AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Jüdisches Leben in Deutschland
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71. Jahrgang, 44–45/2021, 1. November 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Jüdisches Leben in Deutschland Sebastian Ristow Gunther Hirschfelder · Antonia Reck · 321: DAS EXZERPT AUS EINEM Jana Stöxen BRIEF UND SEINE FOLGEN JÜDISCHE ESSKULTUR. TRADITIONEN UND TRENDS Riccardo Altieri · Mario Keßler ARBEITERBEWEGUNG, Dekel Peretz ANTISEMITISMUS UND GENERATION WÜTEND. JÜDISCHE EMANZIPATION DIE ZEITSCHRIFT „JALTA“ ALS SPRACHROHR JUNGER Jörn Leonhard JÜD*INNEN DEUTSCHE JUDEN IM ERSTEN WELTKRIEG Monika Hübscher · Lamya Kaddor · Nicolle Pfaff UND IN DER NACHKRIEGSZEIT KONTEXTE DER BEGEGNUNG Lasse Müller · Jan Haut JUNGER MENSCHEN JÜDISCHER SPORT MIT JÜDISCHEM LEBEN UND ANTISEMITISMUS ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Jüdisches Leben in Deutschland APuZ 44–45/2021 SEBASTIAN RISTOW GUNTHER HIRSCHFELDER · ANTONIA RECK · 321: DAS EXZERPT AUS EINEM BRIEF JANA STÖXEN UND SEINE FOLGEN JÜDISCHE ESSKULTUR. Der kaiserliche Brief von 321 wird interpretato- TRADITIONEN UND TRENDS risch häufig stark strapaziert und als Nachweis Esskultur ist eine alltagskulturelle, emotionale für eine entwickelte jüdische Gemeinde in Köln Praxis des Jüdischen. Ihre Entwicklungsge- herangezogen. Warum ist das so? Und was kann schichte und die daraus entstandenen aktuellen man tatsächlich zu dieser Quelle sagen, wenn sie Trends zeigen, wie eng verzahnte lokale, religiöse wirklich auf Köln zu beziehen wäre? und kulturelle Faktoren zur Identitätsbildung Seite 04–11 beitragen können. Seite 35–41 RICCARDO ALTIERI · MARIO KEẞ LER ARBEITERBEWEGUNG, ANTISEMITISMUS DEKEL PERETZ UND JÜDISCHE EMANZIPATION GENERATION WÜTEND. DIE ZEITSCHRIFT Antisemitismus galt den sozialdemokratischen „JALTA“ ALS SPRACHROHR JUNGER JÜD*INNEN Theoretikern und Politikern des Kaiserreichs Wie beeinflusst die zunehmende Diversität und der Weimarer Republik zwar als moralisch Deutschlands jüdische Selbstpositionierungen? verwerflich und bekämpfenswert. Aber seine Vor allem die junge Generation sieht sich als Teil Gefährlichkeit für die jüdische Existenz in einer heterogenen, postmigrantischen Gesell- Deutschland wurde unterschätzt. schaft. Ihre Wut und ihre Wünsche spiegeln sich Seite 12–18 in der Zeitschrift „Jalta“ wider. Seite 42–48 JÖRN LEONHARD DEUTSCHE JUDEN IM ERSTEN WELTKRIEG MONIKA HÜBSCHER · LAMYA KADDOR · UND IN DER NACHKRIEGSZEIT NICOLLE PFAFF Die Hoffnung vieler Juden, ihre Position in der KONTEXTE DER BEGEGNUNG JUNGER deutschen Gesellschaft mit Loyalität im Welt- MENSCHEN MIT JÜDISCHEM LEBEN krieg zu beglaubigen, stieß rasch an Grenzen. Was verbinden nicht-jüdische Jugendliche mit Der Krieg brachte alte und neue Varianten des dem Judentum, und was wissen sie darüber? Antisemitismus hervor und konfrontierte viele Der vielerorts fehlende alltagsweltliche Kontakt Juden mit dem eigenen Selbstbild. verstärkt Differenzkonstruktionen von jüdischen Seite 19–26 Menschen als Andere. Begegnungsprojekte bieten antisemitismuskritische Reflexionspotenziale. Seite 49–54 LASSE MÜLLER · JAN HAUT JÜDISCHER SPORT UND ANTISEMITISMUS Der Sport erweist sich seit Langem als ein wichtiger Ankerpunkt des jüdischen Lebens in Deutschland und als Feld herausragender Leistungen von Jüdinnen und Juden. Gleichwohl sehen sich auch Sportlerinnen und Sportler nach wie vor von Antisemitismus bedroht. Seite 27–34
EDITORIAL Im Dezember 321 teilte der römische Kaiser Konstantin I. („der Große“) den Kölner Ratsherren mit, dass es fortan gesetzlich möglich sei, auch jüdische Bürger in den Stadtrat zu berufen. Sein Brief gilt als die älteste schriftliche Quelle, die jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands belegt. Er ist somit auch die Grundlage dafür, dass 2021 das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ begangen wird – was auch der Anlass für diese Ausgabe ist. Unabhängig von der Datierung jüdischer Anfänge auf heutigem deutschen Gebiet ist es ein großes Glück, dass sich nach der Shoah überhaupt wieder ein vielfältiges jüdisches Leben in Deutschland entwickelt hat. Über die Feier- lichkeiten sollte indes nicht vergessen werden, dass dieses keineswegs überall selbstverständlich und sichtbar, sondern vielfach nur „unsichtbar“ und unter Polizeischutz stattfindet. Eine selbstbewusste Generation junger Jüdinnen und Juden spricht diese Zustände immer wieder offensiv an und setzt sich auf diese Weise für gesellschaftliche Vielfalt insgesamt ein. Sie steht damit in einer langen Tradition vielgestaltiger Einflüsse, ohne die dieses Land wesentlich ärmer wäre. Die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe hat die Redaktion im Rahmen eines Call for Papers in einem anonymisierten Verfahren aus zahlreichen einge- sandten Exposés ausgewählt. Die historische und gegenwärtige Vielfalt des jüdi- schen Lebens in Deutschland lässt sich mit sieben Beiträgen selbstverständlich nicht einmal ansatzweise widerspiegeln. Aber jeder einzelne bietet Schlaglichter und Einsichten, die zur weiteren Beschäftigung einladen sollen. Johannes Piepenbrink 03
APuZ 44–45/2021 321: DAS EXZERPT AUS EINEM BRIEF UND SEINE FOLGEN Sebastian Ristow Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit des bezweckte, und wie es sich in die Judengesetz- Nationalsozialismus stieg ab den 1960er Jah- gebung der Spätantike einfügt. ren in der Bundesrepublik das Interesse an der In Köln setzt die Sachquellenüberlieferung jüdisch-deutschen Geschichte stark an. An ver- zum Judentum nach sicher beurteilbarer archäo- schiedenen Orten gab es Ausstellungen und logischer Datierung im frühen 11. Jahrhundert Kongresse, und es erschienen teils umfangreiche ein. In dieser Zeit, kurz vor und nach dem Jahr Publikationen zum Thema. Dabei wurde auch 1000, beginnt in einigen deutschen Städten eine die antike und frühmittelalterliche Geschich- umfangreiche jüdische Institutionalisierung. Es te des Judentums im heutigen Deutschland zu- stellt sich die Frage nach einer möglichen und sammengestellt und im Überblick bewertet.01 denkbaren Kontinuität der Gemeinden oder – Die Quellenlage zur Anwesenheit von Juden an wohl vielmehr richtiger – nach deren Neugrün- Orten im heutigen Deutschland und grundsätz- dung. Herkunft und ältere Tradition dieser Ge- lich vorstellbaren jüdischen Gemeinden schon meinden lassen sich im benachbarten Frankreich des 1. Jahrtausends ist allerdings äußerst dünn. suchen. Hier ist die Quellenlage eine andere. Sie kann in diesem Beitrag vollständig präsentiert Jüdische Gemeinden sind an zahlreichen Or- werden. ten durch die gesamte Spätantike und das Früh- Neben den wenigen archäologischen Fun- mittelalter überliefert. Juden besaßen Grundbe- den mit sicher oder wahrscheinlich vor einem sitz und lebten zusammen mit Christen in den jüdischen Hintergrund entstandenen Symbolen, Stadtgesellschaften des Frühmittelalters. In Köln vor allem dem Bild des siebenarmigen Leuch- wurde jedoch erst zu Beginn des Hochmittelal- ters, der Menora, steht in Deutschland für die ters, also kurz nach der Jahrtausendwende, eine vorottonische Zeit nur eine einzige Schriftquel- ansehnliche Synagoge zum Mittelpunkt eines le. Meist als „Edikt“ oder „Dekret von 321“ von teils wohlhabenden Bewohnern geprägten bezeichnet, wird der im Codex Theodosianus Stadtviertels direkt im Zentrum.03 Diese feh- erhaltene Text eines Briefes, den Kaiser Kons- lende Kontinuität, bezöge man die Quelle aus tantin am 11. Dezember 321 an die Ratsherren dem Jahr 321 auf Köln, ist auffällig und wurde von Köln schickte, oftmals interpretatorisch schon seit jeher von Historikern und Judaisten stark strapaziert und als Nachweis für eine ent- kritisch bemerkt.04 Deshalb steht am Anfang der wickelte und wohlhabende jüdische Gemeinde folgenden Ausführungen die ausführlich kom- in Köln herangezogen.02 Warum ist das so? Was mentierte Besprechung der zentralen spätanti- kann man tatsächlich zu dieser Quelle sagen, ken Quelle für die Geschichte des Judentums in wenn sie wirklich auf Köln zu beziehen wäre? Deutschland. Wie entstand möglicherweise die Motivation für den Text, der in einer Kopie aus dem 6. Jahr- DER BRIEF VON 321 hundert aus der vatikanischen Bibliothek zu uns gelangte? Wie verändert sich die Sicht auf Der Grund für das Jubiläumsjahr 2021 ist die An- das Dokument von 321, wenn Sachquellen zur knüpfung des Beginns jüdischer Präsenz im spä- Beurteilung herangezogen werden? Und welche teren Deutschland, speziell in Köln, an die hier Auswirkung hat eine bestimmte Interpretation wiedergegebene Überlieferung eines Rechtstex- dieses Textes wiederum auf die Beurteilung der tes. Im Untertitel wird im Jubiläumsjahr auf Sachquellen? Schließlich ist ganz generell zu fra- 1700 Jahre jüdische Geschichte hingewiesen. Ist gen, was Kaiser Konstantin mit diesem Gesetz das gerechtfertigt? Der Auszug aus besagtem 04
Jüdisches Leben in Deutschland APuZ Brief lautet in der im Vatikan erhaltenen Ab- ten nennt, gelangten aber auch Texte in den Co- schrift des Codex Theodosianus (Abbildung 1)05 dex, die aus privat angelegten Archiven stamm- wie folgt: ten. Das gilt gerade für die älteren Eintragungen im Codex, dessen älteste Überlieferung aber erst Idem123 a. Decurionibus Agrippiniensibus. Cunctis aus dem 6. Jahrhundert456 stammt.07 ordinibus generali lege concedimus Iudaeos voca- Jene Eintragungen geben aber nicht nur Ge- ri ad curiam. Verum ut aliquid ipsis ad solacium setze wieder, sondern könnten auch mit einer be- pristinae observationis relinquatur, binos vel ter- stimmten Intention gesammelt oder eben einfach nos privilegio perpeti patimur nullis nominationi- nur aufgeschrieben worden sein. Dieser Hin- bus occupari. Dat. III Id. dec. Crispo II et Con- tergrund erklärt vermutlich auch die spezielle stantino II cc. conss. sprachliche Form des für Köln überlieferten Ge- setzes des Kaisers Konstantin. Einerseits ist er an Dem Althistoriker Hartmut Leppin ist folgende die Decurionen, also den Stadtrat von Köln ad- aktuelle Übersetzung zu verdanken:06 ressiert, andererseits verkündet er ein allgemein im Römischen Reich gültiges Gesetz, dass sich Derselbe Kaiser [Constantin] an die Kölner somit nicht nur auf die Juden in einer Stadt be- Ratsherren. Wir gestehen allen Stadträten mit ei- zieht, sondern auf alle jüdischen Bewohner römi- nem allgemeinen Gesetz zu, Juden in den Rat zu scher Städte. berufen. Damit aber zu ihrem Trost etwas von dem Eine mögliche Interpretation ist, dass eine alten Brauch bleibt, gestatten wir mit einem im- Anfrage an den Kaiser aus Köln oder, vor der kai- merwährenden Privileg, dass je zwei oder drei von serlichen Antwort gesammelt, aus mehreren städ- ihnen durch keine Nominierungen in Anspruch ge- tischen Gemeinwesen des Reiches in dem erhal- nommen werden. Gegeben am 11. Dezember 321. tenen Abschnitt des Codex beantwortet ist. Eine andere Möglichkeit wäre, dass der Text dieses all- Das römische Rechtssystem basierte auf der An- gemein gültigen Gesetzes in verschiedene Städte führung sogenannter Präzedenzfälle in juristi- des Reiches versandt wurde und eben der mit der schen Auseinandersetzungen. So waren Samm- Adresse Köln in den Codex gelangte. Schließlich lungen von Rechtstexten für alle vor Gericht wäre es auch möglich, dass – mit welcher Intenti- anhängigen Verfahren notwendig, um zu belegen, on auch immer – diese Beschreibung eines Geset- ob und wie strittige Sachverhalte in der Vergan- zes aus einem privaten Archiv von den Sammlern genheit bereits geregelt waren. Im Codex Theo- der Rechtsquellen im 5. Jahrhundert aufgenom- dosianus sind im Jahr 438 auf Weisung des in men wurde. Eine solche Quelle könnte, um sie Ostrom residierenden Kaisers Theodosius Ge- authentischer erscheinen zu lassen, eben auch mit setze gesammelt worden, die aus verschiedenen der Adresse einer Stadt, in diesem Falle Köln, ver- Quellen herrührten. Dazu gehörten natürlich sehen worden sein. Wo und warum dieser Text im die staatlichen Archive. Neben diesen und dem, 4. oder frühen 5. Jahrhundert im Original archi- was man heute Verkündungen von Gesetzestex- viert war, wissen wir nicht. 01 Vgl. etwa Synagoga. Kultgeräte und Kunstwerke von der 04 Von historischer Seite vor einem knappen Jahrhundert Zeit der Patriarchen bis zur Gegenwart, Ausstellungskata- Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, autorisier- log, Recklinghausen 1960; Monumenta Judaica. 2000 Jahre te Übersetzung aus dem Russischen von Aaron Steinberg, Bd. 4: Geschichte und Kultur der Juden am Rhein, Ausstellungskatalog, Das frühere Mittelalter. Von den Anfängen der abendländischen Köln 1963. Diaspora bis zum Ende der Kreuzzüge, Berlin 1926, S. 53 f.; 02 Vgl. etwa Sven Schütte, Die Juden in Köln von der Antike bis aktueller Michael Toch, „Dunkle Jahrhunderte“. Gab es ein zum Hochmittelalter. Beiträge zur Diskussion zum frühen Juden- jüdisches Frühmittelalter?, 3. Arye Maimon-Vortrag an der tum nördlich der Alpen, in: Egon Wamers/Fritz Backhaus (Hrsg.), Universität Trier, 15. 11. 2000; ders., The Economic History of Synagogen, Mikwen, Siedlungen. Jüdisches Alltagsleben im Lich- European Jews. Late Antiquity and Early Middle Ages, Leiden te neuer archäologischer Funde, Frankfurt/M. 2004, S. 73–116, 2012, S. 65–102, S. 289–310. hier S. 74 f.; Werner Eck, Spurensuche: Juden im römischen Köln, 05 Cod. Reg. Lat. 886. in: Beiträge zur rheinisch-jüdischen Geschichte 1/2011, S. 15 ff. 06 Hartmut Leppin, mündliche Mitteilung an den Verfasser. 03 Vgl. Katja Kliemann/Sebastian Ristow, Köln und das frühe 07 Neben dem Exemplar in der Vatikanischen Bibliothek exis- Judentum nördlich der Alpen. Kontinuität, Umbruch oder Neube- tiert noch eine Abschrift aus dem 9. oder 10. Jahrhundert in der ginn?, in: Beiträge zur rheinisch-jüdischen Geschichte 9/2019, Biblioteca Capitolare von Ivrea/I, Fondo manoscritti, Ms. XXXV S. 8–36. (17), hier S. 124 verso. 05
APuZ 44–45/2021 Abbildung 1: Abschrift des Briefes Kaiser Konstantins vom 11. Dezember 321 an die Kölner Ratsherren (oberes Bilddrittel) im Codex Theodosianus © Biblioteca Apostolica Vaticana, Reginensi latini 886, Folio 435v INTERPRETATIONEN nämlich, dass der Eintrag im Codex auf ein Ge- setz zurückgeht, dass auf eine Initiative des Köl- Daraus ergeben sich folgende Schlussfolgerun- ner Stadtrates hin erlassen worden wäre, lässt sich gen: Entweder der Text besitzt keinen Bezug zu ein unmittelbarer Bezug herstellen. Köln, weil er eventuell an einem anderen Ort Auch für diesen Fall muss die Interpretati- hergestellt wurde und mit Kalkül oder aus un- onsbandbreite klar sein: Vielleicht gab es kurz bekanntem Grund mit der Nennung der Agrip- vor dem Zeitpunkt der Abfassung 321 einen piniensier, also der Kölner, ausgestattet wurde. möglicherweise wohlhabenden Juden in Köln Oder die Quelle besitzt einen mittelbaren Bezug oder dem Umland, der sich am Stadtrat nicht be- zu Köln, weil die Stadt durch den Gesetzestext teiligen wollte oder sich unbeliebt gemacht hatte. sozusagen postalisch erreicht wurde, wie andere Es wäre denkbar, dass man, um ihn heranziehen Städte des Imperiums auch. Nur im dritten Fall, zu können, beim Kaiser anfragte, ob das möglich 06
Jüdisches Leben in Deutschland APuZ sei. Dabei ist zu bedenken, dass die betreffen- Zum frühen Judentum im späteren Deutsch- de Person oder Familie vielleicht die Stadt auch land in der Spätantike kann aus der Quelle von schon hätte verlassen haben können, als das Ge- 321 somit (nur) Folgendes abgeleitet werden: setz anlangte. In diesem Fall würde die Quelle Möglicherweise lebten in den städtischen Gesell- nur einen kurzen Moment der Kölner Geschich- schaften der großen römischen Gemeinwesen im te beleuchten. Schenkt man weiteren Hypothe- späteren Deutschland, wie Xanten, Köln, Trier, sen Glauben, die auf der Annahme gründen, dass Mainz und Augsburg auch Juden, die dieses Ge- der Text explizit mehrere Juden erwähnt und setz wie auch andere betraf. Über den Grad der diese also wohlhabend gewesen seien, und da- gemeindlichen Selbstorganisation der Juden, ihre raus weiter ableitet, dass es eine entwickelte jü- Zahl und ihre Bedeutung in den Städten unter- dische Gemeinde in Köln gegeben haben müsse, richtet die Quelle von 321 nicht. die schon seit langer Zeit vor 321 dort existiert Es bleibt unsicher, ob die Initiative zu dem haben müsse, kommt man rasch zu weiteren un- Gesetz von Köln ausging, etwa im Zusammen- begründeten Beurteilungen, wie: „Köln war eine hang mit einer Anfrage an den Kaiser. Deshalb überdurchschnittlich große Gemeinde [und] (…) stellt sich die Frage nach anderen Belegen für jü- die christliche Gemeinde in Köln geht nach al- dische Anwesenheit in den germanischen, ostgal- ler Wahrscheinlichkeit mindestens auf das spä- lischen und raetischen Provinzen des Römerrei- te 2. Jh. n. Chr. zurück.“08 ches, von denen Teile im heutigen Deutschland Spätestens an diesem Punkt der Beschäfti- liegen. In diesem Zusammenhang ist der Bericht gung mit hypothetischen Gedankengebäuden des Kirchenhistorikers Hieronymus aus Jeru- muss darauf hingewiesen werden, dass es sich salem bemerkenswert, der neben sehr fantasie- um einen Gesetzestext handelt und dieser all- vollen Schilderungen zum Judentum einstreut, gemeingültig für die Nutzung im ganzen Rö- dass es Juden außer in England, Spanien und mischen Reich abgefasst war. Und selbst wenn Frankreich auch an der Gabelung des Rheins der Text des Kaisers auf eine Anfrage aus Köln gebe („ubi bicornis finditur Rhenus“).10 Rund hin formuliert worden wäre, belegt er dort we- um das Jahr 400 werden also Juden am unte- der eine Gemeinde, noch eine große und wohl- ren Niederrhein, vielleicht bei Nijmegen, einem habende Gemeinde oder gar deren Ursprünge seit dem 1. Jahrhundert bedeutenden Römer- in der älteren Kaiserzeit. Um allgemeingültig ort, überliefert. Genauer festlegen lässt sich das sein zu können, musste das Gesetz jedenfalls die nicht, weil die poetische Sprache des Hierony- mögliche Mehrzahl und nicht die ebenso mög- mus sich auch ganz allgemein auf „den Norden“ liche Einzahl anführen, und es sollte nach kai- als Gebiet beziehen kann, wo die – römische – serlichem Willen auch alte Privilegien bestätigen, Welt zu Ende ist. insofern es Ausnahmen für einige Juden von der Berufungsmöglichkeit in den Stadtrat vorsieht. ARCHÄOLOGISCHE QUELLEN Diese Erkenntnis ist als historisches Wissen un- abhängig von Köln und den dortigen Verhältnis- Bewertet man die Quellenaussage zu 321 bezogen sen im 4. Jahrhundert zu formulieren. Archäo- auf Köln und das Rheinland als nicht eindeutig logische Funde, die auf eine jüdische Präsenz beziehungsweise als nicht sicheren Beleg für jü- in Köln hinweisen würden, fehlen dementspre- disches Leben in dieser Gegend vor dem 11. Jahr- chend auch bis zum Beginn des 11. Jahrhun- hundert, erscheint es von Bedeutung, den Blick derts. Dann erst entsteht die Synagoge am Rat- auf die überlieferten Sachquellen zu lenken. Diese hausplatz, um die sich das reich strukturierte sind schnell aufgezählt: jüdische Viertel entwickelt.09 In Essen-Burgaltendorf entdeckte man neben anderen römerzeitlichen Gegenständen des 2. 08 Vgl. Eck (Anm. 2), S. 8, S. 17. bis 4. Jahrhunderts das Fragment eines Tellers 09 Zur Synagoge vgl. Kliemann/Ristow (Anm. 3); zum aus Buntmetall, der ungefähr aus der Zeit um 200 Viertel jüngst Tanja Potthoff/Christiane Twiehaus, Raum und Raumvorstellungen im mittelalterlichen jüdischen Viertel Köln – eine interdisziplinäre Untersuchung, in: Laura Cohen/Tho- 10 Hieronymus in Isaiam 18,66,20 (CCL 73A, 792 f.). Vgl. mas Otten/Christiane Twiehaus (Hrsg.), Jüdische Geschichte Ludwig Berger, Der Menora-Ring von Kaiseraugst: jüdische und Gegenwart in Deutschland, Oppenheim/Rh. 2021 (i. E.), Zeugnisse römischer Zeit zwischen Britannien und Pannonien, S. 11–19. Augst 2005, S. 158 ff. 07
APuZ 44–45/2021 des 2. Jahrhunderts in den Boden gelangte.12 Wie lange es zuvor in Benutzung war, lässt sich nicht beantworten. Nach 135/136, also nach dem Ende des Bar-Kochba-Aufstandes, gab es zwar offiziell keine Provinz Judäa mehr, aber vielleicht hielt sich die geografische Herkunfts- bezeichnung noch eine Zeit lang. Das wäre ein möglicher Hintergrund für das Kölner Lot. Je weiter man sich historisch vom Jahr 135 weg- bewegt, desto wahrscheinlicher ist bei solchen Beschriftungen der Hintergrund nicht in der geografischen Herkunftsbezeichnung zu se- hen, sondern vielleicht doch auf die Religions- zugehörigkeit bezogen. Das wäre für Essen also wahrscheinlicher als für Köln. Ein generelles Problem bei Graffiti ist aber auch noch zu be- denken: Der Zeitpunkt der Anbringung liegt „irgendwann“ nach der Herstellung des Objekts und bevor es in den Boden gelangte. Im Fall des Kölner Lots ist letzterer Zeitpunkt gut zu be- stimmen, im Fall von Essen der erstere. In bei- den Fällen führt dies zu Unsicherheiten in der Interpretation. Aus dem spätantiken Zentrum Trier ist für Abbildung 2: Originalfragment und ergänzte eines der Jahre 368, 370 oder 378 ein Gesetz des Kopie der Öllampe mit Menoradarstellung aus Kaisers Valentinian überliefert, das die Einquar- Augsburg tierung von Soldaten in Synagogen verbietet.13 © Kunstsammlungen und Museen Augsburg, Archäologisches Für alle Städte des heutigen Deutschlands mag Zentraldepot/Foto: Karin Baumann man sich – wegen der hohen Bedeutung und An- ziehungskraft der Stadt im 4. Jahrhundert – am ehesten in Trier eine jüdische Gemeinde in die- stammt.11 Ein Graffito auf dem Tellerfragment ser Zeit vorstellen. Von dort stammen auch eini- ist wahrscheinlich als IVDAIIA zu lesen. Damit ge Kleinfunde mit jüdischem Bezug – allerdings könnte eine Jüdin Besitzerin des Tellers gewesen ohne archäologische Einordnungsmöglichkeit. sein, oder es könnte auf eine Herkunft aus der rö- Dazu zählen Gewichte mit ostmediterranen Ein- mischen Provinz Judäa verwiesen worden sein. heiten, davon eines, das dem jüdischen Sche- Da das Römische Reich in dieser Zeit nicht nur kel entspricht. Sie können von entsprechenden ein sehr großes Gebiet umfasste, sondern die Be- Händlern ungeachtet einer denkbaren Religi- völkerung auch hochgradig mobil, multiethnisch onszugehörigkeit nach Trier verbracht und dort und multireligiös war, können aber keine näheren genutzt worden sein. Bessere Indizien sind der Ableitungen daraus formuliert werden. So wohn- Fund einer Öllampe des späten 4. Jahrhunderts ten im römischen Judäa nicht nur Menschen jüdi- mit Menoraverzierung vom Trierer Markt und schen Glaubens. drei Bleiplomben, ebenfalls mit Menorotbildern. Aus Köln ist kürzlich der Fund eines rö- Auch für diese Funde gilt, dass ihr Erwerb oder mischen Lots bekannt geworden, das mit ei- die Nutzung durch Juden nicht als gesichert gel- ner jedoch nicht ganz sicher so lesbaren In- schrift IUDEAII versehen ist und um die Mitte 12 Vgl. Constanze Höpken/Markus Scholz, Ein judäischer Ver- messungsingenieur am Werk? Das beschriftete Lot einer Groma 11 Vgl. Detlev Hopp, Im Ruhrgebiet einmalig: antiker aus der CCAA/Köln, in: Archäologisches Korrespondenzblatt Tellerboden mit Inschrift, in: ders. (Hrsg.), Aufgespürt. Neue 50/2020, S. 513–524. Entdeckungen der Essener Stadtarchäologie, Essen 2020, 13 Vgl. mit sehr weitreichenden Schlussfolgerungen zu dieser S. 35 ff. Quelle Berger (Anm. 10), S. 62 ff. 08
Jüdisches Leben in Deutschland APuZ ten kann. Die Menora ist jedenfalls ein Motiv, das worden, das eine große Menge stark fragmen- auch im frühen Christentum Verwendung gefun- tierter und jahrzehntelang nicht bearbeiteter den hat. Wandmalereifragmente enthielt. Erst jetzt ließ Der beste Beleg aus Trier dürfte das Fragment sich ein Bild zusammensetzen. Es handelt sich einer Grabplatte aus der heutigen Kirche St. Ma- dabei wohl um eine alttestamentliche Szene mit ximin sein. Der untere Teil zeigt einen dreibei- der Darstellung des Josef vor Potiphar.14 Da nigen Fuß, wie er oft bei Menoradarstellungen nicht bekannt ist, wie eine frühe jüdische Sy- vorkommt und wohl auch hier anzunehmen nagoge in der spätantiken Diaspora ausgese- ist. Unter den 290 frühchristlichen Grabplat- hen haben könnte, kann angenommen werden, tenfragmenten aus dem spätantiken überdach- dass auch in diesem Bereich eine Angleichung ten Grabgebäude der späteren Kirche ist somit, an die eben erstarkende christliche Nachbarre- neben etwa 30 weiteren nicht-christlichen oder ligion bestanden haben dürfte.15 Damit wird es hinsichtlich der religiösen Haltung nicht zuweis- schwierig sein, den Bau von Augsburg als Kir- baren Grabplatten, diese eine wohl jüdisch. Da- che oder Synagoge zu klassifizieren. Erst der mit besitzt Trier ein Alleinstellungsmerkmal in Fund eines neutestamentlichen Freskos würde Deutschland. die Entscheidung zugunsten der Kirche ermög- Gleichzeitig weisen die Zahlen darauf hin, lichen. Insofern darf man auf den Fortgang des wie unwahrscheinlich die archäologische Über- Projekts der Zusammensetzung der kleinteili- lieferung eines solchen frühen jüdischen Fun- gen Freskenfragmente aus Augsburg gespannt des ist. Von den vielleicht ein Drittel oder die sein. Hälfte der Bevölkerung ausmachenden frühen Christen haben etwas weniger als ein bis ma- QUELLEN IN DER ximal drei Prozent über die Zeit des 4./5. Jahr- NACHBARSCHAFT hunderts gerechnet eine Spur im archäologi- schen Fundgut hinterlassen. Berücksichtigt In den Nachbarländern Deutschlands sind eben- man, dass jüdische Gemeinden, deren Existenz falls nur sehr wenige Funde und Schriftquellen anhand der vorgeführten Indizien angenommen bekannt, die vor dem Hintergrund frühen jüdi- werden können, sicher sehr viel kleiner waren, schen Lebens beurteilt werden können. Im Hin- dann ist die Überlieferung eines Fundes mit jü- blick auf den Nachweis persönlichen Glaubens discher Symbolik oder hebräischer Beschrif- sind Fingerringe mit jüdischen Symbolen von tung generell äußerst unwahrscheinlich. Dazu Bedeutung, wie einer im schweizerischen Augst kommt die Problematik der schnellen Akkultu- gefunden wurde.16 Einige Funde dieser Art aus ration der Juden in die spätantiken Stadtgesell- Spätantike und Frühmittelalter stammen aus schaften, sodass bei Grabsteinen die gleichen Frankreich.17 Vor allem in Südgallien beginnt die Inschriftenformulare genutzt oder vielleicht Überlieferung aber schon früher, wie zum Bei- auch die gleichen Formen alttestamentlicher Darstellungen in Bilder umgesetzt wurden – beides ist aus heutiger Sicht nicht mehr religiös 14 Vgl. mit Verweis auf eine mögliche frühchristliche Deutung Dieter Korol, The Earliest Christian Monumental Painting of zu differenzieren. Augsburg and South Germany and the Only Known Late An- Ähnlich wie die Plomben mit Menorot aus tique Bishop („Valentinus“) of this Region, in: Norbert Zimmer- Trier dürfte auch der entsprechende Fund eines mann (Hrsg.), Antike Malerei zwischen Lokalstil und Zeitstil, Wien Sondengängers aus dem bayrischen Mertingen- 2014, S. 679–687; zuletzt zu dem Projekt Dieter Korol/Denis Burghöfe zu bewerten sein. Herkunft und Nut- Mohr, Die Überreste der spätantiken Transeptbasilika unter der Gallus-Kapelle in Augsburg und die in Süddeutschland früheste zung der Plombe bleiben im Dunkeln. erhaltene christliche Monumentalmalerei, in: Thomas M. Krüger/ Eine besondere Befundlage ist schließlich Thomas Groll (Hrsg.), Bischöfe und ihre Kathedrale im mittelal- noch für Augsburg zu erwähnen. Neben einer terlichen Augsburg, Augsburg 2019, S. 57–92. spätantiken Öllampe mit Menoraverzierung 15 Vgl. Sebastian Ristow, Judentum und Christentum in aus dem späten 3. oder frühen 4. Jahrhundert Spätantike und Frühmittelalter im deutschsprachigen Raum aus archäologischer Sicht, in: Das Altertum 59/2014, S. 241–262. (Abbildung 2) ist hier auch ein Baufund anzu- 16 Vgl. Berger (Anm. 10). führen. Unter der hochmittelalterlichen Gallus- 17 Vgl. zu allem mit Nachweisen Sebastian Ristow, Das Juden- kapelle im Norden der Augsburger Innenstadt tum im 1. Jahrtausend nördlich der Alpen aus archäologischer sind die Reste eines Gebäudes ausgegraben Sicht, in: Jahrbuch für Antike und Christentum Jg. 63/2020 (i. E.). 09
APuZ 44–45/2021 spiel mit der Lampe aus Orgon mit einer Menora JUDEN IN DEN RÖMISCHEN auf dem Bildfeld.18 Dieser weitaus älteste archäo- STADTGESELLSCHAFTEN logische Fund weist wohl darauf hin, dass die Präsenz von Juden sogar schon vor dem 2. Jahr- Nach der Vertreibung der Juden aus Judäa im hundert weitaus raumgreifender vorzustellen ist, 1. und 2. Jahrhundert und der Verteilung in die als das Vorkommen von archäologischen Funden Diaspora kam es im 3. Jahrhundert zu einem es nachweisbar macht. merklichen Anstieg der Zahl der Synagogenbau- Ebenfalls ein Schlaglicht liefert die silber- ten, überwiegend allerdings in Palästina, später ne Amulettkapsel mit dem auf eine in ihrem auch vor allem in Kleinasien.21 Aber schon ab Inneren eingerollte Goldfolie geritzten jüdi- dem 2. Jahrhundert finden sich auch Spuren jü- schen Gebetstext des „Schma Jisrael“ aus der discher Gemeinschaften in Rom. Davon zeugen Umgebung der bei Wien liegenden römischen fast 600 überwiegend spätantike Grabinschriften Stadt Carnuntum.19 Sie wurde erst 2008 gefun- aus sechs Katakomben, in teils gemischt religiös den und zeigt deutlich, wie neue archäologische belegten Grabarealen. Insgesamt ist kulturell ein Funde die Beurteilungsbasis erweitern können. hoher Anpassungsgrad festzustellen, sodass es Denn von den bekannten Kleinfunden aus dem sicher viele Gräber und Inschriften gibt, die gar nordalpinen Raum liefert sie wohl den deut- nicht als jüdisch erkannt werden. Elf Synagogen lichsten Hinweis auf eine möglicherweise jüdi- sind schriftlich überliefert, nur in Ostia blieben sche Familie. Neben der Möglichkeit, dass der archäologische Reste erhalten. Unter Kaiser Kon- Text wie auch immer in den Besitz der Fami- stantin wurden dann Anfangs des 4. Jahrhunderts lie oder in das Grab gelangt wäre, könnte das mehrere Gesetze erlassen, die Juden benachtei- Amulett auch zielgerichtet neben anderen Bei- ligten und eine Herauslösung aus den römischen gaben deponiert worden sein. Das Verständnis Stadtgesellschaften zur Folge gehabt haben dürf- des Textes vorausgesetzt, wäre es sozusagen eine ten.22 315 erließ er ein Missionsverbot für Juden Möglichkeit gewesen, das Gebet am Grab zu und auch, dass Juden keine Sklaven mehr halten perpetuieren. durften. Auch in Ungarn und Spanien gibt es über- In den Verlauf dieser hier nur sehr knapp wie- wiegend spätantike Kleinfunde, die auf eine jü- dergegebenen Geschichte und den gesellschaftli- dische Präsenz hinweisen. Befunde von Syn- chen Verhältnissen muss auch das für 321 über- agogen, die schon für die Spätantike oder das lieferte Gesetz eingeordnet werden. Es knüpft Frühmittelalter in Anspruch genommen wer- vielleicht daran an, dass ordinierte Rabbiner den, bleiben bei genauer Prüfung indes meist schon vorher von städtischen Ämtern freigestellt höchst unsicher, wie in Barcelona, wo in der Sy- waren, stellt aber klar, dass wohlhabende Juden nagoge in der Ostmauer römerzeitliches Mau- sich den Verpflichtungen gegenüber Staat und erwerk zu finden ist, aber damit noch kein Gesellschaft nicht entziehen sollten. Rückschluss auf die Funktion als Synagoge bis Vom modernen Standpunkt her muss klar- in diese frühe Zeit möglich ist.20 Eine wirklich gestellt werden, dass speziell zur Situation jü- kontinuierliche und vor allem schriftliche Über- discher Frauen im Grunde nichts gesagt werden lieferungslage durch das Frühmittelalter bis hin kann, weil die Quellenlage sie entweder allge- zu den großen und bedeutenden jüdischen Ge- mein einschließt oder rein auf männliche Ge- meinden des 2. Jahrtausends besitzt in großer schichte bezogen ist, besonders in Bezug auf Vielfalt Frankreich. Politik. Diese Einschränkung gilt wohl für die meisten Felder antiker und frühmittelalterli- cher Historizität. Das ändert sich erst bedeu- 18 Zu sehen im Musée Jouve & Juif Comtadin, Cavaillon, Inv. 61. 19 Vgl. H[ans] T[aeuber], Amulett mit jüdischer Gebetsformel, 21 Vgl. zu diesem und dem Folgenden zusammenfassend und in: Franz Humer et al. (Hrsg.), A. D. 313 – Von Carnuntum zum mit Belegen Günter Stemberger, Juden, in: Reallexikon für Antike Christentum, Ausstellungskatalog, Bad Vöslau 2014, S. 334 f., und Christentum 19, Stuttgart 2001, Sp. 160–228. Kat. 711. 22 Vgl. Karl Leo Noethlichs, Die Juden im christlichen Imperium 20 Zum Befund in Barcelona vgl. Sebastian Ristow, Die Romanum (4.–6. Jahrhundert), Berlin 2001; ders., Die Stellung Dietkirche in Bonn – Archäologie und Geschichte ihrer Frühzeit, der Juden in der konstantinischen Gesellschaft, in: Alexander in: Alheydis Plassmann (Hrsg.), 1000 Jahre Kirche im Bonner Demandt/Josef Engemann (Hrsg.), Konstantin der Große, Aus- Norden, Neustadt/A. 2015, S. 11–25. stellungskatalog, Mainz 2007, S. 228 ff. 10
Jüdisches Leben in Deutschland APuZ tend später. In Köln tauchen Jüdinnen explizit befundgestützte Grundlage fehlt. Jüdische Prä- erwähnt ausnahmsweise schon recht früh auf. senz trägt auch gegen Ende dieser Periode oft Während das Judenprivileg von 1266 im Köl- den Charakter von Einzelerscheinungen, wie die ner Dom nur den Plural „Juden“ nennt, werden Anwesenheit des Isaak in Aachen, der als der ers- in der Kölner Judenordnung von 1404, erhalten te mit einem Namen verknüpft überlieferte Jude im Kölner Stadtarchiv, die sich unter anderem aus einem im heutigen Deutschland liegenden mit Kleidungsvorschriften befasst, ausdrück- Ort gilt. Das ändert sich mit der Jahrtausend- lich Jüdinnen und Juden erwähnt. wende ganz grundlegend. In allen Gebieten des heutigen Deutschlands strukturieren sich jetzt FAZIT große Gemeinden und führen zu einem vielfälti- gen jüdischen Leben mit einer bedeutenden Kul- Geschichte hat immer den Charakter einer Mo- tur, in den großen Städten aber meist signifikant mentaufnahme. Dennoch suggeriert der Ver- unterbrochen durch die mittelalterlichen Pogro- weis auf 1700 Jahre jüdische Geschichte, wie me. Erst in der Katastrophe des 20. Jahrhunderts ihn das Festjahr im Titel führt, auch die Feststel- kommt es hier vielfach zu einem zumindest zeit- lung einer Kontinuität durch diese vielen Jahr- weiligen Ende. hunderte. Das ist jedoch mit großer Wahrschein- lichkeit in Deutschland nicht gegeben, denn es fehlen zeitweise jegliche Quellen. Zumindest SEBASTIAN RISTOW die fast 600 Jahre zwischen 400 und dem Ende ist Professor für Archäologie an der Universität zu des 10. Jahrhunderts lassen sich nicht schließen, Köln und Archäologe am „MiQua. LVR-Jüdisches ohne hypothetische Konstrukte zu bemühen, Museum im Archäologischen Quartier Köln“. denen jedoch jegliche archäologisch-historische sr@archaeoplanristow.de Mehr zum Thema aus der Reihe „Informationen zur politischen Bildung“ Kostenfrei bestellen oder herunterladen: neu! bpb.de/ izpb IzpB 2/2010 IzpB 3/2021 Bestell-Nr. 4307 Bestell-Nr. 4348 11
APuZ 44–45/2021 ARBEITERBEWEGUNG, ANTISEMITISMUS UND JÜDISCHE EMANZIPATION Riccardo Altieri · Mario Keßler Die proletarische Emanzipation und der Kampf zurück, ohne allerdings auszusterben. In der Not gegen den Antisemitismus gingen im 19. und des Krieges erstarkten judenfeindliche Vorurteile, 20. Jahrhundert eine spannungsreiche Beziehung um schließlich in den Krisenjahren der Weimarer ein. Proletarier und Juden gehörten zu den Be- Republik zur politisch mitentscheidenden Kraft nachteiligten der aufstrebenden bürgerlichen Ge- zu werden, die dazu beitrug, dass der erste Ver- sellschaft. Der Grad der Benachteiligung war in- such einer Demokratie in Deutschland scheiterte. des sehr unterschiedlich: Das materielle Elend der noch ins 19. Jahrhundert hinein in den Ghettos SOZIALDEMOKRATIE lebenden Juden war durchaus mit der schlimmen UND JÜDISCHE EMANZIPATION Lage des „Vierten Standes“ (der Arbeiterklasse) IM KAISERREICH vergleichbar. Doch in West- und Mitteleuropa war schon in der ersten Jahrhunderthälfte nach Arbeiterbewegung und Antisemitismus waren 1800 ein jüdisches Bürgertum entstanden, das zu von ihren politischen und ideengeschichtlichen Wohlstand gekommen war und dessen Angehöri- Ursprüngen her einander entgegengesetzt. Es ge- ge die Rechtsgleichheit innerhalb der existieren- nügt hier, auf die Schlüsselkategorie der Eman- den Gesellschaft einforderten, keineswegs jedoch zipation zu verweisen, von der aus sich das ge- deren Überwindung anstrebten, wie es die Arbei- gensätzliche Selbstverständnis von sozialistischer terbewegung auf ihre Fahnen schrieb. Arbeiterbewegung und Antisemitismus gut er- Die Entwicklungsetappen der deutschen Ar- fassen lässt. Für die Juden, so der israelische His- beiterbewegung sind eng verbunden mit den Zä- toriker Walter Grab, bedeutete Emanzipation suren der deutschen Geschichte: Vier Jahre nach ursprünglich „das Verlassen jener von uralten Re- der Reichseinigung entstand 1875 die einheitli- ligionsgesetzen geprägten Welt, in der der Rabbi- che Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), aus der ner uneingeschränkte Autorität besaß. Infolge des 1890 die SPD wurde. Ihre legale Existenz wurde Untergangs der ständischen Privilegienordnung durch den Sturz des ersten Reichskanzlers Otto war die jüdische Sonderexistenz nicht mehr auf- von Bismarck und den Übergang zur Wilhelmi- rechtzuerhalten. Der Kampf um die Emanzipati- nischen Periode des Kaiserreichs ermöglicht. Die on der Juden war seit Anbeginn Teil des allgemei- Spaltung der Partei fiel mit der Spaltung der deut- nen Kampfs von Aufklärern und Revolutionären schen Gesellschaft in der Endphase des Ersten um Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit: Weltkriegs zusammen, ihr Verbot und ihre Neu- Sollte die gesellschaftliche Integration der Juden konstituierung in Deutschland mit Aufstieg und erfolgreich sein und allen politischen Wechselfäl- Ende der NS-Diktatur. len standhalten, so musste die demokratische Idee Auch die antisemitische Bewegung ist in ihren und Lebensform im öffentlichen Bewusstsein fest Zäsuren an die politischen und wirtschaftlichen verankert sein.“01 Konjunkturen in Deutschland gekoppelt. Das In Deutschland misslangen jedoch in der ers- erste Erstarken des organisierten Antisemitismus ten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Versuche, fällt mit der langen Wirtschaftskrise der 1870er dem auf Volkssouveränität basierenden demo- bis 1890er Jahre zusammen. In den Jahren des kratischen Prinzip zum Sieg zu verhelfen. Dies wirtschaftlichen Hochs, in denen Deutschland war Ausdruck der politischen Defizite des 1871 bis 1914 zur zweitstärksten Industriemacht der durch „Blut und Eisen“ zusammengeschmiede- Welt wurde, trat der organisierte Antisemitismus ten Kaiserreichs. Dieses krankte daran, wie der hinter andere Manifestationen des Nationalismus Historiker Arthur Rosenberg 1928 schrieb, dass 12
Jüdisches Leben in Deutschland APuZ der politische Kompromiss zwischen Junkern des 1883 verstorbenen Karl Marx, am 9. Mai und Bürgertum „in der Form des bürokratischen 1890 in der Wiener „Arbeiterzeitung“ davor, Selbstherrschertums“ verwirklicht wurde, was sich von der antikapitalistischen Rhetorik der die Arbeiterklasse praktisch außerhalb der Staats- Antisemiten verführen zu lassen. Der Antise- ordnung1 stellte.02 Die Bourgeoisie hatte sich im mitismus sei „nichts anderes als eine Reaktion Wesentlichen mit den wirtschaftlichen Macht- mittelalterlicher, untergehender Gesellschafts- positionen zufriedengegeben, ohne der Monar- schichten gegen die moderne Gesellschaft, die chie und dem Junkertum die politische Entschei- wesentlich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern dungsgewalt abzuringen. Der Ruf nach einer besteht, und dient daher nur reaktionären Zwe- Parlamentarisierung des Reichs wurde somit vor cken unter scheinbar sozialistischem Deckman- allem eine Sache der Sozialdemokratie. tel; er ist eine Abart des feudalen Sozialismus, Als soziokulturelle Minderheit waren die Ju- und damit können wir nichts zu schaffen ha- den trotz und gerade wegen ihrer Assimilations- ben. Ist er in einem Lande möglich, so ist das bestrebungen besonders von der jeweiligen poli- ein Beweis, dass dort noch nicht genug Kapi- tischen Atmosphäre betroffen. Ende der 1870er tal existiert. Kapital und Lohnarbeit sind heute Jahre entstand eine Reihe antisemitischer Grup- untrennbar. Je stärker das Kapital, desto stär- pierungen, von denen die Christlich-Soziale Par- ker auch die Lohnarbeiterklasse, desto näher tei des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker die also das Ende der Kapitalistenherrschaft. Uns wichtigste wurde. Bis zur Mitte der 1890er Jah- Deutschen, wozu ich auch die Wiener rechne, re blieben die Antisemiten ein politisch relevan- wünsche ich also recht flotte Entwicklung der ter Faktor, bevor mit dem langen Wirtschaftsauf- kapitalistischen Wirtschaft, keineswegs deren schwung ihre Bedeutung zunächst abnahm.03 Versumpfen im S tillstand. Zur Abwehr des Antisemitismus beriefen die Dazu kommt, dass der Antisemitismus die Sozialdemokraten Anfang 1881 eine Massenver- ganze Sachlage verfälscht. Er kennt nicht ein- sammlung nach Berlin ein. Der sozialdemokrati- mal die Juden, die er niederschreit. Sonst würde sche Theoretiker Eduard Bernstein schrieb über er wissen, dass hier in England und in Amerika, die enthusiastische Zustimmung der Arbeiter zu dank der osteuropäischen Antisemiten, und in den Reden, die gegen „den mit der antisemiti- der Türkei,05 dank der spanischen Inquisition, es schen Agitation verbundenen Lug und Trug“ ge- Tausende und aber Tausende jüdischer Proletarier halten wurden. Ein Beschluss der Versammlung gibt; und zwar sind diese jüdischen Arbeiter die wandte sich „gegen eine Schmälerung der den Ju- am schlimmsten ausgebeuteten und die allerelen- den verfassungsmäßig garantierten staatsbürger- desten. Wir haben hier in England in den letzten lichen Gleichstellung“ und warnte „alle städti- zwölf Monaten drei Streiks jüdischer Arbeiter ge- schen und ländlichen Lohnarbeiter Deutschlands habt, und da wollen wir Antisemitismus treiben vor den Betörungsversuchen gewisser angebli- als Kampf gegen das Kapital?“06 cher Volksfreunde der verschiedensten Art, sich Damit gab Engels nicht nur Hinweise auf ein nicht zu einer Beteiligung an jener Bewegung ver- präzises gesellschaftstheoretisches Erklärungs- leiten und als Werkzeug für solche bewusst oder modell für das Fortwirken antijüdischer Vorur- unbewusst volksfeindlichen Zwecke gebrauchen teile in der damaligen Gegenwart, sondern wies zu lassen“.04 auch auf die Hauptopfer der antisemitischen In Reaktion auf den österreichischen und Kampagnen hin, auf die doppelt – national wie deutschen Antisemitismus warnte Friedrich sozial – unterdrückten jüdischen Arbeiter. Doch Engels, der in London lebende Weggefährte unbeabsichtigt drückte Engels’ Brief auch die Il- lusion aus, der Antisemitismus sei dank der Fort- 01 Walter Grab, Der deutsche Weg der Judenemanzipation entwicklung des Kapitalismus dazu bestimmt, 1789–1938, München–Zürich 1991, S. 7. sich auf sozusagen natürliche Weise aufzulösen. 02 Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Wei- marer Republik, hrsg. u. mit einem Vorwort von Mario Keßler, Hamburg 2021, S. 39. 05 Engels bezog sich offenbar auf Saloniki, das damals noch 03 Vgl. Günter Brakelmann, Adolf Stoecker als Antisemit, zum Osmanischen Reich gehörte und wo eine bedeutende, 2 Bde., Waltrop 2004. klassenmäßig gegliederte jüdische Gemeinde ansässig war. 04 Eduard Bernstein, Geschichte der Berliner Arbeiterbewe- 06 Friedrich Engels, Über den Antisemitismus (Aus einem Brief gung, Bd. 2, Berlin 1907, S. 60. nach Wien), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 22, S. 49 ff. 13
APuZ 44–45/2021 zu leihen, ändere sich dies. Dann würden sie, wie Bebel voller Zuversicht meinte, „zur Erkenntnis kommen müssen, dass nicht bloß der jüdische Ka- pitalist, sondern die Kapitalistenklasse überhaupt ihr Feind ist und dass nur die Verwirklichung des Sozialismus sie aus ihrem Elende befreien kann“.07 Eine solch deterministische Sicht – wonach die Ausgebeuteten zu den von der Sozialdemokratie vertretenen Anschauungen gelangen „müssten“ – machte die Stärke und die Schwäche der sozialis- tischen Argumentation aus. Anders als die bür- gerlich-liberalen Gegner des Antisemitismus wie Theodor Mommsen oder Rudolf Virchow sahen die Sozialdemokraten „den Kern der Sache in der sozialen und wirtschaftlichen Struktur und zogen daraus Schlüsse, die in jedem Fall einleuchtend und logisch waren; die Liberalen hatten haupt- sächlich ihren Kummer und ihre Abneigung in der Hoffnung gesucht, dass solche periodischen Wogen der Finsternis zurückweichen würden, wie sie gekommen waren“.08 Doch folgten die sozialdemokratischen Theo- retiker und Politiker teilweise explizit, teilweise un- ausgesprochen zwei Prämissen, die die Problema- Karl Kautsky, um 1920 tik ihrer Position deutlich werden ließ: Zum einen © akg-images galt der Antisemitismus zwar als moralisch ver- werflich und bekämpfenswert, aber seine Gefähr- lichkeit wurde unterschätzt. Wenn es nur der so- Auf dem Kölner SPD-Parteitag 1893 hielt zialdemokratischen Agitation bedurfte, damit aus der Parteivorsitzende August Bebel ein viel be- antisemitischen Rebellen Vorkämpfer für die Sache achtetes Referat, worin er den reaktionären des Sozialismus wurden, hatte der Antisemitismus Charakter der Judenfeindschaft sichtbar mach- dann nicht gewissermaßen eine progressive Kataly- te. Der Antisemitismus greife in seiner schein- sator-Funktion? War er womöglich eine Vorbedin- bar antikapitalistischen Attacke gegen das „jüdi- gung für das Aufflammen antikapitalistischer Stim- sche Ausbeuterthum“ lediglich Erscheinungen mungen, die dann von den Sozialdemokraten nur der Klassenherrschaft, nicht aber diese selbst an. noch in die richtige Richtung gelenkt werden müss- Wenn die Sozialdemokratie nur stärker werde, ten? Victor Adler, Parteiführer der österreichischen dann müssten die in judenfeindlichen Vorurtei- Sozialdemokratie, selbst Jude und aus der deutsch- len gefangenen antikapitalistischen Rebellen ge- nationalen Bewegung zum Sozialismus gestoßen, radezu zwingend zu der Einsicht gelangen, dass meinte 1887, dass die antisemitischen Führer, von „die Sozialdemokratie der entschiedenste Feind denen er einige gut kannte, „die Geschäfte der Sozi- des Kapitalismus ist“ und „die Ausbeutung des aldemokratie“ besorgen würden.09 Ähnlich äußer- Menschen durch den Menschen keine speziell jü- dische, sondern eine der bürgerlichen Gesellschaft 07 Bebels Rede ist abgedruckt im Protokoll über die Verhand- eigenthümliche Erwerbsform ist, die erst mit dem lungen der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehal- Untergang der bürgerlichen Gesellschaft endigt“. ten zu Köln a. Rh. vom 22. bis 29. Oktober 1893, Berlin 1893, Bebel begriff den Antisemitismus als ein Durch- S. 223–240. Hieraus die Zitate; Orthografie modernisiert. gangsstadium sozial entwurzelter und politisch 08 Peter G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitis- mus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Gütersloh 1966, ungeschulter Schichten, deren Unzufriedenheit S. 214. von den Judenhassern ausgenutzt werde. Sobald 09 Victor Adler, Der Antisemitismus, in: Die Gleichheit, 7. 5. 1887, diese Schichten jedoch bereit seien, der politischen zit. nach ders., Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. 8, Wien 1929, Aufklärungsarbeit von Sozialdemokraten ihr Ohr S. 347 f. 14
Jüdisches Leben in Deutschland APuZ Eduard Bernstein als Abgeordneter auf dem Weg zum Reichstag, Juni 1920 © akg-images te sich der marxistische Publizist Franz Mehring, Otto Bauer, Lenin und Stalin sowie Rosa Luxem- der um 1900 eine Reihe abschätziger Bemerkungen burg den Schluss, die Juden seien keine Nation, über Juden machte.10 sondern nur eine durch Religion und gemeinsa- Zum anderen galt es für die Sozialdemokra- mes Schicksal geeinte Gemeinschaft. Der moder- tie in Deutschland und Österreich um die Jahr- ne Kapitalismus ebne jedoch diese Unterschiede hundertwende als ausgemacht, dass die Juden als ein. Dadurch verschlossen sich viele Sozialdemo- eigenständige soziokulturelle Gemeinschaft im kraten auch der spezifischen Rolle der jüdischen Laufe des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Arbeiterbewegung in Osteuropa.11 Fortschritts notwendigerweise verschwinden, sich in die Gesamtbevölkerung unter Zurück- KARL KAUTSKY, EDUARD nahme und schließlich Aufgabe ihrer Traditionen BERNSTEIN UND DER ZIONISMUS eingliedern würden. In der Tat schien die Assi- milation großer Teile der Juden an die deutsche Zwei zentrale Protagonisten und persönliche Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit Freunde innerhalb der Sozialdemokratie waren gediehen. Daraus zogen so unterschiedliche Sozi- der Jude Eduard Bernstein und der Nicht-Ju- alisten und Kommunisten wie Karl Kautsky und de Karl Kautsky. Doch seit dem parteiinternen Streit um Reform oder Revolution, dem soge- 10 Zu Mehring vgl. Robert S. Wistrich, Anti-Capitalism or nannten Revisionismusstreit zwischen 1896 und Anti-Semitism: The Case of Franz Mehring, in: Leo Baeck 1898, und bis zum Jahr 1912 sprachen die bei- Institute, Yearbook XXII, London 1977, S. 35–51; Lars Fischer, den nicht mehr miteinander. Während Kautsky „Es ist überall derselbe Faden, den ich spinne.“ Annäherungen sein Leben lang Antizionist blieb, nahm Bern- an Franz Mehrings Haltung zu Antisemitismus und Judentum, in: Dieter Bähtz et al. (Hrsg.), Dem freien Geiste freien Flug. Bei- träge zur deutschen Literatur für Thomas Höhle, Leipzig 2003, 11 Vgl. u. a. Enzo Traverso, Die Marxisten und die jüdische S. 129–154. Frage. Geschichte einer Debatte (1843–1943), Mainz 1995. 15
APuZ 44–45/2021 stein seit dem Ersten Weltkrieg eine positivere Bernstein: „Ich bin kein Zionist, ich fühle mich zu Haltung zum Zionismus ein.12 sehr als Deutscher, um es sein zu können.“15 Die Auffassung eines kontinuierlichen, von Doch die deutsche Kriegsniederlage, die er- den reaktionären Kräften zwar bekämpften, aber neut steckengebliebene bürgerliche Revolution, unaufhaltbaren Fortschritts durchzog das Werk der diktierte Frieden von Versailles und nicht zu- von Kautsky. Dieser war vor 1914 die unbestritte- letzt das Engagement jüdischer Revolutionäre ne theoretische Autorität des internationalen So- aufseiten der radikalen Linken sowie die Furcht zialismus, und er bekämpfte den Antisemitismus. der besitzenden Klassen vor dem Bolschewismus Unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs er- trieben dem Antisemitismus neue Kräfte zu. Ne- schien seine Schrift „Rasse und Judentum“, in der ben den ärmeren und den besitzenden Klassen er seine Überlegungen zum Gegenstand zusam- wurden nun vor allem die aus der Bahn gewor- menfasste. Die Juden seien eine „Kaste“, doch be- fenen früheren Offiziere und Soldaten für den säßen sie in Osteuropa Merkmale, die „den Schein Antisemitismus empfänglich. Sie glaubten, das einer jüdischen Nationalität“ nahelegen würden. „Weltjudentum“ sei für die soziale Notlage gro- Die jiddische Kunst und Literatur seien durchaus ßer Teile des deutschen Volkes verantwortlich. „Produkte und Mittel eines nationalen Lebens der russischen Juden“. Doch trage ihre kulturelle Ent- GESPALTENE ARBEITERBEWEGUNG faltung vorübergehenden Charakter, denn „das, IN DER WEIMARER REPUBLIK was man die jüdische Nation nennt, kann nur sie- gen, um unterzugehen“.13 Erst mit dem Sieg des Die SPD galt als „die“ Partei der Weimarer Re- Sozialismus, keineswegs mit der Durchsetzung publik; dies war ursprünglich abschätzig ge- der bürgerlichen Gesellschaft, würden die Bedin- meint. Nicht zuletzt, weil sie als Ganzes an der gungen für die Absonderung der Juden dahin- Gegnerschaft zum Antisemitismus festhielt, ent- schwinden. Erst dann würde dem Antisemitismus stand das böse Wort von der „roten Judenrepu- die Existenzgrundlage entzogen und die Assimila- blik“. Die inneren Spannungen, denen sich die tion der Juden eingeleitet werden. seit 1917 durch den Abgang der USPD gespaltene Bernstein widersprach Kautskys Antisemi- Partei ausgesetzt sah, spiegelten sich jedoch auch tismus-Analyse implizit. Der Antisemitismus sei in beleidigenden Äußerungen wider, die bis da- keineswegs nur an niedergehende Gesellschafts- hin in der Partei nicht zu hören gewesen waren. schichten gebunden. Zwar gebe es den „Radau- So wurde Bernstein, der sich für eine notgedrun- antisemitismus“ der im kapitalistischen Konkur- gene Annahme der Versailler Bedingungen aus- renzkampf zerriebenen Mittelklasse. Daneben sei sprach, auf dem Weimarer SPD-Parteitag im Juni aber eine subtile Variante des Antisemitismus ge- 1919 attackiert. Man vergaß ihm nicht, dass er rade unter Intellektuellen zu beobachten, die po- im Krieg für zwei Jahre der USPD angehört hat- tenziell gefährlicher sei. Gerade in Regierungs- te, und noch weniger vergaß man seine jüdische kreisen und den sie unterstützenden Schichten Herkunft. So rief sein Parteigenosse Adolf Braun verstärke sich der Judenhass. Dies liefere dem Zi- ihm zu: „Sie müssen einmal hören, dass wir Ih- onismus Argumente, den die Sozialdemokratie zu nen in der talmudistischen Methode Ihrer Politik Unrecht als ein totgeborenes Kind bezeichne. Das nicht folgen können.“ Hermann Müller, Mitglied bedeute nicht, dass die SPD den Zionismus unter- des Parteivorstands und künftiger Reichskanzler, stützen solle. Schließlich sei dieser eine „Teiler- attackierte Bernstein mit den Worten: „Man darf scheinung der großen Welle nationalistischer Re- eben nicht alle Dinge unter dem Gesichtspunkt aktion, die über die bürgerliche Welt sich ergossen des Rabbiners von Minsk behandeln, wenn man hat und auch Eingang in die sozialistische Welt aktuelle Politik zu machen hat.“16 sucht“.14 Inmitten des Ersten Weltkriegs betonte Wie andere Länder ging auch Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer äu- 12 Vgl. Yuval Rubovitch, Marxismus, Revisionismus, Zionismus. ßerst restriktiven Einwanderungspolitik über. Eduard Bernstein, Karl Kautsky und die Frage der jüdischen Nationalität, Berlin–Leipzig 2021. 13 Karl Kautsky, Rasse und Judentum. Ergänzungsheft zur 15 Eduard Bernstein, Die Aufgaben der Juden im Weltkriege, „Neuen Zeit“, Stuttgart 1914, S. 51, S. 61, S. 92 f. Berlin 1917, S. 32. 14 Eduard Bernstein, Der Schulstreit in Palästina, in: Die Neue 16 Zit. nach Francis L. Carsten, Eduard Bernstein 1850–1932. Zeit 32–1/1913–14, S. 752. Vgl. Rubovitch (Anm. 12). Eine politische Biographie, München 1993, S. 178 f. 16
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