT AM WASSER
In Deutschland ist Wasser generell ein Gemein­
gut, dessen Gebrauch allen offensteht. Doch        FELIX SCHÜRMANN
wie ist dieses Recht am Wasser im Einzelnen        KONGO:
geregelt? Wessen Ansprüche konkurrieren?           KONTUREN EINER FLUSSBIOGRAFIE
Und unter welchen Voraussetzungen ist eine         Während der Nil meist als sagenumwobene
kommerzielle Nutzung möglich?                      „Lebensader“ beschrieben wird, muss der
Seite 18–24                                        Kongo allzu oft für Krisenerzählungen von
                                                   Kriegen, Krankheiten und Korruption herhalten.
                                                   Doch seine Geschichte und die der an ihm
TOBIAS VON LOSSOW ·                                lebenden Menschen ist wesentlich vielfältiger.
ANNABELLE HOUDRET                                  Seite 45–52
WASSER AUF DIE MÜHLEN
DER ENTWICKLUNGSZIELE
Die Verfügbarkeit von Wasser und Sanitärver­
sorgung ist ein zentrales Entwicklungsziel der
Vereinten Nationen, von dem zahlreiche weitere
Ziele abhängen. Dennoch gibt es bis heute kein
globales Süßwasserregime, um die notwendigen
Maßnahmen zu koordinieren.
Seite 25–32
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung
EDITORIAL
Am 22. März ist Weltwassertag. Offenbar braucht es eine regelmäßige und
öffentlichkeitswirksame Erinnerung daran, dass Wasser die Lebensgrundlage
schlechthin ist und wir deshalb sorgsam mit dieser Ressource umgehen soll­
ten. Mit dem Welttag soll insbesondere auf das sechste der 17 UN-Ziele für
nachhaltige Entwicklung hingewiesen werden, bis 2030 die „Verfügbarkeit und
nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle“ zu
gewährleisten. Davon ist die Weltgemeinschaft indes noch weit entfernt: Trotz
einiger Fortschritte in den vergangenen Jahren haben weit über zwei Milliarden
Menschen keinen Zugang zu sicherem Trinkwasser, fast doppelt so viele keinen
zu sicheren Sanitäranlagen.
   Als hydroklimatisch wasserreiches Land mit einer umfangreichen Versor­
gungsinfrastruktur scheint Deutschland von derlei Problemen weit entfernt zu
sein. Doch auch hierzulande mehren sich im Zuge des Klimawandels trockene
Sommer und niederschlagsarme Winter, sodass es mancherorts zeitweilig bereits
zu Knappheiten kommt. Daneben ist es vor allem die Wasserqualität, die Sorgen
bereitet: Hohe Nitratwerte im Grundwasser, die mit der intensiven landwirt­
schaftlichen Düngung der Böden zusammenhängen, und der Eintrag weiterer
chemischer Stoffe, etwa aus Arzneimitteln, stellen die Trinkwasserversorgung
zunehmend vor Herausforderungen.
   Von Wasser kann es nicht nur zu wenig geben, sondern ebenso zu viel – ein
weiteres Problem, das durch den Klimawandel verschärft wird. Plötzlich ein­
setzende Starkregenereignisse zum Beispiel, die auch in Deutschland häufiger
werden, sind örtlich kaum vorherzusagen und haben großes Potenzial, vor
allem in Städten erhebliche Schäden anzurichten. Auf beide Extreme – Dürren
wie Fluten – gilt es, sich besser vorzubereiten. Für den Menschen bleibt Wasser
somit ein widersprüchliches Element: So, wie sich Wasser- und Sauerstoff in ihm
verbinden, vereint es auch Schöpfung und Zerstörung.

                                                 Johannes Piepenbrink

                                                                             03
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung
APuZ 12/2021

                                                ESSAY

               AM ANFANG WAR DAS WASSER
                                              Alok Jha

Wir nehmen es kaum wahr, denn es hat we­             nen bestehen, relativ weit voneinander entfernt
der Farbe noch Geschmack oder Geruch. Wir            bleiben, weil die elektrostatische Abstoßung zwi­
schwimmen darin, kochen damit, trinken es,           schen ihren beiden Ladungen sie getrennt hält.
waschen damit und binden es in unsere Rituale        Im Zentrum eines Sterns jedoch herrscht ein im­
ein. Was wir sehen, wenn wir Wasser betrachten,      menser Druck. Gegen die ungeheuren Gravitati­
hängt vom zeitlichen Rahmen ab: Im momenta­          onskräfte, die ausgeübt werden, wenn sich so viel
nen persönlichen Kontakt erweist es sich als un­     Masse an einem – universell betrachtet – kleinen
endlich nachgiebig, doch über die Jahrhunderte       Ort ansammelt, kommt die elektrostatische Ab­
gräbt es seine Spuren unauslöschlich in die Land­    stoßung nicht an. Die Wasserstoffatome kom­
schaft ein. Wasser nährt und beruhigt uns. Aber      men sich näher, als ihnen lieb ist, so nahe, dass
genau dieser Stoff hat im Laufe der Jahrtausende     die beiden Protonen im Zentrum in Kontakt
auch den Grand Canyon aus Felsgestein heraus­        kommen und zu einem Kern des zweitschwers­
gearbeitet und donnert tagtäglich mit unvorstell­    ten Elements verschmelzen: Helium. Bei diesem
barer Wucht die Niagara- und Victoria-Fälle hin­     Fusionsprozess wird eine kleine Menge Energie
ab. Beim Tsunami in Indonesien 2004 war Wasser       freigesetzt; skaliert auf 1037 pro Sekunde für ei­
das Medium, das die Spannungen in der Erdkrus­       nen Stern von der Größe unserer Sonne, ist es das,
te übertrug, deren latente Energie sich im Verlauf   was Sterne leuchten lässt.
von Tausenden von Jahren aufgestaut hatte und            Ist der gesamte Wasserstoff im Kern eines
nun Hunderttausende Menschen das Leben kos­          Sterns zu Helium fusioniert – ein Prozess, der
tete und Millionen weiteren Verwüstung brach­        mehrere Milliarden Jahre in Anspruch nehmen
te. „Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres    kann –, endet die Fusion. Der Stern vermag dann
und Schwächeres als das Wasser“, schrieb schon       dem immensen Gravitationsdruck nicht mehr zu
Laozi im „Tao te king“, „und doch in der Art,        widerstehen und implodiert. Während das Zen­
wie es dem Harten zusetzt, kommt nichts ihm          trum des Sterns zu kollabieren beginnt, erhitzt
gleich.“01                                           sich seine Gashülle so stark, dass der dortige Was­
                                                     serstoff anfängt, zu fusionieren. Die äußere Hül­
         BEGINN DES UNIVERSUMS –                     le des Sterns dehnt sich auf ein Vielfaches ihres
            EINES AUS WASSER                         ursprünglichen Durchmessers aus, kühlt ab und
                                                     glüht rot – in dieser Phase spricht man von „Ro­
Wasserstoff ist das am häufigsten vorkommende        ten Riesen“. Gleichzeitig schrumpft der Stern in
Element im Universum. Er entstand nur wenige         seinem Kern so stark, dass das zuvor entstande­
Minuten nach dem Urknall, und als das Univer­        ne Helium zu Sauerstoff und Kohlenstoff fusi­
sum abkühlte und sich ausdehnte, ballte er sich zu   oniert. Nun erhitzen sich die äußeren Schichten
riesigen Wolken zusammen. Diese Wasserstoff­         des Sterns erneut und leuchten blau und weiß.
wolken kollabierten unter ihrer eigenen Gravita­         Schließlich geht dem Stern der Brennstoff aus,
tionskraft, und unter dem unaufhaltsamen Druck       er kann keine Elemente mehr fusionieren, und sein
der Fusionskraft entzündeten sich Milliarden von     Kern kollabiert endgültig. Seine äußeren Schich­
ihnen zu Sternen. Unter normalen Umständen           ten werden in einer Explosion weggesprengt, die
gehen zwei nah beieinander liegende Wasserstoff­     für einen kurzen Moment heller ist als der Rest
atome lediglich eine chemische Verbindung mit­       der Galaxie. Danach bildet sich um die im Zen­
einander ein. Das heißt, sie kommen zusammen         trum übrig gebliebene Kugel aus dichter Materie
und teilen ihre umlaufenden Elektronen, wäh­         eine Art Ring oder Sphäre, worin die Rohstoffe
rend die Kerne selbst, die aus einzelnen Proto­      für die Bildung zukünftiger Planeten enthalten

04
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung
Wasser APuZ

sind, zum Beispiel Kohlenstoff, Sauerstoff, Neon,                         Damals stammte das meiste, wenn nicht alles
Schwefel, Natrium, Argon und Chlor. Die Über­                         Wasser auf der Erdoberfläche aus dem Eis, das bei
reste massearmer Sterne, sogenannte planetari­                        der Entstehung der Erde eine enge Verbindung
sche Nebel, zählen zu den schönsten Objekten,                         mit dem Gestein eingegangen war. Doch der jun­
die wir im Weltraum bislang gesehen haben. Der                        ge Planet hatte Mühe, die Wassermoleküle zu
heiße Kern des Sterns bringt die ihn umgeben­                         halten. Ohne eine voll ausgebildete Atmosphäre
den Gaswolken zum Leuchten und erzeugt dabei                          wären sie der Erde entwichen und in den Welt­
fluoreszierende Farben. Diese Elemente treiben                        raum hinein verdampft. Nachdem sich die Mas­
durch das All, bis sich eine neue Generation von                      se des Planeten weitgehend gebildet hatte, stabili­
Sternen bildet. Erneut kommen unter Gravitation                       sierte sich die Atmosphäre. Durch die gewaltigen
Wasserstoffwolken zusammen und beginnen den                           geologischen Prozesse, die der Erde ihre innere
Fusionsprozess, dieses Mal jedoch mit einem be­                       Struktur verliehen, wurde dabei ständig Wasser
deutenden Unterschied: Der Protostern, der sei­                       an die Oberfläche gedrückt. Schwere Elemen­
ne ersten Schritte auf dem stellaren Evolutions­                      te wie Eisen flossen größtenteils ins Zentrum,
pfad macht, ist umgeben von der Asche seines                          und es bildeten sich allmählich die verschiedenen
Vorgängers – von ebenjener Staubwolke also, die                       Schichten von Erdkruste, Erdmantel und Erd­
mit einem breiten Spektrum schwerer Elemente                          kern, mit denen wir es heute zu tun haben. Der
gefüllt ist. Während unser Protostern heißer wird                     Mantel kühlte ab, und Vulkane und andere Ris­
und Strahlung ausstößt, erhitzt die Energie Was­                      se in der Kruste ließen überhitzten Wasserdampf
serstoff- und Sauerstoffatome, die in diesen rie­                     und andere flüchtige Verbindungen aus dem Ge­
sigen Elementarwolken zufällig herumtreiben.                          stein in die Atmosphäre entweichen.
Diese beiden Elemente prallen nun aufeinander                             Trotz der hohen Temperaturen von mehr als
und verbinden sich augenblicklich. Und so ent­                        200 Grad Celsius an der Erdoberfläche geht man
steht das seltsamste Molekül im ganzen Univer­                        davon aus, dass es in diesen ersten 100 Millio­
sum – H2O.                                                            nen Jahren der Erdgeschichte dank des immensen
                                                                      Drucks der Atmosphäre, die reich an Stickstoff,
                      AUF DER ERDE                                    Wasserdampf und Kohlendioxid war, Becken mit
                                                                      flüssigem Wasser gab. Als der atmosphärische
Vor der Entstehung des Sonnensystems trieb                            Druck infolge des sinkenden Kohlendioxidge­
das Wasser, das sich heute auf unserem Plane­                         halts abnahm, fiel auch die Temperatur, und die
ten und in unseren Körpern befindet, in der Lee­                      Erde war kühl genug, um flüssiges Wasser halten
re des Weltraums. Es dauerte etwa 20 Millionen                        zu können. Zu diesem Zeitpunkt, vor ungefähr
Jahre, bis die Protoerde aus den Staub- und Eis­                      vier Milliarden Jahren, begann der Wasserdampf
wolken, die um die junge Sonne kreisten, zusam­                       in der Luft zu kondensieren, und es regnete. Und
menwuchs. Diese frühe Erde war vor viereinhalb                        regnete. Die Sintflut, von der in unzähligen my­
Milliarden Jahren ein unbändig heißer Ort. Ihre                       thischen Schöpfungsgeschichten die Rede ist,
Oberfläche war mit Vulkanen überzogen, ein er­                        korreliert nicht zuletzt mit dem, was in den frü­
heblicher Teil des Erdbodens war mit geschmol­                        hesten, stürmischsten Jahren der Erde passierte.
zenem Magma bedeckt, und auf der Oberfläche                           Bei etwas, das unter solch höllischen Bedingun­
schlugen immer wieder riesige Gesteinsbrocken                         gen und vor so langer Zeit vonstattenging, ist es
ein. Einer von ihnen hatte die Größe eines kleinen                    natürlich schwierig, jedes Detail dieser Geschich­
Planeten und riss einen Teil der Erdkruste und                        te zu belegen. Viele der Spuren, die damals ins
des Erdmantels heraus, der die Erde seitdem als                       Gestein geschliffen wurden, haben die Umwäl­
Mond umkreist. Im Erdinneren erzeugte der Zer­                        zungen in Erdkruste und Erdmantel im Verlauf
fall radioaktiver Elemente enorme Hitze. Nicht                        der Äonen wieder ausradiert.
ohne Grund bezeichnet man dieses erste Zeitalter                          Wissenschaftler:innen nahmen lange Zeit an,
der Erdgeschichte als Hadaikum, benannt nach                          dass als nächstes ein Ereignis von unvorstellba­
dem Hades, der höllenartigen Unterwelt der al­                        rer Heftigkeit folgte: Während oder kurz nach
ten Griechen.                                                         der Sintflut prasselten demnach Kometen und
                                                                      Asteroiden auf die inneren Planeten unseres Son­
01 Zit. nach Terje Tvedt, Wasser. Eine Reise in die Zukunft, Berlin   nensystems ein – ausgelöst durch Neptun, der in
2013, S. 69.                                                          die Bahn eines Rings von Kometen im äußeren

                                                                                                                      05
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung
APuZ 12/2021

Sonnensystem geriet und riesige Eis- und Staub­       kung – die Eigenschaft von Flüssigkeiten, sich in
brocken in alle Richtungen versprengte. Auf der       schmalen Kanälen ohne Einwirkung (und häu­
Erde schmolz die Nutzlast dieser riesigen Objek­      fig sogar entgegen) einer äußeren Kraft wie der
te, das Eis, zu Wasser. Die Hypothese vom „Gro­       Schwerkraft bewegen zu können – durch leere
ßen Bombardement“ (Late Heavy Bombard-                Poren und Gefäße nach oben gezogen werden.
ment) ist inzwischen allerdings umstritten. Wir       Dieser Effekt sorgt dafür, dass Wasser von Sei­
wissen jedoch, dass sich – zum Glück für die spä­     denpapier oder einem Schwamm so leicht auf­
tere Geschichte des Lebens – die Ozeane schließ­      genommen werden kann; zudem ermöglicht er
lich mit Wasser füllten.                              es Pflanzen, Wasser tief unter der Erdoberfläche
                                                      aufzusaugen, um ihre im Sonnenschein wachsen­
               EIN SELTSAMER STOFF                    den Blätter und Zweige zu nähren.
                                                          Je genauer wir hinschauen, desto seltsamer
Wasser ist ein seltsames Molekül, doch Menschen       wird es. Wäre Wasser wie andere Substanzen,
scheinen gänzlich blind dafür zu sein. Betrach­       sollte man erwarten, dass sich seine Moleküle
ten wir einmal das Verhalten von Eis: Eiswür­         als Flüssigkeit bei Raumtemperatur passiv ver­
fel schwimmen in den Getränken, mit denen wir         halten, gelegentlich aneinanderstoßen und sich
uns an Sommertagen erfrischen. Es ist so offen­       unter Wasserstoffbindung aneinanderheften.
kundig, dass es banal ist. Im Winter schlittern wir   Tatsächlich aber tauschen sie ihre elektrisch ge­
gern über zugefrorene Seen, und auf der Oberflä­      ladenen Wasserstoffionen (Protonen) fast fort­
che dunkler Ozeane treiben schneeweiße Eisber­        während aus. Die durchschnittliche Zeit, in der
ge. Doch im Kontext der Art und Weise, wie sich       ein H2O-Molekül zusammenbleibt, beträgt weni­
Moleküle normalerweise verhalten, ist all dies zu­    ger als eine Millisekunde, und auf noch kürzeren
tiefst merkwürdig.                                    Zeitskalen (10-18 Sekunden beziehungsweise At­
    Die meisten Substanzen schrumpfen beim            tosekunden) bewirken Quanteneffekte zwischen
Abkühlen. Nicht jedoch Wasser, das sich stattdes­     Wassermolekülen, dass ein Teil der Wasserstoff­
sen ausdehnt. Dies bedeutet, dass Eis am Gefrier­     ionen einfach zu verschwinden scheint. Daher ist
punkt eine geringere Dichte aufweist als flüssiges    die Formel H2O eigentlich irreführend – sucht
Wasser. Ein Festkörper sollte nicht auf seiner ei­    man auf Quantenebene nach diesen „H“, sind sie
genen Flüssigkeit schwimmen – aber täte Wasser        häufig schlichtweg nicht da, und die chemische
dies nicht, gäbe es kein Leben auf der Erde. Diese    Formel sollte korrekterweise H1,5O lauten.
Eigenschaft war für fragile, ums Überleben kämp­          Einige der merkwürdigeren Eigenschaften
fende Organismen lebensnotwendig. Sie erlaubte        von Wasser rühren von einer extrem flüchtigen
es unseren frühen „Urahnen“, sogar während der        Anziehungskraft her, einer Form der Verbindung
Eiszeiten auf dem Grund von Seen und Ozeanen          zwischen Molekülen, die nicht einmal als echte
am Leben zu bleiben – wenn auch fröstelnd. Das        chemische Bindung gilt. Innerhalb des Wasser­
Verhalten von Eis mag wie ein kleines, unbedeu­       stoffmoleküls selbst ist das Sauerstoffatom mit­
tendes Kuriosum erscheinen. Doch diese Anoma­         tels einer standardmäßigen kovalenten Bindung
lität des Wassers – nur eine von zahlreichen selt­    – also einer Bindung, bei der sich die Atome Elek­
samen und einzigartigen Verhaltensweisen, Teile       tronenpaare teilen – mit zwei Wasserstoffatomen
einer allgemeinen Verweigerung dieser Substanz,       verbunden. Kovalente Bindungen sind gut da­
sich an die Regeln zu halten, denen Flüssigkeiten     für geeignet, die Atome innerhalb eines Moleküls
normalerweise unterliegen – hat unseren Plane­        zusammenzuhalten, eignen sich jedoch weniger
ten und das Leben, das auf ihm existiert, geformt.    gut dafür, verschiedene Moleküle zusammenzu­
    Wassermoleküle heften sich gerne an etwas,        halten. Gase wie Kohlendioxid, Methan, Ätha­
vor allem aneinander. Dies verleiht dem Wasser        nol und Jodwasserstoff sind allesamt kovalent
seine starke Oberflächenspannung. Viele Insek­        gebunden, und während die Atome in den Mo­
ten nutzen diese, um über die Oberfläche von          lekülen fest aneinanderhaften, tun dies die Mole­
Teichen zu laufen – ihre verschwindend gerin­         küle selbst nicht, sodass die chemischen Grund­
ge Körpermasse ist schlichtweg nicht groß ge­         produkte niedrige Siede- und Schmelzpunkte
nug, um die Wasseroberfläche zu durchbrechen.         aufweisen. Wäre Wasser für seinen strukturellen
Der Drang der Wassermoleküle, sich aneinander         Zusammenhalt ausschließlich auf standardmäßi­
zu heften, bedeutet, dass sie mittels Kapillarwir­    ge kovalente Bindungen angewiesen, wäre Leben

06
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung
Wasser APuZ

auf der Erde nicht möglich. Wasser würde das             boden, auf dem sich Leben entwickeln kann, ist
Gleiche tun wie andere Chemikalien ähnlicher             Wasser. Beim Aufbau der Existenz ist es Kran,
Größe: Bei den Temperaturen, die auf der Erd­            Baugerüst und Mörtel zugleich. Jeder dynamische
oberfläche normalerweise herrschen, würde es zu          Prozess in unseren Zellen, jede biochemische Re­
einem Gas verkochen.                                     aktion, die benötigt wird, um etwas am Leben, in
    Zum Glück für uns sind kovalente Bindun­             Bewegung, am Wachsen zu halten, hängt von Was­
gen aber nicht das Ende der Fahnenstange. Was­           ser ab. Zu behaupten, Wasser sei ein integraler Be­
sermoleküle vollführen einen Trick, bei dem eine         standteil des Lebens, wäre noch eine Untertrei­
schwächere Kraft namens Wasserstoffbrücken­              bung. Wir können uns unsere Zellen – und die von
bindung zwischen ihnen ins Spiel kommt. Und              jedem Lebewesen auf der Erde – als Wasserblasen
auf diese Weise gelangt einfaches H2O auf eine           vorstellen, die winzige Mengen von Kohlenstoff,
neue Stufe des Seltsamen. Wasserstoffbrücken­            Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor und
bindungen beruhen darauf, dass das Wassermo­             Schwefel enthalten, suspendiert oder aufgelöst.
lekül nicht schnurgerade ist. Wenn man sich das          Das Leben, seine Prozesse und Strukturen ent­
Sauerstoffatom im Zentrum des Moleküls vor­              stehen in Lösungen aus Wasser. Jedes Lebewesen
stellt, dann sitzen die beiden Wasserstoffatome          ist also einfach eine Wasservariation, eine Abwei­
am Ende von Armen, die sich in einem Winkel              chung um einige Prozent von Reinheit. Die Stoff­
von 104,45 Grad ausbreiten. Diese Anordnung              wechselvorgänge in Zellen – beispielsweise für den
hält die Atome weit genug auseinander, um Was­           Aufbau von Proteinen oder die Erzeugung brauch­
ser in ein polares Molekül zu verwandeln. Mit            baren Brennstoffs, um den Körper am Laufen zu
anderen Worten: Die Wasserstoffatomseite des             halten – erfordern entweder die Zugabe oder die
Moleküls ist teilweise positiv, während die Sau­         Entfernung von Wassermolekülen. Wasser ist die
erstoffatomseite leicht negativ ist. Diese La­           Sprache, in der Biologie geschrieben wird.
dungsunterschiede können zwischen Molekülen                  Pflanzen nutzen die Sonnenenergie, um Was­
reichen, um temporäre (wenn auch schwache)               ser in der wichtigsten chemischen Reaktion auf
Bindungen ­einzugehen.                                   der Erde zu spalten – der Photosynthese. Nach
    Stellen wir uns ein Experiment vor: Sie tragen       der Spaltung werden Wasserstoffatome mit Koh­
einen dünnen Wasserfilm zwischen zwei Oberflä­           lendioxid verbunden, um Glukose zu erzeugen,
chen auf – die eine hydrophil, die andere hydro­         wobei Sauerstoff an die Luft abgegeben wird.
phob – und beobachten, was geschieht. Eine hy­           Diese Reaktion liefert letzten Endes Nahrung
drophile Substanz ist etwas, das gerne nass wird         für sämtliche Lebewesen. Die Zellen wandeln die
oder sich in Wasser auflöst, beispielsweise Zucker       Glukose wieder in Wasser und Kohlendioxid um
oder Salz. Eine hydrophobe Substanz hingegen             und setzen dabei die Energie frei, die sie für ihre
bleibt gerne trocken und zwingt Wassermolekü­            Zellfunktionen benötigen. Wenn wir uns das Le­
le dazu, den Kontakt zu minimieren und Tropfen           ben auf der Erde als eine riesige Reihe von Hän­
zu bilden, die leicht abperlen können (denken Sie        deln und Transaktionen vorstellen, dann ist Was­
an eine gewachste Jacke). Man sollte nun meinen,         ser die Währung, in der diese Tauschgeschäfte
dass sich die Moleküle letztendlich auf einer Sei­       abgewickelt werden.
te stapeln. Aber nein – stattdessen schwingen sie            Entwicklung und Fortbestehen des Lebens
unentschlossen zwischen den beiden Oberflächen           beruhen auf der Seltsamkeit des Wassers. Es gibt
hin und her, wie frustriert darüber, nicht zu wis­       Tausende von Proteinarten im Körper, jede mit
sen, was sie tun sollen. Dieses Schwingen ist ein        einer spezifischen Aufgabe. Proteine überneh­
weiteres eigentümliches Verhalten von Wasser –           men alles Mögliche, von der Übermittlung von
das allerdings einige der wichtigsten Prozesse er­       Nachrichten von einem Körperteil zum anderen
klären könnte, die sich in unseren Zellen a­ bspielen.   über die Entscheidung, welche Moleküle in die
                                                         Zellen hineingelassen oder aus ihnen herausge­
                WASSER = LEBEN                           lassen werden, bis hin zur Hilfe beim Kopieren
                                                         von DNA oder der Bildung eines Gedächtnisses
Der Mensch versteht sich als kohlenstoffbasier­          im Gehirn. Jedes Protein beginnt seine Existenz
te Lebensform. Tatsächlich liefert Kohlenstoff die       als lange, gerade Kette von Aminosäuren, erbaut
Bausteine des Lebens – komplexe Moleküle wie             von einer zellulären Maschinerie, welche die auf
die DNA, Proteine und Lipide. Doch der Nähr­             der DNA kodierte Information liest. Doch ein

                                                                                                         07
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung
APuZ 12/2021

Flussbett auf dem Mars (Nirgal Vallis), aufgenommen von der NASA-Sonde „Mariner 9“, 1971.
Quelle: NASA/JPL-Caltech.

gerades Protein ist nutzlos, selbst wenn es all die                    IST DA DRAU ẞ EN JEMAND?
Atome aufweist, die es benötigt, und sich alle an
den richtigen Stellen befinden. Damit ein Protein            Die Entdeckung von Eisvorkommen außerhalb
funktionieren kann, muss man es dazu bringen,                der Erde erfolgte schrittweise in der zweiten
sich zu einer funktionalen 3-D-Form zu falten.               Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die NASA-Raum­
Wasser ist für diesen Vorgang von entscheidender             sonde „Mariner 9“ lieferte 1971 erstmals eindeu­
Bedeutung, da seine Anwesenheit verschiedene                 tige Hinweise auf einen wasserreichen Mars, als
Teile des Proteinmoleküls dazu zwingt, sich auf              sie Bilder von Rinnen auf der Oberfläche des Pla­
bestimmte Art und Weise zu biegen und zu bewe­               neten zur Erde sendete, die aussahen wie ausge­
gen – in Lösung werden die hydrophoben Teile                 trocknete Flussbetten und nur entstanden sein
des Proteinmoleküls beispielsweise gezwungen,                können, wenn irgendwann einmal in ihrer Ge­
sich aneinanderzuheften wie Ölperlen in einer                schichte regelmäßig Wasser über sie floss. Auf­
Schüssel Wasser.                                             grund der niedrigen Temperaturen und des ge­
    Die Liste der uns bekannten Möglichkeiten,               ringen atmosphärischen Drucks ist das flüssige
wie Körperzellen Wasser nutzen, wird immer                   Wasser dort zwar längst verschwunden. Nach
länger. Manche Proteine verwenden Ketten von                 wie vor aber befinden sich riesige Gletscher am
Wassermolekülen als eine Art elektrischer Leiter.            Boden von Kratern auf dem roten Planeten, und
Andere nutzen Wassermoleküle zur Feinabstim­                 auch seine Polkappen sind mit Eis bedeckt.
mung bestimmter chemischer Reaktionen. Ohne                      Es gibt Hinweise auf Wasser in Form von Hy­
Wasser kann kein Organismus auf der Erde über­               droxyl (einer Untereinheit des Wassermoleküls,
leben. Da Wasser Conditio sine qua non des Le­               die aus einem Paar chemisch gebundener Sauer­
bens ist, scheint es nur folgerichtig, dass diejeni­         stoff- und Wasserstoffatome mit insgesamt nega­
gen, die nach außerirdischem Leben suchen, mit               tiver Ladung besteht und normalerweise an ande­
der Suche nach Wasser beginnen. Die gute Nach­               re Elemente gebunden ist) im Boden des Mondes
richt lautet, dass in unserem Sonnensystem reich­            sowie auf große Mengen von Eis an seinen Po­
lich Wasser vorhanden ist.                                   len. Einige Monde von Jupiter und Saturn, zum

08
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung
Wasser APuZ

Beispiel Europa und Enceladus, sind riesige, von       gung steht, Leben direkt aufzuspüren – etwa ir­
dicken Eisschichten bedeckte Wasserkugeln. Der         gendein narrensicherer biologischer Scanner, den
Jupitermond Ganymed weist im Vergleich zur             wir auf andere Planeten schicken könnten und der
Erde die 36-fache Menge an Wasser auf, Kallisto        uns dann anzeigt: Aha, hier gibt es Leben (oder
die 27-fache. Ebenso ist bekannt, dass Eisklum­        auch nicht) –, suchen wir stattdessen nach Was­
pen den Saturn als Teil seiner majestätischen Rin­     ser. Das Wasser der Erde begann seine Existenz
ge umkreisen. Auf einem seiner Monde, Titan,           in der Schwärze des Weltraums, bevor es unseren
existieren unterirdische Meere mit so viel Wasser,     Planeten erreichte, um die Entstehung von Leben
dass es die Ozeane der Erde 29 Mal füllen könn­        anzustoßen und Lebensformen hervorzubringen,
te. Im Inneren von Uranus und Neptun vermutet          die eines Tages in der Lage sein würden, Verständ­
man gigantische Eisvorkommen, und sogar auf            nis zu entwickeln, Fragen darüber zu stellen und
dem Merkur, einem Planeten mit einer so heißen         überall im Weltraum danach zu suchen. Es scheint,
Oberfläche, dass sogar Metall darauf schmelzen         als habe Wasser den Menschen geschaffen, um sich
würde, ist tief in den Kratern auf seinen perma­       seiner selbst gewahr zu werden.
nent beschatteten Polen Eis zu finden.
     Astronomen entdecken eine immer größere           Übersetzung aus dem Englischen: Peter Beyer, Bonn.
Zahl von Planeten außerhalb unseres Sonnensys­
tems und werden diese Welten, sobald die Techno­       ALOK JHA
logie in den kommenden Jahren so weit ist, routi­      ist Physiker und Wissenschaftskorrespondent
nemäßig nach Wasser erkunden. Die umfangreiche         von „The Economist“ in London. Er schrieb unter
Suche nach Wasser ist im Grunde stets die Suche        anderem „The Water Book“ (2015).
nach Leben. Da uns kein Instrument zur Verfü­          www.alokjha.com

                                                             Das Weltklima
                                                               ändert sich.

                                                Die Folgen für Ökosysteme und Gesellschaften sind
                                                gravierend. Das bpb-Zeitbild „Evidence of Change“
                                                versammelt Fotoarbeiten, die die Konsequenzen des
      Zeitbilder                                Klimawandels exemplarisch aufzeigen.
      Evidence of Change
      Der Klimawandel in Bildern
      Bonn 2017
      Bestell-Nr.: 3986 | 4,50 Euro
      Bestellbar unter: www.bpb.de/zeitbilder

                                                                                                         09
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Wasser - Bundeszentrale für politische Bildung
APuZ 12/2021

                   TRINKWASSERSICHERUNG
                       IN DEUTSCHLAND
                                        Dietrich Borchardt

Mit einem Anschlussgrad von rund 99 Prozent           und zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern
wird fast die gesamte Bevölkerung Deutschlands        transportiert. Geschieht dies über längere Distan­
durch die öffentliche Wasserversorgung mit Trink­     zen, spricht man von Fernwasserversorgung.
wasser versorgt. Es gibt aktuell rund 5850 Was­
serversorgungsunternehmen, die über komplexe                     WASSERVORKOMMEN:
Infrastrukturen mit Entnahmebrunnen, Wasser­                     AUF EWIG GESICHERT?
werken und Trinkwasserleitungen mit einer Ge­
samtlänge von etwa 500 000 Kilometern verfügen,       Deutschland ist hydroklimatisch ein wasserreiches
diese betreiben, unterhalten, erneuern und auf die­   Land, und die erneuerbaren Süßwasserressourcen
se Weise die Versorgung sicherstellen. Das Roh­       umfassen im langjährigen Mittel rund 188 Milliar­
wasser zur Trinkwasseraufbereitung wird dabei         den Kubikmeter.04 Davon werden aus dem Was­
ganz überwiegend – zu 70 Prozent – aus Grund-         serkreislauf aktuell rund 24 Milliarden Kubikme­
und Quellwasser gewonnen. Außerdem werden             ter pro Jahr entnommen beziehungsweise genutzt.
Uferfiltrat, angereichertes Grundwasser, See-, Tal­   Bezogen auf das Jahr 2015 entspricht das einem
sperren- und Flusswasser als Rohwasser für die        Anteil von etwa 13 Prozent und liegt unter der
Trinkwasseraufbereitung ­genutzt (Abbildung 1).01     sogenannten Wasserstressmarke von 20 Prozent.
    Auch in der Europäischen Union insgesamt ist      Aufgrund sinkender Entnahmen ist dieser Wert
Grundwasser die Hauptquelle für Rohwasser zur         seit 1991 stetig zurückgegangen, allerdings mit
Trinkwasseraufbereitung; in den Referenzjahren        ausgeprägten Unterschieden zwischen den einzel­
2011 bis 2013 betrug der Anteil rund 50 Prozent.02    nen Regionen und Jahren. So standen im Trocken­
Mit etwa 37 Prozent spielen Oberflächengewässer       jahr 2018 zum Beispiel 119 Milliarden Kubikmeter
wie Seen, Stauseen und Flüsse eine im Vergleich       erneuerbare Süßwasserressourcen zur Verfügung
wichtigere Rolle, während Uferfiltration und          – also nur zwei Drittel der üblichen Menge.05 Ab-
künstliche Grundwasseranreicherung als Trink­         bildung 2 gibt einen Überblick über die Ergiebig­
wasserquellen geringere Bedeutung haben. Etwa         keit der Grundwasservorkommen, der Wasserge­
10 Prozent der EU-Bevölkerung nutzt unbehan­          winnung und Talsperren in Deutschland.
deltes Grundwasser, insbesondere aus privaten             Für die Trinkwasserversorgung werden derzeit
Brunnen, zur eigenen Trinkwasser­versorgung.03        etwa 5,2 Milliarden Kubikmeter Rohwasser pro
    Aufgrund der natürlichen Filterfunktion des       Jahr genutzt, was einem Anteil am Gesamtwasser­
Bodens benötigt das Grundwasser manchmal nur          verbrauch von rund 22 Prozent entspricht. Weite­
eine Desinfektion, um eine ausreichende Rohwas­       re 53 Prozent entfallen auf die Energieversorgung,
serqualität zu gewährleisten. Je nach Grad und Art    24 Prozent auf Bergbau und verarbeitendes Ge­
natürlicher Belastungen können weitere Aufberei­      werbe, und nur 1,3 Prozent werden derzeit für die
tungsschritte zur Entfernung von Eisen und Man­       landwirtschaftliche Beregnung verwendet.06
gan hinzukommen. Oberflächenwasser hingegen               Aufgrund der zu erwartenden Zunahme an
erfordert normalerweise eine umfangreichere Be­       heißen und trockenen Sommern kann es regio­
handlung wie Koagulation beziehungsweise Flo­         nal zu einer Abnahme der Grundwasserneubil­
ckung, Sedimentation und Filtration – zusätzlich      dung kommen und damit auch zu einer Zunahme
zur Desinfektion, die in entsprechenden Aufberei­     von Konflikten um die Nutzung der vorhande­
tungsanlagen stattfindet. In großen Versorgungs­      nen Grundwasservorkommen. Bereits heute ist die
gebieten wird Rohwasser zur Trinkwasseraufbe­         Grundwasserneubildung in Teilen Thüringens,
reitung oft aus verschiedenen Quellen vermischt       Sachsen-Anhalts und Sachsens sowie Branden­

10
Wasser APuZ

Abbildung 1: Wassergewinnung nach Wasserarten 2016
                                                                   Flusswasser
                                                                   1,2 %
                     See- und Talsperrenwasser
                                        12,3 %

Angereichertes Grundwasser
                    9,3 %

                                                                   Gesamt:
                                                                5204,2 Millionen
                                                                  Kubikmeter
                   Uferfiltrat
                      8,0 %
                                                                                                              Grundwasser
                                                                                                              61,2 %
                       Quellwasser
                            7,9 %

Einschließlich der Wassermenge, die durch Unternehmen gewonnen wird, die Wasser ausschließlich weiterverteilen.
Quelle: Umweltbundesamt (Statistisches Bundesamt, Fachserie 19 Reihe 2.1.1 Öffentliche Wasserversorgung und öffentliche
Abwasserbeseitigung – Öffentliche Wasserversorgung 2019).

burgs vergleichsweise niedrig. Von Schleswig-Hol­                      Mengenmäßig befinden sich die großen Grund­
stein über die Altmark im Norden Sachsen-Anhalts                   wasserkörper in Deutschland nach der Definition
bis in die Prignitz und das Oderbruch im Norden                    der EU-Wasserrahmenrichtlinie aber noch in ei­
Brandenburgs sowie am Oberrhein und in Teilen                      nem „guten Zustand“. Nur etwa 4 Prozent aller
Hessens und Nordthüringens waren aufgrund der                      Grundwasserkörper in Deutschland weisen ei­
Dürre 2018 die Wasserspeicher der Böden zu Be­                     nen „schlechten mengenmäßigen Zustand“ auf,
ginn des Jahres 2019 nicht ausreichend gefüllt. 2019               das heißt, die Wasserentnahmen überschreiten die
und 2020 folgten weitere Niederschlagsdefizite mit                 Grundwasserbildung großräumig und in erhebli­
entsprechenden Folgen in der Wasserbilanz.                         chem Umfang, beispielsweise in Tagebaugebieten.07
                                                                       Es ist aber festzustellen, dass über die vergan­
                                                                   genen fünf Jahrzehnte, vor allem in den 2010er
01 Vgl. Umweltbundesamt (UBA), Öffentliche Wasserversorgung,
                                                                   Jahren, vermehrt extrem niedrige Grundwas­
20. 4. 2020, www.umweltbundesamt.de/daten/wasser/wasserwirt-
schaft/oeffentliche-wasserversorgung.
                                                                   serstände aufgetreten sind und Quellen nur ver­
02 Vgl. European Environment Agency (EEA), European Water          hältnismäßig wenig Wasser schütteten. So hat die
Policies and Human Health. Combining Reported Environmental        Anzahl von Monaten im Jahr, in denen die über
Information, EEA Report 32/2016, www.eea.europa.eu/publica-        Jahrzehnte gemittelten niedrigsten Grundwasser­
tions/public-health-and-environmental-protection.
                                                                   stände beziehungsweise Quellschüttungen unter­
03 Vgl. Adriana Hulsmann, Small Systems Large Problems: A
European Inventory of Small Water Systems and Associated
                                                                   schritten wurden, seit 1961 signifikant zugenom­
Problems, Nieuwegen 2005.                                          men.08 Diese Trends müssen ernst genommen
04 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reak-        und sorgfältig beobachtet werden, weil die regio­
torsicherheit (BMU), Grundwasser in Deutschland, Berlin 2008.      nalen Grundwasservorkommen das Rückgrat der
05 Vgl. UBA, Monitoringbericht 2019 zur Deutschen Anpas-
                                                                   Trinkwasserversorgung in Deutschland sind.
sungsstrategie an den Klimawandel, Dessau-Roßlau 2019.
06 So der Stand 2015. Vgl. BMU/UBA, Wasserwirtschaft in
Deutschland. Grundlagen, Belastungen, Maßnahmen, Dessau-           07 Vgl. ebd.
Roßlau 2017.                                                       08 Vgl. BMU (Anm. 4).

                                                                                                                            11
APuZ 12/2021

Abbildung 2: Grundwasservorkommen in Deutschland

Quelle: © Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR Hannover) (Daten: Bundesamt für Gewässerkunde und BGR;
Topografie: Bundesamt für Kartographie und Geodäsie).

12
Wasser APuZ

    Was die Lage in Europa angeht, schätzt die Eu­               wirtschaft. Beim Nitrat überschreiten 27 Prozent
ropäische Umweltagentur, dass etwa ein Drittel des               der Grundwasserkörper die Qualitätsnorm, bei
EU-Gebiets dauerhaft oder vorübergehend Wasser­                  den Pflanzenschutzmitteln sind es 3 Prozent.12
knappheiten ausgesetzt ist.09 Länder wie Griechen­                   Das EU-Messstellennetz zu Nitrat zeigte für
land, Portugal und Spanien haben in den Sommer­                  Deutschland im Zeitraum 2012 bis 2014 für und
monaten bereits schwere Dürren erlebt, aber auch                 65 Prozent aller Messstellen Nitratkonzentrationen
in den nördlichen Regionen, einschließlich Teilen                zwischen 0 und 25 Milligramm pro Liter (mg/l),
des Vereinigten Königreichs und Deutschlands,                    was bedeutet, dass sie damit als „nicht“ oder „mä­
wird Wasserknappheit ein Thema. Agrarflächen                     ßig belastet“ gelten. Bei 17 Prozent der Messstel­
mit intensiver Bewässerung, touristisch beliebte In­             len lag die Nitratkonzentration zwischen 25 und
seln in Südeuropa und große Ballungsräume gelten                 50 mg/l, was einer „deutlichen“ bis „starken“ Be­
als die größten Problemgebiete. Es ist zu erwarten,              lastung mit Nitrat entspricht. Bei den übrigen
dass die Wasserknappheit hier aufgrund des Klima­                18 Prozent ist das Grundwasser so stark durch Ni­
wandels weiter zunehmen wird.10                                  trat belastet, dass es nicht ohne Weiteres zur Trink­
                                                                 wassergewinnung genutzt werden kann. Hinzu
                 WASSERQUALITÄT:                                 kommt, dass die Nitratwerte an einem Drittel der
                   ALLES KLAR?                                   Messstellen des EU-Nitratnetzes nach wie vor an­
                                                                 steigen, insbesondere in vielen ohnehin schon stark
Trinkwasser ist in Deutschland und Europa auf un­                belasteten Bereichen. Bei rund 40 Prozent verhar­
terschiedliche Weise auch hinsichtlich der Quali­                ren die Nitratwerte auf ihrem Niveau, sodass eine
tät gefährdet, weil abhängig von der Belastung mit               Trendumkehr derzeit nicht in Sicht ist.13
Stoffen wie Nitrat, Pflanzenschutzmitteln, Biozi­
den und deren Metaboliten oder Mikroorganis­                                    WASSERVERBRAUCH:
men das Wasser entweder gar nicht zur Trinkwas­                                  ÜBER DEN DURST?
seraufbereitung genutzt werden kann oder aber
ein großer technischer Aufwand betrieben werden                  Der Pro-Kopf-Verbrauch an Trinkwasser lag 2016
muss, um die notwendige Qualität zu erreichen.                   in Deutschland bei rund 123 Litern pro Tag. Darin
    Die Ergebnisse des ersten Flussgebietsma­                    ist der Bedarf für Körperpflege, Kochen, Trinken,
nagementplans nach der EU-Wasserrahmenricht­                     Wäschewaschen und anderen häuslichen Gebrauch
linie zeigten für das Jahr 2006 für Europa, dass ein             wie Toilettenspülung ebenso enthalten wie die Ver­
„schlechter chemischer Zustand“ des Grundwas­                    wendung von Trinkwasser im Kleingewerbe, etwa
sers in 54 Prozent aller beobachteten Grundwas­                  in Metzgereien, Bäckereien oder Arztpraxen.
serkörper auf zu hohe Nitratkonzentrationen zu­                      Um diesen Bedarf zu decken, entnahmen
rückzuführen ist.11 Die Nährstoffeinträge durch                  die Wasserversorgungsunternehmen dem Was­
den Menschen sind dabei die Hauptbelastungs­                     serkreislauf etwas mehr als 5,2 Milliarden Ku­
quellen für die Böden, das Grundwasser und die                   bikmeter Wasser. Davon stellten sie den Ver­
Oberflächengewässer. Diese stammen beim Ni­                      braucherinnen und Verbrauchern etwas mehr
trat dominant, beim Phosphor überwiegend aus                     als 4,6 Milliarden Kubikmeter als Trinkwasser
der Landwirtschaft.                                              zur Verfügung. Davon gingen wiederum knapp
    Eine Bewertung des chemischen Zustands des                   80 Prozent – das entspricht 3,7 Milliarden Kubik­
Grundwassers in Deutschland von 2016 zeigt,                      metern – an private Haushalte und Kleingewerbe.
dass 35 Prozent aller Grundwasserkörper in einem                 Rund 950 Millionen Kubikmeter lieferten die Un­
„schlechten chemischen“ Zustand sind. Hauptur­                   ternehmen an Schulen, Behörden, Krankenhäu­
sache sind auch hier diffuse Belastungen durch                   ser und größere Firmen. Den verbleibenden Teil
Nitrat und Pflanzenschutzmittel aus der Land­                    des Trinkwassers benötigten die Wasserversor­
                                                                 ger selbst; ein Teil des Wassers geht zudem durch
09 Vgl. EEA, Water Resources Across Europe – Confronting         Rohrbrüche oder Havarien verloren. Die Betriebe
Water Scarcity and Drought, EEA Report 2/2009, www.eea.
europa.eu/publications/water-resources-across-europe.
10 Vgl. European Commission, Water Scarcity and Drought in the   12 Vgl. ebd.
European Union, August 2010, http://ec.europa.eu/environment/​   13 EEA, European Waters – Assessment of Status and Pres-
water/​quantity/​pdf/brochure.pdf.                               sures, EEA Report 8/2012, www.eea.europa.eu/publications/
11 Vgl. BMU/UBA (Anm. 6).                                        european-waters-assessment-2012.

                                                                                                                             13
APuZ 12/2021

der Getränke- und Lebensmittelwirtschaft haben                     gungen aus verschiedenen Wirtschaftsbereichen
insgesamt einen geringen Anteil an der Gesamt­                     und den Haushalten, Krankheitserreger und An­
verwendung von Wasser in Deutschland.14                            tibiotikaresistenzen sowie klimawandelbedingte
    In den vergangenen 30 Jahren ist der Wasserver­                Veränderungen im hydrologischen Regime sind
brauch in Deutschland deutlich zurückgegangen.                     große Herausforderungen für die gegenwärtige
Die Wasserversorgungsunternehmen benötigten                        und zukünftige Bewirtschaftung der Trinkwas­
von 1991 bis 2016, trotz einer leichten Erhöhung                   serressourcen. EU-Richtlinien und nationale Ge­
zwischen 2013 und 2016, insgesamt viel weniger                     setzgebungen sollen zwar sicherstellen, dass das
Wasser, um den Trinkwasserbedarf zu decken. Ge­                    Trinkwasser quantitativ, qualitativ und langfristig
genüber den 5,2 Milliarden Kubikmetern im Jahr                     gesichert ist und dass die Wasserressourcen zur
2016 waren es 1991 noch mehr als 6,5 Milliarden                    Rohwassergewinnung nachhaltig geschützt wer­
Kubikmeter – ein Rückgang um etwa 20 Prozent.                      den. Aber ihre Effektivität ist nicht gewiss: Mit
    Ein wesentlicher Faktor für die Wassererspar­                  Blick auf eine sichere Trinkwasserversorgung ist
nis war die Reduzierung der Verluste durch Rohr­                   eine erhebliche Anzahl von Grundwasserkör­
brüche und Undichtigkeiten. Während 1991 auf                       pern und Oberflächengewässern in Europa durch
diese Weise noch 758 Millionen Kubikmeter verlo­                   Entnahme, Verschmutzung oder unzureichende
ren gingen, waren es 2016 nur noch 457 Millionen                   Trinkwasserinfrastrukturen gefährdet. Verschärft
Kubikmeter – eine im europäischen und globalen                     wird diese Problemlage sowohl durch den Klima­
Vergleich sehr geringe Verlustrate.15 Diese Ent­                   wandel, der den Wasserbedarf und das Wasser­
wicklung zeigt deutlich, dass die Unterhaltung der                 dargebot verändert, als auch durch sozioökono­
Wasserinfrastrukturen, insbesondere die bauliche                   mische und demografische Dynamiken.17
und technische Integrität der Rohrleitungen, wich­                     Grenzwertüberschreitungen im Trinkwasser,
tige Eckpfeiler einer sicheren, ressourcenschonen­                 etwa durch Nitrat, Pestizide und Schwermetalle,
den und nachhaltigen Trinkwasserversorgung sind.                   sind in den vergangenen Jahrzehnten zurückge­
    Den Hauptanteil am Rückgang der Wasser­                        gangen und kommen – trotz der verbreiteten Be­
nutzung zur Trinkwassergewinnung hatte jedoch                      lastungen des Grundwassers – nur noch im Ein­
der gesunkene individuelle Wasserverbrauch von                     zelfall vor. Sie werden durch hohe Investitionen
144 Litern pro Tag im Jahr 1991 auf die heutigen                   der Wasserversorger in Aufbereitungstechniken
123 Liter. Allerdings variiert dieser bundesdeut­                  vermindert, wobei allein für die Maßnahmen zur
sche Durchschnittswert zwischen den einzelnen                      Reduzierung der Nitratbelastung Kosten von 580
Bundesländern erheblich: Während in Nord­                          bis 767 Millionen Euro pro Jahr geschätzt wer­
rhein-Westfalen, Hamburg und Bayern der täg­                       den, die sich entsprechend in den Wasserpreisen
liche Pro-Kopf-Verbrauch im Durchschnitt bei                       niederschlagen.18
131 Litern und mehr liegt, beträgt er in Sachsen                       Als besonders relevant für die Trinkwas­
90 Liter. Im Vergleich mit Ländern in Europa                       serhygiene wird die demografische Entwicklung
und mit ähnlich entwickelten Industriestaaten ist                  eingeschätzt, insbesondere der Bevölkerungs­
der Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland niedrig:                     rückgang.19 Denn dadurch entsteht ein Missver­
Der Durchschnitt in Europa liegt bei 144 Litern,                   hältnis zwischen installierten Versorgungskapazi­
in den USA bei 295 Litern pro Tag.16                               täten und dem tatsächlichen Wasserbedarf. Dieses
                                                                   Problem wird typischerweise dadurch verschärft,
                 PROBLEME UND                                      dass die Anzahl der Trinkwasserinstallationen
              HERAUSFORDERUNGEN

                                                                   17 Vgl. World Resources Institute, Millennium Ecosystem As-
Die nach wie vor hohen Nährstoffüberschüsse in
                                                                   sessment. Ecosystems and Human Well-Being: A Framework for
der Landwirtschaft, neue chemische Verunreini­                     Assessment, Washington, D. C. u. a. 2003, https://pdf.wri.org/
                                                                   ecosystems_human_wellbeing.pdf.
                                                                   18 Vgl. Organisation for Economic Co-operation and Develop-
14 Vgl. BMU/UBA (Anm. 6).                                          ment, Financing Water Supply, Sanitation and Flood Protection:
15 Vgl. UBA (Anm. 1).                                              Challenges in EU Member States and Policy Options, Paris 2020.
16 Vgl. Jeanette Völker/Dietrich Borchardt, Drinking Water         19 Vgl. Daniel Karthe et al., Regional Disparities of Microbio-
Quality at Risk: A European Perspective, in: Matthias Schröter     logical Drinking Water Quality: Assessment of Spatial Pattern
et al. (Hrsg.), Atlas of Ecosystem Services: Drivers, Risks, and   and Potential Sociodemographic Determinants, in: Urban Water
Societal Responses, Cham 2019, S. 205–210.                         Journal 6/2017, S. 621–629.

14
Wasser APuZ

Abbildung 3: Mittlere Nitratgehalte an den Messstellen des EU-Messnetzes

Quelle: Umweltbundesamt (Geobasisdaten: OLM1000, 2015, BKG; Fachdaten: Länderarbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA);
Bearbeitung: Umweltbundesamt, FG 11. 7. 2020).

                                                                                                                   15
APuZ 12/2021

und die Gesamtlänge des Leitungsnetzes pro Ein­         zugegriffen werden kann. Zudem ist die Belastung
wohner in den vergangenen Jahrzehnten zuge­             durch Stoffeinträge aus der landwirtschaftlichen
nommen haben. Gleiches gilt für den EU-weiten           Nutzung auch im Hinblick auf die ökologische In­
Trend zu kleineren Haushaltsgrößen. Hieraus er­         tegrität der betroffenen Boden- und Wasserökosys­
geben sich große Herausforderungen für die Fle­         teme problematisch, weil deren Widerstandsfähig­
xibilisierung der Versorgungsinfrastrukturen bei        keit und Aufnahmekapazität weiter abnimmt. Für
gleichzeitiger Versorgungssicherheit.                   solche Fälle müssen neue Anpassungsstrategien für
    Mit der demografischen Entwicklung und dem          wasserverträgliche Landnutzungen und Neuord­
hohen Lebensstandard in Europa ist ein weiteres         nungen von Nutzungsprioritäten unter den Bedin­
Problem eng verbunden: der gestiegene Arzneimit­        gungen des Klimawandels gefunden werden.21
telverbrauch. Arzneimittel dienen der Gesundheit            Eine weitere Herausforderung ist und bleibt
von Menschen und Tieren, wenn sie gezielt verab­        die Sicherung der Trinkwasserhygiene. Auch
reicht werden. Gelangen sie jedoch unkontrolliert       heute noch werden Grenzwerte regelmäßig ver­
in die Umwelt, gehen von ihnen Gefahren für den         letzt, vor allem bei Kolibakterien (Escherichia
Schutz des Trinkwassers aus. In Deutschland wur­        coli), an denen sich 2016 in Deutschland etwa eine
den 2002 rund 6200 Tonnen Humanarzneimittel­            Million Menschen infizierten, und Enterokok­
wirkstoffe verwendet, 2012 lag der Wert bereits bei     ken, auf die 318 000 Infektionen zurückzufüh­
8120 Tonnen, was einer Steigerung von 30 Prozent        ren waren. Die meisten Einschränkungen verur­
entspricht. Von den etwa 2300 Wirkstoffen mach­         sachten coliforme Bakterien, Trübungen, Mangan
ten Metformin, Ibuprofen, Metamizol, Acetylsa­          und Eisen sowie die aus der Summe der Bakteri­
licylsäure und Paracetamol zusammengenommen             en und Pilze gebildete Koloniezahl. Das gilt bun­
etwa die Hälfte der abgegebenen Menge aus. Ihr          desweit ebenso wie in den einzelnen Ländern und
Haupteintragspfad in den Wasserkreislauf sind           sowohl in Bezug auf die Anzahl der Wasserver­
die rund 9800 Kläranlagen. Hinzu kommen Me­             sorgungsgebiete als auch mit Blick auf die betrof­
dikamente aus dem tiermedizinischen Bereich:            fene ­Bevölkerung.22
2015 wurden Nutztieren in Deutschland etwa                  Im Rohwasser, aus dem das Trinkwasser gewon­
805 Tonnen Arzneimittelwirkstoffe, insbesonde­          nen wird, bereiten vorhandene Nitratbelastungen,
re Antibiotika verabreicht. Über Wirtschaftsdün­        Pestizidfunde und die Eutrophierung, also die An­
ger wie Gülle, Jauche oder Festmist können die­         reicherung von Nährstoffen, weiterhin Probleme.
se Stoffe beziehungsweise deren Abbauprodukte           Letztere ist insbesondere in den Talsperren, Seen,
in die Umwelt und damit in den Wasserkreislauf          aber auch in großen Fließgewässern von Bedeutung.
gelangen. In Böden, Oberflächengewässern und            Talsperren sind nicht nur Infrastrukturen zum Um­
im Grundwasser werden inzwischen Arzneimit­             gang mit Niedrig- und Hochwasser, sondern auch
telrückstände in zum Teil erheblichen Konzentra­        regional essenzielle Anlagen zur Trinkwassergewin­
tionen gefunden, wobei 33 Prozent der Human­            nung. In Deutschland werden rund 12,4 Millionen
arzneistoffe und 45 Prozent der Tierarzneimittel        Menschen mit Trinkwasser aus Talsperren versorgt,
eine hohe Ökotoxizität besitzen. Das Rohwasser          wobei insbesondere Regionen mit geringer Menge
zur Trinkwassergewinnung und das Trinkwasser            oder schlechter Grundwasserqualität auf Talsper­
selbst vor diesen Belastungen zu schützen, ist da­      renwasser angewiesen sind. Dies betrifft großflächig
her eine große Herausforderung.20                       Gebiete in Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Thürin­
    Ein langjähriger Nutzungskonflikt, der die          gen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen.23
Grundwasserkörper als wichtigste Rohwasserquel­             Es liegt auf der Hand, dass die Bewältigung kli­
le in Deutschland betrifft, bleibt weiterhin die Ver­   matischer Extreme mit Hochwasser oder Dürren
unreinigung des Grundwassers durch die Landwirt­        die Wassermengenbewirtschaftung zu Kompro­
schaft. Das kann zukünftig unter den Bedingungen
des Klimawandels beispielsweise dazu führen, dass       21 Vgl. BMU/UBA (Anm. 6).
gerade in Gebieten, in denen es bei trockeneren Ver­    22 Vgl. UBA, Bericht des Bundesministeriums für Gesundheit und
hältnissen zu Wasserknappheit kommt, bei zu in­         des Umweltbundesamtes an die Verbraucherinnen und Verbrau-
                                                        cher über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch
tensiver landwirtschaftlicher Düngung nicht mehr
                                                        (Trinkwasser) in Deutschland 2014–2016, Dessau-Roßlau 2018.
auf zusätzliche örtliche Grundwasserressourcen          23 Vgl. Jesko Hirschfeld, Wo ist Wasser in Deutschland knapp
                                                        und könnte es in Zukunft knapper werden?, in: Korrespondenz
20 Vgl. Völker/Borchardt (Anm. 16).                     Wasserwirtschaft 11/2015, S. 710–715.

16
Wasser APuZ

missen zwingt: Während Hochwasserschutz freien                        Diese Bedingungen nachhaltig auszubalancie­
Stauraum erfordert, ist die Trinkwassersicherheit                 ren, fordert Versorgungsunternehmen, Verwal­
am besten mit maximaler Wasserhaltung gewähr­                     tung und Gesellschaft gleichermaßen. Dabei gilt
leistet. Lang anhaltende Hitzeperioden und gleich­                es, akute Krisen und die notwendige Anpassung
zeitig niedrige Füllstände können zu gravierenden                 nicht nur zu bewältigen, sondern vorausblickend
Veränderungen in der ökologischen Struktur von                    zu gestalten. Um die Zivilgesellschaft dazu zu be­
Talsperren führen, insbesondere durch Mangan­                     fähigen, muss für die Fachplanungen eine verläss­
rücklösungen aus dem Sediment sowie die Zunah­                    liche Daten- und Informationsbasis zum kurz-,
me von Cyanobakterien, die Toxine in das Was­                     mittel- und langfristigen Wasserdargebot, Wasser­
ser abgeben. Dies kann in der Summe zu massiven                   bedarf und Zustand der technischen Infrastruktu­
Problemen in der Wasserhygiene führen – mit ent­                  ren verfügbar sein. Hier ist die Wissenschaft gefor­
sprechend hohem Aufbereitungsaufwand bis hin                      dert, entsprechend verbesserte Daten und Modelle
zur Aufgabe von Trinkwassernutzungen. Neue,                       der Klimaforschung in Verbindung mit neuesten
adaptive Strategien in der Talsperrenbewirtschaf­                 quantitativen Werkzeugen der Impactanalyse für
tung zur Bewältigung von klimabedingten Ext­                      möglichst konkrete Entscheidungen bereitzustel­
remsituationen und im Umgang mit Nutzungs­                        len. Die notwendige engere Verzahnung zwischen
änderungen in den Einzugsgebieten sind deshalb                    Forschung und Praxis zu diesen Fragen wird an
eine wichtige Zukunftsherausforderung. Sie sind                   verschiedenen Stellen angestrebt, sie ist aber noch
nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa                  nicht hinreichend entwickelt und muss mit Nach­
von Bedeutung, weil Talsperren und andere Was­                    druck etabliert ­werden.
serspeicher zur Anpassung an den Klimawandel in                       Der Schutz der Wasserressourcen zur Trink­
steigender Zahl benötigt werden.24                                wassergewinnung hat eine ebenso große Bedeutung
                                                                  wie die Sicherung der Versorgungsinfrastruktu­
                            FAZIT                                 ren. Dabei sind viele der in Ober­flächen­ge­wäs­sern
                                                                  und im Grundwasser auftretenden Stoffe und Kei­
Deutschland ist hydroklimatisch ein wasserrei­                    me von hoher Umweltrelevanz und Bedeutung für
ches Land mit einer hohen Versorgungssicherheit                   die menschliche Gesundheit. Ihr Gefährdungspo­
mit Trinkwasser für die gesamte Bevölkerung und                   tenzial erhöht sich unter den Bedingungen des
die Wirtschaft, die gegenwärtig durch eine öffentli­              Klimawandels. Viele dieser Belastungen sind letzt­
che Wasserversorgung mit einer ausdifferenzierten                 lich nur an der Quelle wirksam zu kontrollieren,
Infrastruktur bereitgestellt wird. Dadurch ist die                deshalb sollte eine nachhaltige Begrenzung der an­
Trinkwasserversorgung ein fester und bewährter                    thropogenen Stoffeinträge in den Wasserkreislauf
Kernbestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge.                   nach dem Vorsorgeprinzip sehr viel konsequenter
    Die Sicherheit der Wasserversorgung wird in                   erfolgen als bisher. Dies schließt ein hohes Verant­
der Regel anhand der Wasserverfügbarkeit pro                      wortungsbewusstsein der Verbraucherinnen und
Kopf gemessen. Die tatsächlichen Dienstleistun­                   Verbraucher beim Umgang mit wasserrelevanten
gen, die die Bürgerinnen und Bürger erhalten,                     Stoffen und beim Konsumverhalten ein. Die Vo­
werden jedoch von mehreren Bedingungen beein­                     raussetzung dafür ist eine Abwägung der Nutzen
flusst, darunter 1) der Zugang zu Wasserressour­                  und Risiken von Chemikalien in der Umwelt und
cen für die Trinkwassergewinnung, 2) die Infra­                   im menschlichen Gebrauch, deren Anzahl stän­
struktur für dessen Aufbereitung, Speicherung                     dig weiter zunimmt und für die deshalb neue, wis­
und Verteilung, 3) das Finanzkapital für deren Bau                senschaftsbasierte Bewertungsansätze benötigt
und die Instandhaltung, 4) die Effizienz des Ma­                  ­werden.
nagements für die Regulierung und den Betrieb
des Wassersystems und 5) die Anpassungsfähig­                     DIETRICH BORCHARDT
keit an Wandelprozesse im Klima einschließlich                    ist habilitierter Hydrobiologe, Leiter des Themen-
von Extremereignissen und in der ­Demografie.25                   bereichs Wasserressourcen und Umwelt und des
                                                                  Departments Aquatische Ökosystemanalyse und
                                                                  Management am Helmholtz-Zentrum für Umwelt-
24 Vgl. UBA (Anm. 5).
25 Vgl. Elisabeth Krueger/​P. Suresh C. Rao/Dietrich Borchardt,
                                                                  forschung (UFZ) in Magdeburg sowie Professor an
Quantifying Urban Water Supply Security Under Global              der Technischen Universität Dresden.
Change, in: Global Environmental Change 56/2019, S. 66–74.        dietrich.borchardt@ufz.de

                                                                                                                    17
Sie können auch lesen