Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung - Arbeitspapier 56 Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021

 
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Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung - Arbeitspapier 56 Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021
September 2021

    Arbeitspapier 56

    Auswirkungen der Corona-Pandemie
    auf die Gesundheitsförderung
    Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021
Gesundheitsförderung Schweiz ist eine Stiftung, die von Kantonen und Versicherern getragen wird.
 Mit gesetzlichem Auftrag initiiert, koordiniert und evaluiert sie Massnahmen zur Förderung der
 Gesundheit (Krankenversicherungsgesetz, Art. 19). Die Stiftung unterliegt der Kontrolle des Bundes.
 Oberstes Ent­scheidungsorgan ist der Stiftungsrat. Die Geschäftsstelle besteht aus Büros in Bern
 und Lausanne. Jede Person in der Schweiz leistet einen jährlichen Beitrag von CHF 4.80 zugunsten
 von Gesundheits­förderung Schweiz, der von den Krankenversicherern eingezogen wird.
 Weitere Informationen: www.gesundheitsfoerderung.ch

 In der Reihe «Gesundheitsförderung Schweiz Arbeitspapier» erscheinen von Gesundheitsförderung
 Schweiz erstellte oder in Auftrag gegebene Grundlagen, welche Fachleuten in der Umsetzung in
 Gesundheitsförderung und Prävention dienen. Der Inhalt der Arbeitspapiere unterliegt der redaktio-
 nellen Ver­antwortung der Autorinnen und Autoren. Gesundheitsförderung Schweiz Arbeitspapiere
 liegen in der Regel in elektronischer Form (PDF) vor.

Impressum
Herausgeberin
Gesundheitsförderung Schweiz
Autorin
Claudia Kessler, Public Health Services (PHS)
Begleitgruppe
Von Gesundheitsförderung Schweiz: Catherine Favre-Kruit (Auftraggeberin und Leitung Begleit­
gruppe); Katharina Ackermann; J­ essica de Bernardini; Dominik Weber
Extern: Silvia Steiner, VBGF/GDK; Alexia Fournier Fall, CLASS/CPPS
Reihe und Nummer
Gesundheitsförderung Schweiz, Arbeitspapier 56
Zitierweise
Kessler, C. (2021). Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus
der Praxis und Perspektiven, Stand 2021. Arbeitspapier 56. Bern und Lausanne: Gesundheitsförderung
Schweiz.
Illustration Titelseite
Typopress Bern AG
Auskünfte/Informationen
Gesundheitsförderung Schweiz, Wankdorfallee 5, CH-3014 Bern, Tel. +41 31 350 04 04,
office.bern@promotionsante.ch, www.gesundheitsfoerderung.ch
Originaltext
Deutsch
Bestellnummer
01.394.DE 09.2021
Diese Publikation ist auch in französischer und in italienischer Sprache verfügbar
(Bestellnummern 01.394.FR 09.2021 und 01.394.IT 09.2021).
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www.gesundheitsfoerderung.ch/publikationen
© Gesundheitsförderung Schweiz, September 2021
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021 3

Inhaltsverzeichnis
Management Summary                                                                                                   4

1   Einleitung                                                                                                       5

2	Gesundheitsförderung in Zeiten der Corona-Pandemie                                                                6
   2.1 Stark veränderte Rahmenbedingungen                                                                            6
   2.2	Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Praxis                                                                  7

3	Wichtigkeit der Gesundheits­förderung im Kontext der Corona-Pandemie                                             12

4	Handlungsbedarf aus Sicht der Akteure                                                                            13
   4.1 Themenbereiche                                                                                               13
   4.2 Zielgruppen und Settings                                                                                     13
   4.3 Arbeitsweisen                                                                                                14

5   Fazit und Empfehlungen                                                                                          16

Anhang19
   Anhang 1: Methodisches Vorgehen  19
   Anhang 2: Quellenverzeichnis     20
4   Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021

Management Summary
Die stark veränderten Rahmenbedingungen im Kon-                Es braucht:
text der Pandemie bringen für die Gesundheitsför-              • einen stärkeren Fokus auf die Förderung der
derung enorme Herausforderungen mit sich. Nach                   psychischen Gesundheit und der sozialen Teil­
einer Anpassungsphase in der ersten Welle ist es                 habe, insbesondere bei verletzlichen Personen-
den Akteuren1 vielfach gelungen, ein an den Kon-                 gruppen;
text angepasstes Angebot aufrechtzuerhalten und                • künftig vermehrt die Kombination von bewährten
die verschiedenen Zielgruppen zu erreichen. Unab-                Ansätzen mit digitalen Lösungen;
hängig vom Themenbereich und den Zielgruppen                   • mehr interprofessionelle und multisektorielle
berichten die Akteure im Rückblick auf das erste                 Zusammenarbeit zur Förderung der gesundheit-
Pandemiejahr über viele Gemeinsamkeiten – bei                    lichen Chancengleichheit.
den Schwierig­keiten, den gefundenen Lösungen und
den wichtigsten Lernerfahrungen.                               Die Gesundheitsförderung, so ist man sich einig,
Eine grundlegende Erkenntnis ist, dass die Gesund-             braucht es während und nach der Corona-Pandemie
heitsförderung in Krisensituationen tendenziell an             mehr denn je.
Bedeutung gewinnt. Sie birgt viel Potenzial, um im
Kontext einer Pandemie günstig auf Belastungen                 Vier Empfehlungen aus Sicht der Autorin
und Ressourcen der Bevölkerung einzuwirken: einer­               I. Basierend auf den Lernerfahrungen soll
seits über positiven Einfluss auf das Verhalten der                  ­Bewährtes aus Pandemiezeiten in den Regel­
Menschen und andererseits über das Einwirken auf                      betrieb transferiert werden.
die Verhältnisebene.                                            II. E s gilt, die Akteure der Gesundheitsförderung
                                                                      im Krisenmanagement stärker zu p  ­ ositionieren.
Wichtige Erkenntnisse und Handlungsbedarf                      III. Die Gesundheitsförderung soll vermehrt im
aus Sicht der Akteure                                                 Kontinuum der Aufgaben des Gesundheits­
• Zielgruppen und Mittlerinnen und Mittler, welche                    systems gedacht werden.
  durch die Pandemie an Stellenwert gewonnen                   IV. Die Leistungen der Akteure der Gesundheits­
  ­haben, sind unter anderem: Jugendliche, sozial                     förderung zugunsten verletzlicher Bevölke-
   isolierte oder benachteiligte Personen aller                       rungsgruppen während der Pandemie sind zu
   ­Altersklassen, b ­ etreuende Angehörige, Eltern,                  würdigen. Während und nach der Pandemie
    Lehrpersonen, Freiwillige und soziokulturelle                     müssen ihnen die Mittel zur Hand gegeben
    Mittlerinnen und Mittler.                                         werden, die es für eine nachhaltige Gesund­
• Settings für die Gesundheitsförderung, die                          heits­förderung braucht.
    in der Pandemie an Bedeutung gewonnen
    haben, sind zum Beispiel: das eigene Zuhause,
    das H­ omeoffice, das nahe Wohnumfeld und
    die ­so­zialen Medien.

1 Siehe Fussnote 2.
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021 5

1 Einleitung
Seit Ende Februar 2020 ist die Schweiz von der                 Zur Struktur des Arbeitspapiers: Im Kapitel 2 wird
Corona-Pandemie betroffen. Seither mussten die                 aufgezeigt, wie unter den stark veränderten Rah-
Verantwortlichen der Gesundheitsförderung viele                menbedingungen mit den gesprochenen Geldern
der bewährten Arbeitsweisen grundsätzlich über-                auch in Zeiten der Corona-Pandemie wirkungsvoll
denken und sich immer wieder auf neue Gegeben-                 gearbeitet wird und welche Lernerfahrungen viele
heiten und die jeweiligen Möglichkeiten einstellen.            Akteure teilen. Informationen zur Relevanz der Ge-
In diesem Arbeitspapier, das sich an die grosse                sundheitsförderung in Zeiten der Corona-Pandemie
Gruppe der Akteure 2 der Gesundheitsförderung                  finden sich im Kapitel 3. Von den Kapiteln 2 und 3
richtet, geht die Autorin im Auftrag der Stiftung Ge-          abgeleitet wird im Kapitel 4 aufgezeigt, wie sich
sundheitsförderung Schweiz der Frage nach, wie                 basierend auf den Erfahrungen der Pandemie der
sich die Corona-Pandemie im ersten Jahr zwischen               Handlungsbedarf in der Gesundheitsförderung aus
März 2020 und März 2021 auf die Gesundheitsförde-              Sicht der Akteure verändert hat und wo zukünftig
rung ausgewirkt hat und welche Perspektiven sich               noch stärker investiert werden sollte. Das Kapitel 5
daraus abzeichnen. Die Aufmerksamkeit wird be-                 schliesst mit ausgewählten, zukunftsgerichteten
sonders auf die Zielgruppen «Kinder», «Jugendli-               Empfehlungen an die Akteure der Gesundheitsför-
che» und «ältere Menschen» gerichtet. Die Analyse              derung.
fokussiert dabei vor allem auf Lösungsansätze und              Die Analyse, welche dem Arbeitspapier zugrunde
Lernerfahrungen. Es wird jedoch auch deutlich,                 liegt, stützt sich auf Informationen und Erfahrun-
dass die Situation die Akteure mit starken Heraus-             gen, die über mehrere Monate in Austauschforen
forderungen konfrontiert und ihrer Arbeit manch-               der Akteure und verschiedenen Quellen gesammelt
mal Grenzen gesetzt hat. Ausgewählte Stimmen                   wurden (siehe Anhang 1 «Methodisches Vorgehen»).
aus der Praxis illustrieren die gesammelten Er­                Das vorliegende Arbeitspapier ergänzt bestehende
fahrungen.                                                     vertiefte und zielgruppenspezifische Analysen mit
                                                               einer zielgruppenübergreifenden Synthese. Die
                                                               Analyse bildet vor allem Erfahrungen aus der ersten
                                                               und zweiten Pandemiewelle in der Schweiz ab. Die
                                                               Auswirkungen der Impfkampagne kamen in dieser
                                                               Zeit noch nicht voll zum Tragen. Zur Zeit der Publi-
                                                               kation befindet sich die Schweiz in einer vierten
                                                               Pandemiewelle.

2 Der Begriff «Akteure» wird in diesem Arbeitspapier stellvertretend für Frauen, Männer und Organisationen verwendet,
   die auf verschiedenen Ebenen des Gesundheitssystems aktiv zur Gesundheitsförderung beitragen, wie zum Beispiel:
   ­Mitarbeitende in kantonalen Aktionsprogrammen oder Projekten, staatliche und nichtstaatliche Organisationen, Akteure
    der Zivilgesellschaft, Behörden, Akteure in Wissenschaft, Politik oder finanzierenden Stiftungen.
6   Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021

2	Gesundheitsförderung in Zeiten
   der Corona-Pandemie
2.1    Stark veränderte Rahmenbedingungen                       der Zielerreichung bei 16 Projekten als «auf Kurs»
                                                                ein. Bei einer Mehrheit der Projekte (65) sah man
Zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020                  die Ziel­erreichung als möglich an, unter der Voraus­
richteten die Behörden und Organisationen ihre Be-              setzung, dass kompensatorische Massnahmen er-
mühungen vor allem auf den Schutz besonders ge-                 griffen werden. So wurden unter anderem Projekt-
fährdeter Personengruppen und sensibilisierten die              laufphasen verlängert, Ziele angepasst oder Gelder
Bevölkerung zu den jeweils geltenden behördlich                 umgewidmet, um Angebote anzupassen oder um
verhängten Massnahmen. Die Themen Infektion,                    neue Angebote zu schaffen. Bei 9 Projekten können
Krankheit und Tod dominierten die Wahrnehmung                   trotz erheblichem Mehraufwand voraussichtlich nur
und erzeugten Ängste in der Bevölkerung. Das zen-               einzelne Teilziele erreicht werden. Bei keinem der
trale Prinzip der Salutogenese 3 und viele Aktivitäten          geförderten Projekte musste man jedoch, Stand
im Bereich der Gesundheitsförderung rückten vor­                März 2021, davon ausgehen, dass keines der Ziele
übergehend in den Hintergrund. Statt Vernetzung,                erreicht werden kann.
Partizipation und soziale Teilhabe zu fördern, wurde
Abstandhalten zum neuen Paradigma (Scharinger
2020).                                                           ABBILDUNG 1
Es gehört jedoch zum Aufgabenbereich der Gesund-
heitsförderung, Menschen in der Bewältigung von                 Einschätzung der Möglichkeit der Zielerreichung
schwierigen Lebensereignissen zu unterstützen                   bei 90 von Gesundheitsförderung Schweiz geförderten
                                                                Projekten, Stand März 2021
und zu begleiten. Eine positive Krisenbewältigung
stärkt die Gesundheit einzelner Menschen und kann
in schwierigen Zeiten zum Empowerment von ver-
                                                                                             9        16
letzlichen Bevölkerungsgruppen beitragen. Wie die
Erfahrungsbeispiele aus der Praxis im Kapitel 2.2
zeigen, stellten sich die Akteure der Gesundheits-
förderung rasch den neuen Herausforderungen und
suchten engagiert und kreativ nach Wegen und
Strategien, um die Zielgruppen dabei zu unterstüt-
zen, trotz Einschränkungen einen gesunden Le-
                                                                                                 65
bensstil zu führen und psychisch stabil zu bleiben.
Viele bestehende Angebote wurden an die veränder-
ten Rahmenbedingungen angepasst. Neue Ange­                       Zielerreichung auf Kurs
bote wurden geschaffen. Es ist aber auch Tatsache,                 ielerreichung möglich, teils mit kompensatorischen
                                                                  Z
dass einige Angebote nicht angepasst werden konn-                 Massnahmen (wie z. B. Vertragsverlängerung,
ten und manchmal, zumindest vorübergehend, sis-                   Budgetanpassungen)
tiert werden mussten.                                              eilzielerreichung möglich, mittlere bis grössere
                                                                  T
                                                                  Probleme, erheblicher Mehraufwand
Eine Einschätzung zu 90 Projekten, welche über die
                                                                  Zielerreichung nicht möglich
Projektförderung KAP von Gesundheitsförderung
Schweiz kofinanziert werden, ergab im März 2021                 Quelle: Darstellung basierend auf Auswertung «­interne
das in der Abbildung 1 festgehaltene Bild.                      Einschätzung durch Gesundheitsförderung Schweiz» vom
Die Projektbegleitenden von Gesundheitsförderung                16.3.2021, aktualisiert mit dem Jahresbericht 2020

Schweiz stuften zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit

3 Für eine Definition siehe https://www.quint-essenz.ch/de/topics/1249.
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021 7

2.2	Erfahrungen und Erkenntnisse                             an die jeweiligen Möglichkeiten angepasst. Manch-
     aus der Praxis                                           mal wurden Angebote schrittweise wieder «hoch­
                                                              gefahren». So wurde beispielsweise mit einfacheren
Die Akteure der Gesundheitsförderung stiessen auf             und kürzeren Formaten gestartet, um zu eruieren,
grosse Herausforderungen und Grenzen bei der                  wie viele Personen bereit waren, das Angebot zu
Umsetzung ihrer Projekte. Aber sie fanden auch                nutzen. Mit der Zeit wurden hybride Formen ent­­
eine Vielzahl von Lösungen und sammelten wäh-                 wickelt, die eine Wahl zwischen physischer und
rend der ersten beiden Pandemiewellen viele Lern-             Online-Teilnahme ermöglichten. Um die Schutz­
                                                              ­
erfahrungen. Es ist bemerkenswert, wie viele Ge-              konzepte einzuhalten, arbeiteten die Anbietenden
meinsamkeiten sich bei den Schwierigkeiten wie                mit neuen (Klein-)Formaten, wie zum Beispiel:
auch bei den Lösungsansätzen und Lernerfahrun-                mehr­­fache Durchführung eines Angebots zur Reduk-
gen zeigen – unabhängig davon, in welchem Themen­             tion der Gruppengrösse; Anmeldepflicht zur Kon­
bereich und mit welcher Zielgruppe gearbeitet wird.           trolle der Gruppengrösse; Durchführung in grös­
Die Erfahrungen aus der Praxis werden im Folgen-              seren Räumen unter Wahrung der Abstandsregeln;
den anhand von vier ausgewählten Lernfeldern ver-             Verlagerung nach draussen an die frische Luft;
anschaulicht. Die Auswahl wurde auf der Basis von             Bildung von konstanten Tandems älterer Menschen
geteilten Erfahrungen und Erkenntnissen getroffen.            für gemeinsame Spaziergänge oder gegenseitige
                                                              Besuche zur Reduktion von Kontakten.
Lernfeld 1: Gruppenangebote erhalten und
an die Gegebenheiten anpassen                                 Grenzen: Viele der beliebten Intergenerationen-An-
                                                              gebote mussten über längere Zeit sistiert werden, so
Herausforderungen: Die Auswirkungen der Pande-                zum Beispiel Schulbesuche oder Mentoringangebote
mie erschwerten den Zugang zu allen Zielgruppen               durch ältere Menschen. Auch Gruppenangebote zur
erheblich. Insbesondere im Lockdown der ersten                Bewegungsförderung für ältere Menschen und Trai-
Welle mussten viele Gruppenangebote «auf Eis ge-              ningsangebote für Jugendliche mussten vor a   ­ llem
legt werden». Schulen wurden geschlossen und da-              in den Wintermonaten pausieren. Tanzangebote oder
mit auch ein zentrales Setting für die Zielgruppe der         gemeinsames Kochen mit physischen Begegnungen
Kinder und Jugendlichen. Ältere Menschen wieder-              und andere Angebote, die nicht nach draussen ver-
um wurden zu Beginn pauschal als Risikogruppe                 lagert werden konnten, konnten über längere Zeit
eingestuft und sollten zuhause bleiben. Gruppenan-            nicht mehr durchgeführt werden. Durch die erfor-
gebote und Veranstaltungen mit direkten Kontakten             derlichen Anpassungen stiessen die Anbietenden
zu den Zielgruppen konnten für alle Altersklassen             teils an die Grenzen ihrer finanziellen und perso­
nicht mehr wie bisher durchgeführt werden. Bei                nellen Ressourcen. Auch abschlägige Bescheide zu
der Wiederaufnahme der Aktivitäten mussten ein-               Finanzierungsanträgen für nötige Anpassungsmass-
schränkende Schutzkonzepte eingehalten werden.                nahmen oder neue Angebotsideen limitierten die
Der Erhalt von bestehenden Gruppenangeboten und               Umsetzung. Aus diesen Gründen mussten einige An-
ihrer Gruppendynamik stellte eine Herausforderung             gebote zumindest vorübergehend sistiert werden.
dar, unabhängig vom Alter der Angesprochenen. Die
Settings der Gesundheitsförderung mussten zudem               Wichtige Lernerfahrungen:
rasch mit neuen und alternativen Gruppenangebo-               • In der Arbeit mit älteren Menschen stellen sich
ten «bespielt» werden.                                          über alle Phasen der Pandemie hinweg grössere
                                                                Probleme für Gruppenangebote mit physischem
Gefundene Lösungsansätze: Vor allem in der ersten               Kontakt.
Welle wurden viele Gruppenangebote in digitale For-           • Sowohl für ältere Menschen als auch für Kinder
mate umgewandelt. Nach der Lockerung der Mass-                  und Jugendliche stellen Online-Gruppenkurse
nahmen im Frühsommer 2020 wurden die Gruppen-                   über eine beschränkte Zeit eine Notlösung dar.
angebote zunehmend wieder physisch durchge-                     Auf die Dauer sind physische Kontakte und Be-
führt, für Kinder und Jugendliche früher als für die            gegnungen für den Erhalt einer Gruppendynamik
älteren Menschen. Die Modalitäten wurden laufend                jedoch ein zentraler Erfolgsfaktor.
8    Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021

• Die Verantwortlichen erkannten Mitte 2020, dass               Beginn der Pandemie das nötige Know-how und die
  es nicht möglich, aber auch nicht zwingend nötig              personalen Ressourcen zur Umstellung auf «digi-
  war, alle abgesagten Angebote in der zweiten                  tal». Zudem galt es, die Ansprüche an die Reak­
  Jahreshälfte 2020 nachzuholen.                                tionsgeschwindigkeit, die Qualität der digitalen Lö-
• Trotz der beschriebenen Schwierigkeiten konnten               sungen und die Inhalte in eine vernünftige Balance
  viele Gruppenangebote zur Förderung der Ge-                   zu bringen.
  sundheit bis dato erhalten werden.
• Alle Zielgruppen haben die angepassten und                    Gefundene Lösungsansätze: Die Verantwortlichen
  neuen Angebote mit grosser Dankbarkeit auf­                   schufen, teils mit zugekaufter Expertise oder über
  genommen und vielfach auch genutzt.                           gemeinsame Lösungen mit Partnerorganisationen,
                                                                eine Vielzahl von Websites und Videos zu verschie-
    Lernerfahrung Gruppenangebote –                             denen Themen der Gesundheitsförderung. Neben
    Zielgruppe ältere Menschen                                  digitalen Angeboten für spezifische Zielgruppen ent-
    «Für das Amt für Gesundheitsvorsorge des                    wickelten insbesondere die Kantone themenüber-
    ­Kantons St. Gallen wurde rasch klar, dass man              greifende Plattformen mit Informationen und Ange-
     in der Pandemie – insbesondere in Phasen                   boten für verschiedene Altersklassen, für Familien
     mit einschränkenden Massnahmen – über TV-                  oder für Schulen. In der Arbeit mit vulnerablen Ziel-
     Sendungen ‹die Masse› der älteren Menschen                 gruppen suchten die Verantwortlichen als Ergän-
     zuhause für die Bewegungsförderung erreichen               zung der digitalen Angebote für zuhause auch den
     und zum Mitmachen motivieren kann. Dank                    persönlichen Kontakt über alle möglichen Wege.
     einer professionellen Produktion durch das Ost-            «Learning by doing», «einfach anpacken» und nicht
     schweizer Fernsehen und einer guten Mischung               zuwarten, bis man perfekte Lösungen anbieten
     aus Erlebnisagogik und evidenzbasierten trai-              kann, hat sich für die Akteure vielfach bewährt, um
     ningswirksamen Übungen wurde die Bewegungs­                den Kontakt zu den Zielgruppen während des Lock-
     sendung für ältere Menschen «Bliib fit – mach              downs oder danach rasch wieder aufzunehmen.
     mit!» zum Erfolgsschlager. Sie hat sich als gute
     Alternative zu konventionellen Gruppenange­                Grenzen: Nicht alle Angebote lassen sich digital
     boten für ältere Menschen erwiesen.»4                      durchführen. Zudem können über digitale Angebote
    Ursula Meier Köhler, Projektleiterin Stopp Sturz,           viele Personen nicht erreicht werden. Einige Ange-
    Amt für G
            ­ esundheitsvorsorge des Kantons St. Gallen         bote mussten wegen mangelnder Teilnahme abge-
                                                                sagt werden. Mehrere Ideen für digitale Angebote
                                                                konnten wegen fehlender Ressourcen nicht umge-
Lernfeld 2: Digitale Zugänge zu den                             setzt werden.
Zielgruppen schaffen
                                                                Wichtige Lernerfahrungen:
Herausforderungen: Die rasche Umstellung auf di-                • Besonders in der ersten Welle waren viele der
gitale Angebote und Kommunikation stellte sowohl                  digitalen Angebote über alle Zielgruppen hinweg
für Personen der Zielgruppen als auch für die Ver-                sehr beliebt und wurden oft genutzt. Die Nut-
antwortlichen in vielen Organisationen eine Heraus-               zung der digitalen Angebote sank jedoch, unab-
forderung dar. Zugangsbarrieren für weniger IT-­                  hängig vom Alter, in der zweiten Welle deutlich.
affine Personengruppen und für Personen mit                     • Digitale Angebote kompensierten nicht nur
fehlender Ausrüstung drohten, die Problematik der                 ­wegbrechende konventionelle Angebote, sondern
digitalen Zweiklassengesellschaft und die Chancen-                 zeigten auch neue Chancen auf: So konnten
ungleichheit zu vertiefen (insbesondere für hoch-                  ­beispielsweise in der Arbeit mit den Jugendlichen
altrige Menschen und Kinder sowie für Personen                      Treffen online schneller und unkomplizierter
aus sozioökonomisch schwächer gestellten Bevöl-                     ­organisiert werden; aus der Arbeit mit der Migra-
kerungsgruppen). Auch vielen Akteuren fehlten zu                     tionsbevölkerung wird berichtet, dass die Teil-

4 Für weitere Lernerfahrungen und Erfolgsfaktoren siehe Präsentation (Meier Köhler & Hess 2021).
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021 9

  nehmenden über Gruppenangebote via virtuelle                Lernfeld 3: Kontakt halten, insbesondere
  Kanäle (insbesondere WhatsApp) gut erreicht                 zu verletzlichen Personen
  werden konnten und teilweise offener redeten als
  sonst, da sie sich zuhause sicherer fühlten. Ge-             Herausforderungen: Viele Personen aus den Ziel-
  wisse Zielgruppen werden über Online-Zugänge                gruppen waren vor allem im Lockdown der ersten
  sogar besser erreicht, so zum Beispiel die Young            Welle, teilweise aber auch danach, für die Akteure
  Carers.                                                     der Gesundheitsförderung nicht mehr in gewohnter
• Über die verschiedenen Phasen der Pandemie                  Weise erreichbar. Insbesondere der Zugang zu ein-
  lässt sich sagen: Digital ist sicher besser als gar         samen und zu hochaltrigen Menschen, aber auch zu
  nichts und bietet Chancen und eine Lösung für               den betreuenden und pflegenden Angehörigen war
  viele, aber nicht für alle. Digitale Lösungen allein        stark erschwert. Dasselbe gilt für den Zugang zu
  genügen nicht und müssen – auch im Sinne der                Kindern und Jugendlichen aus verletzlichen und
  Chancengleichheit – mit beziehungsgeleiteten                ­sozial benachteiligten Familien. Später schaffte die
  Angeboten kombiniert werden.                                 Maskenpflicht emotionale Distanz. Sie schränkt die
• Bei den Akteuren kam es zu einer raschen Lern-               Kommunikation mit den Personen der Zielgruppen
  kurve mit einer Zunahme an digitalen Kompe­                  ein, was insbesondere in der Arbeit mit Kleinkin-
  tenzen. Kleinere Organisationen und Anbietende               dern in der frühen Förderung, in den Schulen, in der
  mit geringen Ressourcen sind bei digitalen                   Arbeit mit hörbeeinträchtigten Personen oder mit
  Lösungen gegenüber grösseren Akteuren teils                  Personen, die über geringe Kenntnisse der Landes-
  benachteiligt, teils jedoch auch schneller und               sprachen verfügen, zu Problemen führt.
  agiler. Über Netzwerkarbeit gelingt es, Synergien
  für gemeinsame digitale Lösungen zu nutzen.                 Gefundene Lösungsansätze: Die Akteure arbeiten
                                                              in Phasen mit stark kontakteinschränkenden Mass-
  Lernerfahrung digitale Zugänge –                            nahmen über eine Vielzahl von Kommunikations-
  Zielgruppe Jugendliche                                      und Beratungskanälen. Verhaltensempfehlungen
  «Ciao.ch ist eine elektronische Austausch-Platt-            und Informationen werden über zielgruppengerech-
  form für Jugendliche in der Romandie, die schon             te Kanäle zu den Menschen nach Hause geschickt:
  lange vor Corona aufgebaut wurde. Im ersten                 über Social Media wie beispielsweise Instagram
  Jahr der Pandemie nahmen die Aktivitäten auf                oder TikTok als besonders beliebte Medien bei
  der Plattform enorm zu. Mehrfach gab es zu-                 den Jugendlichen; Facebook bei den Personen über
  dem Beiträge, in welchen Suizidgedanken oder                35 und den jüngeren Seniorinnen und Senioren;
  Selbstverletzung zur Sprache kamen. Wir sahen               ­Radio- und TV-Sendungen sowie Anschreiben per
  uns veranlasst, unsere Arbeitsweise zu über-                 Briefversand oder Telefonanrufe bei den älteren und
  denken. Durch die Einbindung der Ressourcen                  insbeson­dere hochaltrigen Personen; WhatsApp für
  und Expertise unserer Partnerorganisationen                  Kontakte mit der Migrationsbevölkerung. Vielfach
  einerseits und der Jugendlichen selbst, anderer-             riefen die Akteure sozial isolierte oder verletzliche
  seits, konnten wir rasch auf den Bedarf reagie-              Personen zuhause an oder unterstützten die Bildung
  ren. So haben wir beispielsweise ein neues                   von Telefonketten. Es wurden Hotlines eingerichtet
  Alarmsystem geschaffen. Jugendliche melden                   und Fragebögen zur Bedarfserhebung verschickt.
  problematische Beiträge, welche sie sehen,                   Beratung wurde so rasch wie möglich wieder auf-
  oft fast in Echtzeit. Ciao.ch reagiert dann öffent-          suchend angeboten. Die Arbeit mit den sogenannten
  lich und für alle sichtbar. Wir kontaktieren                 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren (wie z. B.
  auch die Jugendlichen in Not direkt mit Vor­                 Lehrpersonen, Sozialarbeitenden, Schlüsselperso-
  schlägen, wo sie sich für Unterstützung und                  nen aus der Migrationsbevölkerung oder der K ­ inder-
  Beratung hinwenden können.»                                  und Jugendarbeit), mit Peers und Freiwilligen wurde
  Marjory Winkler, Leiterin von ciao.ch                        intensiviert, um Zugänge zu besonders verletzlichen
                                                               Personen zu erhalten. Um die Beeinträchtigung der
10 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021

Kommunikation durch die Maskenpflicht zu umge-                 baren Zielgruppen bewährt. Eine soziokulturell
hen, wurde manchmal von einer physischen auf eine              angepasste und zielgruppenspezifische Ver­
digitale Durchführung gewechselt, da Mimik und                 mittlung von Infor­mationen und Angeboten zur
Gefühlslage in Videotreffen besser sichtbar sind.              Gesundheitsförderung ist im Krisenfall wichti-
                                                               ger denn je.
Grenzen: Viele Personen konnten, insbesondere im
Lockdown der ersten Welle, trotz aller Bemühungen              Lernerfahrung Kontakt halten –
nicht erreicht werden. Die Akteure berichten, dass             Zielgruppe Migrationsbevölkerung
die sogenannt schwer erreichbaren Zielgruppen in               «In der Arbeit mit sozial benachteiligten Fami-
der Pandemie noch schwerer zu erreichen sind als               lien und älteren Menschen hat sich gezeigt,
sonst. Zudem wurden die Angebote der Gesund-                   wie wichtig verständliche, mehrsprachige Infor­
heitsförderung in allen Altersklassen vor allem                mationen für die Bewältigung einer Krisen­
durch Personen genutzt, zu denen bereits vorgängig             situation sind. Erfolgreiche digitale Kommunika-
Kontakte bestanden. Es war im ersten Pandemie-                 tion folgt den Gewohnheiten und Möglichkeiten
jahr viel schwieriger als in normalen Zeiten, neue             der Zielgruppe. Der Zugang zu den Familien über
Kontakte zu weiteren Personen der Zielgruppen zu               Videotelefonie oder Messenger-Apps funktio-
knüpfen. Fachpersonen sowie Multiplikatorinnen und             nierte im Lockdown sehr gut. Denn viele Multi­
Multiplikatoren kamen durch die intensivierte Kon-             pli­katorinnen und Gesprächsteilnehmende
taktarbeit nach der Lockerung der Massnahmen                   kannten diese Kommunikationsmittel bereits
aufgrund des grossen Arbeitsvolumens manchmal                  von ihrem Kontakt mit Familienmitgliedern
an ihre physischen und psychischen Grenzen.                    in den Herkunftsländern.»
                                                               Isabel Uehlinger, Geschäftsführerin Femmes-Tische Schweiz5
Wichtige Lernerfahrungen:
• Nur schon den Kontakt aufrechtzuerhalten, ist
  in diesem Kontext bereits eine wertvolle Inter-            Lernfeld 4: Auf Organisationsebene sich
  vention.                                                   laufend an Entwicklungen anpassen
• Eine wirksame Informationsvermittlung in Krisen-
  zeiten baut auf Vertrauen, welches idealerweise            Herausforderungen: Die Akteure mussten sich in
  bereits vor einem Lockdown über eine längere               den verschiedenen Phasen der Pandemie immer
  Zeit aufgebaut und gefestigt wurde. Persönliche            wieder neu aufstellen und Angebote und Arbeits-
  Kontakte und eine beziehungsgeleitete Infor­               weisen laufend an den jeweiligen Kontext anpassen.
  mationsvermittlung schaffen in Zeiten einer Pan-           Die eingangs aufgezeigten Auswirkungen auf die
  demie einen Vertrauenszuwachs bei den ­Ziel­-              Projekte führten zu massiven Einschränkungen,
  gruppen.                                                   Verzögerungen und teils auch Sistierungen. Dazu
• Beratungen konnten nach einer gewissen Anlauf-             kam, dass den Akteuren in den Bereichen Dienst-
  zeit und mit Umstellungen vielfach zielgruppen-            leistung und Beratung vor allem in der ersten Welle
  gerecht wieder angeboten werden, was von den               die Klientinnen und Klienten wegbrachen. Dies führ-
  Zielgruppen mit grosser Dankbarkeit aufgenom-              te teils zu erheblichen Einnahmeneinbussen und
  men wurde. Niederschwellige Be­ratungsange-                einem deutlichen Mehraufwand für das Projektma-
  bote brauchen etablierte, wenn möglich schlanke            nagement. Eine verlässliche Planung ist im Kontext
  Strukturen, damit sie in Krisen­zeiten funktio­            einer Pandemie kaum noch möglich. Die Pandemie
  nieren. Viele Akteure berichten, dass Anfragen             bedroht etablierte Angebote, die auf eine physische
  für Beratungen (telefonisch, online, physisch)             Durchführung angewiesen sind, sowie die entspre-
  seit Beginn der Pandemie zugenommen haben.                 chenden Vereine.
• In der Pandemie hat sich die Arbeit mit beste­
  henden Multiplikatorinnen- und Multiplikatoren-
  Netzwerken für den Zugang zu schwer erreich­

5 In Anlehnung an den Bericht von a:primo und Femmes-/Männer-Tische, 2020 (Moors, Meile & Uehlinger 2020).
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021 11

 Gefundene Lösungsansätze: Die Herausforderun-                   Wichtige Lernerfahrungen:
 gen wurden vielerorts durch hohes persönliches                  • Der Aufwand für Projektmanagement, Koordi­
 Engagement und Mehrarbeit aufgefangen, sowohl                     nation und Kommunikation steigt in Zeiten der
 von Fachpersonen als auch von Akteuren der Zivil-                 Pan­demie auf allen Ebenen um ein Vielfaches.
 gesellschaft (z. B. Multiplikatorinnen, Multiplikato-           • Digitale Austausch­foren, Tagungen und Vernet-
 ren und Freiwillige). Es wurde teils auch Fachexper-              zungsanlässe erleichtern Akteuren die Teilnahme
 tise eingekauft, um gewisse Lösungen zu realisieren.              und führen durch den Wegfall von Reisezeiten
 Die Verantwortlichen begannen, vermehrt in Sze­                   zu Effizienzgewinnen. Vernetzung unter den Ak-
 narien zu planen, um Unsicherheiten aufzufangen                   teuren hat sich als wichtige Ressource für die
 und mögliche Entwicklungen zu antizipieren. Wegen                 Arbeit in Pandemie­zeiten herausgestellt.
 der Absage von Angeboten konnten Zeitressourcen                 • Schlüsselpersonen sowie Multiplikatorinnen und
 nutzbringend umgenutzt werden (z. B. um Penden-                   Multiplikatoren brauchen nebst den nötigen
 zen abzuarbeiten, für konzeptionelle Arbeiten oder                Kompetenzen vor allem viel Unterstützung. Sie
 um Evaluationen zu planen). So konnten rasch neue                 müssen von den Angebotsverantwortlichen
 Kommunikationsprodukte erstellt werden, wie zum                   nahe begleitet werden, um die Angebotsqualität
 Beispiel Videos, Websites oder Flyer. Wie bereits im              auch in Krisenzeiten zu wahren.
 Kapitel 2.1 erwähnt, zeigten geldgebende Instanzen              • Die kantonalen Aktionsprogramme, die Projekt-
 oft Verständnis bezüglich der erschwerten Ziel­                   verantwortlichen und die Anbieterorganisationen
 erreichung von Projekten. Flexibel und gemeinsam                  erhalten durch ihr Engagement in der Pandemie
 wurde nach Lösungen gesucht.                                      vermehrte Sichtbarkeit und Anerkennung – bei
                                                                   den Zielgruppen, den Behörden und anderen Ent-
 Grenzen: Vielfach fehlte es den Verantwortlichen an               scheidungstragenden.
 den nötigen projektungebundenen respektive zu-
 sätzlichen finanziellen und personellen Ressour-                   Lernerfahrung Anpassung auf Organisations-
 cen, um rasch auf den Anpassungsbedarf reagieren                   ebene – Zielgruppe betreuende Angehörige
 zu können. Krankheitsbedingte Ausfälle in den                      «In den Kantonen Ob- und Nidwalden arbeiten
 Teams und Quarantäneauflagen schränkten die                        verschiedene Alters-, Sozial- und Pflegeorga­
 Möglichkeiten der Anbietenden zusätzlich ein. Wich-                nisationen seit längerem im Themenbereich
 tige Akteure für die Gesundheitsförderung, wie zum                 ­betreuende und pflegende Angehörige zusam-
 Beispiel kantonale und kommunale Behörden oder                      men. Während der Pandemie, in der sich die
 Hausärztinnen und -ärzte, waren insbesondere in                     ­Situation der Angehörigen teils dramatisch zu-
 der ersten Welle stark mit dem Krisenmanagement                      spitzte, konnten wir von den vorbestehenden
 absorbiert und standen über längere Zeit nicht wie                   ­Kooperationsbeziehungen profitieren. Wir haben
 geplant für projektbezogene Kooperationen zur Ver-                    komplementär, ressourceneffizient und wir-
 fügung. Aus den Kontaktbeschränkungen und dem                         kungsvoll im Sinne einer ganzheitlichen Unter-
 geforderten raschen Handeln resultierten erhebli-                     stützung und Förderung der Gesundheit von
 che Abstriche bei dem für Gesundheitsförderung                    ­Betroffenen gearbeitet.»
 so wichtigen Prinzip der Partizipation, sowohl auf                Brigitta Stocker, Geschäftsleiterin Pro Senectute Nidwalden6
 Ebene der Zielgruppen als auch der zivilgesell-
 schaftlichen Akteure. Viele Angebote konnten, zu-
 mindest über längere Zeit, keine Lösung finden, um
 die Partizipation der Zielgruppen in der angestreb-
 ten Art zu ermöglichen.

 6 In Anlehnung an einen Artikel in der Nidwaldner Zeitung vom 20. April 2021.
12 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021

3	Wichtigkeit der Gesundheits­
   förderung im Kontext
   der Corona-Pandemie
Die Erfahrungen in der Corona-Pandemie zeigen,               gungsverhalten liegen wissenschaftliche Studien zu
dass die Gesundheitsförderung in Krisensituationen           positiven Effekten vor, welche im Kontext der Pan-
tendenziell an Bedeutung gewinnt (Fassbind & We-             demie von Relevanz sind. Körperliche Inaktivität er-
ber 2020, Lutz et al. 2021, Van den Broucke 2020). Im        höht nachgewiesenermassen das Risiko für schwere
Zuge der Pandemie wurden die Überschneidungen                Verläufe bei einer Covid-19-Erkrankung (Sallis et al.
zwischen Krisenkonzepten, Krisenbewältigung und              2021). Andere Studien belegen den positiven ­Effekt
den zentralen Grundpfeilern der Gesundheitsförde-            von regelmässiger körperlicher Aktivität auf das
rung immer deutlicher (Scharinger 2020).                     Immunsystem und auf die Wirkung von Impfungen
Die Akteure können in ihrer Arbeit auf etablierte            (Chastin et al. 2021).
Ansätze der Gesundheitsförderung zurückgreifen
­                                                            Die Kommunikationskanäle der Gesundheitsförde-
und die Bevölkerung dabei unterstützen, die Pande-           rung konnten zudem auch für die Corona-Präven­
mie und ihre Folgen zu bewältigen und gesund zu              tion genutzt werden. Erfahrungen aus der Praxis
bleiben. In kritischen Lebenssituationen sind die            zeigen, dass es sich bewährt hat, Botschaften zur
psychischen Ressourcen der Menschen entschei-                Corona-Prävention mit solchen zur Förderung der
dend im Umgang mit Unsicherheit, Ängsten und                 Gesundheit zu ergänzen. Denn positive Botschaften
­Einschränkungen. Es ist ein Kernanliegen der Ge-            zur Stärkung von Wohlbefinden und Gesundheit
 sundheitsförderung, diese Ressourcen zu stärken,            können beängstigende Botschaften im Kontext der
 beispielsweise über die Förderung von Selbstwirk-           Pandemie abfedern, Kontrollüberzeugungen stär-
 samkeit, Resilienz oder Lebenskompetenzen. Auch             ken und der sogenannten «Covid-Fatigue» entge­
 die Förderung der sozialen Teilhabe und Unterstüt-          gen­wirken. Anstatt passiv auszuharren, kann die
 zung stärkt verletzliche Personen und wirkt als             Bevölker­ung mit Unterstützung der Gesund­    heits­
 Schutzfaktor für die psychische Gesundheit in Kri-          förderung den Lebensalltag in Zeiten der Pandemie
 senzeiten.                                                  proaktiv gestalten. Ihre psychische Widerstands-
 Die Gesundheitsförderung befasst sich zudem mit             kraft kann so gestärkt werden.
 Verhaltensweisen (insbesondere Bewegung und Er-             So erstaunt es nicht, dass fast 80 Prozent von
 nährung), die wesentlich zur Prävention von nicht-          115 Akteuren, die an einer Studie von Unisanté teil-
 übertragbaren Krankheiten (NCD) beitragen und               genommen haben, die Corona-Pandemie auch als
 den Verlauf von NCDs günstig beeinflussen können.           eine Opportunität für die Gesundheitsförderung und
 Letztere gelten bekanntlich bei einer Corona-Infek-         Prävention sehen7.
 tion als Risikofaktoren. Vor allem für das Bewe-

7 Siehe Figure 3, Seite 32 in Lutz et al. (2021).
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021 13

 4	Handlungsbedarf aus Sicht
    der Akteure
 Die Entwicklungen im Kontext der Corona-Pande-                  • Förderung von Resilienz, Selbstwirksamkeit
 mie richten ein Brennglas auf bestehende Lücken                    und sozioemotionalem Lernen in Gruppen;
 und Schwächen in vielen gesellschaftlichen Berei-                 ­Stärkung spezifischer Lebenskompetenzen,
 chen, so auch in der Gesundheitsförderung. Aus den                 beispiels­weise Kommunikationsfähigkeit oder
 vielfältigen Anmerkungen der Akteure und aus der                   Emotionsregulation (vor allem bei der Ziel-
 ausgewerteten Literatur ergibt sich ein deutliches                 gruppe der [Klein-]Kinder und Jugendlichen
 Bild zu den Themenbereichen und Zielgruppen, wel-                  sowie deren Eltern – speziell psychisch belastete
 che durch die Pandemie an Bedeutung gewonnen                       Eltern und sozial benachteiligte Familien);
 haben. Ihnen sollte künftig aus Sicht der Akteure               • interprofessionelle Zusammenarbeit und Beitrag
 vermehrtes Augenmerk geschenkt werden. Es                          zur Früherkennung von psychisch belasteten
 zeichnet sich auch ab, wie sich die Arbeitsweisen                  oder gefährdeten Personen; Bekanntmachung
 in der Gesundheitsförderung nachhaltig verändern                   und je nach Dringlichkeit Zuführung zu nieder-
 könnten 8 .                                                        schwelligen Angeboten oder qualifizierter Bera-
                                                                    tung und Behandlung, inkl. Suizid- und Gewalt-
                                                                    prävention (vor allem für Jugendliche, vulnerable
 4.1 Themenbereiche                                                 Familien und sozial isolierte Personen aller
                                                                    Alters­klassen);
 Bewegung, Ernährung und psychische Gesundheit                   • Arbeit an verschiedenen Themen, die Einfluss auf
 beeinflussen sich gegenseitig. Während der Pan­                    die psychische Gesundheit haben, wie zum Bei-
 demie und in Zukunft sollte an allen bisherigen                    spiel: Solidarität, Generationensolidarität und
 Schwerpunktthemen der Gesundheitsförderung                         differenzierte Altersbilder, Förderung der An-
 weitergearbeitet werden, um sowohl chronischen                     nahme von Unterstützung, vertrauensbildende
 nichtübertragbaren Krankheiten als auch Infek­                     positive Kommunikation, Umgang mit Ängsten,
 tionskrankheiten vorzubeugen und um das Wohl­                      Schlaf, Berührung sowie die Themen Lebens­
 befinden und die psychische Gesundheit der Be­                     ende und gesundheitliche Vorausplanung (ACP).
 völkerung zu stärken. Der positive Effekt von
 regelmässiger Bewegung und ausgewogener Er-
 nährung im Kontext der Corona-Pandemie wurde                    4.2 Zielgruppen und Settings
 im Kapitel 3 ausgeführt. Sie bleiben auch künftig
 wichtige Schwerpunktthemen.                                     Die bisherigen Hauptzielgruppen der kantonalen
 Die Akteure betonen in diesem Kontext jedoch, dass              Aktionsprogramme – Kinder, Jugendliche und ältere
 der breite Themenbereich der Förderung der psy-                 Menschen – behalten ihre Relevanz auch in Zukunft.
 chischen Gesundheit und sozialen Teilhabe für alle              Die Pandemie rückt dabei gewisse Untergruppen
 Zielgruppen eine höhere Priorität erhalten sollte. In           stärker in den Fokus. Vor allem die Zielgruppe der
 diesen Bereich gehören wichtige Aspekte, wie zum                Jugendlichen, die sozial isolierten Menschen so-
 Beispiel:                                                       wie sozial benachteiligte Personen aller Alters-
 • Massnahmen gegen die Einsamkeit (vor allem                    klassen rücken verstärkt ins Zentrum der Aufmerk-
   für die Zielgruppen der Jugendlichen und der                  samkeit. Ebenfalls sollen aus der Sicht der Akteure
   ­älteren, insbesondere hochaltrigen, Menschen);               Bezugspersonen, wie Eltern, Lehrpersonen oder

 8 Die Analyse zum Handlungsbedarf aus Sicht der Akteure stützt sich auf die verschiedenen Austauschforen der
    ­Stakeholder und diverse Publikationen, insbesondere Lutz et al. (2021) und Van den Broucke (2020). Die hier aufgezeigten
     Punkte entsprechen nicht zwingend ­Schlussfolgerungen von Gesundheitsförderung Schweiz.
14 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021

betreuende und pflegende Angehörige, zu denen                    tenzen der Zielgruppen zu stärken und besonders
auch die Young Carers gehören, vermehrt als Ziel-                darauf zu achten, dass Personen mit geringen
gruppe der Gesundheitsförderung berücksichtigt                   digitalen Kompetenzen nicht «abgehängt» werden.
werden.                                                          Viele Akteure wünschen sich im Kontext der
Schulen haben in der Pandemie mit kreativen An-                  ­digitalen Transformation mehr Know-how und
sätzen auf die neue Situation reagiert und gehören                eine Stärkung ihrer Kompetenzen.
weiterhin zu den prioritären Settings der Gesund-            • Förderung der Chancengleichheit: Unabhängig
heitsförderung. Das Setting der Arbeitswelt hat                 von der Staatsangehörigkeit nahm die Anzahl
sich durch die Pandemie stark verändert. Arbeits-               ­Todesfälle im «Corona-Jahr» 2020 bei den Män-
orte, -zeiten und -formen werden neu gedacht. Die                nern stärker zu als bei den Frauen (in der Schwei-
betriebliche Gesundheitsförderung wird sich diesen               zer Bevölkerung +13,7 Prozent bei den Männern
Veränderungen anpassen und sich zur Förderung                    und +9,3 Prozent bei den Frauen). Diesen Gender-
«gesunder Arbeitsplätze» vermehrt auch dem Set-                  Gap stellte man auch in der ausländischen Be­
ting Homeoffice widmen müssen. Die Vernetzung                    völkerung fest, bei welcher im Vergleich mit der
zwischen verschiedenen Settings, wie zum Beispiel                Schweizer Bevölkerung ein fast doppelt so
Familien/Eltern, Kindertagesstätten, Schulen und                 hoher Anstieg der Todesfälle zu verzeichnen ist
Arbeitswelt/Unternehmen, sollte stärker gefördert                (+22,8 Prozent bei den Männern und +20,4 Pro-
werden. Dezentrale, kleinräumliche Settings, wie                 zent bei den Frauen) (Bundesamt für Statistik
die Kommunen oder Quartiere, gewinnen durch die                  2021). Aus diesem Grund und wegen der sich ab-
Pandemie als Interventionsorte für die Gesundheits-              zeichnenden sozialen Pandemiefolgen sollte
förderung ebenfalls weiter an Bedeutung (Scharin-                die Chancengleichheit von den Akteuren der Ge-
ger 2020). Durch die Corona-Pandemie wurden zu-                  sundheitsförderung noch stärker und systema­
dem das eigene Zuhause und die Social Media                      tischer als bisher auf zwei Ebenen gefördert wer-
wichtige Begegnungs- und Interaktionsorte für die                den (Marmot et al. 2020, Kessler & Guggenbühl
Gesundheitsförderung. Es stellt sich die Frage, wel-             2021). Primär ist die gesundheitliche Chancenun-
chen Stellenwert sie als mögliche Settings nach                  gerechtigkeit strukturell bedingt. Wie im nächs-
dem Ende der Pandemie behalten werden.                           ten Punkt weiter ausgeführt, braucht es deshalb
                                                                 vermehrt Massnahmen auf der Verhältnisebene
                                                                 bzw. zu den sozialen Gesundheitsdeterminanten.
4.3 Arbeitsweisen                                                Aus Sicht der Akteure braucht es zudem auf der
                                                                 individuellen Ebene mehr Mittel für Angebote, die
Bei den Arbeitsweisen möchten die Akteure einige                 gezielt vulnerable, isolierte und sozial benach­
der neu entwickelten Ansätze (z. B. digitale Angebo-             teiligte Menschen erreichen. Die Arbeit mit Multi-
te oder von den Gruppen­angeboten abgeleitete neue               plikatorinnen, Multiplikatoren und Peers sollte
Kleinformate) künftig in Ergänzung mit den gewohn-               inten­siviert werden. Zudem wird von der Autoren-
ten Ansätzen nutzbringend kombinieren. Auch bei                schaft in den ausgewerteten Fachartikeln ge­
den Arbeitsweisen kristallisiert sich durch die Krise          fordert, die Ak­teure der Gesundheitsförderung
heraus, wo Handlungsbedarf besteht. Dazu gehören               sollten sich künftig noch stärker für die Förde-
insbesondere die folgenden ­A spekte:                          rung der Gesundheitskompetenzen aller, und
• Digitale Lösungen und Kompetenzen: Der durch                 ­insbesondere verletzlicher Bevölkerungsgruppen,
  die Pandemie ausgelöste starke Digitalisierungs-              einsetzen. Die Gesundheitskompetenz stellt
  schub wird von vielen als Chance gesehen. Es                  in Krisenzeiten eine zentrale Kompetenz für das
  wurden neue digitale Kommunikations- und Be-                  Verständnis von Informationen und Empfehlun-
  gegnungswelten geschaffen. In Zukunft wird                    gen dar. Sie erlaubt auch, die Vertrauenswürdig-
  mit einem stärkeren Mix von physischen und digi-              keit von Informationsquellen besser einzuschät-
  talen Angeboten gerechnet. Gleichzeitig wird                  zen (De Gani et al. 2021).
  auch auf die mit der Digitalisierung verbundenen
  Risiken verwiesen. Es gilt, die digitalen Kompe-
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021 15

 • Über interprofessionelle und multisektorielle               • Austausch und Koordination auf allen Ebenen
   Zusammenarbeit gemeinsam an den sozialen                      weiter stärken: Zusammenarbeit und Austausch
   Gesundheitsdeterminanten ansetzen: Die Pande-                 stehen bekanntlich am Anfang vieler Lösungen.
   mie hat den Mehrwert der interprofessionellen                 Themen- und arbeitsweisenübergreifend besteht
   Zusammenarbeit für die Bewältigung von gesund-                ein besonderes Bedürfnis der Akteure darin,
   heitlichen Problemen auf Bevölkerungsebene                    den im Verlauf der Pandemie intensivierten Aus-
   klar aufgezeigt. Insbesondere gilt es, künftig ver-           tausch und die Koordination auf allen Ebenen
   mehrt an den Schnittstellen zwischen Gesund-                  weiter zu stärken. Einige Akteure betonen, dass
   heits- und Sozialwesen zu arbeiten, um die Folgen             es wichtig sei, sich in Vernetzungsanlässen nicht
   der Pandemie auf sozial benachteiligte Personen               nur über Erfolge und Lernerfahrungen, son-
   gemeinsam abzufedern. Die Gesundheitsförde-                   dern auch über Fehler und Misserfolge auszutau-
   rung sollte sich zudem aus Sicht von Fachperso-               schen. So kann auch in der Gesundheitsförde-
   nen stärker als bisher für den multisektoriellen              rung eine «Fehlerkultur» gefördert werden.
   Ansatz im Sinne von «Gesundheit in allen Politik-
   feldern» (Health in all Policies)9 einsetzen (siehe
   Scharinger 2020, Saam 2021, Levin-Zamir et al.
   2021).

 9 Siehe z. B. https://www.gesundheit.gv.at/gesundheitsleistungen/gesundheitsfoerderung/hiap.
16   Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021

5 Fazit und Empfehlungen
Die Pandemie hat die Arbeitsweisen in der Gesund-              «Mit Genugtuung können wir feststellen, dass
heitsförderung stark verändert. Die Planungsunsi-              ein grosser Teil unserer geplanten Projekte 2020
cherheit stellt bis heute für die Akteure eine grosse          ­stattfinden konnte. Dies nicht zuletzt dank dem
Herausforderung dar.                                            ­enormen Engagement der Kantone und ­unserer
Nach einer Anpassungsphase in der ersten Welle ist               ­weiteren ­Partner. So ist es auch gelungen, innerhalb
es vielfach gelungen, ein an den Kontext angepass-                kurzer Zeit neue, Covid-19-­spezifische Mass-
tes Angebot aufrechtzuerhalten und die verschie­               nahmen zur Gesundheitsförderung zu lancieren.»
denen Zielgruppen zu erreichen. Dazu beigetragen               Thomas Mattig, Direktor der Stiftung Gesundheits­förderung
haben erhebliche Anpassungen der Angebote und                  Schweiz (Gesundheitsförderung Schweiz 2021)

Vorgehensweisen, Lernerfahrungen im Umgang mit
den verordneten Massnahmen sowie die zunehmen-                 Im ersten Halbjahr 2021, als diese Analyse erarbei-
de Durchimpfung der älteren Bevölkerung. Das fö-               tet wurde, machte sich Hoffnung breit, dass die Pan-
deralistische System erlaubt rasches Handeln und               demie noch im laufenden Jahr durch den Übergang
eine grosse Diversität der Ansätze, abgestützt auf             in eine endemische Phase an Brisanz verlieren
den lokalen Bedarf und die jeweils zur Verfügung               könnte. Zum Zeitpunkt der Publikation im Spätsom-
stehenden Ressourcen (Lutz et al. 2021). Die strate-           mer 2021 haben sich die Hoffnungen auf ein baldiges
gische Einbettung und die Umsetzung der Angebote               Ende zerschlagen. Die weitere Entwicklung der Pan-
zur Gesundheitsförderung erfolgen in Abhängigkeit              demie bleibt ungewiss. Es stellt sich nun die Frage,
des Machbaren und im Kontext der regionalen epi-               was von dem, was in der Pandemie erarbeitet und
demiologischen Lage kantonal sehr unterschiedlich              gelernt wurde, auch weiterhin und über das Ende
(Fassbind & Weber 2020).                                       der Krise hinaus Bestand haben dürfte.
                                                               Aus Sicht vieler Akteure ist «nach Corona» nicht ein-
«Wir haben gelernt, zwischen Dringlichkeit und                 fach ein Weiterfahren wie «vor Corona» möglich.
Langfristigkeit zu jonglieren.»                                Die Akteure und viele Autorinnen und Autoren in den
«Unsere Diskussion zeigte, dass es im Moment                   ausgewerteten Publikationen sind sich einig: Um
keine ausweglosen Probleme gibt. Alle haben ein                die Folgen der Pandemie auf die verletzlichen Per-
paar ‹Baustellen›, aber auch schon viele erfolg­               sonengruppen abzufedern, braucht es die Gesund-
versprechende ­Lösungen.»                                      heitsförderung heute mehr denn je.
Zwei Stimmen an Austauschforen von Gesundheits­förderung       Aus der Vielzahl von Empfehlungen, die sich aus die-
Schweiz mit den Akteuren10                                     ser Analyse ableiten liessen, hebt die Autorin dieses
                                                               Arbeitspapiers abschliessend vier Empfehlungen11
Anpassungsfähigkeit, Kreativität und Flexibilität,             hervor, die sich sowohl auf den Einschätzungen der
eine gute Koordination und Vernetzung sowie das                involvierten Akteure als auch auf die Schlussfolge-
Lernen voneinander stellten sich in der Krise als              rungen in internationalen Publikationen abstützen
zentrale Erfolgsfaktoren für die Arbeit in der Ge-             (Van den Broucke 2020, Levin-Zamir et al. 2021,
sundheitsförderung heraus.                                     Krech 2020). Die Empfehlungen richten sich an die
                                                               Verantwortlichen der Gesundheitsförderung auf den
                                                               verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichen
                                                               Organisationen und Institutionen.

10 Austausch zwischen Gesundheitsförderung Schweiz und den KAPs 10/2020; Workshop an der nationalen
    ­Gesundheitsförderungs-Konferenz 1/2021.
11 Die Empfehlungen der Autorin entsprechen nicht zwingend der Sicht von Gesundheitsförderung Schweiz.
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsförderung: Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven, Stand 2021 17

 I.	Bewährtes aus der Pandemie in den                         Akteure für das Krisenmanagement befähigen: Die
     Regelbetrieb transferieren                                Akteure brauchen die dafür nötigen Kompetenzen
                                                               und sollten von Vorgesetzten und Geldgebenden
 Das Potenzial der Digitalisierung für die Gesund-             Unterstützung beim Aufbau krisenbezogener Me-
 heitsförderung nutzen: Bezogen auf den wichti-                chanismen erhalten.
 gen Aspekt der Digitalisierung wird empfohlen, ihr            Finanzierung für rasches Handeln in Krisen bereit-
 Potenzial für die Gesundheitsförderung zu nutzen,             stellen: Um in Krisen rascher und niederschwelli-
 es aber nicht zu überschätzen. Digitale Angebote              ger zusätzliche Mittel zu erhalten, sollten – neben
 sollten in der Regel zielgruppengerecht mit bezie-            der Finanzierung durch die öffentliche Hand – neue
 hungsgeleiteten Angeboten kombiniert werden.                  Finanzierungsmechanismen und -quellen identifi-
 Über Gesundheitsförderung zur Prävention von                  ziert oder geschaffen werden.
 chronischen und übertragbaren Krankheiten bei-
 tragen: An die Frage, was aus den Zeiten der Pande-
 mie mitgenommen werden kann, knüpft auch die                  III.	Die Gesundheitsförderung vermehrt
 Empfehlung an, den Bezug der Gesundheitsförde-                      im Kontinuum der Aufgaben des Gesund-
 rung sowohl zu den chronischen Krankheiten (NCD)                    heitssystems denken
 als auch vermehrt zu den übertragbaren Krank­
 heiten zu schaffen. Für beide Bereiche braucht es             Fliessende Übergänge zwischen «gesund» und
 geeignete Massnahmen auf der Verhaltens- und der              «krank» in den Ansätzen berücksichtigen: Die
 Verhältnisebene (Van den Broucke 2020).                        ­Corona-Pandemie zeigt eindrücklich, wie aus bisher
 Vertrauenszuwachs für die künftige Arbeit nutzen:               gesunden Menschen in kurzer Zeit Menschen mit
 Das Engagement und die Leistungen der Akteure                   Long Covid und chronischen Krankheiten werden
 der Gesundheitsförderung während der Pandemie                   können. Insbesondere bei der Zielgruppe der älte-
 haben zu einem Vertrauenszuwachs geführt, so-                 ren Menschen waren die Übergänge von Gesundheit
 wohl auf der Ebene der Zielgruppen als auch auf               zu chronischen Krankheiten und Multimorbidität
 der Ebene von Behörden und Stiftungen. Auf die-                 mit zunehmendem Alter schon immer eine Gege-
 sem Vertrauen lässt sich aufbauen, um die Gesund-             benheit im Lebensverlauf. Gleichzeitig waren Risiko­
 heitsförderung in der Schweiz gestärkt in die post-           faktoren, wie zum Beispiel Adipositas, an welchen
 pandemische Ära zu führen.                                    die Gesundheitsförderung seit jeher ansetzt, oft
                                                               ausschlaggebend für einen schweren Verlauf einer
                                                               Covid-19-Erkrankung.
 II.	Die Gesundheitsförderung als Akteurs­                    An den Schnittstellen personenzentriert zusam-
       gruppe im Krisenmanagement stärker                      menarbeiten: Die Pandemie sollte Anlass geben,
      ­positionieren                                           vermehrt an den Schnittstellen zwischen Gesund-
                                                               heitsförderung, Prävention, Gesundheitsversorgung
 Anschlussfähige Krisenkonzepte entwickeln: Die                und Rehabilitation personenzentriert und bedarfs-
 Akteure der Gesundheitsförderung haben sich in                orientiert zusammenzuarbeiten, um sowohl die
 Zeiten der Corona-Pandemie als wichtige Partner               ­Gesundheitskompetenzen und das Gesundheitsver-
 der öffentlichen Gesundheit bewährt. Viele der ge-             halten der Menschen als auch die Selbstmanage-
 machten Erfahrungen werden sich auf zukünftige                 mentkompetenzen von bereits erkrankten Men-
 Krisen übertragen lassen. Um bei einer nächsten                schen zukünftig ganzheitlicher zu fördern.
 Pandemie besser vorbereitet zu sein, sollten grös-             Chancengleichheit über multisektorielle und inter-
 sere Organisationen und Institutionen, welche in               professionelle Zusammenarbeit fördern: Im Kapi-
 der Gesundheitsförderung tätig sind, Strategien und             tel 4 wird der dringende Handlungsbedarf für eine
 Konzepte entwickeln, die an übergeordnete Krisen­               bessere gesundheitliche Chancengleichheit weiter
 konzepte anschlussfähig sind (siehe z. B. Scharinger            ausgeführt. Der dort erwähnte multisektorielle und
 2020).                                                          interprofessionelle Ansatz sollte nicht nur auf der
                                                                 individuellen, sondern auch vermehrt auf der Ebene
                                                                 der sozialen Gesundheitsdeterminanten ansetzen.
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