AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Pflege - Bundeszentrale für politische Bildung
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69. Jahrgang, 33–34/2019, 12. August 2019 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Pflege Diana Auth Michaela Evans · Christine Ludwig POLITIKFELD „PFLEGE“ „DIENSTLEISTUNGSSYSTEM ALTENHILFE“ IM UMBRUCH Thomas Noetzel GRUNDRECHT AUF PFLEGE? Verena Rossow · Simone Leiber ENTWICKLUNGEN Marie-Kristin Döbler AUF DEM MARKT MEHR ALS NUR PFLEGE. FÜR „24-STUNDEN-PFLEGE“ CARE IN ALTEN(PFLEGE)HEIMEN Lena Schürmann Nicola Döring FÜRSORGE AUS SEXUALITÄT IN DER MARKTKALKÜL? PFLEGE: ZWISCHEN TABU, GRENZÜBERSCHREITUNG Ulrike Ehrlich UND LEBENSLUST FAMILIÄRE PFLEGE UND ERWERBSARBEIT ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Pflege APuZ 33–34/2019 DIANA AUTH MICHAELA EVANS · CHRISTINE LUDWIG POLITIKFELD „PFLEGE“ „DIENSTLEISTUNGSSYSTEM ALTENHILFE“ Vor 25 Jahren wurde das Pflegeversicherungsge- IM UMBRUCH setz verabschiedet und Pflege von einer Privat- Der Beitrag reflektiert arbeitspolitische Span- angelegenheit zu einer gesamtgesellschaftlichen nungsfelder und Gestaltungsherausforderungen Aufgabe. Der demografische Wandel gepaart mit des Dienstleistungssystems Altenhilfe im dem sinkenden häuslichen Pflegepotenzial stellt Umbruch. Es werden Treiber aufgezeigt und das Politikfeld vor große Herausforderungen. Anforderungen an einen integrierten arbeitspoli- Seite 04–11 tischen Gestaltungspfad skizziert. Seite 31–36 THOMAS NOETZEL GRUNDRECHT AUF PFLEGE? VERENA ROSSOW · SIMONE LEIBER Ein Grundrecht auf Pflege bedeutet, Pflegebe- ENTWICKLUNGEN AUF DEM MARKT dürftige als autonome Personen zu ihrem Recht FÜR „24-STUNDEN-PFLEGE“ auf Selbstbestimmung kommen zu lassen. Seine Der Markt für Live-in-Pflege- und Betreuungskräf- Begründung findet ein solches Grundrecht te aus Mittel- und Osteuropa – auch als „24-Stun- in der Rechtsphilosophie Hegels und seinen den-Pflege“ bekannt – hat sich ausgeweitet und zu Überlegungen zur „Person“. einem gewissen Grad formalisiert. Es ist zudem ein Seite 12–17 neues Geschäftsfeld für private Vermittlungs- und Entsendeunternehmen entstanden. Seite 37–42 MARIE-KRISTIN DÖBLER MEHR ALS NUR PFLEGE. CARE IN ALTEN(PFLEGE)HEIMEN LENA SCHÜRMANN Über die Grund- und Behandlungspflege hinaus FÜRSORGE AUS MARKTKALKÜL? erwarten und brauchen HeimbewohnerInnen In vielen Bereichen des Sozial- und Gesundheits- mehr, um „gut aufgehoben“ zu sein. Welche wesens hat die Einführung wettbewerblicher Care-Leistungen sind das, und in welchem Strukturen umfassende Veränderungen hervor- Verhältnis steht das zu der Care, die das Heim- gebracht, auch in der ambulanten Pflege. Formen personal leisten kann und will? vorrangig ökonomische Kalküle das Handeln? Seite 18–23 Oder steht das Patient*innenwohl im Zentrum? Seite 43–48 NICOLA DÖRING SEXUALITÄT IN DER PFLEGE: ZWISCHEN TABU, ULRIKE EHRLICH GRENZÜBERSCHREITUNG UND LEBENSLUST FAMILIÄRE PFLEGE UND ERWERBSARBEIT Aus menschenrechtlicher Perspektive genießen Männer im erwerbsfähigen Alter haben ihr alle Menschen dieselben sexuellen Schutz- und Engagement in der familiären Pflege erhöht. Frauen Freiheitsrechte – auch Menschen mit Pflegebe- im erwerbsfähigen Alter übernehmen aber noch darf. Sexualität in der Pflege galt lange als Tabu, immer häufiger Hilfe- oder Pflegetätigkeiten, erfährt aber mittlerweile breitere Beachtung in leisten diese auch im höheren Zeitumfang und sind Theorie und Praxis. dazu im geringeren Umfang erwerbstätig. Seite 24–30 Seite 49–54
EDITORIAL „Wohin mit Oma?“, fragte „Der Spiegel“ auf einem Titel vor fast 15 Jahren und adressierte damit die Debatte um einen „Pflege-Notstand in Deutschland“. Diese ist auch zurzeit virulent. Das liegt am erheblich gestiegenen Problemdruck in der Altenhilfe und -pflege und an den vielen Stimmen aus dem häuslichen, ambulanten wie (teil-)stationären Pflegebereich, die auf gravierenden Perso- nal- und Zeitmangel sowie andere Missstände aufmerksam machen. Auch die Regierungskoalition hat den Handlungsbedarf anerkannt und unter anderem die „Konzertierte Aktion Pflege“ ins Leben gerufen, deren Ergebnisse im Juni 2019 von den beteiligten Bundesministern Jens Spahn (CDU), Franziska Giffey und Hubertus Heil (beide SPD) vorgestellt wurden. Wohin will Oma? Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Kranken- kasse im April 2018 ergab, dass 83 Prozent der Befragten auch bei Pflegebedürf- tigkeit in der eigenen Wohnung bleiben wollen; 59 Prozent können sich eine Gemeinschaft mit anderen Älteren vorstellen und 37 Prozent die Unterbringung in einem Pflegeheim. Gleichzeitig möchten 83 Prozent bei Bedarf von profes- sionellen Pflegekräften versorgt werden; für 62 Prozent käme Pflege von nahen Angehörigen infrage, 28 Prozent bejahten dies mit Blick auf den Freundes- oder Bekanntenkreis. Wohin kann Oma? Sozialrechtlich gesehen, ist der häuslichen Pflege durch Angehörige und Nachbarn der Vorrang zu geben. Wie lässt sich das mit dem Wunsch nach professioneller Pflege, womöglich rund um die Uhr, verbinden? Wer von den Angehörigen soll pflegen, wenn gleichzeitig erwünscht und immer häufiger erforderlich ist, dass alle Erwachsenen einer (vollzeitnahen) Erwerbstä- tigkeit nachgehen? Und woher sollen all die professionell Pflegenden kommen? Wie lässt sich der (Alten-)Pflegeberuf aufwerten? Und wer zahlt den Preis dafür? Diese und andere Fragen werden sowohl in dieser Ausgabe, die auf unse- ren diesjährigen „Call for Papers“ zurückgeht, als auch in einer „APuZ-Edition“ diskutiert, die Ende 2019 mit weiteren Beiträgen erscheinen wird. Anne Seibring 03
APuZ 33–34/2019 POLITIKFELD „PFLEGE“ Diana Auth Vor 25 Jahren wurde das Pflegeversicherungsge- qualitativen Versorgungsdefizite im ambulanten setz verabschiedet – ein guter Zeitpunkt, um Bi- Bereich und viertens durch die Überforderung lanz zu ziehen. Bis zur Einführung der Pflege- und dadurch sinkende (Aufopferungs-)Bereit- versicherung war traditionell und im Sinne des schaft der meist weiblichen häuslich Pflegenden. Subsidiaritätsprinzips die Familie (oder das so- Infolge dieses sozialpolitischen Problemdrucks ziale Nahumfeld) für die Altenpflege zustän- wurden mehrere Alternativen diskutiert, wie eine dig. Seitdem ist „[d]ie pflegerische Versorgung private Absicherung, eine steuerfinanzierte Für- der Bevölkerung (…) eine gesamtgesellschaftli- sorgeleistung oder eine Versicherungslösung – che Aufgabe“ (§ 8 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) wobei Finanzierungsfragen im Kontext der herr- XI). Doch die Erfüllung dieser Aufgabe bereitet schenden marktliberalen Wohlfahrtsstaatspolitik heute immer mehr Schwierigkeiten, die zum ei- dabei immer eine wichtige Rolle spielten. nen mit soziodemografischen und -kulturellen Bundesarbeits- und -sozialminister Norbert Veränderungen, wie dem demografischen Wan- Blüm (CDU) trat Anfang der 1990er Jahre für del, der Pluralisierung von Familienformen und eine eigenständige Pflegeversicherung ein, muss- dem Wandel von Geschlechternormen, zu tun ha- te aber sowohl an die FDP als Koalitionspart- ben. Es sind aber zum anderen auch die politöko- ner Zugeständnisse machen (soziale und private nomisch bedingten Konstruktionsprinzipien und Pflegeversicherung, Kompensation des Arbeit- Strukturmerkmale der Pflegeversicherung selbst, geberbeitrags durch Streichung eines Feiertags, beispielsweise die Beschränkung auf eine Grund- Beitragssatzstabilität durch das Budgetprinzip) versorgung oder die Wettbewerbsorientierung, als auch an die im Bundesrat dominierende SPD die Reformen notwendig machen, um in Zukunft (Verzicht auf eine in die Tarifautonomie eingrei- (mehr) Pflegedürftige angemessen versorgen zu fende Karenztageregelung, Gewährung höherer können und gleichzeitig den Pflegenden, egal ob Pflegeleistungen).01 beruflich oder familiär, würdige Arbeits- bezie- hungsweise Pflegebedingungen und (materielle) STRUKTURPRINZIPIEN Anerkennung zukommen zu lassen. DER PFLEGEVERSICHERUNG RÜCKBLICK: Im beschriebenen Spannungsfeld zwischen DIE KOLLEKTIVE ABSICHERUNG sozial(politisch)en Versorgungsnotwendigkeiten DES PFLEGEBEDÜRFTIGKEITSRISIKOS und ökonomischen Restriktionen ist eine umla- gefinanzierte Sozialversicherung entstanden, in Mitte der 1990er Jahre wurde nach gut 20-jäh- der alle – also nicht nur abhängig Beschäftigte, riger Diskussion die gesetzliche Pflegeversiche- sondern auch Beamt/innen und Selbstständige – rung in Deutschland eingeführt. Zuvor galt das im sozialen oder im privaten Zweig pflichtver- Risiko, pflegebedürftig zu werden, als private sichert sind. Im Unterschied zur Krankenversi- Angelegenheit. Auf die politische Agenda geriet cherung erhalten alle die gleichen pflegerischen das Politikfeld „Pflege“ aus mehreren Gründen: Leistungen, die allerdings aus Gründen der Bei- erstens infolge der Überlastung der Kommunen tragssatzstabilität und Kostenbegrenzung auf das durch enorme pflegebedingte Sozialhilfeausga- Niveau einer pflegerischen Grundversorgung be- ben, zweitens – damit zusammenhängend – durch schränkt wurden. Zudem wurde das Feld öko- die Degradierung der hochbetagten, meist weib- nomisiert und ein Pflegemarkt etabliert, auf dem lichen stationär versorgten Pflegebedürftigen zu die bis dahin dominierenden freigemeinnützigen Sozialhilfe- und damit „Taschengeld“-Empfänger Träger nun mit den neu hinzukommenden priva- innen, drittens aufgrund der quantitativen und ten Anbietern konkurrieren müssen. Des Weite- 04
Pflege APuZ ren werden seitdem alle privaten und freigemein- 2018 waren 82 Millionen Menschen pflegever- nützigen Träger von den Pflegekassen zugelassen, sichert, davon knapp 73 Millionen in der sozialen sofern sie die gesetzlichen Anforderungen erfül- und 9 Millionen in der privaten Pflegeversiche- len. Zu Beginn wurde zwischen drei Pflegestufen rung. Die Einnahmen und die Ausgaben der sozi- unterschieden. Seit 2017 sind diese durch das Sys- alen Pflegeversicherung haben sich seit 2003 mehr tem der Pflegegrade ersetzt worden. Die Pflege- als verdoppelt und liegen aktuell (2018) bei etwa bedürftigen (und ihre Angehörigen) können nach 38 Milliarden Euro (Einnahmen) beziehungs- der Einstufung durch den Medizinischen Dienst weise 39 Milliarden Euro (Ausgaben). Zwischen der Krankenversicherung (MDK) zwischen Pfle- 2008 und 2016 gab es einen Einnahmeüberschuss, gegeld (zwischen 125 und 901 Euro), Pflegesach- in den vergangenen beiden Jahren war der Saldo leistungen (zwischen 689 und 1995 Euro) und dagegen negativ. Der Mittelbestand lag Ende 2018 stationärer Pflege (zwischen 125 und 2005 Euro) bei knapp 3,4 Milliarden Euro.03 wählen. Auch die Kombination von Pflegegeld und ambulanten Sachleistungen ist möglich. Das REGULIERUNG Pflegegeld wird an die pflegebedürftige Person DES POLITIKFELDES „PFLEGE“ ausgezahlt, die es an die pflegende(n) Person(en) weiterleitet. Diese sind über die Pflegeversiche- Der gesetzliche Rahmen der Pflegeversicherung rung renten- und unfallversichert. Zudem kön- wird auf Bundesebene festgelegt. Für pflegepoli- nen Leistungen für Verhinderungs-, Kurzzeit-, tische Reformen ist das Bundesgesundheitsminis- Tages- und Nachtpflege in Anspruch genommen terium federführend zuständig. Für den Bereich werden. Des Weiteren wurde der Grundsatz des der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege kann die Vorrangs der häuslich-ambulanten Pflege gesetz- Zuständigkeit aber auch an das Bundesfamilien- lich verankert. Die Pflegeleistungen haben nur ministerium fallen, und für den Bereich der Fest- ergänzenden Charakter und sollen die familiäre, legung von Mindestlöhnen in der Pflege ist das nachbarschaftliche und ehrenamtliche Pflege un- Bundesarbeitsministerium zuständig. terstützen. Auch die Pflegeberatung und Pflege- Die Bundesländer, die Kommunen, die Pfle- kurse sowie Pflegehilfsmittel und Maßnahmen geeinrichtungen sowie die Pflegekassen sollen zur Verbesserung des Wohnumfeldes fallen in eng zusammenwirken, „um eine leistungsfähige, den Anspruchs- und Leistungskatalog der Pfle- regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander geversicherung. abgestimmte ambulante und stationäre pflegeri- Finanziert wird die Pflegeversicherung pa- sche Versorgung der Bevölkerung zu gewährleis- ritätisch durch Beiträge der Beschäftigten und ten“ (§ 8 Abs. 2 SGB XI). In diesem Kontext sind der Arbeitgeber, wobei die Kosten de facto al- die Bundesländer für die Vorhaltung einer leis- leine von den Beschäftigen getragen werden, da tungsfähigen, ausreichenden und wirtschaftlichen ein Feiertag (der Buß- und Bettag) zur Kompen- Pflegeinfrastruktur inklusive der Investitionskos- sation der Arbeitgeberbeiträge gestrichen wurde. ten im stationären und ambulanten Bereich zu- Der Beitragssatz betrug zu Beginn 1,7 Prozent; ständig. Die Kommunen haben sich dagegen seit aktuell liegt er bei 3,05 beziehungsweise 3,3 Pro- Einführung der Pflegeversicherung vielfach aus zent für Kinderlose.02 ihrer Verantwortung für die pflegerische Versor- gung zurückgezogen, auch wenn die Leistungs- 01 Vgl. Diana Auth, Pflegearbeit in Zeiten der Ökonomisie- erbringung weiterhin auf der kommunalen Ebe- rung. Wandel von Care-Regimen in Großbritannien, Schweden ne erfolgt.04 und Deutschland, Münster 2017, S. 278 ff.; Stephan Lessenich, Der Sicherstellungsauftrag liegt bei den Dynamischer Immobilismus. Kontinuität und Wandel im deutschen Pflegekassen, denen im Rahmen der Pflege- Sozialmodell, Frankfurt/M.–New York 2003, S. 218 ff.; Jörg Alexander Meyer, Der Weg zur Pflegeversicherung. Positionen, versicherung eine wichtige Machtposition zu- Akteure, Politikprozesse, Frankfurt/M. 1996; Rolf Rosenbrock/Tho- mas Gerlinger, Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, Bern 20062, S. 321 f. 03 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Zahlen und 02 Die höheren Beiträge für Kinderlose sind die politische Fakten zur Pflegeversicherung, 21. 6. 2019, www.bundesgesund- Antwort auf ein Bundesverfassungsgerichtsurteil. Vgl. Gerhard heitsministerium.de/fileadmin/Dateien/Downloads/Statistiken/ Naegele, 20 Jahre Verabschiedung der gesetzlichen Pflegeversi- Pflegeversicherung/Zahlen_und_Fakten/Zahlen-u-Fakten-zur- cherung. Eine Bewertung aus sozialpolitischer Sicht, 2014, S. 17, Pflegeversicherung_2019.pdf. https://library.fes.de/pdf-files/wiso/10541.pdf. 04 Vgl. Naegele (Anm. 2), S. 43. 05
APuZ 33–34/2019 kommt. Um ein bedarfsdeckendes, wirksames tigten die kurzzeitige Arbeitsverhinderung in und wirtschaftliches pflegerisches Angebot si- Anspruch genommen, aber nur die Hälfte davon cherzustellen, schließen die Pflegekassen Ver- hat das Unterstützungsgeld beantragt.06 sorgungsverträge mit den Anbietern pflegeri- 2012 wurde unter Bundesfamilienministerin scher Dienstleistungen ab. Ein weiteres Element Schröder (CDU) die Familienpflegezeit einge- dieser korporatistischen Steuerung sind die führt. Danach können pflegende Beschäftigte ihre Vergütungs- und Pflegesatzverhandlungen, im Arbeitszeit für bis zu zwei Jahre reduzieren. Zu Rahmen derer die Pflegekassen sowie weitere Beginn erhielten sie einen Lohnvorschuss durch Kostenträger mit den Pflegeeinrichtungen auf den Arbeitgeber, dazu mussten sie sich durch individueller, unter Umständen auch auf regio- eine Familienpflegezeitversicherung gegen Er- naler oder auf Landesebene die Vergütungen für werbsausfälle absichern. Seit 2015 wird der Vor- die pflegerischen Leistungen verhandeln. Beauf- schuss aus staatlichen Mitteln vorfinanziert. In sichtigt werden die Pflegekassen vom Bundes- der „Pflegephase“ arbeiten die pflegenden Ange- gesundheitsministerium, dem Bundesversiche- hörigen Teilzeit (mindestens 15 Wochenstunden) rungsamt und den Gesundheitsministerien der und erhalten als zinsloses Darlehen die Hälfte Bundesländer.05 des Nettogehalts, das durch die Arbeitszeitredu- zierung fehlt. In der „Nachpflegephase“ arbei- PFLEGEPOLITIK: ten die Beschäftigen wieder Vollzeit und müssen WICHTIGE PFLEGEREFORMEN den Kredit in Raten zurückzahlen. Seit 2015 be- steht auch ein Rechtsanspruch auf Familienpfle- Bereits kurz nach der Einführung der Pflegever- gezeit in Unternehmen mit mehr als 25 Beschäfti- sicherung wurden Reformbedarfe sichtbar, die gen. Auch von der Familienpflegezeit wird kaum beispielsweise die Qualitätssicherung, die Pflege Gebrauch gemacht. Von allen erwerbstätigen An- beratung oder den Pflegebedürftigkeitsbegriff be- gehörigen nahmen 2016 knapp 2 Prozent die Fa- trafen. Einige der wichtigsten pflegepolitischen milienpflegezeit in Anspruch. Viele halten sie für Reformen werden im Folgenden exemplarisch nicht notwendig.07 dargestellt. Insgesamt lässt sich aufgrund der geringen In- anspruchnahme schlussfolgern, dass die beiden Vereinbarkeit Maßnahmen wenig zur Vereinbarkeit von Beruf von Beruf und Pflege und Pflege beitragen. 2008 wurde im Rahmen des Pflege-Weiterent- wicklungsgesetzes unter Bundesgesundheitsmi- Reform des nisterin Ulla Schmidt (SPD) eine Pflegezeit einge- Pflegebedürftigkeitsbegriffs führt. Seitdem besitzen erwerbstätige Pflegende Bei der Einführung der Pflegeversicherung galt in Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten ei- jemand als pflegebedürftig, der Hilfebedarf bei nen Rechtsanspruch auf eine bis zu sechsmona- den Verrichtungen des täglichen Lebens, wie tige Erwerbsunterbrechung oder Arbeitszeitver- Körperpflege, Ernährung, Mobilität und haus- kürzung. Lohnersatzleistungen werden in dieser wirtschaftliche Versorgung, aufwies. Je nach dem Zeit nicht gezahlt. Seit 2015 besteht die Möglich- Grad der Pflegebedürftigkeit wurde zwischen keit, in den ersten zehn Tagen, die als „kurzzei- drei Pflegestufen unterschieden. Dieser stark ver- tige Arbeitsverhinderung“ der Bewältigung der richtungsbezogene Pflegebedürftigkeitsbegriff akuten Pflegesituation dienen, ein Pflegeunter- wurde von Beginn an kritisiert, da weder die Be- stützungsgeld aus den Mitteln der Pflegeversi- reiche Kommunikation und soziale Teilhabe noch cherung zu beziehen. 2016 haben gerade einmal Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarfe, die 2 Prozent der Anspruchsberechtigten die Pflege- insbesondere bei Menschen mit kognitiven und zeit genutzt. Der Anteil hat sich seit 2010 nicht psychischen Beeinträchtigungen wichtig sind, be- erhöht. 40 Prozent der Anspruchsberechtigten kennen die Maßnahme überhaupt nicht. Im sel- 06 Vgl. Ulrich Schneekloth et al., Abschlussbericht. Studie zur ben Jahr haben 8 Prozent aller Anspruchsberech- Wirkung des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes (PNG) und des ers- ten Pflegestärkungsgesetzes (PSG I) im Auftrag des BMG, München 05 Vgl. Rosenbrock/Gerlinger (Anm. 1), S. 315 ff.; Thomas Gerlin- 2017, S. 65 ff. ger/Michaela Röber, Die Pflegeversicherung, Bern 2009. 07 Vgl. ebd., S. 69 f. 06
Pflege APuZ rücksichtigt wurden. In der Folge wurden in allen als die Maßnahmen der Pflegestärkungsgesetze zu Pflegereformen die Leistungen für Pflegebedürf- greifen begannen. In deren Rahmen wurde eine tige mit eingeschränkter Alltagskompetenz aus- Prüfung der Anpassung der Pflegeleistungen an gedehnt, ohne die demenziell Erkrankten jedoch die Preisentwicklung vorgenommen, die nun alle strukturell in die Pflegebedürftigkeitsdefinition drei Jahre erfolgen soll. Das bedeutet zum einen, aufzunehmen. Dies geschah erst 2017 im Rahmen dass seit 2017 mehr Menschen in den Genuss (er- des Pflegestärkungsgesetzes II. Nachdem zwei höhter) Pflegeversicherungsleistungen kommen, Pflegekommissionen getagt und ihre Ergebnis- vor allem demenziell erkrankte Menschen. Zum se vorgetragen hatten, ließen die Große Koaliti- anderen haben Menschen, die keinem Pflegegrad on (2005–2009) und die konservativ-liberale Ko- zugeordnet werden (ehemalige „Pflegestufe 0“10), alition (2009–2013) die politische Entscheidung, nun keinen Anspruch mehr auf Hilfe zur Pflege, mehr Geld in die Absicherung der Pflege zu in- sondern müssen über andere Sozialhilfeleistungen vestieren oder die Leistungen zu kürzen, unbe- versorgt werden.11 Es bleibt jedoch festzuhalten, antwortet.08 Erst die Große Koalition mit Bun- dass die bisherigen Dynamisierungsmaßnahmen desgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) die Kaufkraftverluste seit Einführung der Pflege- traf die Entscheidung zugunsten der demenziell versicherung nicht ausgeglichen haben.12 Erkrankten und setzte das lang geplante und in Modellprojekten vorbereitete Vorhaben um. Die ZAHL DER PFLEGEBEDÜRFTIGEN Verschleppung der Reform des Pflegebedürftig- UND AKTUELLE PROGNOSEN keitsbegriffs zeigt deutlich, wie abhängig die Pfle- geversicherung von politischen Mehrheiten und Die Zahl der Pflegebedürftigen ist seit der Einfüh- der Haushaltslage ist. rung der Pflegeversicherung stetig angestiegen.13 Anfang 2017 wurden die Pflegestufen durch Waren 1999 gut 2 Millionen Menschen pflegebe- das System der Pflegegrade ersetzt, in dem nun dürftig, so sind es 2017 bereits knapp 3,4 Millio- die selbstständige Alltagsbewältigung im Mittel- nen.14 Das entspricht einer Steigerung um etwa punkt der Einstufung steht. Auf diese Weise wer- 70 Prozent. Zwischen 2015 und 2017 ist der An- den nun auch Betreuungsbedarfe sowie geistige teil der Pflegebedürftigen infolge der Einführung und psychische Beeinträchtigungen erfasst und des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs um knapp mit abgesichert. Die Reform ist mit zusätzlichen ein Fünftel angestiegen. Der starke Anstieg geht Ausgaben verbunden, da keine Pflegebedürftigen auf die Integration der demenziell Erkrankten schlechter gestellt werden sollen. Erhöhung 10 Pflegebedürftige ohne Pflegestufe mit erheblich eingeschränk- ter Alltagskompetenz. der Pflegeleistungen 11 Vgl. Arbeitsgruppe Fokusbericht, Fokusbericht: Leistungen Die Pflegeversicherungsleistungen haben seit Be- nach dem 7. Kapitel SGBXII – Hilfe zur Pflege im Jahr 2017. Aus- stehen zu erheblichen Kaufkraftverlusten ge- wirkungen der Pflegestärkungsgesetze, Hamburg 2018, https:// führt. Da es keine automatischen Anpassungen consens-info.de/images/veroeffentlichungen/sgb_XII/grossstaed- gab, sank der Wert der Pflegeleistungen von Jahr te/2018-09-13_BM-GS_Bericht-HzP_Endfassung.pdf. 12 Vgl. Rosenbrock/Gerlinger (Anm. 1), S. 328; Naegele zu Jahr – abgesehen von den (wenigen) Jahren, in (Anm. 2), S. 18. denen die Pflegeleistungen durch politischen Be- 13 Die Pflegestatistik wird seit 1999 alle zwei Jahre vom Statis- schluss erhöht wurden (2008, 2010 und 2012). Die tischen Bundesamt erstellt, die jüngsten Daten stammen aus dem schleichende Entwertung der Pflegeleistungen Jahr 2017. hatte zur Folge, dass sich die Zahl der Bezieher/- 14 Statistisches Bundesamt, Kurzbericht Pflegestatistik 1999. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse, innen von Hilfe zur Pflege seit 1999 wieder stetig Bonn 2011; dass., Pflegestatistik 2015. Pflege im Rahmen der Pfle- erhöht hat.09 Diese Entwicklung endete allerdings, geversicherung. Deutschlandergebnisse, Wiesbaden 2017. Anmer- kung: Aufgrund einer Ermittlungsänderung bei der Erfassung der Zahl der Pflegebedürftigen im Jahr 2009 ist eine Vergleichbarkeit 08 Vgl. Naegele (Anm. 2), S. 31. der Daten nur eingeschränkt möglich. Die Gesamtzahl der Pflege- 09 Vgl. Statistisches Bundesamt, Sozialhilfe. Empfängerinnen bedürftigen ist ab 2009 etwas niedriger (ca. 1 Prozentpunkt), weil und Empfänger von Hilfe zur Pflege insgesamt im Laufe des Doppelzählungen im Bereich der teilstationär Versorgten stärker Jahres im Zeitvergleich, 21. 6. 2019, www.destatis.de/DE/Themen/ vermieden wurden. Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Sozialhilfe/Tabellen/hzp-t04-empf- 2009. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlander- insg-odl-geschl-ilj-zv-ab1995.html. gebnisse, Wiesbaden 2011, S. 27. 07
APuZ 33–34/2019 zurück, die zum Teil vorher auch schon Leistun- nimmt das sogenannte häusliche Pflegepotenzial gen der „Pflegestufe 0“ erhalten hatten. Infol- ab. Dennoch wird auch heute noch der größte ge der längeren Lebenserwartung sind etwa zwei Teil der Pflegebedürftigen (52 Prozent) zuhau- Drittel der Pflegebedürftigen weiblich. se ausschließlich durch Angehörige versorgt.19 Aufgrund des demografischen Wandels wird Auch 1999 wurde gut die Hälfte der Pflegebe- die Zahl der Pflegebedürftigen weiter steigen, da- dürftigen zuhause allein durch Angehörige ver- rin sind sich alle Prognosen einig.15 Nach einer sorgt. Der Anteil sank bis 2009 auf 46 Prozent; Prognose des Instituts der deutschen Wirtschaft seitdem steigt er wieder an.20 (IW), in die die Umstellung auf Pflegegrade noch Ein genauerer Blick auf die häuslichen Haupt- nicht eingerechnet wurde, steigt die Zahl der Pfle- pflegepersonen ergibt, dass gut ein Drittel der gebedürftigen bis 2035 auf über 4 Millionen, wenn Pflegebedürftigen von ihren Partner/innen ge- man von einem gleichbleibenden Gesundheitszu- pflegt wird. Der Anteil ist seit 1998 relativ kon- stand ausgeht. Damit würde die Zahl der Pflege- stant. Gut ein Zehntel der Pflegebedürftigen wur- bedürftigen in 20 Jahren um ein Drittel zunehmen. de 2016 von ihren Söhnen, gut ein Viertel von Von dieser Entwicklung sind insbesondere die ihren Töchtern gepflegt, wobei sich der Anteil ostdeutschen Bundesländer betroffen, die einen der pflegenden Söhne von 1998 bis 2010 verdop- höheren Anteil älterer Menschen aufweisen.16 Das pelt hat und seitdem stagniert. Demgegenüber ist Bundesgesundheitsministerium geht auf der Basis der Anteil der pflegenden Töchter bis 2010 um der Geschäftsstatistik der Pflegekassen und unter 3 Prozentpunkte zurückgegangen und danach der Annahme konstanter altersspezifischer Pflege- ebenfalls konstant geblieben.21 Auch wenn nach wahrscheinlichkeiten aktuell davon aus, dass sich wie vor der größte Teil der häuslich Pflegenden die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 auf 4,6 weiblich ist, pflegen Männer heute deutlich häufi- und bis 2060 auf 5,9 Millionen erhöhen wird.17 ger: Der Anteil der männlichen Hauptpflegeper- sonen ist seit 1998 um 11 Prozentpunkte von 20 WANDEL VON auf 31 Prozent im Jahr 2016 angestiegen.22 VERSORGUNGSARRANGEMENTS Diese Entwicklung geht einher mit dem Trend zur Parallelität von Erwerbstätigkeit und häusli- Ein Blick auf die Haushaltsformen der Pflegebe- cher Pflege. Waren im Jahr 1998 noch 64 Prozent dürftigen zeigt, dass sich ein Trend zum Alleinle- der Hauptpflegepersonen im erwerbsfähigen Al- ben abzeichnet: Während der Anteil der alleinle- ter nicht erwerbstätig, sinkt der Anteil seitdem benden Pflegebedürftigen – viele davon verwitwet kontinuierlich. 2016 waren es schon nur noch – von 22 Prozent im Jahr 1998 auf 34 Prozent im 35 Prozent. Von allen Hauptpflegepersonen im Jahr 2016 angestiegen ist, so ist fast spiegelbild- erwerbsfähigen Alter arbeiteten 2016 28 Prozent lich der Anteil der Verwitweten, die mit ihren in Vollzeit und 36 Prozent in Teilzeit- oder ge- Angehörigen in einem Haushalt wohnen, gesun- ringfügiger Beschäftigung. Differenziert nach ken (von 28 auf 17 Prozent). Im selben Zeitraum Geschlecht zeigt sich ein etwas höherer Anteil an wohnten konstant 28 Prozent der Pflegebedürf- Männern beziehungsweise Söhnen, die Pflegeauf- tigen mit ihrem (Ehe-)Partner oder ihrer (Ehe-) gaben mit einer Erwerbstätigkeit vereinbaren. Partnerin im selben Haushalt.18 Neben Haushaltsveränderungen seitens der 19 Vgl. Statistisches Bundesamt 2017 (Anm. 14); eigene Berech- Pflegebedürftigen zeichnet sich zudem ein sozio nungen. demo grafischer Wandel bei den häuslich Pfle- 20 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik, verschiedene genden ab. Aufgrund des Anstiegs der Frauener- Jahrgänge, eigene Berechnungen. Anmerkung: Der Anstieg des Anteils der „allein durch Angehörige versorgten Pflegebedürfti- werbstätigkeit und der zunehmenden Mobilität gen“ wird in der Pflegestatistik etwas zu hoch ausgewiesen. Die Vergleichbarkeit der Daten ist nur eingeschränkt möglich. Vgl. 15 Vgl. Heinz Rothgang/Rolf Müller/Rainer Unger, Themenreport Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2011. Pflege im Rahmen „Pflege 2030“. Was ist zu erwarten – was ist zu tun?, Gütersloh der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse, Wiesbaden 2013, 2012; BMG (Anm. 3); Susanna Kochskämper, Die Entwicklung der S. 27; siehe auch Heinz Rothgang et al., Barmer Pflegereport Pflegefallzahlen in den Bundesländern. Eine Simulation bis 2035, 2012, Berlin 2012, S. 80 ff. IW-Report 33/2018; Gerlinger/Röber (Anm. 5). 21 Vgl. Schneekloth et al. (Anm. 6), S. 56. 16 Vgl. Kochskämper (Anm. 15), S. 14 ff. 22 Vgl. ebd., S. 57. Diese Entwicklung lässt sich auch mit den 17 Vgl. BMG (Anm. 3), S. 15, ohne private Pflegeversicherung. Daten der Deutschen Rentenversicherung zeigen. Vgl. Rothgang 18 Vgl. Schneekloth et al. (Anm. 6), S. 56. et al. (Anm. 20), S. 82. 08
Pflege APuZ Dabei arbeitet die Hälfte der pflegenden Männer men. Waren 1999 etwa 184 000 Personen in am- im erwerbsfähigen Alter Vollzeit, bei den Frauen bulanten Diensten beschäftigt, sind es 2017 mit ist es nur ein Fünftel.23 390 000 mehr als doppelt so viele. In den Pflege- Mehr pflegende Männer beziehungswei- heimen waren 1999 gut 440 000 Beschäftige an- se Söhne und mehr erwerbstätige Pflegende er- gestellt; 2017 sind es 765 000 Personen. Das ent- klären, warum der Anteil der Pflegebedürftigen, spricht einer Steigerung um 75 Prozent.26 Über die Unterstützung durch ambulante Pflegediens- 80 Prozent der beruflich Pflegenden sind Frau- te in Anspruch nehmen, kontinuierlich angestie- en.27 gen ist und zwar von 21 Prozent im Jahr 1999 auf Ein Blick auf die Qualifikationsstrukturen 24 Prozent im Jahr 2017. Demgegenüber ist der zeigt, dass 47 Prozent der Beschäftigten in ambu- Anteil der stationär versorgten Pflegebedürftigen lanten Diensten und 31 Prozent der Beschäftig- von 28 Prozent (1999) zunächst bis auf 32 Pro- ten in Pflegeheimen Pflegefachkräfte im Sinne der zent im Jahr 2007 angestiegen. Seitdem sinkt er Pflegeversicherung sind. Die Pflegefachkraftquo- wieder und liegt aktuell bei 24 Prozent.24 te hat sich in den ambulanten Diensten zwischen 1999 bis 2011 von 48 auf 52 Prozent erhöht. Seit- WANDEL dem ist sie wieder auf 47 Prozent gefallen. Auch DER PFLEGEBRANCHE in den Pflegeheimen ist der Anteil der Pflegefach- kräfte zunächst bis 2013 leicht gestiegen und seit- Seit der Einführung der Pflegeversicherung wur- dem wieder gesunken. Hier zeigt sich bereits der de die Pflegeinfrastruktur stark ausgebaut. Die Fachkräftemangel. Auf den gesamten Zeitraum Zahl der ambulanten Pflegedienste stieg von bezogen (1999 bis 2017) ist die Zahl der Pflege- knapp 11 000 im Jahr 1999 auf gut 14 000 im Jahr fachkräfte in den ambulanten Diensten um über 2017. Die Zahl der Pflegeheime hat sich im sel- 100 Prozent gestiegen, während ihr Anteil am ge- ben Zeitraum von knapp 9000 auf knapp 15 000 samten Personal um 3 Prozent gesunken ist. In erhöht. Der politisch initiierte Wettbewerb zwi- den Pflegeheimen ist die Zahl der Pflegefachkräf- schen privaten und freigemeinnützigen Trägern te im selben Zeitraum um 75 Prozent gestiegen, hat die Pflegelandschaft allerdings stark verän- während die Pflegefachkraftquote nur leicht, um dert. Lag der Anteil der privaten Träger ambulan- knapp 1 Prozent, gestiegen ist.28 ter Pflegedienste 1999 noch bei etwa 51 Prozent, Betrachtet man die Struktur der Beschäfti- so lag er 2017 bei 66 Prozent. Das entspricht ei- gungsverhältnisse, fällt auf, dass der Anteil der ner Steigerung um 30 Prozent. Bei den Pflegehei- Vollzeitbeschäftigten seit 1999 ab-, der Anteil men hat sich eine ähnliche Entwicklung vollzo- der Teilzeitbeschäftigten hingegen zugenommen gen: Der Anteil der privaten Pflegeheime ist im hat. Aktuell arbeiten 69 Prozent der Beschäftig- selben Zeitraum von 35 auf 43 Prozent angestie- ten in ambulanten Diensten und 63 Prozent der gen. Dies entspricht einer Steigerung um 22 Pro- Beschäftigten in Pflegeheimen Teilzeit.29 In der zent.25 Die Verlierer dieser Entwicklung sind die Pflegebranche wird Teilzeitarbeit gerne genutzt, freigemeinnützigen Träger, die erhebliche Markt- um Personalengpässe zu bewältigen und Flexibi- anteile an die privaten Anbieter verloren haben. litätsressourcen auszuschöpfen.30 Aber auch die Kommunale Anbieter spielen im Pflegebereich Pflegenden selbst wünschen häufig eine Teilzeit- kaum eine Rolle. beschäftigung, um die gesundheitlichen Belastun- Pflegepersonal: Professionalisierung und Prekarisierung 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. Statistisches Bundesamt 2017 (Anm. 14). Infolge der Zunahme der Zahl der Pflegebedürfti- 28 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik, verschiedene gen und des Ausbaus der Pflegeinfrastruktur hat Jahrgänge, eigene Berechnungen. auch das Personal in der Pflegebranche zugenom- 29 Vgl. Statistisches Bundesamt 2001 und 2017 (Anm. 14); eigene Berechnungen. 30 Vgl. Guido Becke/Peter Bleses, Pflegepolitik ohne Arbeits- 23 Vgl. Schneekloth et al. (Anm. 6), S. 58. politik? Entwicklungen im Feld der Altenpflege, in: Jahrbuch 24 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik, verschiedene für Christliche Sozialwissenschaften 2016, S. 116; Hildegard Jahrgänge, eigene Berechnungen. Theobald/Marta Szebehely/Maren Preuß, Arbeitsbedingungen in 25 Vgl. Statistisches Bundesamt 2001 und 2017 (Anm. 14); der Altenpflege. Die Kontinuität der Berufsverläufe – ein deutsch- eigene Berechnungen. schwedischer Vergleich, Berlin 2013, S. 63 f. 09
APuZ 33–34/2019 gen, die mit der Tätigkeit einhergehen, bewälti- der Universität Bremen zufolge entsteht bei Fort- gen zu können.31 schreibung des Status quo bis 2030 eine Versor- Die Löhne der Pflegenden liegen unterhalb gungslücke von 434 000 Pflegekräften (Vollzei- des Medians aller sozialversicherungspflichtig täquivalente). Forscher/innen der Prognos AG Beschäftigten. Ein/e vollzeitbeschäftigte/r Al- gehen unter Berücksichtigung des neuen Pflege- tenpfleger/in verdiente in Westdeutschland 2017 bedürftigkeitsbegriffs von einem Personalbedarf brutto knapp 2900 Euro, in Ostdeutschland etwa von 517 000 im Jahr 2030 aus.37 2400 Euro. Verglichen mit dem Median der so- zialversicherungspflichtig Beschäftigten sind dies „KONZERTIERTE 15 Prozent weniger in West- und 10 Prozent we- AKTION PFLEGE“ niger in Ostdeutschland. Altenpflegehelfer/innen verdienen sogar 40 Prozent weniger als der Me- Die Große Koalition mit Bundesgesundheitsmi- dian.32 Hieran zeigt sich deutlich, dass Pflegear- nister Jens Spahn (CDU) hat erkannt, dass der beit – trotz Professionalisierung – nach wie vor Fachkräftemangel mittlerweile eines der drän- unterdurchschnittlich entlohnt wird. Vergleicht gendsten pflegepolitischen Probleme darstellt. man die Lohnentwicklung in der Altenpflege- Daher wurden zunächst im Rahmen des Pflege- branche mit der Gesamtwirtschaft, zeigt sich eine personal-Stärkungsgesetzes 2019 13 000 zusätzli- unterdurchschnittliche Entwicklung. Ursachen che Pflegefachkräfte für die medizinische Behand- hierfür sind vor allem die Lohnkonkurrenz zwi- lungspflege in Pflegeheimen über die gesetzliche schen privaten und freigemeinnützigen Trägern Krankenversicherung finanziert. Bislang konnten und die fehlenden Tarifverträge in der Pflege- allerdings nur wenige Stellen besetzt werden.38 branche.33 Seit 2010 gibt es immerhin einen Bran- Zudem sind unter dem Label „Konzertierte chenmindestlohn, der die Abwärtsspirale ge- Aktion Pflege“ die höhere Bezahlung von Pfle- stoppt hat.34 Er liegt aktuell in Westdeutschland gekräften, ein besserer Personalschlüssel und eine bei 11,05 Euro und in den östlichen Bundeslän- Ausbildungsoffensive geplant. Dabei ist den poli- dern bei 10,55 Euro.35 tischen Akteuren der Großen Koalition mittler- Nicht zuletzt aufgrund der niedrigen Löhne weile deutlich geworden, dass die Erhöhung der und der schlechten Arbeitsbedingungen (Stich- Löhne in der Pflegebranche mithilfe politischer wort: Minutenpflege) ist mittlerweile bundesweit Maßnahmen schwierig ist, denn zum einen fehlt ein Fachkräftemangel in der Altenpflege erkenn- ein Tarifvertrag, der für allgemeinverbindlich er- bar. Im Jahresdurchschnitt 2018 waren 24 000 of- klärt werden könnte, zum anderen zeigt der pri- fene Stellen für Altenpflegefach- und -hilfskräfte vate Arbeitgeberverband in der Pflege wenig Be- bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet.36 Be- reitschaft, bundeseinheitliche Lohnstrukturen rechnungen von Heinz Rothgang und Kollegen zu verhandeln. Es bleibt abzuwarten, inwieweit der Versuch der Tarifvertragsparteien gelingt, ei- 31 Vgl. Denise Becka/Michaela Evans/Fikret Öz, Teilzeitarbeit in nen Tarifvertrag zu vereinbaren, den Bundesar- Gesundheit und Pflege. Profile aus Perspektive der Beschäftigten im beitsminister Hubertus Heil (SPD) dann auf der Branchen- und Berufsvergleich, in: Forschung aktuell 2/2016, S. 12. Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes 32 Vgl. Diana Auth, Der Wandel der Arbeitsbedingungen in der (unter Berücksichtigung des kirchlichen Selbst- Pflege im Kontext von Ökonomisierungsprozessen, in: Clarissa Rudolph/Katja Schmidt (Hrsg.), Interessenpolitik und Care – bestimmungsrechts) für allgemeingültig erklä- Voraussetzungen, Hürden und Perspektiven kollektiven Handelns, ren kann. Als Alternative bliebe nur die Erhö- Münster 2019 (i. E.). hung der Branchenmindestlöhne. Im Rahmen 33 Vgl. Diana Auth, Ökonomisierung von Pflege – Formalisierung der Konzertierten Aktion wurde vorausschauend und Prekarisierung von Pflegearbeit, in: WSI-Mitteilungen 6/2013, festgehalten, dass Lohnerhöhungen – sollten sie S. 415 ff.; dies. (Anm. 32). 34 Vgl. Auth 2013 (Anm. 33), S. 416 f. durchgesetzt werden – Reformen der Pflegever- 35 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Mindestlöhne in der Pflege steigen, 21. 6. 2019, www.bundes- 37 Vgl. Rothgang/Müller/Unger (Anm. 15), S. 53 ff.; Oliver regierung.de/breg-de/aktuelles/mindestloehne-in-der-pflege- Ehrentraut et al., Zukunft der Pflegepolitik – Perspektiven, Hand- steigen-392506. lungsoptionen und Politikempfehlungen. Studie der Prognos AG im 36 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarktsituation im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2015, S. 12. Pflegebereich, 21. 6. 2019, https://statistik.arbeitsagentur.de/ 38 Vgl. u. a. Sven Loerzer, Spahns Pflege-Sofortprogramm wirkt Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Berufe/generische-Publi- in München nicht, 12. 8. 2019, https://www.sueddeutsche.de/ kationen/Altenpflege.pdf. 1.4560553. 10
Pflege APuZ sicherung notwendig machen, da ansonsten die tungen im Rahmen der Pflegezeit (analog zur Pflegebedürftigen aufgrund der gedeckelten Leis- Elternzeit). Ein weiteres Problem sind die nied- tungen die höheren Lohnausgaben durch höhere rigen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen Eigenbeteiligungen tragen müssen.39 in der weiblich konnotierten Pflegebranche, des- sen Katalysator nicht zuletzt der bewusst initi- FAZIT ierte Wettbewerb zwischen freigemeinnützigen und privaten Trägern war. Auch der Fachkräfte- Nach 20-jähriger Diskussion wurde Mitte der mangel ist eine Folge davon. 1990er Jahre die gesetzliche Pflegeversicherung Die Ambitionen der „Konzertierten Aktion als fünfte Säule des Sozialversicherungssystems Pflege“, die seit einem Vierteljahrhundert sichtba- in Deutschland eingeführt. Als Kompromiss ren Fehlentwicklungen zu beseitigen, sind begrü- zwischen dem sozialen Problemdruck und der ßenswert. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der marktliberalen Leitideologie der konservativ- demografisch bedingten Zunahme der Zahl der liberalen Bundesregierung wurde eine duale So- Pflegebedürftigen und des sinkenden häuslichen zialversicherung mit einem sozialen und einem Pflegepotenzials. Es ist zudem dringend gebo- privaten Zweig eingeführt, bei der aus ökono- ten, die Pflegeversicherung an den soziokulturel- mischen Gründen auf eine Bedarfsdeckung ver- len Wandel anzupassen. Statt die ausschließliche zichtet wurde und die mithilfe von Markt- und häusliche Pflege durch (weibliche) Angehörige, Wettbewerbselementen kostengünstig sein und unter Umständen unterstützt von einer tendenzi- bleiben sollte. ell irregulären „24-Stunden-Pflege“ durch osteu- Einige Konstruktionsfehler der Pflegever- ropäische Migrantinnen, zu fördern, sollte Pflege sicherung sind mittlerweile behoben worden. – im Sinne der Intention der Pflegeversicherung – Dazu zählt insbesondere die Reform des Pfle- als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet gebedürftigkeitsbegriffs, der zufolge Pflegebe- werden. Das bedeutet die Förderung gemisch- dürftige mit kognitiven und psychischen Beein- ter Pflegearrangements, deren Ausgangspunkt trächtigungen nun (endlich) in den Genuss von die Normalität der Parallelität von (Vollzeit-)Er- Pflegeversicherungsleistungen kommen. Andere werbstätigkeit und Pflege ist, die unterstützt wird Konstruktionsfehler bestehen weiter. Dazu zählt durch ein niedrigschwelliges Case-Management die Beschränkung auf eine Grundversorgung als Pflegebegleitung, (kultursensible) professio- ohne regelmäßige Dynamisierung, aufgrund de- nelle Dienste und teilstationäre Angebote sowie rer die Zuzahlungen der Pflegebedürftigen und neue Wohnformen und zivilgesellschaftliche Un- ihrer Familien stetig steigen, insbesondere im terstützungsangebote vor Ort. stationären Bereich. Um das Verarmungsrisiko der Pflegebedürftigen zu minimieren, wäre eine Reform in Richtung einer Vollversicherung mit Selbstbeteiligung (im Sinne eines Sockelbetrags) sinnvoll.40 Da diese mit erhöhten Kosten einher- geht, müsste über Steuerzuschüsse an die Pflege- versicherung nachgedacht werden. Des Weiteren wird zwar pflegepolitisch seit Beginn das Prinzip „ambulant vor stationär“ verfolgt, doch häuslich Pflegende werden nach wie vor zu wenig unter- stützt. Es fehlen beispielsweise Lohnersatzleis- 39 Vgl. BMG, Konzertierte Aktion Pflege, 21. 6. 2019, www.bun- desgesundheitsministerium.de/konzertierte-aktion-pflege.html. Ein Reformvorschlag hierzu findet sich bei: Heinz Rothgang/Thomas Kalwitzki, Alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung – Ab- bau der Sektorengrenzen und bedarfsgerechte Leistungsstruktur, DIANA AUTH 2018, www.pro-pflegereform.de/fileadmin/default/user_upload/ Gutachten_Rothgang_Kalwitzki_-_Alternative_Ausgestaltung_der_ ist Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Pflegeversicherung.pdf. Fachhochschule Bielefeld. 40 Vgl. ebd. diana.auth@fh-bielefeld.de 11
APuZ 33–34/2019 ESSAY GRUNDRECHT AUF PFLEGE? Ein Plädoyer für Selbstbestimmung und Autonomie in schwieriger Lebenslage Thomas Noetzel Sich dem Thema „Grundrecht auf Pflege“ zu wid- ein Allgemeines menschlicher Existenz sichtbar men, könnte die Erwartung aufkommen lassen, es macht und damit aus sich selbst heraus grundle- folgte eine rechtswissenschaftlich informierte Ab- gende Rechte konstituiert. handlung über die juristischen Bestimmungen zur Versorgung im sogenannten Pflegefall. Dieser THEOLOGIE PRÄGT stellt keinen rechtsfreien Raum dar. Pflegeversi- DEN DISKURS cherungsgesetz, weitere Bestimmungen in den So- zialgesetzbüchern, Regelungen zur Organisation Blick man mit dieser Fragestellung auf die ein- und Kontrolle von stationären und ambulanten schlägigen philosophischen, theologischen und Pflegeeinrichtungen, höchstrichterliche Entschei- rechtstheoretischen Diskussionen, fällt auf, dass dungen zur Freiheitsentziehung von Pflegebe- in ihnen religiöse Begründungen einen erheb- dürftigen oder familiärer Verpflichtung zur Pflege lichen Raum einnehmen. Die Ansprüche pfle- von Angehörigen – um solche Detailrechte geht gebedürftiger Menschen werden abgeleitet aus es hier nicht. Vielmehr darum, nach dem grund- göttlicher Schöpfung und einer aus der menschen- legenden Recht auf Pflege zu fragen, aus dem sich bildlichen Gestalt Gottes abgeleiteten Schwester- dann alle besonderen Rechte auf pflegerische Ver- lichkeitsethik. Der Nächstenliebe kommt hier sorgung ableiten, also um die Frage, ob es so et- die zentrale Begründungsleistung zu. Pflegeri- was wie ein Grundrecht auf Pflege gibt. sche Versorgung ist Ausdruck einer durch die ca- Untersuchungen von Grundrechten und ritas bestimmten Fürsorglichkeit. Allerdings ist grundlegenden Verfassungsbestimmungen ope- diese Sorge um den Menschen nur über spezifi- rieren mit der Unterscheidung von fundamenta- sche Vermittlungsschritte in ein Recht auf Pfle- len Rechten (Rechte erster Ordnung) und abge- ge zu übersetzen. In der Fürsorglichkeit steht das leiteten Rechten (Rechte zweiter Ordnung). Die Wohl der Pflegeempfänger (im normativ besten Untersuchung der Rechte erster Ordnung be- Falle) im Zentrum des Handelns der Pflegenden, schäftigt sich vor allem mit den Begründungen aber der Pflegebedürftige bleibt passiv Empfan- der grundlegenden Rechte und ist deshalb von gender. Man will sein „Bestes“, aber gerade das großer Bedeutung, weil sich in ihnen die jewei- müsste in rechtstheoretischen Überlegungen bei ligen fundamentalen Auffassungen von der Stel- ihm bleiben und nur für ihn verfügbar sein. Da lung des Menschen und seinen daraus abgeleite- es aber sowohl normativ in den einschlägigen so- ten Rechten ausdrücken. Hinzu kommt, dass ein zialrechtlichen Bestimmungen als auch praktisch Grundrecht auf Pflege eben keine Ableitung aus in der Organisation der Pflegearbeit um vielfäl- anderen Grundrechten darstellt (in der Bundesre- tige Rechtsansprüche (zweiter Ordnung) der publik Deutschland wäre da etwa an die Wahrung zu Pflegenden geht, muss eine genuin theologi- der Würde des Menschen und sozialrechtliche sche Begründung der Versorgung Pflegebedürfti- Verpflichtungen des Grundgesetzes zu denken). ger eine Verbindungsbrücke beschreiten von der Es geht vielmehr darum zu prüfen, ob der Pfle- religiösen Letztbegründung hin zur modernen gefall einen individuellen und sozialen Tatbe- Sozialstaatlichkeit. stand ausmacht, der sowohl eine besondere Qua- Ein Spannungsmoment, das sich hier zeigt, lität menschlichen Lebens darstellt, gleichzeitig besteht in Perspektivenkollision von Pflegenden 12
Pflege APuZ und Pflegebedürftigen. Schon im Begriff der Für- zu erreichende, objektivierbare Gut. Abgestützt sorge steckt die stellvertretende Handlung für je- wird diese Argumentation durch naturrechtliche manden anderen (Dritte-Person-Perspektive). Bezüge, die säkulare menschenrechtliche Nor- Das mag mit Blick auf die empirisch auch (aber men durchaus in sich aufnehmen können. Theo- nicht nur) bei Pflegebedürftigen festzustellende logische Überlegungen können den Pflegediskurs Einschränkung, sich selbst vertreten zu können auch deshalb stark bestimmen, weil sie sich hier (man denke hier nur an kleine Kinder oder de- entsprechenden Diskursen öffnen.03 mente Ältere) naheliegen, geht aber am Begrün- Es passt in dieses Argumentationsmuster, dass dungsproblem eines Rechts auf Pflege vorbei.01 Diskussionen über dieses Verhältnis von Frei- Es ist dieser besonderen Perspektive der Drit- heit und Sicherheit vor allem mit Blick auf de- ten-Person-Singular geschuldet, dass Pflegebe- mente Personen geführt werden. Untersucht man dürftigkeit als Problem einer Spannung zwischen die einschlägige theologisch inspirierte Literatur, „Freiheit“ und „Sicherheit“ begriffen wird.02 Da- dann scheint es fast so zu sein, dass Pflegebedürf- bei ist für die Bewertung dieses Denkweges wich- tigkeit mit demenziellen Prozessen synonym ge- tig festzustellen, dass die Freiheit der Pflegebe- setzt wird. Denn von der dementen Person könn- dürftigen als Ausdruck ihrer Selbstbestimmung te angenommen werden, dass sie gar nicht mehr in überhaupt in eine polare Gegenposition zur Ver- der Lage ist, ihre Freiheit zur Selbstbestimmung sorgungssicherheit gesetzt wird. Würde in dieser in vernünftiger, intersubjektiv nachvollziehba- Argumentation die Freiheit der Pflegebedürftigen rer Form zu leben. Mit Blick auf diese Personen ein Grundrecht persönlicher Autonomie markie- scheint also die Übernahme der Beobachtungs- ren (was es in theologischen Begründungsdiskur- position Dritte-Person-Singular schlüssig nach- sen gar nicht sein kann), dann wäre auch die Frage vollziehbar zu sein. Aber Pflegebedürftigkeit geht der „Sicherheit“ dieser Freiheit auf Selbstbestim- nicht notwendigerweise mit Demenz einher, und mung – und das schließt die Bereitschaft des In- das Problem eines Rechts auf Pflege ist mit dis- dividuums, bestimmte Risiken in Kauf zu neh- kursiver Fixierung auf die Frage nach den Selbst- men, ein – unzweifelhaft nachgeordnet. Von einer bestimmungsmöglichkeiten dementer Personen Symmetrie dieser normativen Zielbestimmungen nicht hinreichend zu erörtern. Zur Beantwortung in der pflegerischen Versorgung kann überhaupt der Frage nach den Begründungsmöglichkeiten nur derjenige argumentativ ausgehen, für den der eines Grundrechts auf Pflege trägt die Konzen- Wille der Individuen nicht letzte Handlungsbe- tration auf Demenz schon deshalb nicht das Ent- gründung ist. Eine solche Wahrnehmung korres- scheidende bei, weil sie eben nicht als schwerste pondiert mit der theologischen Hierarchieebene, Stufe und wahrer Kern der Pflegebedürftigkeit in eine von Gott gegebene Ordnung eingebun- anzusehen ist. Ein grundlegendes Recht bemisst den zu sein. Schließlich geht diese Schöpfungs- sich nicht in Zuweisungsquantitäten. ordnung auch dem Willen der Individuen vo- Es wird im weiteren Verlauf dieses Beitrags raus. Solidarität und Mitleid als ihr wesentlicher noch genauer auf die Frage der Fähigkeit zur Teil korrespondieren nun mit der Vorstellung, die Selbstbestimmung als Voraussetzung von Perso- Sicherheit der Pflegebedürftigen sei das höchste nalität eingegangen werden. Bevor wir zu die- sem Zusammenhang kommen, soll eine andere 01 Das auf die Bedürftigkeit von Kindern im weiteren Verlauf die- Begründung für das Recht auf Pflege diskutiert ses Beitrags nicht eingegangen wird, hängt damit zusammen, dass werden. Kinderrechte auf Pflege zu begründen sind mit den Kompensati- onsverpflichtungen ihrer Eltern, die mit der Zeugung und Geburt LIBERALE DISKURSE des Kindes existenzielle Fremdbestimmung vorgenommen haben. Zeugung und Geburt stellen ein Gewaltverhältnis dar, dessen strukturelles Unrecht wieder gut gemacht werden muss – dadurch, In sogenannten liberalen Diskursen geht es um dass das Kind aus der Situation der fremdbestimmten Natalität in Begründungen von Rechten erster Ordnung, die die Lage versetzt wird, sich sein Leben in freier Selbstbestimmung anzueignen. 02 Vgl. Marco Bonacker/Gunter Geiger (Hrsg.), Menschenrechte 03 Vgl. Marco Bonacker, Zwischen Genese und Geltung. Religiöse in der Pflege. Ein interdisziplinärer Diskurs zwischen Freiheit und Identität bei John Rawls als Paradigma einer theologischen Ordnung, Sicherheit, Opladen–Berlin–Toronto 2018. Die beiden Heraus- Paderborn 2016. Den Menschen sind von Gott natürlicher Rechte geber sind in führender Position in der Weiterbildungsarbeit der zugewiesen worden. Eine solche Vorstellung gestifteten Rechts hat katholischen Kirche tätig. mit der Idee der Würde autonomer Individuen nichts zu tun. 13
APuZ 33–34/2019 nicht aus einem außerweltlichen Willen (göttli- tischen Maßnahmen für eine mittlere Position in cher Schöpfungsplan) abgeleitet werden, sondern Bezug auf die Aufwendungen für die Gesundheit aus der aufgeklärt-egoistischen Interessenkalku- und Pflege Anderer zu votieren. Wüsste der Kal- lation der Individuen in der Welt. In den in die- kulierende, dass er pflegebedürftig ist, dann wür- sem Bereich vorhandenen unterschiedlichen So- de er für eine maximale Versorgung eintreten und zialvertragskonstruktionen wird die Legitimität etwa die staatliche Finanzierung solcher Leistun- politischer Ordnung durch die Bindung an den gen für gerecht halten. Wüsste der Kalkulieren- individuellen Willen der Subjekte dieser Ord- de nun aber, dass er als nicht pflegebedürftiger nung erzeugt. Solche Begründungen der Grund- Mensch in den Genuss dieser staatlichen Leistun- rechte stehen im Zentrum liberaler politischer gen gar nicht käme, dann wäre er auch nicht be- Philosophie. Auf den Fall der individuellen Pfle- reit, erhebliche praktische oder finanzielle Leis- gebedürftigkeit übertragen, bedeutet das etwa, tungen für die Versorgung Anderer zu erbringen. dass es für das Individuum vernünftig ist, sich di- Da seine Entscheidung aber eben hinter einem rekt oder indirekt (etwa durch steuerliche Abga- Schleier des Nichtwissens getroffen wird, votiert ben) für die Versorgung Pflegebedürftiger einzu- er vernünftigerweise für eine mittlere Position, setzen, unter der Bedingung, dass reziprok auch wie sie sich etwa im deutschen System der Pfle- auf die jeweils eigene Bedürftigkeit durch die an- geversicherung darstellt. Die Versicherung über- deren Subjekte versorgend reagiert wird.04 Sozi- nimmt in einem gedeckelten Rahmen anfallende alverträge sind immer Verträge auf politische und Pflegekosten, dafür werden relativ geringe An- gesellschaftliche Gegenseitigkeit. teile vom Arbeitslohn einbehalten. Ein Anspruch Der US-amerikanische Philosoph John Rawls auf Pflege wird hier unter einen starken Verhält- hat den Versuch unternommen, aus der individu- nismäßigkeitsvorbehalt gesetzt. ellen Nutzenkalkulation heraus zu einer vertrags- Einen solchen relativierenden Bezug gibt es theoretischen Konstruktion der Theorie moder- in vielen Diskursen über Rechte erster Ordnung, ner Gerechtigkeit zu kommen.05 Zwar finden von denen ein Großteil eine Grenze in anderen sich bei ihm keine Ausführungen zu einem Recht Rechten erster Ordnung findet (man denke hier auf Pflege, aber seine allgemeinen Begründun- etwa an Grenzen der Meinungsfreiheit oder Re- gen für eine Politik der Gerechtigkeit kann auf ligionsfreiheit). Für ein Grundrecht auf Pfle- die besondere Situation Pflegebedürftiger über- ge, das solche Verhältnismäßigkeitsüberlegungen tragen werden. Nach Rawls sind solche Gerech- vermeidet, muss eine starke Begründung entwi- tigkeitsprinzipien begründbar, wenn sie Ergeb- ckelt werden, in der deutlich wird, dass sich im nis einer Reflexion der Individuen sind, die von Recht auf Pflege die prinzipiell und immer zu ihren aktuellen und realen sozialen Stellungen, gewährleistende Wahrung der Würde des Men- von Fragen des persönlichen Reichtums, der Ge- schen realisiert. Artikel 1 Grundgesetz („Die sundheit und Ähnlichem absehen und sich hinter Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach- einem Schleier des Nichtwissens darüber Gedan- ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat- ken machen, für welche Regelungen sie einträten, lichen Gewalt.“) kennt allerdings Grenzen durch wenn sie über ihren jeweiligen Gerechtigkeitssta- den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie sie tus (reich oder arm, jung oder alt, gesund oder in vielen Entscheidungen durch das Bundesver- krank, pflegebedürftig oder nicht) nichts wüss- fassungsgericht gezogen wurden.06 Eine starke ten. Im Rahmen dieser gedankenexperimentel- Begründung eines Grundrechts auf Pflege muss len Modellannahme kommt man zu Aussagen, in sich diesen pragmatischen Verhältnismäßigkeits- denen die eigene Bedürftigkeit mit der möglichen überlegungen entziehen, und der allgemeine An- eigenen Nicht-Bedürftigkeit in Spannung tritt spruch auf Würde muss in der Besonderheit ei- (man weiß eben nicht, zu welcher Gruppe man nes Grundrechts auf Pflege konkretisiert werden gehört). Danach ist es vernünftig, bei sozialpoli- und gleichzeitig aufscheinen. Rawls Versuch, sol- che Fragen mithilfe einer vertragstheoretischen Konstruktion zu lösen, scheitert gerade mit Blick 04 Vgl. Otfried Höffe, Soziale Gerechtigkeit. Über die Bedin- auf die Pflege. Wie schon an anderer Stelle gesagt, gungen realer Freiheit, in: Gerhard Schwarz/Justus Uwe Wenzel (Hrsg.), Lust und Last des Liberalismus. Philosophische und ökonomi- sche Perspektiven, Zürich 2006, S. 123–128. 06 Vgl. Günter Frankenberg, Würde. Zu einem Schlüsselbegriff 05 Vgl. John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge MA 1971. der Verfassung, in: APuZ 16–17/2019, S. 37–42, hier S. 40. 14
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