Die Bundestagswahl 2005 - Mit einer neuen Runde des Parteienkartells um Machtanteile in der Deutschland AG näher an den gesellschaftlichen Abgrund

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Die Bundestagswahl 2005
         Mit einer neuen Runde
          des Parteienkartells
um Machtanteile in der Deutschland AG
näher an den gesellschaftlichen Abgrund
                                 von

                       Tristan Abromeit

                              Juli 2005

                    www.tristan-abromeit.de

                  2. Fassung vom 30. 8. 2005

                          (Neu: Anhang 4,
             Gliederungsziffer 4.5 / 4.6.1 / 4.6.2 und 4.7
                    neu, ausgefüllt oder ergänzt)

Die Bundestagswahl 2005 / Tristan Abromeit / Juli 2005 / Seite - 1 -
Inhaltsübersicht
                                                                                                                                Seite
1     Start mit Momentaufnahmen ................................................................................          3
1.1   In der Uni-Klinik in Greifswald ..........................................................................           3
1.2.  Das Café in Bournemauth ...................................................................................          5
1.3   Rückblende zum Wahlkampf 1997 .....................................................................                  8
2     Meine Argumentationsbasis ................................................................................           9
2.1   Wofür ich inhaltlich stehe ...................................................................................       9
2.2   Rückblende auf die Wahl von 1997 ....................................................................               10
2.3   Keine Angst vor der Stichmatisierung durch das Links-rechts-Schema .............                                    13
2.4   Ehrenerklärung mit Einschränkungen für die Akteure .......................................                           14
2.4.1 Die Ehrenerklärung .............................................................................................    14
2.4.2 Die Einschränkungen ..........................................................................................       15
2.5   Die Republik hat kein Organ für leise Töne .......................................................                   16
3     Mein Geschichtsverständnis ...............................................................................          19
3.1   Grenzen und Nutzen der Geschichtsschreibung .................................................                       19
3.2   Die Schuld der Deutschen ist größer als üblich beschrieben,
      aber nicht von der Schuld der anderen westlichen Völker zu trennen ................                                 19
3.3   Unsere Geschichte im 20. Jahrhundert: Wie ich sie sehe ...................................                           21
3.4   Die Wirkungskette ..............................................................................................     26
4     Benennung von Problemfeldern .........................................................................              31
4.1   Demokratie- und Verfassungsfeindlichkeit ........................................................                    31
4.2   Institutionen ohne Vertrauenswürdigkeit:
      Verfassungsorgane, Parteien, Gewerkschaften,
      AG-Verbände, Kirchen, Hochschulen, Verfassungsschutz ................................                                35
4.3   Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung ............................................................                 38
4.4   Antisemitismus und Rechtsradikalismus ............................................................                   40
4.5   Deutschland und die Welt:
      Wiedergutmachung /Uno / Militäreinsätze: Rüstung als Selbsthilfe
      Verteidigung der Menschenrechte / Bündnisse ....................................................                     52
4.6   Anmerkungen zu den Begriffen:
      Markwirtschaft, Soziale Marktwirtschaft und Kapitalismus ................................                            55
4.6.1 Marktwirtschaft und Kapitalismus .........................................................................           55
4.6.2 Soziale Marktwirtschaft .........................................................................................    59
4.6.3 Zweimal Neoliberalismus und kath. Soziallehre / ev. Sozialethik ........................                             71
4.7   Die vernachlässigten Themen:
      Die Geldverfassung, das Bodenrecht, das Patentrecht,
      die freiheitlichen Ordnungen des Sozialen Netzes und
      des Bildungswesens, der Kultur und die Wirkungen der Mehrwertsteuer ...........                                      79

5         Ist eine Wahlempfehlung möglich? .....................................................................           93

6         Anhänge
          Anhang 1: 14 Auszüge aus verwendeter Literatur zum Unterthema
                    „Die Schuld der Deutschen“, Übersicht am Schluß von Anhang 1 = 74 S.
          Anhang 2: Helmut Creutz Kapitalismus – Was ist das eigentlich? ........... = 13 S.
          Anhang 3: Der Hamburger Appell
                     dazu: a) der Karlsruher Appell von Dr. Harald Wozniewski
                           b) eine briefliche Stellungnahme von Helmut Creutz
                           c) Lob und Tadel für die Unterzeichner des Hamburger Appells
                              von TA .......................................................................... = 18 S.
          Anhang 4: Anmerkungen und Textauszüge zum Thema Soziale Marktwirtschaft
                     Auszüge von Erhard, Preiser und andere Autoren ....................... = 109 S.

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Die Bundestagswahl 2005

                                 Mit einer neuen Runde
                                des Parteienkartells
                      um Machtanteile in der Deutschland AG
                      näher an den gesellschaftlichen Abgrund

1    Start mit Momentaufnahmen

1.1 In der Uni-Klinik Greifswald

Sonntag, den 22. Mai 2005. Ich lag im Krankenbett der Uni-Klinik in Greifswald. Wir hatten
den ersten Teil der Vorbereitung unseres Bootes zum Kranen abgebrochen, als ich mich von
einem meiner Söhne in die Notaufnahme der Uni-Klinik bringen lassen mußte. Körperliche
Erscheinungen deuteten auf Schlimmes hin.
Die Symptome verschwanden aber schnell wieder. Die Suche der Ärzte nach den Ursachen
behinderte mich nicht am Gedankenaustausch mit anderen Patienten und im Nachdenken über
Gott und die Welt.

Ich sprach mit drei alten Herren über ihre Einstellung zur Vereinigung von BRD und DDR.
Alle drei fühlten sich betrogen. Einer war besonders verbittert. Als jugendlicher Soldat hatte
er schwer verwundet als Einziger von einer Kompanie an der Ostfront überlebt. Der Dank des
Vaterlandes habe darin bestanden, daß man ihm vorgehalten habe, daß er in der Nazi-Armee
gedient habe. Seine Existenz, die er sich in der DDR aufgebaut hätte, sei durch die Vereini-
gung vernichtet worden. Die Kinder seien fortgezogen, weil sie in erreichbarer Nähe seines
Dorfes keine Arbeit gefunden hätten. Die Gemeindeverwaltung würden gegen ihn und seine
Frau Zwangsmaßnahmen zur Eintreibung von Anliegerkosten einleiten, die sie nicht von ihrer
Rente bezahlen könnten. Der Mensch von der Gemeindeverwaltung hätte höhnisch gesagt, sie
sollten doch Ihr Haus verkaufen, wenn sie nicht zahlen könnten. Aber bei der gegebenen Lage
könne er das Haus – das Einzige was ihm noch etwas Freude macht – gar nicht ohne großen
Verlust verkaufen. Ihm wäre es recht, wenn die Mauer wieder hochgezogen würde. Ein junger
Mann der seine Arbeit als Elektriker verloren hat und als Imker sein Glück probiert, sah sich
außerstande, die Wende zu beurteilen, weil er zum Zeitpunkt der Wende erst 8 Jahre alt war.

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Ich hatte mir als Reisegepäck das Taschenbuch „Die Republik von Weimar“ von Helmut
Heiber, 1966, mitgenommen. Ich denke, ein Gutteil unserer heutigen gesellschaftlichen und
politischen Schwierigkeiten sind in der mangelhaften Aufarbeitung der ersten Hälfte des vo-
rigen Jahrhunderts begründet. Im Krankenbett hatte ich Zeit zum Lesen. Mit der Frage kon-
frontiert, ob der Krankenhausaufenthalt der Anfang vom Ende ist, stellen sich für einen poli-
tisch motivierten Menschen wie mich wie von selbst die Folgefragen ein: „Hast du, Jahrgang
1934 weniger versagt, als dein Vater, Jahr 1905?“ „Hat meine Generation weniger Schuld auf
sich geladen als unsere Vätergeneration?“ Ich muß zweimal mit einem Nein antworten. Am
Wollen hat es in beiden Generationen bestimmt nicht gelegen. Ich halte es nämlich für eine ir-
rige Annahnme, daß eine ganze Generation das Böse will und aus kühler Überlegung tut. Aber
worin ist denn das Böse, das wir zwar übersehen, aber dadurch nicht aus der Welt schaffen
können, begründet?

Den Blick vom Buch hebend, sehe ich auf dem Fernsehbildschirm, der auf halber Wandhöhe
montiert ist, daß die ersten Hochrechnungen von der Landtagswahl in NRW gezeigt werden.
Ich nehme den Kopfhörer und erfahre bald, daß die CDU den Wahlsieg errungen hat. Ich kann
ihren Jubel nach so langer Zeit in der Opposition verstehen. Aber nicht verstehen kann ich ih-
ren Glauben, es mit der FDP etwas besser machen zu können als es die SPD mit den Bündnis-
grünen es konnte. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß Schwarz-Gelb am Ende der nächsten
Legislaturperiode nicht mit genauso leeren Händen dasteht als die abgewählte rot-grüne Re-
gierung in NRW nach der ablaufenden. Die Parteienrinder (oder sind es nur Ochsen?) stehen
doch alle im Augiassstall und das Volk ist noch nicht fähig, die Rolle des Herakles zu über-
nehmen.

Daß der erneute Stimmenverlust in einem Landtag für die Gesamt-SPD eine Niederlage ist, ist
klar. Wenn der Parteivorsitzende Franz Müntefering und Bundeskanzler Gerhard Schröder an
diesem Abend nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses für NRW gesagt hätten, der Kanz-
ler und somit seine Regierung treten zurück, dann wäre das ein ehrenvoller Abgang gewesen.
Kein Mensch kann von einem anderen mehr verlangen, als er leisten kann. Daß sie aber jetzt
versuchen, auf einem verfassungsmäßigen fragwürdigen Weg – der dem Bundespräsidenten
Horst Köhler offensichtlich Bauchschmerzen gemacht hat - die Niederlagen in einem Sieg zu
verwandeln, ist kein Zeichen von politischer Weisheit und menschlicher Größe.

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1.2      Das Café in Bournemauth

Unser jüngster Sohn hat einen einjährigen Bildungsgang auf einem College in Poole an der
englischen Südküste absolviert. Mein Frau und ich nehmen die Rückführung zum Anlaß, am
Englischen Kanal einen kurzen Urlaub zu machen. Wir genießen die englischen Gärten, die
grünen Städte und die Landschaft. Ich denke wie immer, wenn ich eine Landschaft bei Son-
nenschein betrachte: „Wie können Menschen überhaupt Kriege führen?“ Zeigt nicht das Ho-
tel, der Strand und die Stadt, daß Menschen verschiedener Rassen und Völker friedlich zu-
sammen leben können. Auch der Besuch der Freiluftübertragung des Life 8 – Konzertes aus
London 1 in Bournemauth mit vielen Besuchern verstärkt den Eindruck, daß die Vorstellung
von Kriegen nur Ausdruck von bösen Phantasien sein kann. Doch der Besuch des römischen
Bades in der Stadt Bath aus der Zeit der Besatzungs- oder Herrschaftszeit der Römer, die
Besichtigung von Corfe Castle, eine Burg mit 1000 jähriger Geschichte, die laut Info im Jahr
1646 von den Palamentariern zur Ruine gesprengt wurde und die vielen Hinweise und Doku-
mentationen zu den Auseinandersetzungen im Zweiten Weltkrieg belehren einen eines Bes-
seren. Kriege waren und sind leider noch Realität. Es folgen die Berichte über die Krawalle in
Edinburgh, die am Rande der Demonstrationen gegen den G-8-Gipfel im schottischen
Gleneagles stattfanden und in den Medien wie gewohnt mehr Beachtung finden als die friedli-
chen Demonstranten. Und dann: Die HAZ vermeldet es am 8. Juli 2005 2 wie folgt:

   „London / Berlin / Hannover (p.) Eine verheerende Anschlagsserie mit 37 Toten und 700
Verletzten hat London einen tiefen Schock versetzt und Terrorängste in aller Welt ausgelöst.
                                                     ...
   Die Stadt feierte noch den Zuschlag für die Olympischen Spiele, als am Morgen in drei
 U-Bahnen und in einem Bus die Bomben explodierten. Wo sich noch am Mittwoch fremde
  Menschen im Freudentaumel in den Armen lagen, herrschte nur knapp 24 Stunden später
                                       Trauer und Entsetzen....“

Meine Frau und ich sitzen an diesem Mittwochmorgen in einem Café in Bournemauth. Das
Handy meiner Frau klingelt. Eine Kollegin aus Belgien berichtet ihr über den Terroranschlag.
„Gott sei Dank, daß mir die Konzertkarten zu teuer waren und du keine Lust auf einen Abste-

1 Das laut HAZ vom 14. 6. 05 vom irischen Popstar Bob Geldorf angeregt wurde.Und am 2. 7. vermeldet die
  HAZ unter dem Titel „Die Welterschütterer“ „Die Live-8-Konzerte der größten Stars sollen an diesem
  Sonnabend fünf Milliarden Menschen aufrütteln zum Protest gegen die Afrikapolitik der Industrienationen.“
2 Ich las es später bei der Durchsicht der in unserer Abwesenheit gesammelten Ausgaben.

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cher nach London hattest, sonst wären wir vielleicht unter den Opfern.“ So war sinngemäß die
Reaktion meiner Frau. Wir sind dann ins Hotel geeilt, um uns über das Fernsehen zu infor-
mieren. Der englisch Premierminister Tony Blair gab eine Erklärung ab, die sich sinngemäß
mit der späteren Erklärung der Königin Elizath II deckt und in der Neuen Presse vom 9. Juli
2005 zu lesen war::
 „...Diejenigen, die hinter diesen 'brutalen Anschlägen gegen unschuldige Menschen' stecken,
   sollten wissen, 'dass sie unsere Lebensweise nicht ändern werden', sagte sie gestern nach
                   einem Besuch von Verletzten im Royal London Hospital.“

Solche Aussagen sind mehr verharrend und trotzig als hellsichtig und mutig. Unsere (der
Europäer) Lebensweise – die sicher viel Richtiges und Überdauerndes enthält - wird auf
Gruppen, Generationen und Nationen bezogen als zu tief ungerecht empfunden. Und diese
Ungerechtigkeit ist eben der Nährboden für den Terrorismus. 3

„Erhard Eppler, der einstige SPD-"Querdenker" und pietistische Nervensäge zu Helmut-
Schmidt-Zeiten“ (Telepolis) kann wieder klagen über die Privatisierung der Gewalt, so als
wenn es sich unter der Einwirkung von staatlicher Gewalt leichter sterben ließe und private
Gewalt im Sinne von Terrorismus nicht durch Unterlassungen und Fehlleistungen der Staaten
verursacht würde.

Von Unterlassungen können wir hier sprechen, wenn unser Staat bzw. die Staaten die institu-
tionell und strukturell verankerten Lebensweisen nicht entsprechend neuen Ein- und Ansich-
ten anpassen, von Fehlleistungen, wenn die Anpassungen im Widerspruch zu übergeordneten
Normen oder sachlichen Erfordernissen vorgenommen werden..

Die Änderung von Lebensweisen ist ein schwieriges Kapitel. Erstens ist die Bildung von so-
zialen und politischen Normen und in Folge die Anpassung der gesetzlichen Normen ein lang-
wieriger Prozeß. Wir sehen das ja an der Menschenrechtsdiskussion, an der rechtlichen
Gleichstellung Geschlechter, Schichten und Völker. Und zweitens muß sich ein so starker
Veränderungsdruck aufbauen, daß die verharrenden Kräfte überwunden werden können. Die
Geschichte lehrt, daß diese Neuorientierung selten ohne Gewalt vonstatten geht. Wer hier Ge-
waltverzicht predigt, muß pazifistische Strategien zur Durchsetzung gesellschaftliche Ände-

3 Ich wurde im Zusammenhang mit meinem hier vorliegenden Text auf die Bibelstelle aus dem Buch Hosea
  Kapitel 10. Vers 12 gestoßen: „Darum säet Gerechtigkeit und erntet Liebe; pflüget Neues, weil es Zeit
  ist, den Herrn zu suchen, bis daß er komme und lasse regnen über euch Gerechtigkeit.“

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rungen aufzeigen, zulassen und selber auf Gewalt verzichten. 4

Ich hatte diesmal als Reiselektüre „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“
(becksche reihe, 2004) von Max Weber im Gepäck. Wenn ich das auf dem Buchtitel veröf-
fentlichte Bild von Max Weber anschaue, dann habe ich das Gefühl, daß dem Verfasser die
Erkenntnisarbeit mehr Qual als Freude bereitet hat. Es ist ja schon nachvollziehend anstren-
gend, sich klar zu machen, welches geistliche und geistige Ringen in der Vergangenheit das
geprägt hat, was wir heute als selbstverständlich und nicht für disponibel halten. Dabei ist es
doch so, daß das, was Weber als den Geist des Kapitalismus herausgearbeitet hat, auch eine
Beschreibung des Umbruches in der christlichen Ethik der Ökonomie ist. Dabei ist die alte
Ethik bezüglich Zins und die wirtschaftliche Realität einerseits und bezüglich des Bodenrechts
im Hinblick auf den kirchlichen, instituionellen Egoismus andererseits gescheitert. Und die
neue christliche Ethik ist unklar und verlogen, weil sie die institutionellen Mängel in der Öko-
nomie übersehen oder gar als von der Natur gegeben ansieht. Dieser Umbruch und das da-
durch entstandene ethische Vakuum besteht ja in den Kirchen als Zwiespalt weiter fort und
macht ihre Hinweise auf ihre Ethikkompetenz so unglaubwürdig. Die alte und die weniger
alte christliche Ethik werden in meinem Bücherregal repräsentiert durch die Autoren Jo-
hannes Kleinhappl (der zum Schweigen verdonnert wurde) und Oswald von Nell-Breuning,
der lange tonangebend war. Es geht mir hier dabei nicht vordergründig um eine Bewertung
der jeweiligen Ethik mit „gut“ und „böse“, sondern darum, daß uns bewußt wird bzw. bleibt,
daß unsere Lebensweise nicht nur durch unsere Gene diktiert wird, sondern auch stark von
den jeweils herrschenden Ideen bestimmt wird. Und Ideen haben meisten eine lange Wir-
kungsgeschichte, deren Kurs nicht von heute auf morgen geändert werden kann.

4 Private Gewalt unterscheidet sich von der staatlichen oft nur dadurch, daß sich die staatliche den Rahmen der
  Legalität verschaffen kann. Der Terrorist ist dann der illegale Gewalttäter. Wenn er aber siegreich ist, dann
  wird er zum Staatsmann. Die HAZ vom 1. 7. 05 vermeldet, daß mehrere US-Bürger den neuen iranischen
  Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad als Terroristen erkannt hätten. Am 8. Juli war in der HAZ zu lesen:
  Papst Benedikt XVI. Sprach in Rom von „babarischen Akten gegen die Menschlichkeit.“ ... In „National
  Geographic Deutschland“ vom August 2004 wird ausführlich von den Kreuzzügen, dem vom Papst Urban II.
  zur Ablenkung vom kirchlichen Verfall und Verschleierung seiner Machtausdehnung inscnierten Terroris-
  mus des Abendlandes gegen das Morgenland berichtet. „Die Gräuel im Zeichen des Kreuzes, schreibt der
  libanesische Schriftsteller Armin Maalouf, würden im Orient < heute noch wie eine Schändung, wie ein
  Schmach empfunden werden >.“ Am 11. Juli war in der HAZ zu lesen: „Mitterand genehmigte Anschlag auf
  Greenpeace – Agenten versenkten 'Rainbow Warrior' in Auckland. ... Zwei französische Agenten wurden
  wegen der Beteiligung an dem Anschlag in Neuseeland zu zehn Jahren Haft verurteilt. Nach weniger als
  einem Jahr kamen sie jedoch auf französischen Druck frei und wurden in ihrer Heimat als Helden gefeiert.
  Die neuseeländische Regierung bezeichnete den Vorfall als den ersten Terroranschlag im Land.“ ...

                Die Bundestagswahl 2005 / Tristan Abromeit / Juli 2005 / Seite - 7 -
1.3. Die Zeitungslektüre nach dem Abflug

18. Juli 2005. Der Wecker klingelte heute schon um 04.00 Uhr. Wir (unsere Kinder und ich)
haben heute meine Frau zum Flughafen gebracht. Sie ist auf dem Weg zu einem weiteren be-
ruflichen Einsatz in Korea. Globalisierung ist für unsere Familie nicht nur ein Stich- oder
Schlagwort, sondern ein Teil gelebter Wirklichkeit.
Die Nachrichten vom Terroranschlag in der Türkei noch im Kopf beobachte ich von weitem
die Kofferkontrollen in der Abfertigungshalle des Flughafens und denke, bald wird es wieder
so weit sein wie im Krieg, wo man sich sichernd, lauschend umsah, bevor man auf die Straße
oder das Feld schritt. Aber eine wirkliche Sicherheit durch polizeiliche Maßnahmen kann es
beim Stand des heutigen Verkehrs nicht geben. Ich denke, so wie eine Dauerkonjunktur mit
Vollbeschäftigung und einem allgemeinen anerkannten und gelebten Normenkorsett die beste
Kreditsicherung darstellt, so ist die Lokalisierung und Beseitigung der (meistens ökonomi-
schen) Konflikte in und zwischen den Gesellschaften und die gegenseitige Wahrnehmung und
Respektierung von kulturellen Unterschieden die beste Sicherheitspolitik.5 Leider sind die Re-
aktionen der Innenminister und Sicherheitspolitiker immer der Art, daß man befürchten muß,
daß sie am Ende ihrer Maßnahmen eine Kennzeichnung der Bürger vornehmen wollen, wie es
sich die Menschen in den Konzentrationslagern gefallen lassen mußten. Technisch möglich ist
sicher bald auch ein implantierter Sender, der als Bewegungsmelder dient, so daß bei Ver-
dacht zu jeder Zeit von jedem Menschen ein Bewegungsprofil erstellt werden kann. Die Fi-
nanz- und Wirtschaftspolitiker werden sich bei der Diskussion um die richtigen Maßnahmen
einklinken und sagen. „Es genügt uns nicht, daß wir Einsichtsrecht auf alle Konten der soge-
nannten Bürger erhalten. Wir wollen, daß die persönlichen Identitätsnummern, die ja auch Da-
ten zum sozialen Status enthalten sollen, mit den Kontonummern vernetzt werden, damit wir
vorgeben können, wofür die Leute ihr Geld ausgeben dürfen. Erst dann bekommen wir die
Konjunktur in den Griff und können soziale Sicherheit herstellen.“ Das will doch kein Poli-
tiker. Ich bin mir da nicht sicher. Es entspricht der Logik des Amtes, der Tendenz zum Perfek-
tionismus eines Inhabers einer Rolle mit ihrem Erwartungsdruck. Ein Polizeiminister ist kein
Freiheitsminister, auch wenn sein geistiger Vater eine Philosophie der Freiheit geschrieben
hat.

Wieder zu Hause angekommen, nehme ich mir die Hannoversche Allgemeine Zeitung vor. In

5 Selbstverständlich wird dadurch beim Kredit nicht jeder Betrüger und bei solcher Sicherheitpolitik nicht jeder
  krankhafte Attentäter ausgeschlossen.

                Die Bundestagswahl 2005 / Tristan Abromeit / Juli 2005 / Seite - 8 -
zwei Berichten geht es um Maßnahmen gegen die „Haßprediger“. Als erstes fällt mir wieder
eine Reaktion meiner Frau auf einen Bericht vom Samstag mit folgender Schlagzeile ein:
„Union will wissen, was in Moscheen gepredigt wird“. Sie sagte sinngemäß: „Was würden
wir von der Union wohl hören, wenn aus China gemeldet würde, daß die dortigen Behörden
die Predigten in den christlichen Gemeinschaften kontrollieren wollen?“ Auch Politiker soll-
ten sich angewöhnen, jeden Sachverhalt von verschiedenen Seiten zu betrachten. Außerdem:
Die Aufrufe zum Haß, zum Widerstand gegen vermeintliches oder tatsächliches Unrecht
können in eine moderate Sprache verpackt werden. Die Zensur als Bekämpfungsmittel des bö-
sen Wortes wird ihren Zweck nicht erfüllen, aber dafür die Meinungsfreiheit beschneiden. Die
englische Regierung will jene, die den Terror verherrlichen, für lange Zeit ins Gefängnis sper-
ren. Hat die englische Regierung ihre Beteiligung am Terror gegen Irak nicht kürzlich als not-
wendig und gut propagiert? Will sie sich selber einsperren?

Die HAZ vermeldet am 22. 7. 05: „Köhler löst den Bundestag auf“. Ich habe den Titel für
den vorliegenden Text also nicht falsch gewählt.6 Die HAZ titelt in der gleichen Ausgabe
auch: „Wulff sieht 'große Chance für Deutschland'“. Diese Chance hat Deutschland über die
Jahrzehnte gehabt. Sie wurde nie richtig von jenen genutzt, die sich als Aktionäre der
„Deutschland AG“ aufführten. Es ist zu bezweifeln, daß es nach der nächsten Wahl anders
wird.

2 Meine Argumentationsbasis
2.1 Wofür ich inhaltlich stehe!

Wofür ich stehe kann man unter anderem nachlesen in folgenden Texten:
Arbeitslosigkeit / Ursachen – Wirkungen - Lösungen
und eine Vorschlag zur Neugestaltung der Arbeitslosenversicherung /1977

Plädoyer für die Diskussion der theoretischen Grundlagen der Wirtschaftspolitik in der BRD
im allgemeinen und in der FDP im besonderen. - Februar 1978

Der Dritte Weg / Die natürliche Wirtschaftsordnung
Ein programmatischer Beitrag für die grüne Bewegung
Erstellt zum Programmkongress der Grünen im März 1980

6 Der erwarteten Verfassungsklage gegen die Bundestagsauflösung von MdB Werner Schulz, Jelena Hoffmann
  und anderen wird kein Erfolg eingeräumt. Ich halte die Klagen trotzdem für eine Ehrenrettung des Bundes-
  tages. Es macht sich in den Geschichtsbüchern von morgen gut, wenn wenigstens zwei Mitglieder gegen die
  Entmündigung des Bundestages gewirkt haben.

               Die Bundestagswahl 2005 / Tristan Abromeit / Juli 2005 / Seite - 9 -
Die freie Berufsbildungs-Assoziation, 1. Mai 1982

Darauf kommt es an!
Gedanken eines Bürgers aus der Mängel-Demokratie BRD
für die Bürgerinnen und Bürger der Entwicklungsdemokratie DDR
gegen die strukturelle Ausbeutung und Unterdrückung
für eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus
Dezember 1989
Diese Texte und weitere sind einsehbar unter www.tristan-abromeit.de (Texte /Arbeiten)

2.2 Rückblende auf die Wahl von 1997

Im August 1997 habe ich eine Arbeit vorgelegt, die folgenden Titel trägt“

                                           Die Feinde
                        der Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit
                                            beziehen
                           Ministergehälter und Abgeordnetendiäten
                        dargestellt am Beispiel der Rechtschreibreform
            auf dem Hintergrund unserer Ökonomieprobleme und Demokratiedefizite

Ich bringe daraus folgende Abschnitte, die ich zur leichteren Abgrenzung zum aktuellen Text
zentriert wiedergebe. Der gesamte Text von 1997 ist unter der Nr. 17 auf meiner Internetseite
einsehbar.

                             2.2.2 Freie Gesellschaft eine Ideologie?
Gerade an den politischen Reibungsverlusten und der Kumulation gesellschaftlicher Probleme
 zeigt sich, daß unser Anspruch, eine freie und offene Gesellschaft zu sein, reine Ideologie ist.
Wäre unsere Gesellschaft das, was sich nur als Ideologie herausgestellt hat, nämlich eine freie,
  dann wären die erforderlichen Anpassungsprozesse immanent. Sie würden sich sozusagen
   automatisch vollziehen. Man brauchte nicht zu überlegen, ob nur verlorene Kriege gesell-
 schaftliche Veränderungen ermöglichen. Es zeigt sich hier aber auch ganz deutlich, daß eine
freie Gesellschaft, in der zudem Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit nicht nur Füllworte für
politische und religiöse Predigten sind, sich nicht dadurch einstellt, daß man sie sich wünscht,
 sondern nur dadurch, daß man sie schafft. Aber vor dem Schaffen kommt die Analyse. Aber
   diese Analysearbeit wurde eben schon nach dem letzten verlorenen Krieg, noch bevor der
 zweite Schritt zur Sozialen Marktwirtschaft getan wurde, abgebrochen. Die einen wollten die
(Soziale) Marktwirtschaft nicht, weil sie nur den nationalsozialistischen Staatskapitalismus in
einen Privatkapitalismus transformieren wollten, und die anderen wollten die (Soziale) Markt-
     wirtschaft nicht, weil sie sich immer noch von einer am marxistischen Zentralismus 7
7 Der marxistische Zentralismus, auch in der Form des demokratischen Zentralismus kann aufgrund seiner
  Theorie nur eine Variante des Staatskapitalismus hervorbringen. Er produziert, was er bekämpfen will. Diese
  Kennzeichnung darf aber nicht als eine generelle Abwertung von Karl Marx verstanden werden. Erstens ist
  das Erkennen und Gestalten auch ein dialektischer Prozeß, in dem der Irrende eine wichtige Rolle spielt, und
  zweitens habe ich neulich erst ein Papier in der Hand gehabt, in dem ein Zeitgenosse mit Marx argumen-
  tierend durchaus Zeitgemäßes und Richtiges sagte.

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orientierten Ökonomie mehr versprachen. Herausgebildet hat sich dann ein Modell, das aus
 diesen beiden Strömungen abgeleitet wurde und als Sozialdemokratismus bezeichnet werden
kann. Es ist ein System, das die Fehler im Fundament der Wirtschaftsordnung außer Acht läßt
 und die daraus folgenden gesellschaftlichen Verwerfungen durch unsystematische, willkürli-
 che am Wahlerfolg orientierte staatliche Interventionen beseitigen will, aber gerade dadurch
  neue Verwerfungen programmiert und neue Interventionen erforderlich macht. Hauptträger
 dieses Modells - wenn auch mit unterschiedlicher Akzentsetzung - waren die CDU/CSU und
 die SPD, aber auch die FDP. Und obwohl dieser Sozialdemokratismus seine Untauglichkeit
bewiesen hat und die verworrene Politik ein Ausdruck dieses Loslösungsprozesses ist, besteht
bei den (westdeutschen) Bündnisgrünen nach anfänglicher dezentraler Zielsetzung eine starke
                    Neigung zu dem Auslaufmodell Sozialdemokratismus.
  Diese Loslösung von einem sich als untauglich erwiesenen Modell bedeutet aber nicht eine
  Hinwendung zur Marktwirtschaft. O. Lambstorff, H. Kohl, G. Schröder und auch J. Fischer
 stehen für die Rückkehr zum Kapitalismus, und das ist immer noch ein System von Ausbeu-
tung von Mensch und Natur, nicht durch die „bösen“ Unternehmer, sondern durch fehlerhafte
   Strukturelemente, die für viel Geld, das die Ausgebeuteten zahlen müssen, von den politi-
                 schen Parteien und den Nutznießern aufrecht erhalten werden.

                         2.2.3. In der Politik herrscht eine Systemblindheit.
                                       Erst wenn wir erkennen:
           - daß jede Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung eine gesetzte Ordnung ist
                         (Silvio Gesell, Die natürliche Wirtschaftsordnung),
 - daß es zwischen den reinen Typen der Zentralverwaltungswirtschaft und der Verkehrswirt-
                                     schaft nur Mischformen gibt
                        (Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik ),
            - daß der Weg zum Zentralismus immer ein Weg in die Knechtschaft ist
                       (Friedrich August Heyek, Der Weg zur Knechtschaft),
                   - daß die Alternative zum Zentralismus der Föderalismus ist
                      (Pierre Joseph Proudhon, dargestellt von Karl Hahn in
                           Föderalismus - Die demokratische Alternative)
              - daß der Mensch das Maß für die Wirtschaft ist und nicht umgekehrt
                          (Wilhelm Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft),
    - daß die Überwindung von wirtschaftlicher Drangsal in Freiheit prinzipiell möglich ist
   (John Maynard Keynes, Allgmeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes),
          - daß es heute um die Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus geht
   (Dieter Suhr, Die Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus, monetäre Studien zur
    sozialen, ökonomischen und ökologischen Vernunft, / Geld ohne Mehrwert, Entlastung der
        Marktwirtschaft von monetären Transaktionskosten / Gleiche Freiheit - Allgemeine
                    Grundlagen und Reziprozitätsdefizite in der Geldwirtschaft ),
     - daß Der Nebel um das Geld sich lichten muß (Bernd Senf) , denn u.a.: Inflation und
                        Deflation zerstören die Demokratie (Gerhard Ziemer),
- daß wir erkennen müssen, daß kollektive Verdrängungen in der Ökonomie die Gesellschaft
                       vergifteten < Erinnert sei an das Bodenrechtsproblem >
                                (Adolf Damaschke, Die Bodenreform),
   - daß wir, damit die Gesellschaft nicht erstickt, Weniger Staat benötigen (Leopold Kohr)8
- wenn allgemein Verstanden wird, daß wir in der Rolle des freien Volkes oder einer anderen
  einschränkenden Herrschaftsform (bei vorhandener Durchsetzungsmacht) zwar die Freiheit
    haben, die Ordnung, die gelten soll, frei zu wählen, daß es aber nie die freie Wahl bei den

8 Es gibt sicher noch andere Autoren und Bücher, die in diesem Zusammenhang benannt werden müßten.

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Ergebnissen der gewählten Ordnung gibt,
 - wenn wir begreifen, daß die freie und humane Gesellschaft das Ergebnis einer Systemwahl
   ist, aber jedes System an Bedingungen geknüpft ist, erst dann können politische Kommenta-
     re erhellend wirken,9 politische Planungen Klarheit bekommen und Entscheidungen der
  Gesetzgeber die für die Akzeptanz erforderliche Sinnhaftigkeit und Dauer bekommen, weise
                        Selbstbeschränkung und Gerechtigkeit ausstrahlen.

                         2.2.4 Die richtige Wirtschaftspolitik als Ziel
  Sicher hat Lambsdorff Recht, wenn er meint, mit „Friede, Freude Eierkuchen“ könne keine
  richtige Wirtschaftspolitik erreicht werden. Auf dem Weg zur richtigen Wirtschaftspolitik
 muß vielen auf die Füße getreten werden, besonders jenen, die von den desolaten Zuständen
profitieren, aber auch Lambsdorff, den Mitgliedern der Parlamente, Parteien, Gewerkschaften
 und Verbände. Eine Ökonomie, die nicht ein Maximum von Menschen Frieden, Freude und
einen vollen Bauch ermöglicht, ist einfach ein ständiger Angriff auf die Menschenrechte. Eine
  Volkswirtschaft, die nicht allen Menschen entsprechend ihren Begabungen und Neigungen
  eine Erwerbsarbeit ermöglicht, ist keine Volkswirtschaft, sondern eine verfassungswidrige
 Privilegenwirtschaft. Und die Mitglieder der Parlamente, der Redaktionen und gesellschafts-
  wissenschaftlichen Institute sind für den Bestand von Frieden und Demokratie (noch) eine
             größere Gefahr als die Mitglieder links- und rechtsradikaler Gruppen.
                                               ...
                           2.6.7 Regierungswechsel = Fortschritt?
 Mir erscheint zur Zeit der Regierungswechsel wie die Ablösung des Gespannes am oder im
  Göpel, das die Dreschmaschine auf der Tenne - in der widersinnig leeres Stroh gedroschen
 wurde, angetrieben hat. Das neue Gespann im Göpel kann keine neuen Wege gehen, es muß
wie das Vorgängergespann immer im Kreise gehen. Es ist kein Fortschritt , wenn die Dresch-
              maschine statt mit Weizen- nun mit Roggenstroh beschickt wird. 10

                         2.6.8 Mit Kohl schneller zur neuen Wende
 Ich bin dafür, daß unser Bundeskanzler Helmut Kohl11 die Gelegenheit bekommt, weiter zu

9 Ich habe im März dieses Jahres in einem Schreiben an die Redaktion der HAZ den Mangel an systemanaly-
    tischen Denken in der Berichterstattung beklagt. Ich habe damals u. a. geschrieben:
„Der Begriff „Globalisierung“ wird allgemein so gehandelt, als handle es sich um neue Tontafeln vom Berg Si-
nai, die nur von geheimnisvollen, noch unbekannten Priestern, gelesen werden könnten, von deren Inhalt aber
soviel bekannt geworden sei, daß wir uns Regeln einer neuen Religion zu unterwerfen hätten. Ich hätte gerne
einmal in der HAZ gelesen, was „Globalisierung“ von den positiv besetzten Begriffen, Welthandel und Weltof-
fenheit unterscheidet.
Der Begriff „Neoliberalismus“ scheint mir, hat heute die Funktion des Begriffes „Juden“, den dieser für die
Zeit, die in barbarischen Nationalsozialismus führte, gehabt hat. Es ist gut, daß ein Neoliberaler als solcher nicht
so leicht zu erkennen ist, sonst müßte er auch bald ein Zeichen, wie den Judenstern tragen. Wenn die Medien
nicht in der Lage sind, das gefühlte Böse und das tatsächliche, strukturell verursachte Böse den Menschen zu er-
klären, so wirken sie wie Saboteure der Freiheit und Humanität. Beim Begriff „Neoliberale“ ist besonders fatal,
daß er sowohl für die heutigen Vertreter der Dschungelökonomie steht, wie auch für jene, die eine der geistigen
Quellen (Freiburger Schule / Ordoliberalen) der Erfolgsgeschichte ausmachen, die wir unter Ludwig Erhard am
Beginn unserer Republik erlebt haben.“
Ich erhielt vom Chefredakteur Dr. Wolfgang Mauersberg die Antwort: „Systemanalyse überlassen wir den Phi-
losophen.“ Der Redaktion genügt es offensichtlich, die allgemeine Verwirrung zu spiegeln. Aufklärung ist wohl
nicht ihre Sache. Es kann aber auch sein, daß wir aneinander vorbei geredet haben.
10 Das ist ein museales, aber treffendes Sprachbild. Ein Besuch z.B. im Museumsdorf Cloppenburg macht noch
   deutlicher, was gemeint ist. Auf dem Hof am Jadebusen, auf dem ich 1958 gearbeitet habe, gab es noch ein
   Göpelhaus.

11 Ohne Ironie: Ich halte Helmut Kohl für einen respektablen Menschen. Seine Tragik liegt darin, daß es ihm
   gelungen ist, über seine Erkenntnisgrenzen hinaus Politik zu machen.

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machen. Ich persönlich habe dann die Chance die zweite, diesmal gesamtdeutsche Wende
 noch zu erleben, die dann die westdeutsche Nomenklartura abwickelt, hoffentlich mit zu-
                sammengestrichenen Pensionen wie bei den SED-Bonzen.
 Wenn die Menschen nun gegen ihr Gefühl, daß ein Regierungswechsel nichts bringt, Grün-
  Rot zur Macht verhelfen, dann besteht die Wahrscheinlichkeit, daß die notwendige neue
 Wende sich um Jahre verschiebt. Die Gefahr einer unkontrollierten Revolution oder eines
                          Staatsstreiches wächst mit jedem Jahr.

Leider stimmt die Geschichte immer noch. Sogar die Schreibreform ist im Zeitpunkt dieser
Niederschrift noch ein Medien-Thema. Nur ein paar Namen müssen ausgewechselt werden.

2.3 Keine Angst vor der Stichmatisierung durch das Links-rechts-Schema

In dem kleinen Buch von Victor de Kowa „Katechismus des gesunden Menschenverstandes“,
1949 ist vorne als Motto zu lesen:
                               Wir haben nicht zu unterscheiden
                                zwischen Ost und West, nicht
                               zwischen Rechts und Links, nicht
                              zwischen Rot und Schwarz, sondern
                                wir haben nur zu unterscheiden
                                   zwischen Gut und Böse!

Die Gründer der grünen Partei haben sich 1980 damit beholfen, daß sie sagten, wir sind nicht
links, wir sind nicht rechts, wir sind vorne. Die Schwierigkeit besteht darin, in der Politik zu
erkennen, was gut und böse, was vorne ist. Beim Militär ist auf dem Rückmarsch vorne die
entgegengesetzte Richtung wie auf dem Vormarsch.

Wer eine parteipolitische Brille trägt, weiß in der Regel, was gut und böse ist und wer die Re-
präsentanten des Fort- und Rückschrittes sind. Ich selber neige dazu, der politischen Mitte die
Hauptschuld daran zuzuschreiben, wenn in dieser Welt mit linken oder rechten Parolen oder
Welterlösungsprogrammen Menschen eingesperrt, ausgesperrt und ermordet wurden und
werden. Die politische Mitte neigt nämlich dazu, gesellschaftliche Widersprüche, Probleme
solange mit „faulen“ Kompromissen zu verdecken und zu vertuschen, bis der entstehende
Überdruck sich gewaltsam ein Ventil sucht.

Wer sich ernsthaft Gedanken um unsere nationale und Welt-Gesellschaft macht, hat die
Schwierigkeit das Wollen und Tun der Akteure mit eindeutigen Begriffen zu belegen. Was
und wer ist progerssiv oder konservativ. Wer oder was ist links, recht oder mittig? Gibt es

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überhaupt Personen oder Personengruppen, die nur linke, rechte oder mittige Positionen ver-
treten - soweit diese benennbar sind? Hat das Morden mit rechten, rassistisch motivierten Ein-
stellungen größeres Gewicht als das Morden mit linken, ideologisch motivierten Einstel-
lungen? Ich denke, daß die Zeitgenossen, die man allgemein zur Intelligenz zählt, unter dem
unmittelbaren Eindruck der schrecklichen Hinterlassenschaft des nationalsozialistischen Regi-
mes fehlsichtig wurden und diese Fehlsichtigkeit dann an die nachfolgende Generation wei-
tergereicht haben.

Wer sich fortan vom Stigma des bösen Deutschen befreien wollte oder eine politische Karrie-
re anstrebte, mußte sich zu der zur Religion gewordenen absoluten, unendlich großen und al-
leinigen Schuld der Deutschen bekennen. Dieses war soweit nützlich, wie es ermöglicht hat,
den Hunger und das Elend im Nachkriegsdeutschland ohne all zu große Reibungsverluste zu
überwinden. Die grausigen Fehlleistungen der Deutschen hat diese Religion aber nicht erklärt,
die Welt wurde dadurch nicht besser und neue Schuld wurde auch nicht vermieden. Es hat
aber dazu geführt, daß die Antifakeule als politisches Instrument entwickelt werden konnte.
Und das Böse in Politik der Nachkriegszeit und der Gegenwart kann man ja nicht mehr zuge-
ben, denn es hatte ja seinen gedanklichen Ort in der Nazi-Vergangenheit gefunden.

2.4 Ehrenerklärung mit Einschränkungen für die Akteure
2.4.1 Die Ehrenerklärung

Aus der Sicht der Wähler gibt es sicher zu häufig Anlaß zu Klagen über vermeindliche oder
tatsächlich Mängel in Bezug auf den Charakter oder der Kompetenz der politisch aktiven Bür-
gerinnen und Bürger, die Politiker oder Politikerinnen genannt werden, wenn ihre politische
Arbeit zum Beruf wird. Die Regierungsform der Demokratie ist aber kein Versprechen, daß
nur fehlerfreie Menschen die öffentliche Sache vertreten. Aber das Verfahren zur Selektion
der Volksvertreter sollte schon so angelegt sein, daß es zu einer Optimierung der Auswahl
führt. Das sehe ich nicht als gegeben an. Der Wille zur Macht und zur Beherrschung der Bür-
ger scheint mir ausgeprägter zu sein als der Wille, dem Bürger selbstbestimmte Gestaltungs-
freiheit zu erwirken.

Bei den Mitgliedern der Parteien ist es wohl so, daß zu häufig die aufgesetzte Parteibrille

             Die Bundestagswahl 2005 / Tristan Abromeit / Juli 2005 / Seite - 14 -
nicht die Sehschärfe für das gemeinsame Gute oder Böse erhöht, sondern die normale poli-
tische Fehlsichtigkeit aufgrund der Nähe zum Konkurrenten noch verstärkt. Es kommt leider
zu leicht dazu, daß eigene Denken und Tun dadurch auf- oder überzubewerten, indem das-
jenige der Mitglieder der Konkurrenzparteien abgewertet wird. Dazu gibt es objektiv keinen
Grund, das beweist sich spätestens dann, wenn mit Abgeordnetinnen und Abgeordneten, die
vorher abgewerteten Konkurrenzparteien angehören, eine Koalition gebildet wird. Die Volks-
verderber von gestern sind dann plötzlich die Retter der Nation. Nach meinem Dafürhalten
kann aber ein großer Teil der Mitgliedschaft der politischen Partei beliebig ausgewechselt
werden. Manche Mitglieder würden es gar nicht merken, wenn es die äußerliche Symbolik
nicht gäbe.

Parteispendenaffäre, Bestechungen, unerlaubte Nebeneinkünfte, Rotlicht-Beziehungen und
was es noch gibt, sind kein Grund die Politiker insgesamt zu verdammen. Gerade wenn man
eine harte Kritik vortragen will oder muß, gilt das christliche Liebesgebot, besonders für
Menschen, die man als Feinde betrachtet. Schwieriger scheint mir zu sein, die eigenen Partei-
freundInnen zu lieben. Das liegt wohl an der gemeinsam erlebten Parteigeschichte, die im
Regelfall eine Geschichte der Reibungen ist. Ich habe jedenfalls keine Mühe, die Bürgerinnen
und Bürger, die man im engeren oder weiteren Sinn zur Politikerkaste zählen kann, mit
freundlichen Augen zu sehen und Humorvolles, was über sie berichtet wird, mit meinen Oh-
ren aufzunehmen.

2.4.2 Die Einschränkung

Wenn ich die Politik bei uns kritisiere, dann kritisiere ich mich auch selbst, denn ich bin seit
1967 nacheinander als Mitglied drei verschiedener Parteien dabei. Ich weiß auch, daß mich
meine eigene Haltung und Zielsetzung – wenn man sie sich zeit- oder ortsversetzt in den Na-
tionalsozialismus oder in die SBZ und späteren DDR denkt – mich wie verstorbene Freunde
ins KZ, nach Sibirien oder Bautzen gebracht hätte. Trotzdem kann meine bzw. unsere Kritik-
basis nicht der höhere Freiheits- und Wohlstandsgrad sein, den wir seit der Gründung der
BRD erreicht haben, sondern die Kritikbasis muß jene sein, die in der Idee von einer demo-
kratischen und freien Republik und in der Idee von einer in sich sozialen Marktwirtschaft
angelegt ist und das Volumen an Leid in dieser Welt das ein politisch wacher Geist hätte
verhindern können. Die meist nicht freiwillig übernommene Blindheit der Akteure, die sich

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bis hin zur böswilliger Ignoranz ausgebreitet hat, läßt sich nicht auf einer Kuhhaut beschrei-
ben.

2.5 Unsere Republik hat kein Organ für leise Töne

Mich regt schon wieder auf, daß ich so stark auftragen muß, um überhaupt eine Chance zu
haben, gehört zu werden. Noch schlimmer: Mich erbost, daß ich mich aufblähen muß, um
Selbstverständlichkeiten unter das Volk zu bringen. Dies Schreiben macht mir keine Freude.
Ich würde lieber mit dem einen Enkel ein Baumhaus zimmern und mit einem anderen ein Ka-
jak bauen. Aber die Enkel haben keine Zukunft, wenn die Einsichtsfähigkeit unserer Gesell-
schaft nicht gesteigert und die Orientierungslosigkeit der Politik nicht überwunden wird.
Also worauf reagieren noch unsere politischen Debattenredner und Parlamentarier? Auf Stich-
worte, die die Sprachregelungen über die Nazizeit in Frage stellen. Warum? Weil dort – wie
ich schon sagte - die Schuld der Gegenwart versteckt wurde.
Erinnern wir uns an den „Fall Martin Hohmann“, das heißt an die abweichende Meinung eines
Abgeordneten. Was für ein Gezeter in Folge. Ich habe den Vorgang in nachfolgend benannten
Text verarbeitet: „Ich bin ein Täter! Du bist ein Täter! Wir sind alle ohne Wahlfreiheit Mit-
glieder eines Volkes von Tätern!“ Der Text ist unter der Nr. 29 auf meiner Internetseite zu-
gänglich. Welch eine Aufregung auch bei der Union über den SPD-Abgeordneten Ludwig
Stiegler bei seinem Vergleich von programmatischen Aussagen der CDU zur Arbeit
mit der NS-Propaganda. Die Vorgänge zeigen, daß die verblichenen Nazis heute dadurch
noch über uns herrschen, daß ihr Sprachmißbrauch indirekt bestimmt, was wir sagen dürfen.
Ich wäre als SPD-Mitglied in der Sache aber zurückhaltender gewesen, weil SPD-Mitglieder
nicht nur Opfer waren, sondern auch ungewollt, aber nachhaltig Förderer der NSDAP. Ich
komme darauf zurück.

Ich weiß aus eigener Erfahrung wie es schmerzt, bei unserer Nazi-Geschichte und deren pro-
blematischen Aufarbeitung als Nazi oder Faschist beschimpft zu werden. Als Schuljunge
wurde ich als Nazi beschimpft, nur weil ich einer konfessionellen Minderheit angehörte. Ich
wußte damals noch nicht, daß meine Mutter und ich unmittelbar nach meiner Geburt an ver-
schiedenen Orten vor den staatlichen Terroristen in brauner Uniform versteckt wurden. Als
ich Anfang der 80er Jahre das älteste Mitglied der GRÜNEN berechtigt gegen Faschismusvor-
würfe verteidigte, sollte ich wegen Verharmlosung des Nationalsozialismus aus der Partei

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ausgeschlossen werden. Ich habe damals gesagt, die Grünen sollten aufpassen, daß sie später
Besseres vorzuweisen hätten als die NSDAP. Nun, die Schlußbilanz ist noch nicht ge-
schrieben. Für mich war das Parteiausschlußverfahren eine große Kränkung.12 Nicht nur, daß
ich mich in den 50er Jahren eine pazifistische Haltung erarbeitet hatte, mein Boot nach Gand-
hi „Mahatma“ benannt hatte, damals schon für die Durchlässigkeit des eisernen Vorhanges
wirkte, mich früh an linken Idealen orientiert, so daß ich meine damals einzige (späte) Bil-
dungschance, die Lehre in einer Genossenschaftsbank, nicht wahrgenommen hätte, wenn ich
nicht überzeugt gewesen wäre, daß eine Genossenschaft etwas in Richtung Sozialismus sei.

Also im vollen Bewußtsein der Bewertungsproblematik unserer Geschichte und in Kenntnis
der Wirkungen des Verdachts auf den Einzelnen, Vertreter des Bösen zu sein, sage ich als
Einschränkung der Ehrenerklärung der politisch Aktiven: Ich und Du, unsere Generation, die
in die Nazizeit hinein geboren wurde und mehr oder weniger alle respektablen Personen
gelten, haben im Verbund mit der ganzen weißen Rasse passiv oder aktiv (indirekt) mehr
gemordet als unsere Elterngeneration unter und mit der Herrschaft der Nationalsozialisten.
Unsere Mordwaffe war nicht das Gas, sondern die ökonomische Ignoranz. Die Orte des
Sterbens waren und sind im heutigen Zeitalter der Massen-Medien zumindest genauso sicht-
bar wie die Konzentrationslager in der NS-Zeit. Ich gründe dieses Urteil auf die Erkenntnis,
daß das Morden in Folge von Kriegen und durch den Hunger in der Hauptsache seine Ursache
in einer westlichen, fehlerhaften Ökonomie hat. Das Wissen um eine Ökonomie, die einen
allgemeinen Frieden und Wohlstand für alle ermöglicht hätte, wurde von den Kasten der Poli-
tiker, Gesellschaftswissenschaftlern und Fachjournalisten nicht zur Kenntnis genommen oder
gar abgeblockt, so daß es nicht weitervermittelt und angewendet werden konnte.

      „Mehr als 850 Millionen Menschen hungern weltweit -
  Tendenz steigend. Pro Jahr sterben 30 Millionen von ihnen,
   ganz ohne Katastrophen wie kürzlich in Südasien. Die Be-
 richterstattung darüber tut sich dennoch schwer, berichtet die
                  Frankfurter Rundschau.“ (www.inwo.de)

12 Journalisten und Redakteure glauben anscheinend, daß das Nachplappern und Unterstellen schon die eigene
   Recherche ersetzt. Unter dem Titel „Opfer des Boulevard: Wie Menschen durch gnadenlosen Journalismus
   zerstört werden“ hat Report Mainz am 18. 7. 05 das Thema zum Beitrag seiner Sendung gemacht.

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Jean Ziegler
                                              in
       Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, 2002

                            3. Die Zerstörung der Menschen
           Demografen veranschlagen die durch den Zweiten Weltkrieg her-
           vorgerufenen Verluste folgendermaßen: 16 bis 18 Millionen Män-
            ner und Frauen fielen im Kampf; Dutzende Millionen von Kom-
                  battanten wurden verletzt und teilweise verstümmelt.

              Wie viele Zivilisten wurden getötet? 50 bis 55 Millionen. Die
             Zahl der verwundeten Zivilisten beziffern die Demografen auf
             mehrere hundert Millionen. Und etwa 12 bis 13 Millionen Ge-
           burten unterblieben infolge des Krieges. Diese Zahlen berücksich-
           tigen nicht die Verhältnisse in China, für die statistische Angaben
           fehlen. Was ist heute aus der neuen, vom Nationalsozialismus be-
           freiten Welt geworden, dieser Erde der Gerechtigkeit, der Sicher-
            heit und der Würde, welche die Sieger von 1945 gewollt haben?

             Nach Zahlenangaben, welche die Sonderorganisationen der UN
             veröffentlichten, belief sich die Zahl der in den 122 Ländern der
            Dritten Welt durch wirtschaftliche Unterentwicklung und extreme
           Armut verursachten Todesfälle im Jahr 2001 auf etwas über 58 Mil-
          lionen. Von schwerer und dauerhafter Invalidität aus Mangel an Ein-
            künften, Nahrung und Trinkwasser sowie durch den fehlenden Zu-
           gang zu Medikamenten sind mehr als eine Milliarde Menschen be-
                                           troffen.

           Anders gesagt: Hunger, Seuchen, Durst und armutsbedingte Lo-
          kalkonflikte zerstören jedes Jahr fast genauso viele Männer, Frauen
          und Kinder wie der Zweite Weltkrieg in sechs Jahren. Für die Men-
            schen der Dritten Welt ist der Dritte Weltkrieg unzweifelhaft in
                                 vollem Gang.(103 ff.)

Es besteht ja nun das Problem der Zurechenbarkeit. Wie viel Opfer hat jede westliche Nation
verursacht, wieviel jedes Parteimitglied, wieviel jeder Parlamentarier. Aber so wie in der
Vergangenheit mit der Veröffentlichung von Mitgliederlisten der NSDAP bewiesen werden
sollte, daß es nicht nur einige Täter gegeben hat, sondern daß eine große Zahl von Deutschen
die Greuel der Nazis zu verantworten hatten, so werden von uns heutigen Parteimitgliedern ir-
gendwann auch Mitgliederlisten veröffentlicht werden, um unsere Mitschuld am heutigen
Elend und Sterben zu beweisen.
Im Anhang gebe ich eine Liste von Professoren wieder, die den „Hamburger Appell“ unter-

             Die Bundestagswahl 2005 / Tristan Abromeit / Juli 2005 / Seite - 18 -
schrieben haben. Sie haben somit für sich selbst als Mitglieder einer andere Verantwortungs-
gruppe ganz freiwillig schon für diesen späteren Fall der Benennung der Schuldigen – ohne
es zu wollen - Vorarbeitet geleistet.

3 Mein Geschichtsverständnis

3.1 Grenzen und Nutzen der Geschichtsschreibung

Die Geschichtsschreibung ist nach meinem Verständnis keine Reproduktion realer Abläufe –
was sie schon aus der notwendigen Verdichtung von Zeiträumen nicht sein kann – sondern die
Kunst dem Schreiber / Forscher wesentlich erscheinende Fakten und Vorgänge wertend und
zusammenfassend zu beschreiben. Diese wertende Beschreibung kann der sachlichen Wahr-
heit, einer Ideologie oder einem Auftraggeber verpflichtet sein. Die Beschreibungen von
Kriegen sind daher bei den Siegern und den Verlierern nicht identisch. Sie gleichen sich
vielleicht im Einzelfall aus opportunistischen Gründen an – zum Beispiel um die Motivation
für eine gemeinsame Armee zur Abwehr eines neuen gemeinsamen Feindes zu fördern.

Da die Geschichte im Regelfall mehr- und selten eindeutig ist, dürfte es auch in einer freien
Gesellschaft kein staatlich verordnetes Geschichtsbild geben. Selbst die Leugnung von allge-
mein anerkannten Tatbeständen, wie der Holocaust, dürfte nicht zu einem Straftatbestand ge-
macht werden, weil eine solche strafrechtliche Norm das hohe verfassungsrechtliche Gut der
Lehr- und Meinungsfreiheit wenn nicht aufhebt, so doch einschränkt.

Die Geschichtsschreibung und -deutung ist im schlimmsten Fall ein Instrument der politischen
Manipulierung und Unterwerfung und im besten Fall eine Hilfe, die Gegenwart besser zu ver-
stehen und die Zukunft besser gestalten zu können.

3.2 Die Schuld der Deutschen ist größer als üblich beschrieben,
    aber nicht von der Schuld der anderen westlichen Völker zu trennen

Wenn wir Deutschen in der eigenen geschichtlichen Schuldzuweisung bescheiden sind, den-
ken wir nur an den Holocaust, wenn wir besonders „ehrlich“ sind, dann räumen wir ein, daß
wir auch die Schuld an dem 1. und 2. Weltkrieg haben. In depressiven Stimmungen steigern

              Die Bundestagswahl 2005 / Tristan Abromeit / Juli 2005 / Seite - 19 -
wir uns in unserem Schuldgefühl und erklären uns auch schuldig für alle sonstigen Übel
dieser Welt. Wir sollten die Geschichte daraufhin durchsehen, ob es nicht noch Steigerungs-
möglichkeiten für unser Schuldgefühle gibt. Wir könnten zum Beispiel unseren Anteil an dem
Morden der Westeuropäer in den Kreuzzügen – das schon im Inland bei den Juden eingeübt
wurde – einbeziehen. Da wir ein gutes Drittel der Einwanderer in Amerika gestellt haben,
müssen wir uns unsere Quote an der Ausrottung der Indianischen Völker und an die Verskla-
vung von Schwarzafrikanern und das kriegerische Morden der USA nach 1945 auch anrech-
nen lassen. An der kolonialen Unterwerfung der schwarzafrikanischen Völker haben wir auch
unseren Anteil. An der Ermordung von Massen des Armenischen Volkes durch die Türken
sind wir auch nicht schuldlos.

 „Ohne die stillschweigende Unterstützung der kaiserlichen Regierung in Berlin hätten Istan-
buls Herren diese entsetztliche Mordkampagne nie ausführen können, so sehr es auch Lepsius
und viele deutsche Zeugen ehrt, daß sie alles in ihrer Kraft Stehende versuchten, dem Morden
  Einhalt zu gebieten. Aber die Machthaber in Berlin schwiegen und ließen es zu, daß eine
 Million Erschlagener, Erschossener und Verhungerter mehr auf ihr Schuldkonto eingetragen
        wurden.“ ... „Drei Jahrtausende Armenien“ von Burchard Brentjes, 1984, S. 9

Auch unseren Anteil an das Morden in Rußland, der Sowjetunion und den anderen kom-
munistischen Ländern dürfen wir nicht übersehen, denn erstens wurden die dortigen Mörder
von den Ideen eines Deutschen, von Karl Marx, beflügelt 13 und zweitens hat die damalige
deutsche Staatsmacht aus ganz egoistischen Gründen die Revolutionäre durch Deutschland
geschleust und gefördert. Das interne russische Morden war das Wunschprogramm der deut-
schen Regierung.
                            „Deutschlands Hebammenrolle bei der Geburt
                          des bolschewistischen Russland beschränkte sich
                             nicht auf die Bereitstellung eines Sonderzuges
                            durch Deutschland für Lenin und einige andere
                           führende Revolutionäre. Deutschland hat außer-
                          dem die bolschewistische Parteiarbeit in Russland
                         im Sommer und Herbst 1917, die die Oktoberrevo-
                          lution erst möglich machte, finanziert. Und es hat
                          dem bolschewistischen Regime im Sommer 1918,
                            in der ersten und größten Krise seiner noch un-
                          gefestigten Herrschaft, wahrscheinlich das Leben
                           gerettet - mindestens entscheidende Rückendek-
13 Ich selber traue mir kein Urteil darüber zu, in wieweit Marx selbst für diese Entwicklung verantwortlich
   gemacht werden kann. Man müßte in jedem Fall die Auseinandersetzungen zwischen den Staatssozilisten und
   den anarchistischen Sozialisten (Marx – Proudhon) berücksichtigen. Generell halte ich es für problematisch,
   Denker für die Folgen ihres Denkens haftbar zu machen, weil es das Ende des Denkens bedeuten würde.
   Jeder neue Gedanke wäre dann eine Bedrohung. Ich ordne die Haftung für den neuen Gedanken dem
   Handelnden zu, denn dieser muß die Folgen der Umsetzung eines Gedankens abwägen.

               Die Bundestagswahl 2005 / Tristan Abromeit / Juli 2005 / Seite - 20 -
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