Fasten für das Leben - Kreuzzug für den Frieden

 
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1

                                 Initiative Sozialistisches Forum
               Fasten für das Leben – Kreuzzug für den Frieden
                        Die Mobilmachung des christlichen Terrorismus

                                Aus: Initiative Sozialistisches Forum
                 Frieden – je näher man hinschaut desto fremder schaut es zurück.
                           Zur Kritik einer deutschen Friedensbewegung,
                             Freiburg (ça ira – Verlag 1984), S. 53 – 72

                                     I. Bei Einbruch der Nacht

Am 6. August 1983 begannen 13 Menschen in Paris, Oakland, Toronto und Bonn ein „unbefriste-
tes Fasten für das Leben“. Ihre Forderungen waren: Keine Stationierung von Pershing-II-Raketen
und Cruise Missiles in Europa im Zuge der „NATO-Nachrüstung“, Abbau der sowjetischen SS-
20-Raketen und Einstellung aller Atomwaffenversuche durch die Nuklearmächte.1 Dies sollte ein
erster Schritt sein auf dem Weg zu vollständigen Abrüstung in Ost und West, um sowohl die
atomaren wie auch die konventionellen Waffen endgültig zu vernichten. Darüber hinaus sollte das
öffentliche Fasten auf den Zusammenhang zwischen dem Hunger in der Dritten Welt und der
Hochrüstung der Weltmächte hingewiesen werden. Initiiert wurde diese Strategie des weltweiten
Fastens gegen die atomare Rüstung von der US-amerikanischen Friedensgruppe „First Step“.
Charles Gray, einer der Initiatoren, schrieb 1979 zu den Zielen der Gruppe: „Die Kampagne 'Ein
erster Schritt' ist ein Versuch, durch die gewaltfreie und dramatische Methode des Fastens den
gegenwärtigen Lauf der Dinge wirksam umzudrehen.“2
          Die Fastenden gingen davon aus, daß der Menschheit nicht' mehr allzu viel Zeit bleibe,
den „atomaren Holocaust“ abzuwenden; in absehbarer Zeit rechneten sie mit dem nuklearen
Schlagabtausch der beiden Supermächte. Zudem gebiete schon der alltäglich erzwungene
Hungertod von Tausenden ein rasches Handeln, um „die unmittelbarsten und massivsten Aktionen
durchzuführen, zu welchen er oder sie sich selbst in der Lage sieht.“3 „Was wir wissen, ist, daß wir
unter der Bedrohung eines atomaren Holocaust leben. Die Vorbereitungen für diesen Holocaust,
seien sie konventioneller oder atomarer Art, verurteilen Tausende zum Hungertode, Tag für Tag.
Wir leben angesichts eines doppelten Verbrechens, eines monströsen Verbrechens, eines Verbre-
chens, das gestoppt werden muß, um die Hungernden, ja das Leben zu retten.“4
          So riesig, unvorstellbar und in nächster Zukunft unabwendbar die Katastrophe einerseits
von den Fastenden ausgemalt wird, so überzeugt sind sie andererseits von dem raschen Erfolg ih-
rer Aktion. Die „Vorschläge“, wie sie ihre Forderungen nannten, die sie den Regierenden un-
terbreiteten. hielten sie für so „minimal“, daß es nur eine Frage der Zeit wäre, bis die Politiker dar-
auf eingehen würden. „Ich habe keinen Grund, Selbstmord zu begehen. Ich habe Wichtigeres zu
tun, habe eine Familie und bin sehr glücklich in meinem Leben. Wenn ich nicht mehr als eine
Hoffnung hätte, ja fast eine Sicherheit, hätte ich das nicht unternommen. ... Aber ich gehe davon
aus, daß unsere Forderung minimal ist“ (Solange Fernex im Gespräch mit SZ und BZ). Sie gingen
davon aus, daß die Herrschenden genauso Opfer dieses „Systems“ sind und es ihnen daher nur an
der richtigen Einsicht fehle, um „schnell und entschieden aktiv zu werden, mit dem Ziel des Stops
des atomaren Wettrüstens.“5 Wie einfach es sich die Fastenden vorstellten, erstens Massen von
Menschen zum Fasten bewegen zu können und zweitens darüber die Großmächte zu veranlassen,
ihre Nuklearstreitmächte aufzulösen, wird offensichtlich in der „Vision“ eines „Nonviolent Deve-
lopment Project“, die Charles Gray 1980 entwarf: „1980 nimmt der bürgerliche Ungehorsam
gegen die Rüstungsanlagen zu. Im Frühjahr 1981 könnte ein weltweites Fasten für den Frieden
stattfinden. Am Tag von Hiroshima, am 6. August 1982, soll ein großes ’Die in’ in den Atom-
waffenfabriken der USA stattfinden. Einige Monate später folgt ein zweiter Appell mit einem
weltweiten Fasten von 100.000 Personen. Eintägige Warnstreiks in London, Australien, den USA,
Polen und der UdSSR unterstützen die Vorschläge. Am Hiroshima-Tag 1983 beginnt das 'Fasten
für das Leben'. Bei den Feierlichkeiten wird verkündet, daß 200 Personen unbegrenzt fasten
werden. Zusätzlich fasten 50.000 Menschen bis zum Nagasaki-Tag, dem 9. August. Zur Unter-

1
  Rundbrief der Unterstützergruppen, Nr. 2 „Fasten für das Leben“, Hrsg. Gerd Büntzly, Lannerstr. 35, 6501
Ober-Olm; s. auch Badische Zeitung vom 4.8.1983, „Hungerstreik gegen das Atom-Wettrüsten: Für das
Leben sterben?“, „Die Zeit“ vom 16.9.1983, „Langsam sich selbst verbrennen“, „Zeit“-Dossier S. 17
2
  „Die Zeit“ Nr. 38 vom 16.9.1983, „Zeit-Dossier“ S. 18
3
  Aus dem Aufruf „Wir hungern nach Abrüstung – Fasten für das Leben“, zit. n. Thilo Weichert, Organisator
der Freiburger Unterstützergruppe, in: Stadtzeitung für Freiburg, Nr. 82, 17.6.-1.7.83, S. 12, „Hungern bis
zum Tod“
4
  Aus der Flugschrift „Wir hungern nach Abrüstung“ – Fasten für das Leben, Ankündigung eines Fastens,
New York, 18.6.1982 von Solange Fernex, Dorothy Granada und Charles Gray
5
  Aus dem Aufruf „Wir hungern nach Abrüstung“, Stadtzeitung für Freiburg, Nr. 82, S. 12
2

stützung fasten zwei Millionen Menschen einen Tag. Am 21. August gibt die Sowjetunion be-
kannt, daß sie die Vorschläge annehmen werde. Der Druck der Öffentlichkeit auf die immer noch
unbeugsamen Regierungen ist ungeheuer. Am 9. September, 35 Tage nach Beginn des Fastens, ge-
ben die Regierungen von China, Frankreich und den USA bekannt, daß sie die Vorschläge
annehmen. Die Wucht des Rüstungswettlaufs ist gebrochen. Drei Jahre später bringt eine ähnliche
Kampagne mit noch größerer öffentlicher Unterstützung die Regierungen dazu, die Kern-
waffenarsenale abzubauen. Am 27. Dezember 1989 werden die drei letzten Atomsprengköpfe der
Welt vernichtet.“6
          Was sich hier wie ein modernes Märchen liest, ist nichts anderes als nur ein Aufguß des
alten bürgerlichen Aberglaubens, an den bürgerlichen Idealen könne man das Handeln der Poli-
tiker messen und diese gegenüber dem bürgerlichen Staat auch einklagen. Der bürgerliche Staat
könne den Mitgliedern der bürgerlichen Klasse dabei nicht die gleiche Mißachtung entgegen-
bringen wie den namenlosen Opfern in aller Welt, da die Herrschenden „Menschen sind und
menschlich reagieren“, die ihr Handeln letztlich auch aus moralischen Grundsätzen ableiteten. Die
unbekümmerten Allmachtsphantasien bezüglich der Wirkung und Ausstrahlungskraft ihrer Aktion,
die gekoppelt sind mit einem geradezu kindlichen Urvertrauen in die Grandiosität ihrer eigenen
Person, legen zudem die Vermutung nahe, bei den Fastenden handle es sich um Menschen, die
sich allen Ernstes für Nachfolger Jesus Christus halten, was z.B. Andrea Elukovich in einem In-
terview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ auch unverblümt aussprach. Auf die Frage, ob das „un-
befristete Fasten für das Leben“ ein christlich motivierter Opfergang sei, antwortete sie: „Ja, es
gibt viele Ähnlichkeiten zu Christus. Wenn Menschen entschlossen sind, können sie den Strom
umlenken. Wir wollen nicht sterben, aber wir haben keine Angst vor dem Tod.“7
          Die Fastenden reihen sich so zwanglos ein in die Unmenge von religiösen Heilsver-
kündern, die bei jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit ihre untrüglichen Rezepte zur Weltver-
besserung unter die Leute bringen wollen. Wie beispielsweise die Hare-Krishna-Sekte meint, alles
Elend dieser Welt würde schlagartig von uns genommen wie ein schlechter Traum, wenn es nur
gelänge, alle Menschen zum gleichzeitigen Lallen des „Hare, Hare, Krishna, Krishna“ zu bewegen
– so meinen die Fastenden, es genüge, „wenn die einzelnen Menschen dieses Planeten – und sei es
auch nur für einen Moment – ihr Gewissen sprechen lassen“8 und Friede wäre auf Erden.
          Die gute Absicht wird hier bereits als die eigentliche Wirkung verstanden und dies hat
eine lange christliche Tradition. Martin Luther hat 1520 in seinem „Sermon von den guten Wer-
ken“ das Rezept ausgeplaudert, nach dem hier gekocht wird. Es gebe, sagt er, ein untrügliches
Mittel, festzustellen, wann einer Gutes tut und wann nicht: „Denn findet er sein Herz in der Zuver-
sicht, daß es dem Frieden gefällt, so ist das Werk gut, wenn es auch so gering wäre wie das Auf-
heben eines Strohhalms. Ist diese Zuversicht nicht da, so ist das Werk nicht gut, wenn es auch alle
Toten auf erweckte.“ Die gute Absicht, auf Erden bereits himmlische Zustände einzuführen, zeich-
net sich nun erfahrungsgemäß dadurch aus, daß sie bereit ist, über Leichen zu gehen, wenn sie tät-
lich wird. Weder sich noch andere haben fromme Christen je geschont, wenn es darum ging, die
Seele zu retten, indem man den lebendigen Leib auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Die Gewiß-
heit, sein Handeln nicht etwa aus niedrigen Beweggründen, sondern vielmehr aus selbstlosem
Idealismus abzuleiten, dem von vornherein die Absolution erteilt wird, um dafür um so hem-
mungsloser an den kleineren und größeren Verbrechen des christlichen Abendlandes teil-
zunehmen, ist die solide Grundlage für das pathologisch gute Gewissen unserer Christen bis auf
den heutigen Tag.
          Im minder schweren Fall der symbolischen Aktion besteht der Effekt vor allem in der
Genugtuung über die eigene Opferbereitschaft. Diese selbstgerechte Genugtuung darüber, was für
ein guter Mensch man im Grunde doch ist,, wird den Kindern in der Kirche schon frühzeitig beige-
bracht, wenn sie in den Wochen vor Ostern auf Süßigkeiten verzichten und dafür an die hungern-
den Kinder in Indien denken sollen. Nachdem dies in der letzten Zeit aus der Mode gekommen
war und auch die Spende für „Brot für die Welt“ die Gemüter nicht mehr richtig erwärmen wollte,
sorgten nicht zuletzt die Fastenden mit ihrem unverschämten Gesinnungsexhibitionismus dafür,
daß heute die Institutionen für jenseitige Glückseligkeit und geistige Askese wieder ungeniert zu
härten Drogen greifen können, wenn es gilt, Betroffenheit mit Caritas aufs glücklichste zu
vereinen, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen und im übrigen weitermachen zu können wie
bisher. So ruft etwa das Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau sowie eine
ganze Reihe weiterer christlicher Organisationen für die Passionszeit 1984 zu einer Fastenaktion
„Hungern nach Frieden und Gerechtigkeit“ auf. Gebet, Meditation und Besinnung auf das Wort
Gottes sollen helfen, „auch die eigene innere Friedlosigkeit zu erkennen und zu überwinden.“ Zu-
gleich soll mit der Aktion nach Zusammenhängen gefragt und überlegt werden, inwieweit gesell-

6
  „Die Zeit“ Nr. 38 vom 16.9.1983, S. 18
7
  Ebd., S. 19
8
  „Offener Brief an René, Partnerin während eines 10jährigen gemeinsamen Lebens oder „was ich glaube“
von Jacky Guyon, Oyonnax, 17.3.83, hrsgg. von der Überregionalen Koordinationsgruppe, c/o Gerd Büntzly,
s.o
3

schaftliche Strukturen und internationale Wirtschaftsbeziehungen diese Probleme verursachen.9
          Die Aktion und die Begründungen der Fastenden weisen wie keine andere Strömung in-
nerhalb der Friedensbewegung auf diesen eigentlichen Grund für das friedenspolitische Engage-
ment des Bürgers hin: Den kommenden globalen, sozialen und politischen Umwälzungen, die ihn
in seiner Existenz als Bürger bedrohen, will er prophylaktisch durch die Veränderung des Status
quo zuvorkommen, um so letztendlich doch alles beim alten belassen zu können. Dies ist der fröh-
liche Wertkonservativismus der Friedensbewegten, den Rudolf Bahro so formulierte: „Es muß
alles radikal umgewälzt werden, wenn wir wollen, daß alles so bleibt, wie es ist.“

                            II. Das nachbürgerliche Heldenepos –
                       ein Hauch von John Wayne und Don Quichotte

                        „Aber freilich ... diese Zeit, welche das Bild der Sache, die Kopie dem Original, die
                        Vorstellung der Wirklichkeit, den Schein dem Wesen vorzieht ...; heilig ist ihr nur
                        die Illusion, profan aber die Wahrheit. Ja die Heiligkeit steigt in ihren Augen in
                        demselben Mäße, als die Wahrheit ab- und die Illusion zunimmt, so daß der höchste
                        Grad der Illusion für sie auch der höchste Grad der Heiligkeit ist.“
                                    Feuerbach, „Das Wesen des Christentums“, Vorrede zur zweiten Auflage

In den Begründungen der Fastenden für ihre Aktion beweisen die Akteure ihren Mut zur Triviali-
tät. Wie gnädig sind doch Gefühl und Härte bei wildgewordenen Untertanen verteilt, die abseits
der Friedensbewegung über den notorischen Übermut der Ämter sich bis zur Weißglut ereifern
können, wenn nicht gerade eine Polizeistreife um die Ecke biegt. Die Fastenden setzen mit ihrer
Aktion dafür ein Mahnmal. Mit dem endgültigen Abschied von der Vernunft ist für sie die Bahn
frei, endlich offen eingestehen zu können, daß man die Welt nicht mehr versteht und eben diese
entwaffnende Ehrlichkeit ungeniert als Brechstange einzusetzen versucht. In ihrem Bewußtsein er-
scheint das ganze gesellschaftliche Leben als einzige Ansammlung von Spektakeln, in der die
Welt in eine bildliche Vorstellung verschwindet. Gesellschaftliche Verhältnisse gibt es für die
Fastenden nicht, sie kennen nur Menschen, die entweder „gut“ oder „böse“ sind und deren
Handeln aus diesem moralischen Kontext zu erklären ist.
          „Wir antworten auf die Bombe als stärkster Ausdrucksform von Gewalt mit dem Fasten,
was Gandhi die höchste Form der Gewaltfreiheit nannte. ... Für Gläubige ist das Fasten ein Weg zu
Gott, für diejenigen, die durch moralische und ethische Prinzipien bewegt sind, ist das Fasten eine
sehr tiefsinnige Art, ihre Überzeugungen auszusprechen. Gandhi und sehr viele andere in der Ge-
schichte haben die bösen Institutionen bekämpft, indem sie ihr Leben zum Fasten preisgaben. Wir
haben die Absicht, das Gleiche zu tun... Unbefristete Fasten, die Leben aufs Spiel setzen, können
Beschlüsse beschleunigen, Hindernisse aus dem Weg schaffen und eine Wende herbeiführen.“10
          Daß solche Worte gerade auf den christlichen Teil der Friedensbewegung einen enormen
Eindruck machten, ist nicht verwunderlich, entsprechen sie doch dem christlichen Aberglauben,
mit dem Phantasma der universalen Feindesliebe gegen die Gewalt antreten zu können. Dem „Bö-
sen“, das in der Bombe am deutlichsten „versinnbildlicht“ ist, wird die Gewaltfreiheit im Su-
perlativ entgegengesetzt. Aus einer gesellschaftlichen Machtfrage wird eine Frage moralischer In-
tegrität, der Gegner soll nicht etwa besiegt, sondern vielmehr überzeugt werden. Da das Gewalt-
verhältnis dieser Gesellschaft nicht in den Blickwinkel der Kritik gerät, meint Gewaltfreiheit hier
nichts anderes als die kastrierende Verschmelzung von Opposition mit den Zwangsgeboten der
Staatsraison. Wie Gewerbefreiheit nicht etwa die Befreiung vom Gewerbe bedeutet, so meint diese
zur handlichen Vokabel geschrumpfte Ideologie nichts anderes als die Freiheit zur Gewalt - eine
Gewalt, die gegen sich selbst gerichtet ist. Die Fastenaktion brachte politisch den objektiven Sinn
gewaltfreien Handelns zum Ausdruck, der in dieser bewußtlosen Floskel steckt: Der Staatsbürger
droht ernsthaft mit dem Selbstmord, internalisiert die Gewalt als Beweis seiner unbedingten
Loyalität zum Staat und als Angebot, der Staat möge am freiwilligen Leiden seiner Patrioten doch
einsehen, wie sehr er den eigentlichen Staatszweck, nämlich gerechte Herrschaft, verfehlt und nur
daher sich ins Unrecht setzt. (Dies ist übrigens der authentische Gehalt der politischen Philosophie
Mahatma Gandhis, mit der wir uns an anderer Stelle in diesem Buch auseinandersetzen.)
          Mit der Begründung, ein Engagement gegen das Bestehende erfordere „den ganzen Men-
schen; alles, Geist und Körper, Kopf und Kragen“11; oder mit den Worten Charles Grays: „Ich füh-
le mich gezwungen zu fasten, gezwungen durch meinen Glauben, daß wir auf eine Art und Weise
handeln müssen, die dem Übel, dem wir gegenüberstehen, angemessen ist. Dieses Übel ist so
riesig, daß wir unser ganzes Selbst darbieten müssen, um es zu stoppen“12, wurde das öffentlich

9
  „Pflasterstrand“, Stadtzeitung für Frankfurt, Nr. 178, 25.2.-9.3.84, S. 10
10
   Aus der Flugschrift „Wir hungern nach Abrüstung“, a.a.O. 11, in Stadtzeitung für Freiburg, Nr. 82, S. 12
11
   Stadtzeitung für Freiburg, Nr. 82, S. 12
12
   „Warum ich faste“, persönliche Begründung von Charles Gray, hrsgg. von der Überregionalen Koordina-
4

zur Schau gestellte Leiden zum Hauptbestandteil der Fastenaktion und als eigentliches Mittel des
Widerstandes ausgegeben. Im politischen Widerstand gehen wir sicherlich immer Risiken ein und
es bleibt auch nicht aus, daß wir unter Repressionen verschiedenster Art zu leiden haben. Nur ist
dieses Leid eine Begleiterscheinung, ein von uns nicht gewünschtes Übel, das wir einzuschränken
oder zu vermeiden suchen. Der erzwungenen Vergewaltigung der Menschen aus Protest die eigene
Selbstvergewaltigung entgegenzusetzen, bedeutet letztlich nur die individuelle Vorwegnahme des
gesellschaftlich ohnehin längst Organisierten: Im Tod macht der Bürger hier freiwillig ernst mit
seiner Verstaatlichung und schwört dem lästigen Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft, der dem
Staat die Pflege des Gemeinwohls so erschwert, folgenreich ab. Für die Erniedrigten und Beleidig-
ten beinhaltet das Fasten keine Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben vor dem Tode. Denn hier
wird die absolute Negation aller menschlichen Bedürfnisse, die individuelle Wunschlosigkeit, die
unangreifbar machen soll, als der entscheidende Hebel zur Veränderung der Welt propagiert und
nicht etwa das radikale Einklagen des vorenthaltenen menschlichen Glücks als einzig möglichem
Ausgangspunkt für die längst überfällige Transformation der Gesellschaft – soll sie eine von Men-
schen gemachte und gewollte sein, mit humanem Antlitz und es in ihren Resultaten auch bleiben.
Eine Grundvoraussetzung dafür kann aber nicht die individuelle, also die Ungleichheit der Men-
schen bestätigende, sondern nur die kollektive Form des Widerstands, die systematische Zweck-
entfremdung aller Dinge auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens sein.
          „Das Leben“, für das diese gewaltfreien Akteure sterben wollten, bleibt nicht umsonst in
ihren Ausführungen so abstrakt und leblos. Es definiert sich ausschließlich über den Tod, und dies
noch in einer Art und Weise, die fatal an solche Western-Filme erinnert, in denen der zuerst ver-
kannte, weil feige Held zum Showdown sich von seiner Frau verabschiedet, die jetzt wieder zu
ihm als Mann aufblicken kann. Wer sein politisches Handeln mit solchen trivialen Klischees zu
begründen versucht, für den sind die Bilder zu wirklichen Wesen geworden. Über die Tragik der
Bilderhelden, die ihm als echte erscheint, ist er mehr gerührt als über die wirkliche Tragik der
Menschen, die er als bloßes Bild anschaut.
„Ich fühle mich gezwungen (zu fasten, d.V.) durch das Bild des verhungernden Kindes, durch das
Bild des atomaren Holocaust, durch das Bild der Flüchtlinge von El Salvador und Beirut, durch
die Bilder der hungrigen und heimatlosen Menschen in Washington D.C. und New York.“13
„Man muß sich bewußt machen, daß es in der gewaltfreien Aktion 'Momente gibt, in denen man
nur sterben kann, mit oder ohne Gewehr', Augenblicke, in denen 'es nur eines zu tun gibt: die
Wahrheit sagen, ein Gebet sprechen und sterben“.14
„Wenn mir etwas zustößt: Du bist Krankenschwesternschülerin, du kannst alle Wertsachen ver-
kaufen, um dein drittes Studienjahr beenden zu können. Ich lasse dich lieber allein mit der Erinne-
rung an einen Mann, der seinen Weg ohne Schwäche geht, als dich zu belasten mit der körperli-
chen Anwesenheit eines unterwürfigen Mannes ohne kritisches Bewußtsein und ohne Rücksicht
auf seine ehrliche Überzeugung.“15
So wie diese eigenartigen Gewaltfreien im Zweifelsfall keine Rücksicht auf sich selbst nehmen
wollen, so rücksichtslos sind sie gegenüber den Wünschen und Bedürfnissen der konkreten Men-
schen. Sie sind so gebannt vom vielfältig schillernden Tod, zumal von dem großartigen, den sie
selbst bereit waren in Kauf zu nehmen, daß sie darüber die kleinen unscheinbaren Leben der
Vielen verachten müssen. Wieviel mehr wiegt doch ihr individueller Einsatz gegenüber dem von
Millionen! So werden gerade diejenigen von den Fastenden deklassiert, die sie mit ihrer Aktion
eigentlich erreichen sollen. Die „Märtyrer“, die schließlich das ganze Leid der Welt auf ihren
Schultern tragen16 und angetreten sind, um durch ihr noch größeres, da freiwilliges Leiden, das
Leid der Welt abzuschaffen, können auch nur „das riesige Übel“ allüberall entdecken. Den
Widerstand der Unterdrückten in aller Welt können diese selbsternannten Erlöser nur am Rande
wahrnehmen und er bedeutet ihnen wenig; viel weniger jedenfalls als ihre heroische Pose der
eigenen Selbstaufopferung.
„... es gibt Zeiten, in denen wir unser Leben riskieren müssen, um das Leben der Gemeinschaft zu
retten. Dies ist eine dieser Zeiten. ... Durch unseren Tod handeln wir wahrscheinlich über-
zeugender, als wir es jemals in unserem Leben getan haben. Im Tod werden wir und andere
vielleicht das Leben gewinnen für unsere wertvolle menschliche Gemeinschaft und für eine Zu-
kunft dieser Welt“.17

tionsgruppe, c/o Gerd Büntzly, s.o.
13
   Ebd.
14
   „Was das Fasten für das Leben betrifft“ von Andre Lariviere, Québec/Kanada, hrsgg. von der Überregio-
nalen Koordinationsgruppe, a.a.O.
15
   Offener Brief an René..., a.a.O.
16
   „Warum ich faste“, Charles Gray, a.a.O.
17
   „Warum wir unser Leben riskieren“ von Charles Gray, hrsgg. von der Überregionalen Koordinations-
gruppe, a.a.O.
5

„Na ja, wenn Millionen auf die Straße gehen, dann ändert das natürlich nichts an dem System.
Wenn ich aber aussteige aus diesem System, um es zu bekämpfen und die Folgen dafür zu tragen,
so ändert sich dadurch einiges.“18
„Diese Schrecken müssen enden. Bei dem Versuch, diese Schrecken zu beenden, werde ich, ge-
meinsam mit anderen, mein Leben in die Waagschale werfen. ... Wenn wir scheitern, scheitert
alles.“19
Dieser narzißtische Größenwahn, diese eitle Genugtuung über die eigene gute Absicht und diese
großmäulige Prahlerei mit der eigenen Opferbereitschaft – all das verdeckt, wer denn nun die
wirklich Leidenden sind. Das stumme, alltägliche Krepieren unter dem Zwang der Verhältnisse ist
für die Fastenden ein minderwertiges Leiden; es disqualifiziert die Opfer moralisch, weil es so ge-
wöhnlich, so würdelos und alles andere als Ausdruck einer inneren, moralischen Haltung ist. Nur
das von den Fastenden inszenierte, öffentlich ausgestellte Leiden ist wahres Leid, weil es Aus-
druck von „moralischen und ethischen Prinzipien“ ist; es ist außergewöhnlich, sie könnten es ja
auch bleiben lassen. Klar, wo Millionen hungern, fallen ein paar mehr – freiwillige oder unfreiwil-
lige – Hungerleider überhaupt nicht auf. Welcher objektive Zynismus, welcher Hohn spricht aus
solchen „gut gemeinten“ Worten:
„Die Aktionsteilnehmer kennen das Übel, von dem sie reden: Solange kennt Tahiti, wo die franzö-
sischen Atombombentests stattfinden; Charles Gray kennt die Ghettos in New York und Washing-
ton, wo Menschen ohne Wohnung und Nahrung vegetieren; Dorothy Granada kennt das Elend, die
Todesschwadronen und die Staatsgewalt in Mittelamerika – aus eigener Anschauung. Hat der
Mensch den Tod oft genug gesehen, so ist er eher bereit, für die Wahrheit über diesen Tod selbst
zu sterben.“20
Oder sind Solange Fernex, Charles Gray und Dorothy Granada die einzigen, die Tahiti, die
Ghettos von New York, die Todesschwadronen und die Staatsgewalt in Mittelamerika „aus
eigener Anschauung“ kennen? Haben die dort lebenden Menschen den Tod noch nicht „oft genug
gesehen“? Sie mögen aus allen möglichen Gründen sterben, aus einem Grunde sicher nicht: „für
die Wahrheit über diesen alltäglichen Tod“! Einen solchen Grund kann sich nämlich nur jemand
leisten, der unter der beschriebenen Gewalt nicht zu leiden hat. Durch die Verdrehung der
Wirklichkeit und durch die damit verbundene Unterstützung des allgemeinen Vergessens über die
eigentlichen Gründe von Not und Elend richtet sich das Fasten letztlich gegen die Unterdrückten
dieser Welt. Aber das Leid anderer benutzen die Fastenden sowieso nur zur Illustration ihrer
eigenen Aktion. Wie verantwortlich sie mit ihren Äußerungen in der Öffentlichkeit umgingen,
zeigen solche lockeren Sprüche, wie zur Frage des eigenen, möglichen Todes:
„Wenn wir dann sterben, ist das denn so fürchterlich angesichts der 50 Millionen Leute, die jähr-
lich sterben?“21
Jo Jordan legte drei Wochen später noch einen Zahn zu: „Es sterben doch jeden Tag Millionen, die
wir nicht kennen, es steht sowieso die ganze Menschheit auf dem Spiel.“22
Das ist ein Denken, das mit Menschenleben kalkuliert, wie die Bilanzbuchhaltung eines Betriebes,
in dem alles in Verlust- und Gewinnspalten ausgerechnet wird. So glaubt beispielsweise Solange
Fernex nicht, daß
„dieser Tod (die Selbstverbrennung von Hartmut Gründler beim SPD-Parteitag in Hamburg 1979,
(d. V.) sehr viele Leute entmutig hat, im Gegenteil, ich kenne eine Menge Leute, vor allem aus den
Kreisen der SPD, denen dieses Zeugnis Kraft gegeben hat, aus der SPD auszutreten und sich bei
den Grünen und in direkten Aktionen zu engagieren.“23
Na also: Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Die Demokratie muß ab und zu in Blut gebadet
werden. Deutschland wird leben, auch wenn wir sterben müssen. Betrachtet man ihr politisches
Handeln, dann erweisen sich die Fastenden als bürgerliche Politiker, die ihr dauerndes Gerede zur
eigentlichen Handlung ummodeln, also symbolische Politik betreiben. In der Übersteigerung, im
Ultimatismus ihrer Forderungen, verbunden mit ihren selbstmörderischen Omnipotenzgefühlen,
sind sie der christliche Flügel des Terrorismus:

18
   „Ich habe keinen Grund, Selbstmord zu begehen“, Gespräch mit Solange Fernex am Rande einer Veran-
staltung der „VHS Wyhler Wald“ in Sasbach am 4.7.1983 zum Thema „Fasten für das Leben“, zit. nach
„Stadtzeitung für Freiburg“, Nr. 84, S. 9
19
   „Warum ich faste“, Charles Gray, a.a.O.
20
   „Hungern bis zum Tod“, Vorstellung der Aktion „Fasten für das Leben“ durch die Freiburger Unter-
stützergruppe, zit. nach Stadtzeitung für Freiburg, Nr. 82, S. 13
21
   „Ich habe keinen Grund, Selbstmord zu begehen“, a.a.O., S. 9
22
   „Für den Frieden: Fasten bis zum Tod“, aus „Vorwärts“ Nr. 31/83 vom 28.7.1983, S. 7
23
   „Ich habe keinen Grund...“, a.a.O., S. 9. Da kann man dann hochrechnen, wieviele Selbstverbrennungen
noch nötig sind, bis die GRÜNEN im Parlament die absolute Mehrheit haben!
6

        - Dieselbe heroische Pose des unbestechlichen Einzelkämpfers, der als einziger bereit ist,
sein Leben zu opfern für die subalternen, im System verhafteten Massen, die ohne die Erziehung
einer Avantgarde nicht wissen können, was sie wollen und was sie tun sollen.
- Dieselbe Geringschätzung der Selbsttätigkeit und autonomen Lernfähigkeit der Vielen und der
Resultate ihrer Kämpfe.
- Dieselbe wahnhafte Überbewertung der eigenen Person und der Sinnhaftigkeit der eigenen
Existenz, die ihre Taten zum alles entscheidenden Kampf hochjubelt.
- Dieselben damit eng verknüpften Machtphantasien bezüglich ihrer Wirkung und realen Möglich-
keiten der Einflußnahme auf gesellschaftliche Prozesse;
und über allem und vor allen Dingen: Diese rigide Moral, die, aus dem bürgerlichen Humanismus
kommend, die menschliche Geschichte als von Menschen gemachte verneint; diese Moral, die
quasi ewig über den Menschen die Peitsche schwingt, an deren Elle sie sich messen lassen müssen
und an der sie – solange sie noch Menschen sind und keine Engel – notwendig scheitern; diese
menschenverachtende Moral, die das Opfer und den Verzicht predigt, die die Welt in gut und böse
aufteilt, in Huren und Heilige, die die Herrschaft von Menschen über Menschen legitimiert und die
Erziehungsdiktatur der Hohen Priester als geheimes Ideal hat. Dem „Leben an sich“ das Leben der
konkreten Menschen zu opfern, entspricht der Moral der Herrschenden.

                                   III. Glücklich ist, wer vergißt...

                        „Da, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden die bloßen
                        Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypno-
                        tischen Verhaltens“
                                                          Guy Debord, „Die Gesellschaft des Spektakels“

Die Aktion sollte auf doppelte Weise wirken; in erster Linie als Appell an die Herrschenden, dem
„Wahnsinn des Rüstungswettlaufs“ ein Ende zu setzen. Die unterwürfige Bittstellerhaltung, mit
der die Fastenden an die Herrschenden appellieren, zeigt, daß aus dem freien Bürger ein devoter
Untertan geworden ist, der sich seine gesellschaftlich längst organisierte Überflüssigkeit insge-
heim eingesteht.
„Dieses Risiko (des Sterbens, d. V.) bringt sogar mit sich, daß das unbefristete Fasten einen
starken moralischen Druck auf unsere Beschützer (gemeint sind die Regierenden, d.V.) ausübt.
Das ist eine Art, ihnen zu sagen: „Ihr habt den Vorteil., unser Leben buchstäblich in der Hand zu
haben. ... Seht, hier ist unser Leben. Wir legten es schon jetzt in Eure Hand. Entschuldigt, daß wir
Euch ein bißchen auf die Nerven gehen mit unserem Leben, aber es ist da, und wir sind davon
überzeugt, daß ihr anders und besser handeln könnt.“24
Die Formulierungen des Unterstützerkreises machen deutlich, welche Auswirkungen dieses insge-
heime Wissen über die eigene gesellschaftliche Ohnmacht auf ihre geistige Verfassung hat:
„Die neun gehen genauso wie ich davon aus, daß selbst Thatcher, Reagan, Andropow, Mitterand
und Kohl Menschen sind und menschlich reagieren. Es stimmt, daß sie täglich mit Toten rechnen
wie Kinder in der Vorschule mit Bauklötzchen. Ihre Verdrängung ist beinahe perfekt -beinahe,
und hier will die Aktion ansetzen.“25
„Das Fasten stellt eine wirksame Bedrohung für das Gewissen des Gegners dar.“26
Man kann sich gar nicht entscheiden, was eigentlich eine angemessene Reaktion auf ein solches
„Bewußtsein“ sein könnte. Im ersten Moment ist man versucht, über diese aller Erfahrung Hohn
sprechende, weltfremde Naivität zu lachen. Das Lachen bleibt einem aber im Halse stecken, wenn
man sich vergegenwärtigt, daß aus solchen Worten die nackte, körperlich spürbare Ehrlichkeit
spricht und sonst gar nichts; so dumm kann sich keiner stellen, es sei denn, er wäre es wirklich.
Angesichts des daraus resultierenden unbekümmerten Wahns, dem, mit einer totalen Amnesie als
solider Grundlage, das Absurdeste als das Realistischste erscheint, beschleicht einen das Grauen'
über diesen Ausverkauf bürgerlicher Vernunft.
           Was hat bürgerliche Politik mit dem Gewissen der sie vollziehenden Charaktermasken zu
tun? Es hat Margret Thatcher keine einzige, von ihrem Gewissen gepeinigte, schlaflose Nacht be-
reitet, als die Männer der IRA im Gefängnis von „Long Kesh“ den qualvollen Hungertod starben,
und von der britischen Bevölkerung wurde die „eiserne Lady“ u.a. für ihr hartes „Nein“ gegenüber
24
   ) „Was das Fasten für das Leben betrifft“, a.a.O.
25
   „Tod und Widerstand“, Thilo Weichert in. Stadtzeitung für Freiburg, Nr. 84, S. 14
26
   „Hungern bis zum Tod“, a.a.O., S. 13
7

den Forderungen der IRA-Aktivisten mit einem glänzenden Wahlsieg belohnt; wie übrigens auch
für den vom Zaun gebrochenen Krieg um die Malvinen-Inseln.
          Wo bleibt die Erinnerung an die industrielle Menschenvernichtung im Faschismus in
diesem unserem Lande und das Wissen, daß es eben nicht die Bestialität einzelner Wahnsinniger
(oder friedensdeutsch: „Fehlgeleiteter“) war, die es ermöglichte? Wo bleibt die Erinnerung an all
das unfaßbare Leid, das sich Menschen in der Geschichte antaten, ohne je von ihrem Gewissen
oder ihrer Reue geplagt zu werden? So wenig die Gewissenlosigkeit Reagans, Andropows, Mitte-
rands, Kohls, Thatchers am Elend der Welt schuldig ist, so wenig kann ihre Reue und Einsicht
dieses Elend beseitigen.
          Einen Anschlag auf das gute Gewissen der Herrschenden für ein wirksames Mittel zu hal-
ten, um politisch etwas erreichen zu können, zeigt, daß die Fastenden in ihrem Politikverständnis
zurückgekehrt sind zur Fürstenberatung im aufgeklärten Absolutismus. Daß es einen Unterschied
zwischen Tyrannen und Repräsentanten gibt, hat sich bis zu den Fastenden und ihren Unter-
stützern anscheinend noch nicht herumgesprochen.
„Der Fastende zeigt durch die Aktion, daß er von einem Unrechtszustand so sehr betroffen ist, daß
er bereit ist, größtes Leiden auf sich zu nehmen. Dadurch wird derjenige, der das Unrecht ausübt,
wegen dem gefastet wird, unter Druck gesetzt. Er sieht sich gezwungen, sich mit dem Fasten und
so auch mit dem Konflikt auseinanderzusetzen. Für beides ist er verantwortlich. Nur sind ihm die
Folgen seines ungerechten Verhaltens weniger sinnfällig, wie die Folgen des Fastens, dessen Ende
er durch sein Einlenken in der Hand hat.“27
Hier sind die Herrschenden wieder zu autonom handelnden Subjekten mit Gewissen und persönli-
cher Verantwortung geworden. Die Unterstellung, bei den Herrschenden handle es sich um „Ge-
strauchelte“, die ihr „ungerechtes Verhalten“ ändern würden, wenn sie nur eine „sinnliche Erfah-
rung“ machen könnten, was sie mit ihrem Handeln so alles anrichten, führt logisch zu dem Schluß,
es bedürfe nur einer speziellen Sensibilisierungstherapie und schon würden sie sich bessern. Der
mutwillig herbeigeführte drohende Hungertod wird dabei als die Therapieform für „gefallene Poli-
tiker“ verstanden, damit diese aus Rührung über soviel freiwillige Leidensbereitschaft sich auch
vom erzwungenen Hungertod von Millionen betroffen fühlen.
         Wenn an die Stelle der Politik die Psychologie tritt, werden gesellschaftliche Ausein-
andersetzungen zur Gruppendynamik uminterpretiert. Unter diesen Umständen ist auch klar, daß
es den Fastenden nicht etwa um die Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen
geht, sondern um die Etablierung einer gerechteren Herrschaft. Die triste Wirklichkeit sieht auch
hier anders aus, als es unsere Präsidenten-Therapeuten gerne hätten. Die Regierenden lassen sich
in ihren Reaktionen auf Appelle, und seien sie noch so ernsthaft vorgetragen, immer von
taktischen und nicht von moralischen Gesichtspunkten leiten.
         Auf die Einsicht und Moral der Mächtigen zu bauen, ihnen das Gesetz des Handelns zu
überlassen, heißt letztlich nur, ihnen eine weitere Chance zu geben. Wer im Appell und Dialog mit
den Herrschenden kommuniziert, betreibt ihr Geschäft, weil er ihre Herrschaft anerkennt, die uns
vernichtet.

Das zweite Wirkungsfeld des Fastens sollte sich auf die Friedensbewegung erstrecken; der Appell
der Fastenden war „an jeden Einzelnen“ gerichtet. Durch ihr offen zur Schau gestelltes Leiden,
welches ihre tiefe moralische Betroffenheit über die Ungerechtigkeit dieser Welt ausdrücken
sollte, wollten sie das schlechte Gewissen ihrer Mitbürger mobilisieren, damit diese zur Beruhi-
gung ihres Gewissens sich genötigt sähen, ähnlich wie die Fastenden zu handeln. Nicht die Aus-
beutung der 3. Welt, die Tatsache von „Hunger, Zerstörung und Elend“ sollte der Ausgangspunkt
für das Engagement der 'so Angesprochenen sein, sondern sie sollten aktiv werden, um die neun
Fastenden vor dem drohenden Hungertod zu bewahren. Während die Fastenden dies- eher
verschämt in Formulierungen kleideten wie „Wir laden alle ein, mit uns zu fasten“ oder „Wir
bitten Euch alle, uns zu helfen und mitzumachen“28 –, spricht es der Unterstützerkreis offen aus:
„Die angebliche Unvermeidlichkeit der Ausbeutung der 3. Welt, der militärischen Operationen,
von Hunger, Zerstörung und Elend erlaubt es, diese Probleme zu verdrängen – nichts zu tun. Das
Fasten stellt dagegen jeden vor die Frage, was er eigentlich gegen das verdrängte Unrecht tut,
wieso er nicht selbst Stellung bezieht und aktiv wird. Anders als beim durch das Fasten ange-
prangerten Unrecht wird klar, daß die Folgen des Fastens, der Hungertod, vermeidbar ist. Das
Fasten appelliert an jeden, diese Folge durch eigene Aktionen vermeiden zu helfen.“29
„Ich habe nichts dagegen, daß uns mal in den Hintern getreten wird, daß wir aufgefordert werden,
mal Farbe zu bekennen und tatsächlich was zu tun.“30

27
   Ebd.
28
   „Wir hungern nach Abrüstung“..., a.a.O.
29
   „Hungern bis zum Tod“, a.a.O., S. 13
30
   „Tod und Widerstand“, a.a.O., S. 15
8

Die Verhältnisse sind also nicht Tritte genug, man muß das Elend anscheinend erst künstlich
verdoppeln, um es sichtbar zu machen! Die alltägliche Barbarei, die millionenfach erzwungenen
Opfer, die das Kapital weltweit verlangt, sind den Fastenden nicht Herausforderung genug, da sie
zu alltäglich und darum zu banal sind, und daher für die Agitation der Bundesbürger untauglich.
Wenn die Menschen hier bei uns wirklich so verroht sind, wie die Fastenden unterstellen, warum
sollte denn die Reaktion der Bundesbürger auf ihr freiwilliges Hungern eine andere sein als bei
den Verhungernden der 3. Welt? Bestenfalls wird karitatives Mitleid mit den Fastenden erzeugt;
nicht aber Solidarität mit denen, deren Verrecken schon lange keine Zeitungszeile mehr wert ist.
Zwar beteuern die Akteure: „Durch das Fasten identifizieren wir uns mit den Millionen, die durch
den Rüstungswettlauf zum Fasten verurteilt sind“31 –, aber sie haben deshalb nicht an ihrem Leid
teil, weil sie die Wahl haben. Nicht der Hunger für sich ist schlimm, sondern die Ausweglosigkeit
der Hungernden in den herunterentwickelten Ländern.
           Um das vermeintliche Resultat, das ihre Aktion ihrer Meinung nach bewirken wird, auch
ins rechte Licht rücken, dichten die Fastenden der Friedensbewegung eine Stärke an, die glauben
läßt, sie litten an Halluzinationen.
„Die Friedensbewegung ist sehr stark. Wenn man in der Welt herumreist, stellt man fest, daß über-
all in der Welt, in jeder Stadt und an jedem kleinen Ort Leute sitzen, die gegen die Atomrüstung
sind. Und alle denken sie, wir sind zu wenige, wir sind allein. Ich sehe da überall Feuer. Es lodert
überall, es braucht nur einen kleinen Anlaß, daß das alles in die. Luft geht.“32
Sicherlich gibt es eine „allgemeine Betroffenheit“ über die Nachrüstung, doch kann von einer
existentiellen Bedrohung im Bewußtsein der Menschen nicht die Rede sein. Die Alternative: Tod
durch Verhungern oder Tod durch den nuklearen „Holocaust“ ist imaginär und stellt sich für die
Mehrheit der Bundesbürger auch nicht. Der Funke des Hungerstreiks fällt hier nicht in ein Faß
explosiven Bewußtseins und explosiver Unzufriedenheit.33
          Auch im Schatten der Bombe und angesichts Millionen Verhungernder auf der Welt läßt
es sich in diesem Land leben. Da, wo der Hungerstreik nicht Ausdruck von verzweifelter Notwehr
in Todesgefahr ist, und das ist er bei den Fastenden bestenfalls in ihrer Einbildung, sondern als
probates Mittel angesehen wird, um das Interesse der sensationsgierigen Medien zu wecken, gar
als eine unter vielen „phantasievollen“ Aktionen der Friedensbewegung verramscht wird, da ver-
kommt dieses Zeichen äußerster Bedrängnis zur Farce. Indem sich die Fastenden und ihre Unter-
stützer auf dem Altar der bürgerlichen Öffentlichkeit opfern, helfen sie mit, den gesellschaftlich
notwendigen Bedarf an öffentlicher Gefühlsbekundung und sentimentaler Caritas mit abzudecken.
Ansonsten erlitten sie ihr verdientes Schicksal: Nichts ist langweiliger als die Zeitungsmeldung
von gestern!

                                          IV. Show-Down

Am 15. September 1983 wurde die Aktion vorzeitig beendet, ohne daß auch nur ein einziges ihrer
Ziele annähernd erreicht wurde.
          Der Hunger, der jede Woche eine Stadt von der Größenordnung Hiroshimas von der
Landkarte tilgt, geht weltweit weiter und macht Propaganda für das von den Fastenden verfoch-
tene „Prinzip Leben“. Wie der Hunger für die kapitalistische Gesellschaft alles andere als ein
Grund zur Produktion von Lebensmitteln ist, so ist auch der freiwillig in Kauf genommene Tod
kein hinreichendes Mittel, am diesseitigen Leben zu bleiben. Die Fastenden haben erkennen
dürfen, wie wichtig das „Prinzip Leben“ für niemanden, außer für sie selber ist und daraus die
rettende Konsequenz gezogen, es sei des politischen Engagements genug, mit der politischen
Wahnidee nur zu kokettieren, „daß selbst Thatcher, Reagan, Andropow, Mitterand und Kohl Men-
schen sind und menschlich reagieren“, nicht aber, sie bis zum bitteren Ende auch ernst zu nehmen.
Dies ist in gewissem Sinne tröstlich, beweist es doch, daß wir immer noch in einer Vorkriegszeit
leben und die Rekrutierung einer neuen Langemarck-Jugend, die für ihre politischen Ideale begeis-
tert ins Massengrab zieht, noch in den ersten, wenn auch unübersehbaren Anfängen steckt.
          Solange der engagierte Bürger mit seinen politischen Wahnphantasien nur spielt und sie
amüsant genug findet, um damit sein abgestandenes Gefühlsleben aufzumöbeln, bleibt ein Rest
von, wenn auch verschrobener, Vernunft. Einer menschlichen Vernunft allerdings, die sich gegen
das Denken des Bürgers, das nur noch Marotten und Schrullen hervorbringt, mühsam aber rettend
zur Geltung bringt.
31
   „Wir hungern nach Abrüstung“, a.a.O.
32
   „Ich habe keinen Grund...“, a.a.O., S. 8
33
   Solange Fernex vergleicht ihre Fastenaktion mit dem Hungerstreik der bolivianischen Frauen 1977 gegen
die Militärdiktatur Banzer: „Als Beispiel sind die bolivianischen Frauen anzuführen, sie haben zu viert
angefangen... und damit als erstes die Wiedereinstellung von 17.000 Minenarbeitern erzwungen. Im Laufe
der Kämpfe wurden die Gewerkschaften legalisiert, schließlich mußte sich die Armee aus den Minengebieten
zurückziehen und die Regierung zurücktreten.“ In: Stadtzeitung für Freiburg, Nr. 84, S. 9
9

          Die Aktion sei für viele ihrer Teilnehmer „nicht das erste unbefristete Fasten, sie hatten
mit diesen und anderen Aktionen schon viel Spaß“34, meldete der Unterstützerkreis; Spaß am
Überleben, das ohne etwas inszenierte Aufregung fade und farblos bliebe!
          So mündete der wahnwitzige Versuch, das insgeheime Wissen aller um die gesellschaft-
lich längst organisierte Überflüssigkeit eines jeden für die Bedürfnisse des produktiven Apparats
durch seine Veröffentlichung im freiwilligen Hungertod noch als politisches Druckmittel gegen
diesen Apparat einzusetzen, in der Trivialität, die die individuellen Begründungen der Fastenden
schon vermuten ließen: so durfte beispielsweise Didier Manguy, Hungerkünstler aus Paris, endlich
einmal ganz existentiell erfahren, wie wichtig für den Weltlauf nicht nur sein eigenes Überleben,
sondern auch die Fortpflanzung seiner Sippe ist, und entschloß sich, um diese Erfahrung unver-
geßlich zu machen, einen Stammhalter zu zeugen.35
          Da bleibt eigentlich nur noch, einen Baum zu pflanzen und einen Bausparvertrag abzu-
schließen. Damit wäre die Geschichte auch schon zu Ende und wäre bestenfalls noch ein
lohnendes Betätigungsfeld für Ethnologen, die ihre Sammlung menschlicher Irrläufer vervollstän-
digen könnten, wenn nicht dieser ganze Wortbrei, den die Fastenden von sich gaben, seine Reso-
nanz in einer Friedensbewegung gefunden hätte, die fest entschlossen war, alles zu Frieden zu
verhackstücken, was auf den Tisch kam. Ob das nun Zahnbürsten am Halsband waren oder Nägel
in einem Holzbrett, auf dem eine „Friedensspirale“ aufgemalt war oder Silvesterknaller, die eine
Stunde früher als üblich gezündet wurden – nichts war einfältig oder absurd genug, als daß es
nicht als ein „öffentliches Bekenntnis zur Abrüstung“36 angesehen, als „aktiver, gewaltfreier
Widerstand gegen den Rüstungswahn“37 gefeiert wurde.
          In diesem Treibhausklima für verkannte Hobby-Erfinder, therapiesüchtige Sozialfälle und
wildgewordene Oberstudienräte konnte eine Aktion wie die der Fastenden gut gedeihen, ja sich
aufschwingen zur kompromißlosesten und radikalsten Aktion, die mit dem Gütesiegel „Gandhi“
versehen („garantiert gewaltfrei und höchst wirksam“) der Friedensbewegung als äußerstes
Protestmittel einen radikalen Bekenntnisexhibitionismus anbot und einen längst vorhandenen para-
noiden Zug der Bewegung noch verstärkte, der jedwede Form politischer Argumentation im
lautstarken Moralismus des guten Willens ertränkte.
          Der sozialdemokratische „Vorwärts“ vom 15.9.1983 bemerkte zur Fastenaktion richtig,
daß eben „die Regierungen für Realpolitik zuständig sind, und nicht für Moral“ und folgerte dar-
aus, der Wert dieser Aktion liege in der Erziehung der Friedenbewegung, weil sie einmal „nicht in
alberne Schicki-Micki-Aktionen wie Polizistenärgern oder 'Sackhüpfen für den Frieden' abge-
glitten“ sei.

                 V. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's gänzlich ungeniert

Nicht zu kritisieren ist, daß Didier Manguy und seine Mitstreiter am Leben blieben, obwohl es
demonstriert, daß das historisch noch mögliche Maß an subjektiver Vernunft nur in der Pleite jener
Fiktionen aufscheint, mit denen der überlebenswütige Bürger sein Prinzip der Selbsterhaltung um
jeden Preis zum „Prinzip Leben“ aufbläst und zur Grundlage der Politik erheben möchte.
         Kritisiert werden muß aber, daß noch in der Begründung für den Abbruch der Aktion kein
einziges Argument genannt wurde, das nicht ebenso für deren Beginn genutzt werden könnte und
auch benutzt worden ist. Noch im Abbruch der Aktion herrscht deren Wahnprinzip unumstritten,
das humane Erkenntnis nur gegen den erklärten Willen der Subjekte selbst zulassen mag. Die Ar-
gumente, mit der die Freiburger Unterstützergruppe an die Fastenden appellierte, ihre Aktion
abzubrechen, belegen das ganze Ausmaß dieser galoppierenden Gedächtnisschwindsucht, daß mit
dem gleichen Wortbrei, mit dem diese Kamikaze-Aktion begann, auch ein moderater Sozialarbei-
terstandpunkt bezogen werden kann.38
─ Da ist die Rede davon, daß die Aktion den bestmöglichen Erfolg gehabt habe, da sie „Gespräche
zwischen Fastenden und Politikern erzwungen“ hätte. Als ob nicht gerade das Geschäft der Poli-
tiker eben im permanenten Dialog als Mittel zur Legitimationsbeschaffung besteht. Es sich selber
als Erfolg hoch anzurechnen, daß Kohl irgendeinen Ghostwriter zur Feder hat greifen lassen; daß
der Familienminister selbst sich bemühte, um das einzige zu geben, was er im Überfluß hat, näm-
lich Verständnis; daß Vogel und Brandt sich betroffen zeigten über eine Radikalität, die es erspart,
die Neutronenbombe erst noch zu werfen - all dies spricht die Sprache des gleichen Omnipotenz-
gefühls, das schon am Beginn der Aktion stand.
─ Da wird weiterhin im Brustton der Überzeugung behauptet, erst durch das Fasten seien „weite
34
   „Tod und Widerstand“, a.a.O., S. 13
35
   „Wir stehen doch am Abgrund“, aus „Der Spiegel“, Nr. 37 v. 12.9.83, S. 29
36
   Aus dem Prospekt „Die Friedensspirale“, vorgelegt von der „Arbeitsgruppe Stadt“ Freiburg
37
   Ebd.
38
   „Ernster Brückenschlag für die 13 Fastenden“ – Freiburger Unterstützergruppe bittet um Fasten-Abbruch,
Badische Zeitung vom 12.9.83
10

Teile der Bevölkerung auf die Gefahren des Wettrüstens aufmerksam geworden“, und die
Fastenden hätten sogar den sowjetischen Staats- und Parteichef Andropow „zu einem einseitigen
Abrüstungsvorschlag gezwungen.“39
─ Jetzt sollte die Fastenaktion aber abgebrochen werden, da sonst durch den Tod der Fastenden
„große Teile der aktiven Friedensbewegung in die Resignation oder in unüberschaubaren poli-
tischen Aktionismus“ getrieben würden.
Bis hierher bestätigt die Erklärung der Freiburger Unterstützergruppe nur, daß sie mit der Öffent-
lichkeit in der gleichen zynischen Art umspringt, wie wir das von bürgerlichen Politikern längst
gewohnt sind. Im letzten Argument des Appells zum Weiterleben treiben die Unterstützer den Zy-
nismus allerdings auf die Spitze: Man habe bei der Unterstützung des Fastens nicht bedacht, daß
dessen letzte Konsequenz eben der Tod sei und fühle sich daher, „ob zu Recht oder zu Unrecht“,
für die Fastenden verantwortlich. Wo die Fastenden selbst ihre Aktion mit der schönen Be-
gründung abbrachen, „man könne das Hungern körperlich nicht mehr durchhalten“40 –, behaupten
die Unterstützer ernsthaft, genau dies hätten sie anfangs für möglich gehalten und seien nun baß
erstaunt und tief betroffen, daß eine jede Abmagerungskur eine untere Grenze hat.
          Mit einer derartigen Verantwortungslosigkeit gegenüber eigenen öffentlichen Äuße-
rungen und eigenem politischem Handeln kann man bequem zum nächsten Tatort entweichen, um
die nächste Schmierenkomödie „vollherzig“ (Solange Fernex) zu inszenieren.
          So wie die Fastenden die einzigen sein sollten, die ein Recht hätten, ihre Aktion ange-
messen beurteilen zu können41, so sind sie auch die einzigen, die den Erfolg ihrer Aktion richtig
einschätzen können. Eine Kritik, wie die hier vorgetragene, trifft sie schon lange nicht mehr; dies
zeigte sich bereits in ihrem Umgang damit vor Beginn der Aktion. Wo durch Erfahrungen keiner
mehr klug wird, der es auf Erlebnisse abgesehen hat, wird Kritik gegenstandslos. Wo Ansichten
und Meinungen längst zur zweiten Natur, zur geliebten Zwangsjacke geworden sind, gilt ihre
Änderung daher nicht etwa als Beweis individueller Vernunftfähigkeit, sondern als Bankrott des
identitätssüchtigen Selbst. Und man muß nicht erst den Erfolg eines geschäftstüchtigen Seelenver-
käufers wie Baghwan heranziehen, der Therapie gleich als Lebensform vermarktet, um den enor-
men Therapiebedarf der Seele des Kleinbürgers zu bemerken – ein genauer Blick auf die Friedens-
bewegung genügt. Die Aktion „Fasten für das Leben“ war darin lediglich eine Encountergruppe
für Fortgeschrittene, und ihre Attraktivität läßt sich in einem Werbeslogan zusammenfassen: „Ich
mache da mit, weil mir bislang keine andere Therapie geholfen hat.“

39
   Ähnliche Allmachtsphantasien entwickelten die Fastenden ebenfalls: „Fastende fordern 'ersten Schritt’,
Badische Zeitung vom 1.9.1983: „Johanna Jordan führt Andropows Vorschlag (zur Begrenzung der atomaren
Mittelstreckenraketen in Europa, d. V.) auf die Fastenaktion zurück.“
40
   Zit. aus: „die Tageszeitung“ vom 15.9.1983
41
   „Wenn es überhaupt Menschen gibt, die sich bewußt und aus freier Entscheidung in eine große Todes-
gefahr begeben, so sind es Solange und ihre Freunde.“ Stadtzeitung für Freiburg, Nr. 82, S. 13. „Wir sollten
die Entscheidung als deren persönliche Entscheidung akzeptieren und sie nicht bevormunden.“ Stadtzeitung
für Freiburg, Nr. 84, S. 13
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