AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Pflege - Bundeszentrale für politische Bildung

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69. Jahrgang, 33–34/2019, 12. August 2019

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
       Pflege
           Diana Auth                     Michaela Evans · Christine Ludwig
     POLITIKFELD „PFLEGE“                  „DIENSTLEISTUNGSSYSTEM
                                            ALTENHILFE“ IM UMBRUCH
         Thomas Noetzel
  GRUNDRECHT AUF PFLEGE?                    Verena Rossow · Simone Leiber
                                               ENTWICKLUNGEN
       Marie-Kristin Döbler
                                                AUF DEM MARKT
    MEHR ALS NUR PFLEGE.
                                           FÜR „24-STUNDEN-PFLEGE“
 CARE IN ALTEN(PFLEGE)HEIMEN
                                                   Lena Schürmann
          Nicola Döring
                                                  FÜRSORGE AUS
      SEXUALITÄT IN DER
                                                  MARKTKALKÜL?
   PFLEGE: ZWISCHEN TABU,
   GRENZÜBERSCHREITUNG                               Ulrike Ehrlich
       UND LEBENSLUST                          FAMILIÄRE PFLEGE
                                              UND ERWERBSARBEIT

                    ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                         FÜR POLITISCHE BILDUNG
                Beilage zur Wochenzeitung
Pflege
                                      APuZ 33–34/2019
DIANA AUTH                                            MICHAELA EVANS · CHRISTINE LUDWIG
POLITIKFELD „PFLEGE“                                  „DIENSTLEISTUNGSSYSTEM ALTENHILFE“
Vor 25 Jahren wurde das Pflegeversicherungsge-        IM UMBRUCH
setz verabschiedet und Pflege von einer Privat-       Der Beitrag reflektiert arbeitspolitische Span-
angelegenheit zu einer gesamtgesellschaftlichen       nungsfelder und Gestaltungsherausforderungen
Aufgabe. Der demografische Wandel gepaart mit         des Dienstleistungssystems Altenhilfe im
dem sinkenden häuslichen Pflegepotenzial stellt       Umbruch. Es werden Treiber aufgezeigt und
das Politikfeld vor große Herausforderungen.          Anforderungen an einen integrierten arbeitspoli-
Seite 04–11                                           tischen Gestaltungspfad skizziert.
                                                      Seite 31–36
THOMAS NOETZEL
GRUNDRECHT AUF PFLEGE?                                VERENA ROSSOW · SIMONE LEIBER
Ein Grundrecht auf Pflege bedeutet, Pflegebe-         ENTWICKLUNGEN AUF DEM MARKT
dürftige als autonome Personen zu ihrem Recht         FÜR „24-STUNDEN-PFLEGE“
auf Selbstbestimmung kommen zu lassen. Seine          Der Markt für Live-in-Pflege- und Betreuungskräf-
Begründung findet ein solches Grundrecht              te aus Mittel- und Osteuropa – auch als „24-Stun-
in der Rechtsphilosophie Hegels und seinen            den-Pflege“ bekannt – hat sich ausgeweitet und zu
Überlegungen zur „Person“.                            einem gewissen Grad formalisiert. Es ist zudem ein
Seite 12–17                                           neues Geschäftsfeld für private Vermittlungs- und
                                                      Entsendeunternehmen entstanden.
                                                      Seite 37–42
MARIE-KRISTIN DÖBLER
MEHR ALS NUR PFLEGE.
CARE IN ALTEN(PFLEGE)HEIMEN                           LENA SCHÜRMANN
Über die Grund- und Behandlungspflege hinaus          FÜRSORGE AUS MARKTKALKÜL?
erwarten und brauchen HeimbewohnerInnen               In vielen Bereichen des Sozial- und Gesundheits-
mehr, um „gut aufgehoben“ zu sein. Welche             wesens hat die Einführung wettbewerblicher
Care-Leistungen sind das, und in welchem              Strukturen umfassende Veränderungen hervor-
Verhältnis steht das zu der Care, die das Heim-       gebracht, auch in der ambulanten Pflege. Formen
personal leisten kann und will?                       vorrangig ökonomische Kalküle das Handeln?
Seite 18–23                                           Oder steht das Pa­tient*­innenwohl im Zentrum?
                                                      Seite 43–48
NICOLA DÖRING
SEXUALITÄT IN DER PFLEGE: ZWISCHEN TABU,              ULRIKE EHRLICH
GRENZÜBERSCHREITUNG UND LEBENSLUST                    FAMILIÄRE PFLEGE UND ERWERBSARBEIT
Aus menschenrechtlicher Perspektive genießen          Männer im erwerbsfähigen Alter haben ihr
alle Menschen dieselben sexuellen Schutz- und         En­gage­ment in der familiären Pflege erhöht. Frauen
Freiheitsrechte – auch Menschen mit Pflegebe-         im erwerbsfähigen Alter übernehmen aber noch
darf. Sexualität in der Pflege galt lange als Tabu,   immer häufiger Hilfe- oder Pflegetätigkeiten,
erfährt aber mittlerweile breitere Beachtung in       leisten diese auch im höheren Zeitumfang und sind
Theorie und Praxis.                                   dazu im geringeren Umfang erwerbstätig.
Seite 24–30                                           Seite 49–54
EDITORIAL
„Wohin mit Oma?“, fragte „Der Spiegel“ auf einem Titel vor fast 15 Jahren
und adressierte damit die Debatte um einen „Pflege-Notstand in Deutschland“.
Diese ist auch zurzeit virulent. Das liegt am erheblich gestiegenen Problemdruck
in der Altenhilfe und -pflege und an den vielen Stimmen aus dem häuslichen,
ambulanten wie (teil-)stationären Pflegebereich, die auf gravierenden Perso-
nal- und Zeitmangel sowie andere Missstände aufmerksam machen. Auch die
Regierungskoalition hat den Handlungsbedarf anerkannt und unter anderem die
„Konzertierte Aktion Pflege“ ins Leben gerufen, deren Ergebnisse im Juni 2019
von den beteiligten Bundesministern Jens Spahn (CDU), Franziska Giffey und
Hubertus Heil (beide SPD) vorgestellt wurden.
   Wohin will Oma? Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Kranken-
kasse im April 2018 ergab, dass 83 Prozent der Befragten auch bei Pflegebedürf-
tigkeit in der eigenen Wohnung bleiben wollen; 59 Prozent können sich eine
Gemeinschaft mit anderen Älteren vorstellen und 37 Prozent die Unterbringung
in einem Pflegeheim. Gleichzeitig möchten 83 Prozent bei Bedarf von profes-
sionellen Pflegekräften versorgt werden; für 62 Prozent käme Pflege von nahen
Angehörigen infrage, 28 Prozent bejahten dies mit Blick auf den Freundes- oder
Bekanntenkreis.
   Wohin kann Oma? Sozialrechtlich gesehen, ist der häuslichen Pflege durch
Angehörige und Nachbarn der Vorrang zu geben. Wie lässt sich das mit dem
Wunsch nach professioneller Pflege, womöglich rund um die Uhr, verbinden?
Wer von den Angehörigen soll pflegen, wenn gleichzeitig erwünscht und immer
häufiger erforderlich ist, dass alle Erwachsenen einer (vollzeitnahen) Erwerbstä-
tigkeit nachgehen? Und woher sollen all die professionell Pflegenden kommen?
Wie lässt sich der (Alten-)Pflegeberuf aufwerten? Und wer zahlt den Preis
dafür? Diese und andere Fragen werden sowohl in dieser Ausgabe, die auf unse-
ren diesjährigen „Call for Papers“ zurückgeht, als auch in einer „APuZ-Edition“
diskutiert, die Ende 2019 mit weiteren Beiträgen erscheinen wird.

                                                      Anne Seibring

                                                                               03
APuZ 33–34/2019

                       POLITIKFELD „PFLEGE“
                                          Diana Auth

Vor 25 Jahren wurde das Pflegeversicherungsge-     qualitativen Versorgungsdefizite im ambulanten
setz verabschiedet – ein guter Zeitpunkt, um Bi-   Bereich und viertens durch die Überforderung
lanz zu ziehen. Bis zur Einführung der Pflege-     und dadurch sinkende (Aufopferungs-)Bereit-
versicherung war traditionell und im Sinne des     schaft der meist weiblichen häuslich Pflegenden.
Subsidiaritätsprinzips die Familie (oder das so-   Infolge dieses sozialpolitischen Problemdrucks
ziale Nahumfeld) für die Altenpflege zustän-       wurden mehrere Alternativen diskutiert, wie eine
dig. Seitdem ist „[d]ie pflegerische Versorgung    private Absicherung, eine steuerfinanzierte Für-
der Bevölkerung (…) eine gesamtgesellschaftli-     sorgeleistung oder eine Versicherungslösung –
che Aufgabe“ (§ 8 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB)    wobei Finanzierungsfragen im Kontext der herr-
XI). Doch die Erfüllung dieser Aufgabe bereitet    schenden marktliberalen Wohlfahrtsstaatspolitik
heute immer mehr Schwierigkeiten, die zum ei-      dabei immer eine wichtige Rolle spielten.
nen mit soziodemografischen und -kulturellen           Bundesarbeits- und -sozialminister Norbert
Veränderungen, wie dem demografischen Wan-         Blüm (CDU) trat Anfang der 1990er Jahre für
del, der Pluralisierung von Familienformen und     eine eigenständige Pflegeversicherung ein, muss-
dem Wandel von Geschlechternormen, zu tun ha-      te aber sowohl an die FDP als Koalitionspart-
ben. Es sind aber zum anderen auch die politöko-   ner Zugeständnisse machen (soziale und private
nomisch bedingten Konstruktionsprinzipien und      Pflegeversicherung, Kompensation des Arbeit-
Strukturmerkmale der Pflegeversicherung selbst,    geberbeitrags durch Streichung eines Feiertags,
beispielsweise die Beschränkung auf eine Grund-    Beitragssatzstabilität durch das Budgetprinzip)
versorgung oder die Wettbewerbsorientierung,       als auch an die im Bundesrat dominierende SPD
die Reformen notwendig machen, um in Zukunft       (Verzicht auf eine in die Tarifautonomie eingrei-
(mehr) Pflegedürftige angemessen versorgen zu      fende Karenztageregelung, Gewährung höherer
können und gleichzeitig den Pflegenden, egal ob    Pflegeleistungen).01
beruflich oder familiär, würdige Arbeits- bezie-
hungsweise Pflegebedingungen und (materielle)                  STRUKTURPRINZIPIEN
Anerkennung zukommen zu lassen.                             DER PFLEGEVERSICHERUNG

                RÜCKBLICK:                         Im beschriebenen Spannungsfeld zwischen
       DIE KOLLEKTIVE ABSICHERUNG                  sozial(politisch)en Versorgungsnotwendigkeiten
     DES PFLEGEBEDÜRFTIGKEITSRISIKOS               und ökonomischen Restriktionen ist eine umla-
                                                   gefinanzierte Sozialversicherung entstanden, in
Mitte der 1990er Jahre wurde nach gut 20-jäh-      der alle – also nicht nur abhängig Beschäftigte,
riger Diskussion die gesetzliche Pflegeversiche-   sondern auch Beamt/innen und Selbstständige –
rung in Deutschland eingeführt. Zuvor galt das     im sozialen oder im privaten Zweig pflichtver-
Risiko, pflegebedürftig zu werden, als private     sichert sind. Im Unterschied zur Krankenversi-
Angelegenheit. Auf die politische Agenda geriet    cherung erhalten alle die gleichen pflegerischen
das Politikfeld „Pflege“ aus mehreren Gründen:     Leistungen, die allerdings aus Gründen der Bei-
erstens infolge der Überlastung der Kommunen       tragssatzstabilität und Kostenbegrenzung auf das
durch enorme pflegebedingte Sozialhilfeausga-      Niveau einer pflegerischen Grundversorgung be-
ben, zweitens – damit zusammenhängend – durch      schränkt wurden. Zudem wurde das Feld öko-
die Degradierung der hochbetagten, meist weib-     nomisiert und ein Pflegemarkt etabliert, auf dem
lichen stationär versorgten Pflegebedürftigen zu   die bis dahin dominierenden freigemeinnützigen
Sozialhilfe- und damit „Taschengeld“-Empfänger­    Träger nun mit den neu hinzukommenden priva-
innen, drittens aufgrund der quantitativen und     ten Anbietern konkurrieren müssen. Des Weite-

04
Pflege APuZ

ren werden seitdem alle privaten und freigemein-                         2018 waren 82 Millionen Menschen pflegever-
nützigen Träger von den Pflegekassen zugelassen,                     sichert, davon knapp 73 Millionen in der sozialen
sofern sie die gesetzlichen Anforderungen erfül-                     und 9 Millionen in der privaten Pflegeversiche-
len. Zu Beginn wurde zwischen drei Pflegestufen                      rung. Die Einnahmen und die Ausgaben der sozi-
unterschieden. Seit 2017 sind diese durch das Sys-                   alen Pflegeversicherung haben sich seit 2003 mehr
tem der Pflegegrade ersetzt worden. Die Pflege-                      als verdoppelt und liegen aktuell (2018) bei etwa
bedürftigen (und ihre Angehörigen) können nach                       38 Milliarden Euro (Einnahmen) beziehungs-
der Einstufung durch den Medizinischen Dienst                        weise 39 Milliarden Euro (Ausgaben). Zwischen
der Krankenversicherung (MDK) zwischen Pfle-                         2008 und 2016 gab es einen Einnahmeüberschuss,
gegeld (zwischen 125 und 901 Euro), Pflegesach-                      in den vergangenen beiden Jahren war der Saldo
leistungen (zwischen 689 und 1995 Euro) und                          dagegen negativ. Der Mittelbestand lag Ende 2018
stationärer Pflege (zwischen 125 und 2005 Euro)                      bei knapp 3,4 Milliarden Euro.03
wählen. Auch die Kombination von Pflegegeld
und ambulanten Sachleistungen ist möglich. Das                                        REGULIERUNG
Pflegegeld wird an die pflegebedürftige Person                                  DES POLITIKFELDES „PFLEGE“
ausgezahlt, die es an die pflegende(n) Person(en)
weiterleitet. Diese sind über die Pflegeversiche-                    Der gesetzliche Rahmen der Pflegeversicherung
rung renten- und unfallversichert. Zudem kön-                        wird auf Bundesebene festgelegt. Für pflegepoli-
nen Leistungen für Verhinderungs-, Kurzzeit-,                        tische Reformen ist das Bundesgesundheitsminis-
Tages- und Nachtpflege in Anspruch genommen                          terium federführend zuständig. Für den Bereich
werden. Des Weiteren wurde der Grundsatz des                         der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege kann die
Vorrangs der häuslich-ambulanten Pflege gesetz-                      Zuständigkeit aber auch an das Bundesfamilien-
lich verankert. Die Pflegeleistungen haben nur                       ministerium fallen, und für den Bereich der Fest-
ergänzenden Charakter und sollen die familiäre,                      legung von Mindestlöhnen in der Pflege ist das
nachbarschaftliche und ehrenamtliche Pflege un-                      Bundesarbeitsministerium zuständig.
terstützen. Auch die Pflegeberatung und Pflege-                          Die Bundesländer, die Kommunen, die Pfle-
kurse sowie Pflegehilfsmittel und Maßnahmen                          geeinrichtungen sowie die Pflegekassen sollen
zur Verbesserung des Wohnumfeldes fallen in                          eng zusammenwirken, „um eine leistungsfähige,
den Anspruchs- und Leistungskatalog der Pfle-                        regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander
geversicherung.                                                      abgestimmte ambulante und stationäre pflegeri-
    Finanziert wird die Pflegeversicherung pa-                       sche Versorgung der Bevölkerung zu gewährleis-
ritätisch durch Beiträge der Beschäftigten und                       ten“ (§ 8 Abs. 2 SGB XI). In diesem Kontext sind
der Arbeitgeber, wobei die Kosten de facto al-                       die Bundesländer für die Vorhaltung einer leis-
leine von den Beschäftigen getragen werden, da                       tungsfähigen, ausreichenden und wirtschaftlichen
ein Feiertag (der Buß- und Bettag) zur Kompen-                       Pflegeinfrastruktur inklusive der Investitionskos-
sation der Arbeitgeberbeiträge gestrichen wurde.                     ten im stationären und ambulanten Bereich zu-
Der Beitragssatz betrug zu Beginn 1,7 Prozent;                       ständig. Die Kommunen haben sich dagegen seit
aktuell liegt er bei 3,05 beziehungsweise 3,3 Pro-                   Einführung der Pflegeversicherung vielfach aus
zent für Kinderlose.02                                               ihrer Verantwortung für die pflegerische Versor-
                                                                     gung zurückgezogen, auch wenn die Leistungs-
01 Vgl. Diana Auth, Pflegearbeit in Zeiten der Ökonomisie-           erbringung weiterhin auf der kommunalen Ebe-
rung. Wandel von Care-Regimen in Großbritannien, Schweden            ne erfolgt.04
und Deutschland, Münster 2017, S. 278 ff.; Stephan Lessenich,            Der Sicherstellungsauftrag liegt bei den
Dynamischer Immobilismus. Kontinuität und Wandel im deutschen
                                                                     Pflegekassen, denen im Rahmen der Pflege-
Sozialmodell, Frank­furt/M.–New York 2003, S. 218 ff.; Jörg
Alexander Meyer, Der Weg zur Pflegeversicherung. Positionen,
                                                                     versicherung eine wichtige Machtposition zu-
Akteure, Politikprozesse, Frank­furt/M. 1996; Rolf Rosenbrock/Tho-
mas Gerlinger, Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung,
Bern 20062, S. 321 f.                                                03 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Zahlen und
02 Die höheren Beiträge für Kinderlose sind die politische           Fakten zur Pflegeversicherung, 21. 6. 2019, www.bundesgesund-
Antwort auf ein Bundesverfassungsgerichtsurteil. Vgl. Gerhard        heitsministerium.de/fileadmin/Dateien/Downloads/Statistiken/
Naegele, 20 Jahre Verabschiedung der gesetzlichen Pflegeversi-       Pflegeversicherung/Zahlen_und_Fakten/Zahlen-u-Fakten-zur-
cherung. Eine Bewertung aus sozialpolitischer Sicht, 2014, S. 17,    Pflegeversicherung_2019.pdf.
https://library.fes.de/pdf-files/wiso/10541.pdf.                     04 Vgl. Naegele (Anm. 2), S. 43.

                                                                                                                                     05
APuZ 33–34/2019

kommt. Um ein bedarfsdeckendes, wirksames                           tigten die kurzzeitige Arbeitsverhinderung in
und wirtschaftliches pflegerisches Angebot si-                      Anspruch genommen, aber nur die Hälfte davon
cherzustellen, schließen die Pflegekassen Ver-                      hat das Unterstützungsgeld ­beantragt.06
sorgungsverträge mit den Anbietern pflegeri-                            2012 wurde unter Bundesfamilienministerin
scher Dienstleistungen ab. Ein weiteres Element                     Schröder (CDU) die Familienpflegezeit einge-
dieser korporatistischen Steuerung sind die                         führt. Danach können pflegende Beschäftigte ihre
Vergütungs- und Pflegesatzverhandlungen, im                         Arbeitszeit für bis zu zwei Jahre reduzieren. Zu
Rahmen derer die Pflegekassen sowie weitere                         Beginn erhielten sie einen Lohnvorschuss durch
Kostenträger mit den Pflegeeinrichtungen auf                        den Arbeitgeber, dazu mussten sie sich durch
individueller, unter Umständen auch auf regio-                      eine Familienpflegezeitversicherung gegen Er-
naler oder auf Landesebene die Vergütungen für                      werbsausfälle absichern. Seit 2015 wird der Vor-
die pflegerischen Leistungen verhandeln. Beauf-                     schuss aus staatlichen Mitteln vorfinanziert. In
sichtigt werden die Pflegekassen vom Bundes-                        der „Pflegephase“ arbeiten die pflegenden Ange-
gesundheitsministerium, dem Bundesversiche-                         hörigen Teilzeit (mindestens 15 Wochenstunden)
rungsamt und den Gesundheitsministerien der                         und erhalten als zinsloses Darlehen die Hälfte
Bundesländer.05                                                     des Nettogehalts, das durch die Arbeitszeitredu-
                                                                    zierung fehlt. In der „Nachpflegephase“ arbei-
               PFLEGEPOLITIK:                                       ten die Beschäftigen wieder Vollzeit und müssen
          WICHTIGE PFLEGEREFORMEN                                   den Kredit in Raten zurückzahlen. Seit 2015 be-
                                                                    steht auch ein Rechtsanspruch auf Familienpfle-
Bereits kurz nach der Einführung der Pflegever-                     gezeit in Unternehmen mit mehr als 25 Beschäfti-
sicherung wurden Reformbedarfe sichtbar, die                        gen. Auch von der Familienpflegezeit wird kaum
beispielsweise die Qualitätssicherung, die Pflege­                  Gebrauch gemacht. Von allen erwerbstätigen An-
bera­tung oder den Pflegebedürftigkeitsbegriff be-                  gehörigen nahmen 2016 knapp 2 Prozent die Fa-
trafen. Einige der wichtigsten pflegepolitischen                    milienpflegezeit in Anspruch. Viele halten sie für
Reformen werden im Folgenden exemplarisch                           nicht notwendig.07
dargestellt.                                                            Insgesamt lässt sich aufgrund der geringen In-
                                                                    anspruchnahme schlussfolgern, dass die beiden
                     Vereinbarkeit                                  Maßnahmen wenig zur Vereinbarkeit von Beruf
                  von Beruf und Pflege                              und Pflege beitragen.
2008 wurde im Rahmen des Pflege-Weiterent-
wicklungsgesetzes unter Bundesgesundheitsmi-                                             Reform des
nisterin Ulla Schmidt (SPD) eine Pflegezeit einge-                                Pflegebedürftigkeitsbegriffs
führt. Seitdem besitzen erwerbstätige Pflegende                     Bei der Einführung der Pflegeversicherung galt
in Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten ei-                    jemand als pflegebedürftig, der Hilfebedarf bei
nen Rechtsanspruch auf eine bis zu sechsmona-                       den Verrichtungen des täglichen Lebens, wie
tige Erwerbsunterbrechung oder Arbeitszeitver-                      Körperpflege, Ernährung, Mobilität und haus-
kürzung. Lohnersatzleistungen werden in dieser                      wirtschaftliche Versorgung, aufwies. Je nach dem
Zeit nicht gezahlt. Seit 2015 besteht die Möglich-                  Grad der Pflegebedürftigkeit wurde zwischen
keit, in den ersten zehn Tagen, die als „kurzzei-                   drei Pflegestufen unterschieden. Dieser stark ver-
tige Arbeitsverhinderung“ der Bewältigung der                       richtungsbezogene Pflegebedürftigkeitsbegriff
akuten Pflegesituation dienen, ein Pflegeunter-                     wurde von Beginn an kritisiert, da weder die Be-
stützungsgeld aus den Mitteln der Pflegeversi-                      reiche Kommunikation und soziale Teilhabe noch
cherung zu beziehen. 2016 haben gerade einmal                       Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarfe, die
2 Prozent der Anspruchsberechtigten die Pflege-                     insbesondere bei Menschen mit kognitiven und
zeit genutzt. Der Anteil hat sich seit 2010 nicht                   psychischen Beeinträchtigungen wichtig sind, be-
erhöht. 40 Prozent der Anspruchsberechtigten
kennen die Maßnahme überhaupt nicht. Im sel-
                                                                    06 Vgl. Ulrich Schneekloth et al., Abschlussbericht. Studie zur
ben Jahr haben 8 Prozent aller Anspruchsberech-
                                                                    Wirkung des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes (PNG) und des ers-
                                                                    ten Pflegestärkungsgesetzes (PSG I) im Auftrag des BMG, München
05 Vgl. Rosenbrock/Gerlinger (Anm. 1), S. 315 ff.; Thomas Gerlin-   2017, S. 65 ff.
ger/Michaela Röber, Die Pflegeversicherung, Bern 2009.              07 Vgl. ebd., S. 69 f.

06
Pflege APuZ

rücksichtigt wurden. In der Folge wurden in allen                  als die Maßnahmen der Pflegestärkungsgesetze zu
Pflegereformen die Leistungen für Pflegebedürf-                    greifen begannen. In deren Rahmen wurde eine
tige mit eingeschränkter Alltagskompetenz aus-                     Prüfung der Anpassung der Pflegeleistungen an
gedehnt, ohne die demenziell Erkrankten jedoch                     die Preisentwicklung vorgenommen, die nun alle
strukturell in die Pflegebedürftigkeitsdefinition                  drei Jahre erfolgen soll. Das bedeutet zum einen,
aufzunehmen. Dies geschah erst 2017 im Rahmen                      dass seit 2017 mehr Menschen in den Genuss (er-
des Pflegestärkungsgesetzes II. Nachdem zwei                       höhter) Pflegeversicherungsleistungen kommen,
Pflegekommissionen getagt und ihre Ergebnis-                       vor allem demenziell erkrankte Menschen. Zum
se vorgetragen hatten, ließen die Große Koaliti-                   anderen haben Menschen, die keinem Pflegegrad
on (2005–2009) und die konservativ-liberale Ko-                    zugeordnet werden (ehemalige „Pflegestufe 0“10),
alition (2009–2013) die politische Entscheidung,                   nun keinen Anspruch mehr auf Hilfe zur Pflege,
mehr Geld in die Absicherung der Pflege zu in-                     sondern müssen über andere Sozialhilfeleistungen
vestieren oder die Leistungen zu kürzen, unbe-                     versorgt werden.11 Es bleibt jedoch festzuhalten,
antwortet.08 Erst die Große Koalition mit Bun-                     dass die bisherigen Dynamisierungsmaßnahmen
desgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU)                         die Kaufkraftverluste seit Einführung der Pflege-
traf die Entscheidung zugunsten der demenziell                     versicherung nicht ausgeglichen haben.12
Erkrankten und setzte das lang geplante und in
Modellprojekten vorbereitete Vorhaben um. Die                               ZAHL DER PFLEGEBEDÜRFTIGEN
Verschleppung der Reform des Pflegebedürftig-                                UND AKTUELLE PROGNOSEN
keitsbegriffs zeigt deutlich, wie abhängig die Pfle-
geversicherung von politischen Mehrheiten und                      Die Zahl der Pflegebedürftigen ist seit der Einfüh-
der Haushaltslage ist.                                             rung der Pflegeversicherung stetig angestiegen.13
     Anfang 2017 wurden die Pflegestufen durch                     Waren 1999 gut 2 Millionen Menschen pflegebe-
das System der Pflegegrade ersetzt, in dem nun                     dürftig, so sind es 2017 bereits knapp 3,4 Millio-
die selbstständige Alltagsbewältigung im Mittel-                   nen.14 Das entspricht einer Steigerung um etwa
punkt der Einstufung steht. Auf diese Weise wer-                   70 Prozent. Zwischen 2015 und 2017 ist der An-
den nun auch Betreuungsbedarfe sowie geistige                      teil der Pflegebedürftigen infolge der Einführung
und psychische Beeinträchtigungen erfasst und                      des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs um knapp
mit abgesichert. Die Reform ist mit zusätzlichen                   ein Fünftel angestiegen. Der starke Anstieg geht
Ausgaben verbunden, da keine Pflegebedürftigen                     auf die Integration der demenziell Erkrankten
schlechter gestellt werden sollen.

                        Erhöhung                                   10 Pflegebedürftige ohne Pflegestufe mit erheblich eingeschränk-
                                                                   ter Alltagskompetenz.
                   der Pflegeleistungen
                                                                   11 Vgl. Arbeitsgruppe Fokusbericht, Fokusbericht: Leistungen
Die Pflegeversicherungsleistungen haben seit Be-                   nach dem 7. Kapitel SGBXII – Hilfe zur Pflege im Jahr 2017. Aus-
stehen zu erheblichen Kaufkraftverlusten ge-                       wirkungen der Pflegestärkungsgesetze, Hamburg 2018, https://
führt. Da es keine automatischen Anpassungen                       consens-info.de/images/veroeffentlichungen/sgb_XII/grossstaed-
gab, sank der Wert der Pflegeleistungen von Jahr                   te/2018-09-13_BM-GS_Bericht-HzP_Endfassung.pdf.
                                                                   12 Vgl. Rosenbrock/Gerlinger (Anm. 1), S. 328; Naegele
zu Jahr – abgesehen von den (wenigen) Jahren, in
                                                                   (Anm. 2), S. 18.
denen die Pflegeleistungen durch politischen Be-                   13 Die Pflegestatistik wird seit 1999 alle zwei Jahre vom Statis-
schluss erhöht wurden (2008, 2010 und 2012). Die                   tischen Bundesamt erstellt, die jüngsten Daten stammen aus dem
schleichende Entwertung der Pflegeleistungen                       Jahr 2017.
hatte zur Folge, dass sich die Zahl der Bezieher/-                 14 Statistisches Bundesamt, Kurzbericht Pflegestatistik 1999.
                                                                   Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse,
innen von Hilfe zur Pflege seit 1999 wieder stetig
                                                                   Bonn 2011; dass., Pflegestatistik 2015. Pflege im Rahmen der Pfle-
erhöht hat.09 Diese Entwicklung endete allerdings,                 geversicherung. Deutschlandergebnisse, Wiesbaden 2017. Anmer-
                                                                   kung: Aufgrund einer Ermittlungsänderung bei der Erfassung der
                                                                   Zahl der Pflegebedürftigen im Jahr 2009 ist eine Vergleichbarkeit
08 Vgl. Naegele (Anm. 2), S. 31.                                   der Daten nur eingeschränkt möglich. Die Gesamtzahl der Pflege-
09 Vgl. Statistisches Bundesamt, Sozialhilfe. Empfängerinnen       bedürftigen ist ab 2009 etwas niedriger (ca. 1 Prozentpunkt), weil
und Empfänger von Hilfe zur Pflege insgesamt im Laufe des          Doppelzählungen im Bereich der teilstationär Versorgten stärker
Jahres im Zeitvergleich, 21. 6. 2019, www.destatis.de/DE/Themen/   vermieden wurden. Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik
Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Sozialhilfe/Tabellen/hzp-t04-empf-    2009. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlander-
insg-odl-geschl-ilj-zv-ab1995.html.                                gebnisse, Wiesbaden 2011, S. 27.

                                                                                                                                  07
APuZ 33–34/2019

zurück, die zum Teil vorher auch schon Leistun-                    nimmt das sogenannte häusliche Pflege­potenzial
gen der „Pflegestufe 0“ erhalten hatten. Infol-                    ab. Dennoch wird auch heute noch der größte
ge der längeren Lebenserwartung sind etwa zwei                     Teil der Pflegebedürftigen (52 Prozent) zuhau-
Drittel der Pflegebedürftigen weiblich.                            se ausschließlich durch Angehörige versorgt.19
    Aufgrund des demografischen Wandels wird                       Auch 1999 wurde gut die Hälfte der Pflegebe-
die Zahl der Pflegebedürftigen weiter steigen, da-                 dürftigen zuhause allein durch Angehörige ver-
rin sind sich alle Prognosen einig.15 Nach einer                   sorgt. Der Anteil sank bis 2009 auf 46 Prozent;
Prognose des Instituts der deutschen Wirtschaft                    seitdem steigt er wieder an.20
(IW), in die die Umstellung auf Pflegegrade noch                       Ein genauerer Blick auf die häuslichen Haupt-
nicht eingerechnet wurde, steigt die Zahl der Pfle-                pflegepersonen ergibt, dass gut ein Drittel der
gebedürftigen bis 2035 auf über 4 Millionen, wenn                  Pflegebedürftigen von ihren Partner/innen ge-
man von einem gleichbleibenden Gesundheitszu-                      pflegt wird. Der Anteil ist seit 1998 relativ kon-
stand ausgeht. Damit würde die Zahl der Pflege-                    stant. Gut ein Zehntel der Pflegebedürftigen wur-
bedürftigen in 20 Jahren um ein Drittel zunehmen.                  de 2016 von ihren Söhnen, gut ein Viertel von
Von dieser Entwicklung sind insbesondere die                       ihren Töchtern gepflegt, wobei sich der Anteil
ostdeutschen Bundesländer betroffen, die einen                     der pflegenden Söhne von 1998 bis 2010 verdop-
höheren Anteil älterer Menschen aufweisen.16 Das                   pelt hat und seitdem stagniert. Demgegenüber ist
Bundesgesundheitsministerium geht auf der Basis                    der Anteil der pflegenden Töchter bis 2010 um
der Geschäftsstatistik der Pflegekassen und unter                  3 Prozentpunkte zurückgegangen und danach
der Annahme konstanter altersspezifischer Pflege-                  ebenfalls konstant geblieben.21 Auch wenn nach
wahrscheinlichkeiten aktuell davon aus, dass sich                  wie vor der größte Teil der häuslich Pflegenden
die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 auf 4,6                    weiblich ist, pflegen Männer heute deutlich häufi-
und bis 2060 auf 5,9 Millionen erhöhen wird.17                     ger: Der Anteil der männlichen Hauptpflegeper-
                                                                   sonen ist seit 1998 um 11 Prozentpunkte von 20
               WANDEL VON                                          auf 31 Prozent im Jahr 2016 angestiegen.22
        VERSORGUNGSARRANGEMENTS                                        Diese Entwicklung geht einher mit dem Trend
                                                                   zur Parallelität von Erwerbstätigkeit und häusli-
Ein Blick auf die Haushaltsformen der Pflegebe-                    cher Pflege. Waren im Jahr 1998 noch 64 Prozent
dürftigen zeigt, dass sich ein Trend zum Alleinle-                 der Hauptpflegepersonen im erwerbsfähigen Al-
ben abzeichnet: Während der Anteil der alleinle-                   ter nicht erwerbstätig, sinkt der Anteil seitdem
benden Pflegebedürftigen – viele davon verwitwet                   kontinuierlich. 2016 waren es schon nur noch
– von 22 Prozent im Jahr 1998 auf 34 Prozent im                    35 Prozent. Von allen Hauptpflegepersonen im
Jahr 2016 angestiegen ist, so ist fast spiegelbild-                erwerbsfähigen Alter arbeiteten 2016 28 Prozent
lich der Anteil der Verwitweten, die mit ihren                     in Vollzeit und 36 Prozent in Teilzeit- oder ge-
Angehörigen in einem Haushalt wohnen, gesun-                       ringfügiger Beschäftigung. Differenziert nach
ken (von 28 auf 17 Prozent). Im selben Zeitraum                    Geschlecht zeigt sich ein etwas höherer Anteil an
wohnten konstant 28 Prozent der Pflegebedürf-                      Männern beziehungsweise Söhnen, die Pflegeauf-
tigen mit ihrem (Ehe-)Partner oder ihrer (Ehe-)                    gaben mit einer Erwerbstätigkeit vereinbaren.
Partnerin im selben Haushalt.18
    Neben Haushaltsveränderungen seitens der                       19 Vgl. Statistisches Bundesamt 2017 (Anm. 14); eigene Berech-
Pflegebedürftigen zeichnet sich zudem ein sozio­                   nungen.
demo­ grafischer Wandel bei den häuslich Pfle-                     20 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik, verschiedene
genden ab. Aufgrund des Anstiegs der Frauener-                     Jahrgänge, eigene Berechnungen. Anmerkung: Der Anstieg des
                                                                   Anteils der „allein durch Angehörige versorgten Pflegebedürfti-
werbstätigkeit und der zunehmenden Mobilität
                                                                   gen“ wird in der Pflegestatistik etwas zu hoch ausgewiesen. Die
                                                                   Vergleichbarkeit der Daten ist nur eingeschränkt möglich. Vgl.
15 Vgl. Heinz Rothgang/Rolf Müller/Rainer Unger, Themenreport      Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2011. Pflege im Rahmen
„Pflege 2030“. Was ist zu erwarten – was ist zu tun?, Gütersloh    der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse, Wiesbaden 2013,
2012; BMG (Anm. 3); Susanna Kochskämper, Die Entwicklung der       S. 27; siehe auch Heinz Rothgang et al., Barmer Pflegereport
Pflegefallzahlen in den Bundesländern. Eine Simulation bis 2035,   2012, Berlin 2012, S. 80 ff.
IW-Report 33/2018; Gerlinger/Röber (Anm. 5).                       21 Vgl. Schneekloth et al. (Anm. 6), S. 56.
16 Vgl. Kochskämper (Anm. 15), S. 14 ff.                           22 Vgl. ebd., S. 57. Diese Entwicklung lässt sich auch mit den
17 Vgl. BMG (Anm. 3), S. 15, ohne private Pflegeversicherung.      Daten der Deutschen Rentenversicherung zeigen. Vgl. Rothgang
18 Vgl. Schneekloth et al. (Anm. 6), S. 56.                        et al. (Anm. 20), S. 82.

08
Pflege APuZ

Dabei arbeitet die Hälfte der pflegenden Männer                  men. Waren 1999 etwa 184 000 Personen in am-
im erwerbsfähigen Alter Vollzeit, bei den Frauen                 bulanten Diensten beschäftigt, sind es 2017 mit
ist es nur ein Fünftel.23                                        390 000 mehr als doppelt so viele. In den Pflege-
     Mehr pflegende Männer beziehungswei-                        heimen waren 1999 gut 440 000 Beschäftige an-
se Söhne und mehr erwerbstätige Pflegende er-                    gestellt; 2017 sind es 765 000 Personen. Das ent-
klären, warum der Anteil der Pflegebedürftigen,                  spricht einer Steigerung um 75 Prozent.26 Über
die Unterstützung durch ambulante Pflegediens-                   80 Prozent der beruflich Pflegenden sind Frau-
te in Anspruch nehmen, kontinuierlich angestie-                  en.27
gen ist und zwar von 21 Prozent im Jahr 1999 auf                     Ein Blick auf die Qualifikationsstrukturen
24 Prozent im Jahr 2017. Demgegenüber ist der                    zeigt, dass 47 Prozent der Beschäftigten in ambu-
Anteil der stationär versorgten Pflegebedürftigen                lanten Diensten und 31 Prozent der Beschäftig-
von 28 Prozent (1999) zunächst bis auf 32 Pro-                   ten in Pflegeheimen Pflegefachkräfte im Sinne der
zent im Jahr 2007 angestiegen. Seitdem sinkt er                  Pflegeversicherung sind. Die Pflegefachkraftquo-
wieder und liegt aktuell bei 24 Prozent.24                       te hat sich in den ambulanten Diensten zwischen
                                                                 1999 bis 2011 von 48 auf 52 Prozent erhöht. Seit-
                       WANDEL                                    dem ist sie wieder auf 47 Prozent gefallen. Auch
                 DER PFLEGEBRANCHE                               in den Pflegeheimen ist der Anteil der Pflegefach-
                                                                 kräfte zunächst bis 2013 leicht gestiegen und seit-
Seit der Einführung der Pflegeversicherung wur-                  dem wieder gesunken. Hier zeigt sich bereits der
de die Pflegeinfrastruktur stark ausgebaut. Die                  Fachkräftemangel. Auf den gesamten Zeitraum
Zahl der ambulanten Pflegedienste stieg von                      bezogen (1999 bis 2017) ist die Zahl der Pflege-
knapp 11 000 im Jahr 1999 auf gut 14 000 im Jahr                 fachkräfte in den ambulanten Diensten um über
2017. Die Zahl der Pflegeheime hat sich im sel-                  100 Prozent gestiegen, während ihr Anteil am ge-
ben Zeitraum von knapp 9000 auf knapp 15 000                     samten Personal um 3 Prozent gesunken ist. In
erhöht. Der politisch initiierte Wettbewerb zwi-                 den Pflegeheimen ist die Zahl der Pflegefachkräf-
schen privaten und freigemeinnützigen Trägern                    te im selben Zeitraum um 75 Prozent gestiegen,
hat die Pflegelandschaft allerdings stark verän-                 während die Pflegefachkraftquote nur leicht, um
dert. Lag der Anteil der privaten Träger ambulan-                knapp 1 Prozent, gestiegen ist.28
ter Pflegedienste 1999 noch bei etwa 51 Prozent,                     Betrachtet man die Struktur der Beschäfti-
so lag er 2017 bei 66 Prozent. Das entspricht ei-                gungsverhältnisse, fällt auf, dass der Anteil der
ner Steigerung um 30 Prozent. Bei den Pflegehei-                 Vollzeitbeschäftigten seit 1999 ab-, der Anteil
men hat sich eine ähnliche Entwicklung vollzo-                   der Teilzeitbeschäftigten hingegen zugenommen
gen: Der Anteil der privaten Pflegeheime ist im                  hat. Aktuell arbeiten 69 Prozent der Beschäftig-
selben Zeitraum von 35 auf 43 Prozent angestie-                  ten in ambulanten Diensten und 63 Prozent der
gen. Dies entspricht einer Steigerung um 22 Pro-                 Beschäftigten in Pflegeheimen Teilzeit.29 In der
zent.25 Die Verlierer dieser Entwicklung sind die                Pflegebranche wird Teilzeitarbeit gerne genutzt,
freigemeinnützigen Träger, die erhebliche Markt-                 um Personalengpässe zu bewältigen und Flexibi-
anteile an die privaten Anbieter verloren haben.                 litätsressourcen auszuschöpfen.30 Aber auch die
Kommunale Anbieter spielen im Pflegebereich                      Pflegenden selbst wünschen häufig eine Teilzeit-
kaum eine Rolle.                                                 beschäftigung, um die gesundheitlichen Belastun-

         Pflegepersonal: Professionalisierung
                 und Prekarisierung                              26 Vgl. ebd.
                                                                 27 Vgl. Statistisches Bundesamt 2017 (Anm. 14).
Infolge der Zunahme der Zahl der Pflegebedürfti-
                                                                 28 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik, verschiedene
gen und des Ausbaus der Pflegeinfrastruktur hat                  Jahrgänge, eigene Berechnungen.
auch das Personal in der Pflegebranche zugenom-                  29 Vgl. Statistisches Bundesamt 2001 und 2017 (Anm. 14);
                                                                 eigene Berechnungen.
                                                                 30 Vgl. Guido Becke/Peter Bleses, Pflegepolitik ohne Arbeits-
23 Vgl. Schneekloth et al. (Anm. 6), S. 58.                      politik? Entwicklungen im Feld der Altenpflege, in: Jahrbuch
24 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik, verschiedene   für Christliche Sozialwissenschaften 2016, S. 116; Hildegard
Jahrgänge, eigene Berechnungen.                                  Theobald/Marta Szebehely/Maren Preuß, Arbeitsbedingungen in
25 Vgl. Statistisches Bundesamt 2001 und 2017 (Anm. 14);         der Altenpflege. Die Kontinuität der Berufsverläufe – ein deutsch-
eigene Berechnungen.                                             schwedischer Vergleich, Berlin 2013, S. 63 f.

                                                                                                                                 09
APuZ 33–34/2019

gen, die mit der Tätigkeit einhergehen, bewälti-                      der Universität Bremen zufolge entsteht bei Fort-
gen zu ­können.31                                                     schreibung des Status quo bis 2030 eine Versor-
    Die Löhne der Pflegenden liegen unterhalb                         gungslücke von 434 000 Pflegekräften (Vollzei-
des Medians aller sozialversicherungspflichtig                        täquivalente). Forscher/innen der Prognos AG
Beschäftigten. Ein/e vollzeitbeschäftigte/r Al-                       gehen unter Berücksichtigung des neuen Pflege-
tenpfleger/in verdiente in Westdeutschland 2017                       bedürftigkeitsbegriffs von einem Personalbedarf
brutto knapp 2900 Euro, in Ostdeutschland etwa                        von 517 000 im Jahr 2030 aus.37
2400 Euro. Verglichen mit dem Median der so-
zialversicherungspflichtig Beschäftigten sind dies                                        „KONZERTIERTE
15 Prozent weniger in West- und 10 Prozent we-                                            AKTION PFLEGE“
niger in Ostdeutschland. Altenpflegehelfer/innen
verdienen sogar 40 Prozent weniger als der Me-                        Die Große Koalition mit Bundesgesundheitsmi-
dian.32 Hieran zeigt sich deutlich, dass Pflegear-                    nister Jens Spahn (CDU) hat erkannt, dass der
beit – trotz Professionalisierung – nach wie vor                      Fachkräftemangel mittlerweile eines der drän-
unterdurchschnittlich entlohnt wird. Vergleicht                       gendsten pflegepolitischen Probleme darstellt.
man die Lohnentwicklung in der Altenpflege-                           Daher wurden zunächst im Rahmen des Pflege-
branche mit der Gesamtwirtschaft, zeigt sich eine                     personal-Stärkungsgesetzes 2019 13 000 zusätzli-
unterdurchschnittliche Entwicklung. Ursachen                          che Pflegefachkräfte für die medizinische Behand-
hierfür sind vor allem die Lohnkonkurrenz zwi-                        lungspflege in Pflegeheimen über die gesetzliche
schen privaten und freigemeinnützigen Trägern                         Krankenversicherung finanziert. Bislang konnten
und die fehlenden Tarifverträge in der Pflege-                        allerdings nur wenige Stellen besetzt werden.38
branche.33 Seit 2010 gibt es immerhin einen Bran-                         Zudem sind unter dem Label „Konzertierte
chenmindestlohn, der die Abwärtsspirale ge-                           Aktion Pflege“ die höhere Bezahlung von Pfle-
stoppt hat.34 Er liegt aktuell in Westdeutschland                     gekräften, ein besserer Personalschlüssel und eine
bei 11,05 Euro und in den östlichen Bundeslän-                        Ausbildungsoffensive geplant. Dabei ist den poli-
dern bei 10,55 Euro.35                                                tischen Akteuren der Großen Koalition mittler-
    Nicht zuletzt aufgrund der niedrigen Löhne                        weile deutlich geworden, dass die Erhöhung der
und der schlechten Arbeitsbedingungen (Stich-                         Löhne in der Pflegebranche mithilfe politischer
wort: Minutenpflege) ist mittlerweile bundesweit                      Maßnahmen schwierig ist, denn zum einen fehlt
ein Fachkräftemangel in der Altenpflege erkenn-                       ein Tarifvertrag, der für allgemeinverbindlich er-
bar. Im Jahresdurchschnitt 2018 waren 24 000 of-                      klärt werden könnte, zum anderen zeigt der pri-
fene Stellen für Altenpflegefach- und -hilfskräfte                    vate Arbeitgeberverband in der Pflege wenig Be-
bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet.36 Be-                      reitschaft, bundeseinheitliche Lohnstrukturen
rechnungen von Heinz Rothgang und Kollegen                            zu verhandeln. Es bleibt abzuwarten, inwieweit
                                                                      der Versuch der Tarifvertragsparteien gelingt, ei-
31 Vgl. Denise Becka/Michaela Evans/Fikret Öz, Teilzeitarbeit in      nen Tarifvertrag zu vereinbaren, den Bundesar-
Gesundheit und Pflege. Profile aus Perspektive der Beschäftigten im   beitsminister Hubertus Heil (SPD) dann auf der
Branchen- und Berufsvergleich, in: Forschung aktuell 2/2016, S. 12.   Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
32 Vgl. Diana Auth, Der Wandel der Arbeitsbedingungen in der
                                                                      (unter Berücksichtigung des kirchlichen Selbst-
Pflege im Kontext von Ökonomisierungsprozessen, in: Clarissa
Rudolph/Katja Schmidt (Hrsg.), Interessenpolitik und Care –
                                                                      bestimmungsrechts) für allgemeingültig erklä-
Voraussetzungen, Hürden und Perspektiven kollektiven Handelns,        ren kann. Als Alternative bliebe nur die Erhö-
Münster 2019 (i. E.).                                                 hung der Branchenmindestlöhne. Im Rahmen
33 Vgl. Diana Auth, Ökonomisierung von Pflege – Formalisierung        der Konzertierten Aktion wurde vorausschauend
und Prekarisierung von Pflegearbeit, in: WSI-Mitteilungen 6/2013,
                                                                      festgehalten, dass Lohnerhöhungen – sollten sie
S. 415 ff.; dies. (Anm. 32).
34 Vgl. Auth 2013 (Anm. 33), S. 416 f.
                                                                      durchgesetzt werden – Reformen der Pflegever-
35 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung,
Mindestlöhne in der Pflege steigen, 21. 6. 2019, www.bundes-          37 Vgl. Rothgang/Müller/Unger (Anm. 15), S. 53 ff.; Oliver
regierung.de/breg-de/aktuelles/mindestloehne-in-der-pflege-           Ehrentraut et al., Zukunft der Pflegepolitik – Perspektiven, Hand-
steigen-392506.                                                       lungsoptionen und Politikempfehlungen. Studie der Prognos AG im
36 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarktsituation im            Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2015, S. 12.
Pflegebereich, 21. 6. 2019, https://statistik.arbeitsagentur.de/      38 Vgl. u. a. Sven Loerzer, Spahns Pflege-Sofortprogramm wirkt
Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Berufe/generische-Publi-      in München nicht, 12. 8. 2019, https://www.sueddeutsche.de/​
kationen/Altenpflege.pdf.                                             1.456​0553.

10
Pflege APuZ

sicherung notwendig machen, da ansonsten die                        tungen im Rahmen der Pflegezeit (analog zur
Pflegebedürftigen aufgrund der gedeckelten Leis-                    Elternzeit). Ein weiteres Problem sind die nied-
tungen die höheren Lohnausgaben durch höhere                        rigen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen
Eigenbeteiligungen tragen müssen.39                                 in der weiblich konnotierten Pflegebranche, des-
                                                                    sen Katalysator nicht zuletzt der bewusst initi-
                            FAZIT                                   ierte Wettbewerb zwischen freigemeinnützigen
                                                                    und privaten Trägern war. Auch der Fachkräfte-
Nach 20-jähriger Diskussion wurde Mitte der                         mangel ist eine Folge davon.
1990er Jahre die gesetzliche Pflegeversicherung                          Die Ambitionen der „Konzertierten Aktion
als fünfte Säule des Sozialversicherungssystems                     Pflege“, die seit einem Vierteljahrhundert sichtba-
in Deutschland eingeführt. Als Kompromiss                           ren Fehlentwicklungen zu beseitigen, sind begrü-
zwischen dem sozialen Problemdruck und der                          ßenswert. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der
marktliberalen Leitideologie der konservativ-                       demografisch bedingten Zunahme der Zahl der
libera­len Bundesregierung wurde eine duale So-                     Pflegebedürftigen und des sinkenden häuslichen
zialversicherung mit einem sozialen und einem                       Pflegepotenzials. Es ist zudem dringend gebo-
privaten Zweig eingeführt, bei der aus ökono-                       ten, die Pflegeversicherung an den soziokulturel-
mischen Gründen auf eine Bedarfsdeckung ver-                        len Wandel anzupassen. Statt die ausschließliche
zichtet wurde und die mithilfe von Markt- und                       häusliche Pflege durch (weibliche) Angehörige,
Wettbewerbselementen kostengünstig sein und                         unter Umständen unterstützt von einer tendenzi-
bleiben sollte.                                                     ell irregulären „24-Stunden-Pflege“ durch osteu-
    Einige Konstruktionsfehler der Pflegever-                       ropäische Migrantinnen, zu fördern, sollte Pflege
sicherung sind mittlerweile behoben worden.                         – im Sinne der Intention der Pflegeversicherung –
Dazu zählt insbesondere die Reform des Pfle-                        als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet
gebedürftigkeitsbegriffs, der zufolge Pflegebe-                     werden. Das bedeutet die Förderung gemisch-
dürftige mit kognitiven und psychischen Beein-                      ter Pflegearrangements, deren Ausgangspunkt
trächtigungen nun (endlich) in den Genuss von                       die Normalität der Parallelität von (Vollzeit-)Er-
Pflegeversicherungsleistungen kommen. Andere                        werbstätigkeit und Pflege ist, die unterstützt wird
Konstruktionsfehler bestehen weiter. Dazu zählt                     durch ein niedrigschwelliges Case-Management
die Beschränkung auf eine Grundversorgung                           als Pflegebegleitung, (kultursensible) professio-
ohne regelmäßige Dynamisierung, aufgrund de-                        nelle Dienste und teilstationäre Angebote sowie
rer die Zuzahlungen der Pflegebedürftigen und                       neue Wohnformen und zivilgesellschaftliche Un-
ihrer Familien stetig steigen, insbesondere im                      terstützungsangebote vor Ort.
stationären Bereich. Um das Verarmungsrisiko
der Pflegebedürftigen zu minimieren, wäre eine
Reform in Richtung einer Vollversicherung mit
Selbstbeteiligung (im Sinne eines Sockelbetrags)
sinnvoll.40 Da diese mit erhöhten Kosten einher-
geht, müsste über Steuerzuschüsse an die Pflege-
versicherung nachgedacht werden. Des Weiteren
wird zwar pflegepolitisch seit Beginn das Prinzip
„ambulant vor stationär“ verfolgt, doch häuslich
Pflegende werden nach wie vor zu wenig unter-
stützt. Es fehlen beispielsweise Lohnersatzleis-

39 Vgl. BMG, Konzertierte Aktion Pflege, 21. 6. 2019, www.bun-
desgesundheitsministerium.de/konzertierte-aktion-pflege.html. Ein
Reformvorschlag hierzu findet sich bei: Heinz Rothgang/Thomas
Kalwitzki, Alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung – Ab-
bau der Sektorengrenzen und bedarfsgerechte Leistungsstruktur,
                                                                    DIANA AUTH
2018, www.pro-pflegereform.de/fileadmin/default/user_upload/
Gutachten_Rothgang_Kalwitzki_-_Alternative_Ausgestaltung_der_
                                                                    ist Professorin am Fachbereich Sozialwesen der
Pflegeversicherung.pdf.                                             Fachhochschule Bielefeld.
40 Vgl. ebd.                                                        diana.auth@fh-bielefeld.de

                                                                                                                     11
APuZ 33–34/2019

                                                ESSAY

                  GRUNDRECHT AUF PFLEGE?
         Ein Plädoyer für Selbstbestimmung und Autonomie
                     in schwieriger Lebenslage
                                         Thomas Noetzel

Sich dem Thema „Grundrecht auf Pflege“ zu wid-       ein Allgemeines menschlicher Existenz sichtbar
men, könnte die Erwartung aufkommen lassen, es       macht und damit aus sich selbst heraus grundle-
folgte eine rechtswissenschaftlich informierte Ab-   gende Rechte konstituiert.
handlung über die juristischen Bestimmungen
zur Versorgung im sogenannten Pflegefall. Dieser                   THEOLOGIE PRÄGT
stellt keinen rechtsfreien Raum dar. Pflegeversi-                    DEN DISKURS
cherungsgesetz, weitere Bestimmungen in den So-
zialgesetzbüchern, Regelungen zur Organisation       Blick man mit dieser Fragestellung auf die ein-
und Kontrolle von stationären und ambulanten         schlägigen philosophischen, theologischen und
Pflegeeinrichtungen, höchstrichterliche Entschei-    rechtstheoretischen Diskussionen, fällt auf, dass
dungen zur Freiheitsentziehung von Pflegebe-         in ihnen religiöse Begründungen einen erheb-
dürftigen oder familiärer Verpflichtung zur Pflege   lichen Raum einnehmen. Die Ansprüche pfle-
von Angehörigen – um solche Detailrechte geht        gebedürftiger Menschen werden abgeleitet aus
es hier nicht. Vielmehr darum, nach dem grund-       göttlicher Schöpfung und einer aus der menschen-
legenden Recht auf Pflege zu fragen, aus dem sich    bildlichen Gestalt Gottes abgeleiteten Schwester-
dann alle besonderen Rechte auf pflegerische Ver-    lichkeitsethik. Der Nächstenliebe kommt hier
sorgung ableiten, also um die Frage, ob es so et-    die zentrale Begründungsleistung zu. Pflegeri-
was wie ein Grundrecht auf Pflege gibt.              sche Versorgung ist Ausdruck einer durch die ca-
    Untersuchungen von Grundrechten und              ritas bestimmten Fürsorglichkeit. Allerdings ist
grundlegenden Verfassungsbestimmungen ope-           diese Sorge um den Menschen nur über spezifi-
rieren mit der Unterscheidung von fundamenta-        sche Vermittlungsschritte in ein Recht auf Pfle-
len Rechten (Rechte erster Ordnung) und abge-        ge zu übersetzen. In der Fürsorglichkeit steht das
leiteten Rechten (Rechte zweiter Ordnung). Die       Wohl der Pflegeempfänger (im normativ besten
Untersuchung der Rechte erster Ordnung be-           Falle) im Zentrum des Handelns der Pflegenden,
schäftigt sich vor allem mit den Begründungen        aber der Pflegebedürftige bleibt passiv Empfan-
der grundlegenden Rechte und ist deshalb von         gender. Man will sein „Bestes“, aber gerade das
großer Bedeutung, weil sich in ihnen die jewei-      müsste in rechtstheoretischen Überlegungen bei
ligen fundamentalen Auffassungen von der Stel-       ihm bleiben und nur für ihn verfügbar sein. Da
lung des Menschen und seinen daraus abgeleite-       es aber sowohl normativ in den einschlägigen so-
ten Rechten ausdrücken. Hinzu kommt, dass ein        zialrechtlichen Bestimmungen als auch praktisch
Grundrecht auf Pflege eben keine Ableitung aus       in der Organisation der Pflegearbeit um vielfäl-
anderen Grundrechten darstellt (in der Bundesre-     tige Rechtsansprüche (zweiter Ordnung) der
publik Deutschland wäre da etwa an die Wahrung       zu Pflegenden geht, muss eine genuin theologi-
der Würde des Menschen und sozialrechtliche          sche Begründung der Versorgung Pflegebedürfti-
Verpflichtungen des Grundgesetzes zu denken).        ger eine Verbindungsbrücke beschreiten von der
Es geht vielmehr darum zu prüfen, ob der Pfle-       religiösen Letztbegründung hin zur modernen
gefall einen individuellen und sozialen Tatbe-       Sozialstaatlichkeit.
stand ausmacht, der sowohl eine besondere Qua-           Ein Spannungsmoment, das sich hier zeigt,
lität menschlichen Lebens darstellt, gleichzeitig    besteht in Perspektivenkollision von Pflegenden

12
Pflege APuZ

und Pflegebedürftigen. Schon im Begriff der Für-                      zu erreichende, objektivierbare Gut. Abgestützt
sorge steckt die stellvertretende Handlung für je-                    wird diese Argumentation durch naturrechtliche
manden anderen (Dritte-Person-Perspektive).                           Bezüge, die säkulare menschenrechtliche Nor-
Das mag mit Blick auf die empirisch auch (aber                        men durchaus in sich aufnehmen können. Theo-
nicht nur) bei Pflegebedürftigen festzustellende                      logische Überlegungen können den Pflegediskurs
Einschränkung, sich selbst vertreten zu können                        auch deshalb stark bestimmen, weil sie sich hier
(man denke hier nur an kleine Kinder oder de-                         entsprechenden Diskursen öffnen.03
mente Ältere) naheliegen, geht aber am Begrün-                            Es passt in dieses Argumentationsmuster, dass
dungsproblem eines Rechts auf Pflege vorbei.01                        Diskussionen über dieses Verhältnis von Frei-
Es ist dieser besonderen Perspektive der Drit-                        heit und Sicherheit vor allem mit Blick auf de-
ten-Person-Singular geschuldet, dass Pflegebe-                        mente Personen geführt werden. Untersucht man
dürftigkeit als Problem einer Spannung zwischen                       die einschlägige theologisch inspirierte Literatur,
„Freiheit“ und „Sicherheit“ begriffen wird.02 Da-                     dann scheint es fast so zu sein, dass Pflegebedürf-
bei ist für die Bewertung dieses Denkweges wich-                      tigkeit mit demenziellen Prozessen synonym ge-
tig festzustellen, dass die Freiheit der Pflegebe-                    setzt wird. Denn von der dementen Person könn-
dürftigen als Ausdruck ihrer Selbstbestimmung                         te angenommen werden, dass sie gar nicht mehr in
überhaupt in eine polare Gegenposition zur Ver-                       der Lage ist, ihre Freiheit zur Selbstbestimmung
sorgungssicherheit gesetzt wird. Würde in dieser                      in vernünftiger, intersubjektiv nachvollziehba-
Argumentation die Freiheit der Pflegebedürftigen                      rer Form zu leben. Mit Blick auf diese Personen
ein Grundrecht persönlicher Autonomie markie-                         scheint also die Übernahme der Beobachtungs-
ren (was es in theologischen Begründungsdiskur-                       position Dritte-Person-Singular schlüssig nach-
sen gar nicht sein kann), dann wäre auch die Frage                    vollziehbar zu sein. Aber Pflegebedürftigkeit geht
der „Sicherheit“ dieser Freiheit auf Selbstbestim-                    nicht notwendigerweise mit Demenz einher, und
mung – und das schließt die Bereitschaft des In-                      das Problem eines Rechts auf Pflege ist mit dis-
dividuums, bestimmte Risiken in Kauf zu neh-                          kursiver Fixierung auf die Frage nach den Selbst-
men, ein – unzweifelhaft nachgeordnet. Von einer                      bestimmungsmöglichkeiten dementer Personen
Symmetrie dieser normativen Zielbestimmungen                          nicht hinreichend zu erörtern. Zur Beantwortung
in der pflegerischen Versorgung kann überhaupt                        der Frage nach den Begründungsmöglichkeiten
nur derjenige argumentativ ausgehen, für den der                      eines Grundrechts auf Pflege trägt die Konzen-
Wille der Individuen nicht letzte Handlungsbe-                        tration auf Demenz schon deshalb nicht das Ent-
gründung ist. Eine solche Wahrnehmung korres-                         scheidende bei, weil sie eben nicht als schwerste
pondiert mit der theologischen Hierarchieebene,                       Stufe und wahrer Kern der Pflegebedürftigkeit
in eine von Gott gegebene Ordnung eingebun-                           anzusehen ist. Ein grundlegendes Recht bemisst
den zu sein. Schließlich geht diese Schöpfungs-                       sich nicht in Zuweisungsquantitäten.
ordnung auch dem Willen der Individuen vo-                                Es wird im weiteren Verlauf dieses Beitrags
raus. Solidarität und Mitleid als ihr wesentlicher                    noch genauer auf die Frage der Fähigkeit zur
Teil korrespondieren nun mit der Vorstellung, die                     Selbstbestimmung als Voraussetzung von Perso-
Sicherheit der Pflegebedürftigen sei das höchste                      nalität eingegangen werden. Bevor wir zu die-
                                                                      sem Zusammenhang kommen, soll eine andere
01 Das auf die Bedürftigkeit von Kindern im weiteren Verlauf die-
                                                                      Begründung für das Recht auf Pflege diskutiert
ses Beitrags nicht eingegangen wird, hängt damit zusammen, dass       werden.
Kinderrechte auf Pflege zu begründen sind mit den Kompensati-
onsverpflichtungen ihrer Eltern, die mit der Zeugung und Geburt                          LIBERALE DISKURSE
des Kindes existenzielle Fremdbestimmung vorgenommen haben.
Zeugung und Geburt stellen ein Gewaltverhältnis dar, dessen
strukturelles Unrecht wieder gut gemacht werden muss – dadurch,
                                                                      In sogenannten liberalen Diskursen geht es um
dass das Kind aus der Situation der fremdbestimmten Natalität in      Begründungen von Rechten erster Ordnung, die
die Lage versetzt wird, sich sein Leben in freier Selbstbestimmung
anzueignen.
02 Vgl. Marco Bonacker/Gunter Geiger (Hrsg.), Menschenrechte          03 Vgl. Marco Bonacker, Zwischen Genese und Geltung. Religiöse
in der Pflege. Ein interdisziplinärer Diskurs zwischen Freiheit und   Identität bei John Rawls als Paradigma einer theologischen Ordnung,
Sicherheit, Opladen–Berlin–Toronto 2018. Die beiden Heraus-           Paderborn 2016. Den Menschen sind von Gott natürlicher Rechte
geber sind in führender Position in der Weiterbildungsarbeit der      zugewiesen worden. Eine solche Vorstellung gestifteten Rechts hat
katholischen Kirche tätig.                                            mit der Idee der Würde autonomer Individuen nichts zu tun.

                                                                                                                                      13
APuZ 33–34/2019

nicht aus einem außerweltlichen Willen (göttli-                        tischen Maßnahmen für eine mittlere Position in
cher Schöpfungsplan) abgeleitet werden, sondern                        Bezug auf die Aufwendungen für die Gesundheit
aus der aufgeklärt-egoistischen Interessenkalku-                       und Pflege Anderer zu votieren. Wüsste der Kal-
lation der Individuen in der Welt. In den in die-                      kulierende, dass er pflegebedürftig ist, dann wür-
sem Bereich vorhandenen unterschiedlichen So-                          de er für eine maximale Versorgung eintreten und
zialvertragskonstruktionen wird die Legitimität                        etwa die staatliche Finanzierung solcher Leistun-
politischer Ordnung durch die Bindung an den                           gen für gerecht halten. Wüsste der Kalkulieren-
individuellen Willen der Subjekte dieser Ord-                          de nun aber, dass er als nicht pflegebedürftiger
nung erzeugt. Solche Begründungen der Grund-                           Mensch in den Genuss dieser staatlichen Leistun-
rechte stehen im Zentrum liberaler politischer                         gen gar nicht käme, dann wäre er auch nicht be-
Philosophie. Auf den Fall der individuellen Pfle-                      reit, erhebliche praktische oder finanzielle Leis-
gebedürftigkeit übertragen, bedeutet das etwa,                         tungen für die Versorgung Anderer zu erbringen.
dass es für das Individuum vernünftig ist, sich di-                    Da seine Entscheidung aber eben hinter einem
rekt oder indirekt (etwa durch steuerliche Abga-                       Schleier des Nichtwissens getroffen wird, votiert
ben) für die Versorgung Pflegebedürftiger einzu-                       er vernünftigerweise für eine mittlere Position,
setzen, unter der Bedingung, dass reziprok auch                        wie sie sich etwa im deutschen System der Pfle-
auf die jeweils eigene Bedürftigkeit durch die an-                     geversicherung darstellt. Die Versicherung über-
deren Subjekte versorgend reagiert wird.04 Sozi-                       nimmt in einem gedeckelten Rahmen anfallende
alverträge sind immer Verträge auf politische und                      Pflegekosten, dafür werden relativ geringe An-
gesellschaftliche Gegenseitigkeit.                                     teile vom Arbeitslohn einbehalten. Ein Anspruch
    Der US-amerikanische Philosoph John Rawls                          auf Pflege wird hier unter einen starken Verhält-
hat den Versuch unternommen, aus der individu-                         nismäßigkeitsvorbehalt gesetzt.
ellen Nutzenkalkulation heraus zu einer vertrags-                          Einen solchen relativierenden Bezug gibt es
theoretischen Konstruktion der Theorie moder-                          in vielen Diskursen über Rechte erster Ordnung,
ner Gerechtigkeit zu kommen.05 Zwar finden                             von denen ein Großteil eine Grenze in anderen
sich bei ihm keine Ausführungen zu einem Recht                         Rechten erster Ordnung findet (man denke hier
auf Pflege, aber seine allgemeinen Begründun-                          etwa an Grenzen der Meinungsfreiheit oder Re-
gen für eine Politik der Gerechtigkeit kann auf                        ligionsfreiheit). Für ein Grundrecht auf Pfle-
die besondere Situation Pflegebedürftiger über-                        ge, das solche Verhältnismäßigkeitsüberlegungen
tragen werden. Nach Rawls sind solche Gerech-                          vermeidet, muss eine starke Begründung entwi-
tigkeitsprinzipien begründbar, wenn sie Ergeb-                         ckelt werden, in der deutlich wird, dass sich im
nis einer Reflexion der Individuen sind, die von                       Recht auf Pflege die prinzipiell und immer zu
ihren aktuellen und realen sozialen Stellungen,                        gewährleistende Wahrung der Würde des Men-
von Fragen des persönlichen Reichtums, der Ge-                         schen realisiert. Artikel 1 Grundgesetz („Die
sundheit und Ähnlichem absehen und sich hinter                         Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-
einem Schleier des Nichtwissens darüber Gedan-                         ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-
ken machen, für welche Regelungen sie einträten,                       lichen Gewalt.“) kennt allerdings Grenzen durch
wenn sie über ihren jeweiligen Gerechtigkeitssta-                      den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie sie
tus (reich oder arm, jung oder alt, gesund oder                        in vielen Entscheidungen durch das Bundesver-
krank, pflegebedürftig oder nicht) nichts wüss-                        fassungsgericht gezogen wurden.06 Eine starke
ten. Im Rahmen dieser gedankenexperimentel-                            Begründung eines Grundrechts auf Pflege muss
len Modell­an­nahme kommt man zu Aussagen, in                          sich diesen pragmatischen Verhältnismäßigkeits-
denen die eigene Bedürftigkeit mit der möglichen                       überlegungen entziehen, und der allgemeine An-
eigenen Nicht-Bedürftigkeit in Spannung tritt                          spruch auf Würde muss in der Besonderheit ei-
(man weiß eben nicht, zu welcher Gruppe man                            nes Grundrechts auf Pflege konkretisiert werden
gehört). Danach ist es vernünftig, bei sozialpoli-                     und gleichzeitig aufscheinen. Rawls Versuch, sol-
                                                                       che Fragen mithilfe einer vertragstheoretischen
                                                                       Konstruktion zu lösen, scheitert gerade mit Blick
04 Vgl. Otfried Höffe, Soziale Gerechtigkeit. Über die Bedin-
                                                                       auf die Pflege. Wie schon an anderer Stelle gesagt,
gungen realer Freiheit, in: Gerhard Schwarz/Justus Uwe Wenzel
(Hrsg.), Lust und Last des Liberalismus. Philosophische und ökonomi-
sche Perspektiven, Zürich 2006, S. 123–128.                            06 Vgl. Günter Frankenberg, Würde. Zu einem Schlüsselbegriff
05 Vgl. John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge MA 1971.            der Verfassung, in: APuZ 16–17/2019, S. 37–42, hier S. 40.

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