Avalanche 13 Anarchistische Korrespondenz - Round Robin
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avalanche Anarchistische Korrespondenz 13 April 2018 Nummer deutsch- sprachige VERSION
Uruguay Niederlande Anarquía Roofdruk periodicoanarquia.wordpress.com roofdruk@riseup.net Chile Schweiz Contra toda autoridad Dissonanz (Zürich) contratodaautoridad.wordpress.com dissonanz-a@riseup.net El Anárquico periodicoanarquico.wordpress.com Österreich Sin Banderas Ni Fronteras Revolte (Vienna) sinbanderas.nifronteras@riseup.net revolte.blackblogs.org Cimarrón Schweden revista.cimarron@riseup.net Upprorsbladet (Stockholm) Argentinien upprorsbladet@riseup.net Rebelion (Buenos Aires) Vereinigtes Königreich publicacionrebelion@riseup.net Return Fire Alta tension returnfire@riseup.net boletinaltatension.blogspot.com Kanada Mexiko Montréal Contre-Information Negación mtlcounter-info.org negacion_anarquica@riseup.net USA Italien Plain Words (Bloomington) Tairsìa (Salento) plainwordsbloomington.noblogs.org tairsia@gmail.com Trebitch Times (St Louis) Brecce (Lecce) trebitchtimes.noblogs.org disordine@riseup.net PugetSoundAnarchists (Pacific Northwest) Finimondo pugetsoundanarchists.org finimondo.org Conflict MN (Minnesota) Spanien conflictmn.blackblogs.org Infierno revista_infierno@yahoo.com Frankreich Paris Sous Tension (Paris) parissoustension.noblogs.org Du pain sur la planche (Marseille) dupainsurlaplanche.noblogs.org + Avis de tempêtes Contrainfo avisdetempetes.noblogs.org contrainfo.espiv.net Tabula Rasa Belgien atabularasa.org L’imprévu (Bruxelles) Act for freedom now imprevu@riseup.net actforfree.nostate.net Fawda (Bruxelles) Voz como arma fawda@riseup.net vozcomoarma.noblogs.org Publicacion Refractario Deutschland publicacionrefractario.wordpress.com Attacke! (Norden) Por la tierra y contra el capital attacke@riseup.net porlatierraycontraelcapital.wordpress.com Fernweh (München) Sans Attendre Demain fernweh.noblogs.org sansattendre.noblogs.org Chronik Aus dem Herzen der Festung chronik.blackblogs.org ausdemherzenderfestung.noblogs.org
Editorial April 2018 Jedes Projekt, in das man sich einbringt, ist mit Erwartun- ten, praktischen Resultaten, mit einem Katalog, den man gen verbunden. Erwartungen für etwas, das noch nicht da abhacken könnte, sprich mit einem pragmatischen Ansatz. ist, für etwas, das über die Summe der Komponenten hi- nausgeht. Ich würde sogar sagen, dass sie den Hauptteil Auch wenn das so ist, müssen wir evaluieren, zurückbli- davon ausmachen, was mich dazu motiviert meine Energie cken, wo wir herkommen, um einen Ahnung zu bekommen, in langfristige Projekte zu stecken. Das klingt zwar ein- welche Richtung es einzuschlagen gilt. Und die Avalanche leuchtend, in der Praxis sieht es aber meist anders aus. In hatte ihre Verdienste. Jedoch werde ich hier keine Liste vielen Fällen werden wir durch andere Faktoren motiviert: niederschreiben mit meinen Höhepunkten und Frustratio- die Routine der Gewohnheit, das Streben nach sozialer An- nen mit diesem Projekt, jeder kann an seine eigenen denken erkennung, der Wunsch eine Fertigkeit zu erlernen oder und sie werden sich unterscheiden. Es gibt einen grundle- anzuwenden, die Bejahung der eignen Zugehörigkeit, die genden Faktor in diesem Projekt und das sind die Beiträge Neigung zu gegenseitiger Unterstützung, etc . Anstatt auf über laufende Kampfprojekte. Um es offen zu legen, es gibt (Selbst-)Bestätigung spielen die Erwartungen, auf die ich wenige und damit meine ich nicht nur Beiträge, die einge- anspiele, jedoch in Richtung einer Transformation. Wobei hen, sondern auch Projekte. Besonders wenn ich autonome sie gleichzeitig beabsichtigt sind. Sich das Potential eines Kämpfe von Anarchisten betrachte, die darauf abzielen Projekts vorzustellen und Wege zu finden, um dieses Po- in ihrer sozialen Umgebung durch die direkte Aktion und tential zu realisieren, ist etwas anderes, als auf positive Selbstorganisation zu intervenieren, sind diese in der letz- Nebeneffekte zu hoffen oder einfach anzunehmen, dass ten Zeit eine Seltenheit. Dieses Einschätzung – sofern sie Resultate notwendigerweise folgen werden. In der Avalan- geteilt wird – kann der Ausgangspunkt für eine Reflexion, che wollten wir uns auf Projekte fokussieren, die aus einem Debatte und – möglicherweise – neue Projekte sein. Aber Verständnis der sozialen Umwelt erwachsen und die eine in der Zwischenzeit die Avalanche mit ihren Intentionen Projektion unserer eigenen Verlangen in diesen Kontexten am Laufen zu halten, in so einem Kontext, erscheint uns sind, um autonome Pfade zu entwickeln, die auf eine auf- als fehlgeleitete Anstrengung. Und deshalb wird diese die ständische Intervention abzielen. Wenn man beginnt und letzte Ausgabe der Avalanche sein. voranschreitet auf diesem Pfad, wird mit Hypothesen ex- perimentiert. Dabei werden Erwartungen erfüllt oder ent- In keiner Weise bedeutet das, dass die zuvor genannten In- täuscht. tentionen dieses Projekts irrelevant oder obsolet geworden sind. Trotz, oder genau aufgrund der Tatsache, dass immer Dasselbe gilt für das Projekt Avalanche. Die internationale mehr und mehr Menschen konstant durch Gerätschaften Korrespondenz, die in der Avalanche enthalten war, sollte mit – digitalen – Anderen verbunden sind, ist ein subs- zu verschiedenen Dynamiken beitragen: sie sollte unter An- tantieller Austausch oder eine Diskussion immer noch eine archisten über Grenzen hinaus stattfinden, um gemeinsame Ausnahme. Ein fortlaufender Dialog, der von Affinitäten Referenzpunkte zu haben, um eine Diskussion zu schaffen, ausgeht und diese stärkt, ist eine Dringlichkeit, wenn re- die die Perspektiven schärft und die Affinitäten vertieft, duzierende Identitäten immer mehr und mehr aufgezwun- um Erfahrungen in einer weniger fragmentierten Weise zu gen werden. Andere Korrespondenzprojekte werden diese übermitteln (kohärenter als Echos von Aktionen und Re- Herausforderung aufnehmen. Auch Kampfprojekte werden pression), damit sie eine geteilte Geschichte werden, von wieder formuliert werden. Sie werden neu erfunden wer- der man Inspiration ziehen kann, um andere Anarchisten zu den, da wir nicht verlockt sind den „Wiederholen“-Knopf motivieren, ein Projekt der direkten Aktion und der Selb- zu drücken. Noch haben wir Angst davor zurück zum An- storganisation zu erproben, sowie um jene einzuladen, die fang zu gehen und es wieder zu versuchen. Für jene, für die keinen Hang dazu haben ihre Projekte zu kommunizieren, das Konformsein mit dieser Gesellschaft ein Alptraum ist, ihre Erfahrungen zu reflektieren und zu teilen. Niederge- bleibt die Subversion eine Lebensnotwendigkeit. schrieben scheinen diese Erfahrungen übermäßig ambitiös – sogar anmaßend, sicherlich für etwas das lediglich eine Die Winde bekämpfend, die über den Ozean ankommen, Publikation ist. Jedoch wären wir nicht zufrieden mit direk- sich nach den Bergen sehnend. correspondance@riseup.net avalanche.noblogs.org |3|
Über den Kampf gegen das Bässlergut und aufständische Praktiken Januar 2018 - Schweiz Dieser kleine Text, der vielleicht eine kleine Übersicht zieht wiederrum zum Bässslergut, bei dem es zu Zu- über die Kämpfe gegen das Bässlergut in Basel ver- sammenstössen mit den Bullen kommt, auf dem weite- schafft sowie ein paar Gedanken zu dieser spezifischen ren Weg wird alles, was kaputt gehört und in kurzer Zeit Art des Kämpfens formuliert, wurde von mir als Ein- kaputt gemacht werden kann, auch kaputt gemacht (nur zelperson geschrieben. Es sind meine Gedanken und oberflächlich und kurzfristig, wie sich wohl von selbst meine Geschichte, die sich darin widerspiegeln. Der versteht, nach wenigen Tagen bis Wochen strahlt die Text spricht, selbstverständlich, nicht für den gesamten Fassade des sozialen Friedens wieder). Kampf. Andere würden wohl andere Dinge hervorheben und/oder anders gewichten. Seither sind mehr als zwei Jahre vergangen. Seit dem Frühjahr 2017 wird neben dem Bässlergut an einem *** zweiten Knast gebaut. In diesem soll voraussichtlich der Strafvollzug mit 78 Haftplätzen untergebracht wer- Es ist Freitagabend und einmal mehr versammeln sich den. Die zwei Arten der Inhaftierung (Abschiebehaft auf einer Lichtung im Wald mehrere Personen und ma- und Strafvollzug) werden dann wieder in voneinander chen sich auf den Weg zu einem nahegelegenen Knast in getrennten Gebäuden untergebracht sein. In den nächs- Basel (eine kleine, reiche Stadt im Norden der kleinen, ten Jahren soll dann auch das Empfangszentrum, das reichen Schweiz). Es ist der 11. September 2015 und sich ebenfalls direkt daneben befindet, zu einem so- die Leute rennen in Richtung Bässlergut, ein Knast am genannten Bundesasylzentrum umfunktioniert werden, Rande der Stadt, aufgeteilt in 30 Plätze Abschiebehaft in der die verschiedenen Verwaltungsstellen der Asyl- und 43 Plätze Strafvollzug. Beim Knast angekommen, maschine zentralisiert werden. Mehrere solcher Bun- werden Feuerwerke gezündet, ein Transparent mit der desasylzentren werden in den nächsten Jahren auf dem Aufschrift „Directeur Arschloch – Politik fasciste“ (ein gesamten schweizer Territorium entstehen und werden Spruch, der bei einem der letzten Besuche von einem auch an verschiedenen Orten bekämpft. In Zürich zum Gefangenen gerufen wurde) wird an den Zaun gehangen Beispiel, wo diese moderne Form der Lagerpolitik seit und Parolen gerufen. Die Gefangenen schreien ebenfalls Anfang 2014 getestet wird, entfaltete sich ein radikaler zurück und schlagen mit voller Wucht gegen die ver- und direkter Kampf dagegen. Und auch an anderen Or- riegelten Fenster, so, wie sie das immer tun bei solchen ten kam es zu Aktionen, Sabotagen und Besetzungen, wiederkehrenden solidarischen Besuchen. Bevor die noch bevor die Lager überhaupt eröffnet wurden. kleine Meute nach wenigen Minuten wieder im Wald verschwindet, wird noch ein Kameramasten auf dem In diesen zwei Jahren haben also nicht nur die Herr- Parkplatz vor dem Gefängnis sabotiert. Im Anschluss schenden an ihrem repressiven Projekt gearbeitet. Ne- an diesen Knastspaziergang wird dazu aufgerufen, sich ben dem Aufruf zum Widerstand gegen das Bässlergut dem geplanten Bau eines zweiten Gefängnisses direkt II im Anschluss an den erwähnten Knastspaziergang, daneben zu widersetzen. machte Anfang 2016 auch ein Flyer und Plakat unter dem Titel „Wenn die Feind_innen der Freiheit einen Die Geschichte spielt eine Woche vor einer angekün- Gang zulegen...“ die Runde. Darin werden die Entwick- digten Demo gegen eine Militärübung ‚Conex15‘ in der lungen in Basel in einen grösseren Kontext gestellt, in Region Basel, bei der ein fiktives Szenario eines zusam- dem sich ähnliche Lager und Knäste sowohl in Europa menbrechenden Europas geprobt werden soll. „Wirt- wie auch ausserhalb verbreiten werden und in dem die- schaftskrise“, „Sabotagen auf und Plünderungen von ses weitere Lager und dieser weitere Knast nur ein klei- Öl-, Gas- und Getreidevorräten“, „Flüchtlingsströme“ nes, lokales Abbild eines viel breiter geführten Kriegs sind einige Stichworte aus diesem Szenario. Die Demo der herrschenden Ordnung darstellt. Aus dem Text: „… |4|
ohne weiteres wäre es möglich, weitere Beispiele des gegen den Erweiterungsbau aufgerufen wurde, so ha- gegen Migrant_innen geführten Kriegs aufzuführen, der ben sich die Kämpfe dagegen seit Baubeginn definitiv bereits tausenden Menschen den Tod brachte. Leider ist intensiviert, die Angriffe auf die Verantwortlichen ge- dieser im noch jungen 21. Jahrhundert geführte Krieg häuft. Was mit kleineren Angriffen in Form gestochener nicht der einzige, und so reihen sich die verschiedenen Autoreifen bei am Bau beteiligter Firmen begann, ent- Überwachungsgesetze in den verschiedenen Ländern, wickelte sich relativ rasch in zerstreute Brandanschläge die militärischen und polizeilichen Aufrüstungen, die auf die Autos dieser Firmen. Man konnte dies in Basel Bauten von verschiedenen Knästen in ganz Europa und in den letzten Jahren wohl relativ selten sehen, dass an die sich in Knäste unter offenem Himmel verwandeln- einem Wochenende gleich zwei Autos (ein Zivilauto den Städte, die zunehmende Repression gegen Wider- der Basler Polizei und ein Auto von Swisscom, ein Tele- ständige in die gleiche Offensive der Mächtigen ein. Ein kommunikationsunternehmen) sowie ein Bohrkran (der Krieg, der so normal geworden ist, dass er nicht mehr Baufirma Implenia, welche die Bauleitung übernommen erklärt werden muss und, die Maschen der Kontrollge- hat) an unterschiedlichen Orten Feuer fangen. sellschaft enger schnallend, auf allen Ebenen die beste- hende Privilegienherrschaft sichern soll; alle auf ihren Die destruktiven Angriffe auf die verantwortlichen Ak- Plätzen, registriert und durchleuchtet, um schon beim teure stellen sicherlich ein zentrales Element in diesem kleinsten Anzeichen eines Kontrollverlusts oder eines Kampf dar, doch war das letzte Jahr von diversen For- Ausbruchs aus diesen Reihen genügend Mittel zur Ver- men des Widerstands geprägt. Mittels Plakaten „Gegen fügung zu haben, um möglichst schnell und effizient die den Staat, seine Grenzen und Knäste“ wird dazu ermu- Ordnung wieder herzustellen oder die störenden Ele- tigt, „sich mit Freunden und Gleichgesinnten zusammen mente unschädlich zu machen.“ zu tun, sich zu organisieren, sich Pläne auszuhecken und all denjenigen, die uns als passive Zuschauer ge- Ein Angriff auf einen lokalen Auswuchs der bestehen- genüber ihrem permanenten Machtausbau sehen wol- den Verhältnisse (in diesem konkreten Fall das Bäss- len, das Spiel zu verderben und diese anzugreifen“ und lergut) kann, unter anarchistischem Blickpunkt, nur als „entgegen dem, was die Herrschenden uns glauben ma- Angriff auf diese internationale Entwicklung betrach- chen wollen, dass sie allmächtig und unantastbar sei- tet werden und sollte dies, wenn möglich, auch in den en“, auch bekräftigt, „dass die Revolte möglich ist, dass Kämpfen enthalten. Ein lokales Projekt der Mächtigen das Feuer der Freiheit lebt, solange es Individuen gibt, zu bekämpfen, ist schlicht ein Mittel, ein abstraktes, die sich voller Entschlossenheit und Freude gegen ihre global verflochtenes, historisch gewachsenes und zu eigene Unterdrückung stellen“. Eine Liste mit den Ver- oft verwirrendes System an einer konkreten Manifes- antwortlichen und ihren Adressen wird im Internet (und tierung fest und sichtbar zu machen. Ein spezifischer eher wenig auf den Strassen) verbreitet. In der ganzen Kampf ist vor allem ein Anfang. Stadt tauchen Sticker und Sprüche gegen das Bässler- gut auf. An verschiedenen Veranstaltungen und Diskus- Die Nächte fangen Feuer sionsrunden wird über dieses weitere Gefängnis sowie unsere Möglichkeiten des Widerstands diskutiert. Zu Das Gefängnis Bässlergut wird erst seit dem Jahr 2000 „Unehren“ des Nationalfeiertags werden erneut die Ge- als solches genutzt und steht seit dann auch in der Kri- fangenen gegrüsst und die Baustellenwand vollgesprayt. tik und ist somit zu einem Referenzpunkt des lokalen Im Mai ziehen 200 Menschen unter der Parole „Bässler- Widerstands gegen die massive Abschiebepraxis, das gut einreissen – nicht erweitern“ in Richtung Baustelle, europäische Grenzregime wie auch gegen das staatli- werden allerdings von den Bullen aufgehalten. Ein paar che Bestrafen und Einsperren von Menschen im All- Tage vor der Demo brennt auf der Baustelle ein Bagger gemeinen geworden. An diesem Punkt muss angefügt von Implenia ab, die Medien nehmen die Serie der An- werden, dass man nicht von einer verbreiteten feindse- griffe auf, die Stimmung ist spürbar angeheizt. ligen Stimmung in Basel gegen dieses Gefängnis oder gegen die Autorität im Allgemeinen reden kann und Die Angriffe sowie auch die mediale Stimmungsmache dass auch die Knäste in Basel oder der Schweiz in den gehen weiter. Die unter Druck stehenden Behörden letzten Jahren nicht von kleineren oder gar grösseren können keine Ergebnisse vorweisen. Eine Sonderkom- Revolten erschüttert wurden. Dieser Kampf kann also mission wird eingerichtet. Die Frage ist nicht mehr, ob, nicht als anarchistische Intervention in eine bestehen- sondern wann und wo sie zuschlagen. Am 5. Oktober de soziale Spannung verstanden werden. Eine solche 2017 kommt es dann in den Kantonen Basel-Stadt, Ba- Spannung ist hier ganz einfach nicht vorhanden, zumin- sel-Land sowie Zürich zu sechs Hausdurchsuchungen, dest nicht sichtbar. teilweise werden Computer, Handys und Kleidungsstü- cke beschlagnahmt, die Beschuldigten auf dem Posten Mit der Vorgeschichte war es aber dennoch klar, dass befragt und, nachdem die DNA abgenommen wurde, der Erweiterungsbau nicht in voller Ruhe gebaut wer- auch wieder entlassen. (In der Schweiz ist das Sam- den kann und auch nicht wird. Auch wenn die Kämpfe meln von DNA-Spuren sowohl bei Tatorten wie auch gegen dieses Gefängnis, sowie die verschiedenen Lo- bei beschuldigten Personen allgegenwärtig. Schon bei giken, für die es sinnbildlich steht, so alt sind, wie der kleineren Verbrechen wie zum Beispiel Ladendiebstahl Knast selbst und auch wenn schon früh zum Widerstand kann es zur Entnahme kommen. Bei Delikten, die im |5|
Zusammenhang mit subversiven Taten stehen, wird sie Gefahr. In Basel konnte man das sehr deutlich beob- definitiv genommen. Bei einer Verweigerung der Ent- achten. Im Jahr 2016 brannten diverse Fahrzeuge und nahme sind die Behörden berechtigt, ‚verhältnismässi- Container in der Stadt und auch andere Mittel des di- ge‘ Gewalt anzuwenden. Die Repressionsbehörden sind rekten Angriffs wurden angewandt. Teilweise wurden stets darum bemüht, die Datenbank bei allem Scheiss Schreiben zu diesen Aktionen verfasst. In vielen Fällen zu erweitern, gerade wenn es sich um potentiell Auf- aber liessen die unbekannt Gebliebenen das Feuer oder ständische oder deren Taten handelt. Ein DNA-Hit (also die Scherben für sich selber sprechen. Niemand konnte die Übereinstimmung von Spuren am Tatort mit denen wirklich wissen, wer hier was und aus welchen Beweg- einer Person) genügt in den meisten Fällen, um verur- gründen angreift, dennoch haben diese Taten eine ge- teilt zu werden.) Die durchsuchten Personen werden wisse Stimmung in diese allzu ruhige, befriedete Stadt wegen der Beteiligung an der erwähnten Demo im Mai gebracht. Man kann über die Motivationen dahinter des Landfriedensbruches angeklagt. Es ist klar, dass es also nur spekulieren, was sich aber gezeigt hat, war, bei dieser Anklage nicht wirklich um diese Demo geht, dass auch wenn die Medien von einer Serie von ver- an der neben kleineren Sachbeschädigungen (Spray- schiedenen Brandstiftungen berichten mussten, nie ein ereien) nichts weiteres passiert ist. Und so versuchen Zusammenhang hergestellt werden konnte. Die Ermitt- die Behörden, die Demo mit den diversen Bränden und lungsbehörden hatten keine Anhaltspunkte. Angriffen in Zusammenhang zu stellen. Im besten Fall hätten sie bei den Durchsuchungen etwas belastendes 2017 brannten wieder verschiedene Fahrzeuge und gefunden oder die abgenommenen DNA-Spuren werden auch andere Mittel des direkten Angriffs wurden an- ein bisschen Licht ins Dunkel bringen. Andernfalls ist es gewandt. Viele davon stehen im Zusammenhang mit ein warnendes Signal und eine weitere Drohung an all dem Kampf gegen das Bässlergut, wie das die trotzdem diejenigen, die diesen Kampf beleben oder nach Mög- unbekannt Gebliebenen im Internet schrieben, und wie lichkeiten suchen, dazu beizutragen. das sowieso klar war, ging es doch sehr häufig um die Am 30. November 2017 wird die anarchistische Biblio- immer gleichen Firmen und die immer gleichen Mittel thek ‚Fermento‘ in Zürich durchsucht. „Im Schaufens- (Kreativität in den Formen des Angriffs scheint ganz ge- ter der Bibliothek werde zu Verbrechen und Vergehen nerell nicht die grösste Stärke der anarchistischen Welt gegen Firmen und Privatpersonen aufgerufen, was im zu sein…). Der Zusammenhang ist hergestellt. Auch Zusammenhang zu sehen sei mit jüngsten Brandan- wenn die Ermittlungsbehörden bezüglich den Angriffen schlägen gegen den Bau des PJZ und des Gefängnis- bisher im Dunkeln tappen, können sie diese mit einer ses „Bässlergut“ in Basel“, schreiben die ‚Anarchisten öffentlichen Demo gegen den gleichen Knast in Verbin- vom Fermento‘. Das Polizei- und Justizzentrum (PJZ) dung bringen. Nächtliche Angriffe aufzuklären, ist bei wird momentan in Zürich gebaut. Auch dieses Projekt einer gewissen Ausführung relativ schwierig. Eine öf- wird seit Ankündigung verbal wie physisch angegriffen. fentlich angekündigte Demo abzufotografieren und die Auch hier ist die Baufirma Implenia beteiligt. Auch in Leute zu identifizieren hingegen ziemlich einfach. Dies Zürich brannten im letzten Jahr diverse Bagger oder soll keine Argumentation dafür sein, unsere Kämpfe in Fahrzeuge dieses Unternehmens. grösst möglicher Klandestinität zu führen und auch kei- ne Argumenation, die sich in jedem Falle gegen Commu- Aufständische Praktiken niqués richtet. Diese Zeiten werden vielleicht irgend- wann kommen. Solange wir aber die Möglichkeit haben, Ein solcher Kampf, der nicht nur diese eine Manifestie- anarchistische Ideen zu propagieren und zum direkten, rung der Macht angreifen und verhindern will, sondern destruktiven Angriff aufzurufen oder Gedanken und Re- zum selbst-organisierten Kampf mit den Mitteln der un- flexionen zu diesen Kämpfen zu teilen, sei es via Mittei- mittelbaren praktischen Kritik jenseits der Repräsenta- lungen über ausgeführte Aktionen oder in Form dieser tion und Delegation einlädt und diesen zu Stärken sucht, internationalen Korrespondenz, sollten wir diese auch kann nicht von der Stimme oder der Kraft einer Orga- wahrnehmen. Vielmehr stellt sich die Frage, wie Sicht- nisation oder was auch immer abhängen. Ein solcher barkeit mit Zerstreutheit, Klarheit mit Diffusität ein- Kampf, der über einen spezifischen Ausgangspunkt zur hergehen können. Sichtbarkeit und Klarheit, sodass es Zerstörung der gesamten Ordnung aufruft, lebt von der allen Menschen klar ist, was hier aus welchen Gründen Kreativität und der Initiative der verschiedenen infor- bekämpft wird. Zerstreutheit und Diffusität, weil der mellen Gruppen oder Einzelpersonen, die ihren eigenen Widerstand kein Zentrum (weder in der Organisierung Wegen und Ideen folgen und den dezentralen Angriff noch in den Zielen des Angriffs) kennen darf, sondern dennoch auf ein gemeinsames Ziel lenken und sich dar- sich ausbreiten und verstreuen soll und muss, weil die in ergänzen und koordinieren können. Wie weiter oben Attacken von allen Seiten, mit allen Mitteln, von überall schon erwähnt, sind offensiv geführte Kämpfe, die sich und gleichzeitig nirgendwo kommen sollten. auf ein konkretes Projekt der Herrschaft konzentrie- ren, ein Mittel, um Kritik an dieser sichtbar zu machen, Kreise ziehen sowie um Methoden, die diese Herrschaft ins Wanken bringen und zertrümmern könnten, vorzuschlagen und In anderen Kontexten mit einer weiter verbreiteten aufzuzeigen. Die Sichtbarkeit unserer Kämpfe ist si- Feindseligkeit gegenüber den Strukturen der Macht cherlich eine Stärke, zur gleichen Zeit aber auch eine stellt sich diese Frage bezüglich der Gefahr von spezi- |6|
fischen Kämpfen vielleicht weniger. Es sollte auch klar gentum, Nation, Medien, Konsum, Produktion, Medizin, sein, dass wir unsere Kämpfe nicht nach potentiellen Daten, Militarismus, Wissenschaft, Energieversorgung, Gefahren ausrichten können. Wenn wir uns dazu ent- Ressourcengewinung oder was auch immer – die Grif- scheiden, eine potentielle (oder auch tatsächliche) Ge- fe der Macht sind überall, es gibt kein ausserhalb). Das fahr für das Bestehende zu sein, dann gehen wir auch Gefängnis spielt dabei sicherlich eine bedeutende Rolle. aktiv das Risiko ein, dass die Keule zurückschlägt. Dies Doch auch wenn alle Knäste abgeschafft werden wür- heisst wiederrum aber nicht, dass wir nicht darum be- den, dann nur, weil die Justiz effektiverere und sozial müht sein sollten, zumindest zu versuchen, die Richtung noch verträglicherere Formen der Drohung und der Be- der Repressionskeule abzuschätzen, vorauszusehen, strafung gefunden hätte. Dass wir alle in dieser eintöni- sie zu verwirren und ihr so möglichst auszuweichen. gen, durchstrukturierten, vorgegebenen Gesellschaft le- Die folgenden Überlegungen können unabhängig davon ben müssen, die uns alle in den gleichen Gesetzen, den vielleicht dennoch als Anlass genommen werden, um gleichen Werten, den gleichen Fiktionen, der gleichen über aufständische Theorien und Praxen zu reflektieren verstörenden Realität, der gleichen Leere, der gleichen und diese weiterzuentwickeln. Bleiben wir beim Kampf Gleichheit gefangen hält, daran würde sich genau gar gegen das Bässlergut in Basel. Die Brandanschläge tra- nichts ändern. Die Gesellschaft würde uns alle weiterhin fen im letzten Jahr sehr häufig ein paar wenige Firmen, dazu verdammen, diesen einen Weg der Gesellschaft zu die am Bau beteiligt sind und wurden in den meisten befolgen und unsere Träume ihren anzugleichen. Viel- Fällen über Communiquées im Internet auch in die- leicht ist es auch gerade das, wodurch sich Gesellschaft sen Zusammenhang gestellt. Angriffe auf die Polizei, auszeichnet. Wenn wir also nicht für das Ende dieser die Politik oder auch andere Institutionen und Firmen, Zivilisation, für die Zerstörung der Macht in all ihren die zwar nicht direkt am Bau beteiligt aber auf andere Formen und für die Möglichkeit des selbstbestimmten Weise für das Funktionieren des Kontroll-, Bestrafungs- Experimentierens, für die vollständige Eroberung des und Abschiebeapparates unabdingbar sind oder sich am Lebens mit all seiner Pracht wie auch seinen Schat- gesamten Komplex der Unterdrückung beteiligen, blie- tenseiten kämpfen, wofür dann? Etwa für ein bisschen ben selten. Kapazitäten sind beschränkt und so ist es weniger Rassimus, für mehr ‚Menschlichkeit‘, für die schwierig, an allen Ecken, in denen wir die Mechanis- Zerstörung eines Knastes, für ein besseres Überleben, men der Herrschaft ausmachen, mit unseren Gedanken gegen die Plünderung eines geplünderten Planeten, ge- und Taten präsent zu sein. Gleichzeitig könnte dies auch gen die Gier der Gierigsten, für die Selbst-Verwaltung schnell dazu führen, erneut in das Loch der wirren Ver- des Bestehenden? Ja, viel Spass dann! zettelung abzudriften. Aber wir waren bei unseren Kämpfen. Die Gratwande- Spezifische Kämpfe werden aber genau im Gegensatz rung besteht darin, den Mittelpunkt klar im Visier zu dazu geführt. In Basel wird in erster Linie das Bässlergut haben und trotzdem fähig zu sein, die Kreise rundher- bekämpft und nicht die Mauer an der Grenze zwischen um, die soziale Dynamik, als integralen Bestandteil und den USA und Mexico. Der Bau genau dieses Knastes Bedingung dieses Mittelpunktes zu benennen und an- steht im Mittelpunkt dieses Kampfes und so sollen auch zugreifen. Sowohl, um die Kritik auszuweiten als auch, diejenigen, die für den Bau genau dieses Knastes ver- um die unterschiedlichsten Menschen zum Kämpfen antwortlich sind, im Mittelpunkt der Angriffe stehen. anzuregen. Einfaches Beispiel: Hätte es neben den An- Um diesen Mittelpunkt reihen sich aber verschiedenste, griffen auf die Verantwortlichen dieses Baus auch ver- miteinander verwobene Kreise. Das Bässlergut ist ein mehrt destruktive Akte gegen irgendwelche Überwa- Gebäude mit Zellen, Eingesperrten, Wärter*innen und chungskameras in der Stadt oder Unternehmen, die das Zäunen, das von der Politik beschlossen, von einigen Geschäft der Überwachung ankurbeln und daran ver- Unternehmen umgesetzt und dann von anderen Un- dienen, gegeben und wären diese Angriffe wiederrum ternehmen oder Institutionen verwaltet, beliefert und in die Kritik einer ‚Knastgesellschaft‘ (grosses Wort) bewacht wird. Es befindet sich aber in einem grösse- einbezogen worden, so würde der Kampf die Kritik auf ren Kontext, es ist Teil eines sozialen Verhältnisses der ein breiteres Feld übertragen. Der Kampf wäre eher fä- Beherrschung und Unterwürfigkeit, der Teilnahme und hig, die soziale Dynamik der Unterdrückung, die sich in Akzeptanz, das wiederrum von teilweise klar benenn- verschiedensten Formen an verschiedensten Orten wie- baren Akteur*innen genährt, produziert und reprodu- derfindet, zu benennen und gleichzeitig zu einem Sturm ziert wird. Es ist dieses soziale Verhältnis, das den La- auf ein konkretes, noch nicht bestehendes Gebäude, den am Laufen hält und das schlussendlich untergraben das diese Dynamik verkörpert, aufzurufen und zu er- und zerstört gehört. mutigen. Vielleicht würden Menschen, die einen riesen Groll auf all diese Überwachungskameras haben, auch Nicht alle sehen sich selbst oder ihre Bekannten der di- verstehen, warum andere Menschen so energisch einen rekten Gefahr ausgesetzt, eingesperrt oder ausgeschafft Knast bekämpfen. Vielleicht würden diese Menschen zu werden, aber absolut niemand kann sich vollständig keinen Unterschied mehr aus diesen zwei Formen der den Griffen der Macht entziehen, die alles und alle ein- Drohung und Kontrolle machen. Vielleicht, vielleicht... genommen und integriert hat (Justiz, Arbeit, Religion, Die Kreise liessen sich beliebig weiterspinnen. Der An- Technologie und ihre unendlichen Möglichkeiten in der griff auf das Bässlergut ist am Schluss eben doch auch Zukunft, Stadt, Geld, Familie, Schule, Geschlecht, Ei- ein Angriff auf diese verdammte Mauer zwischen den |7|
USA und Mexico, weil er ganz einfach ein Angriff auf bellion streuen und wie wir sie kultivieren und pflegen die Welt der Herrschaft ist. können. Es ist niemals ausgeschlossen, dass die Ideen Verbreitung finden, dass sich Leute dazu entschliessen, Nie wird es vorbei sein! nicht mehr zu gehorchen, nicht mehr zu warten und hier und jetzt damit beginnen, die Bedingungen ihres eige- Anarchistische Kritik bezieht sich bereits seit Jahren nen Lebens und ihrer Umgebung zu definieren und zu auf das Bässlergut und wird dies wohl auch weiterhin prägen. Wenn die Anarchie keine simple Meinung, kein tun. Egal in welche Richtungen sich diese Kämpfe ent- Philosophieren über eine mögliche, bessere Zukunft, wickeln werden, kann schon heute gesagt werden, dass und noch weniger ein Programm, ein klar definiertes dieser Knast nicht nur die Geschichte der allumfassen- Ziel sein kann, dann ist sie die konstante Entdeckung den, auch wenn manchmal subtilen, Unterdrückung und Prägung seines vielfältigen und chaotischen Selbst erzählt, sondern auch immer diejenige eines radikalen in Konfrontation mit allen hegemonialen Wahrheiten Widerstands dagegen. oder autoritären Dynamiken. Unter herrschaftsfreien Bedingungen wäre es uns allen einfacher möglich, uns Realistische Stimmen mögen behaupten, dieser Knast selbst und unsere Mitwelt neu zu erkunden und nach wird so oder so gebaut werden und es wäre gewiss unseren Vorstellungen zu gestalten und zu entwickeln. schwierig bis unmöglich, diese Stimmen vom Gegenteil Unter dem Gewicht der bestehenden staatlich, kapi- zu überzeugen. Doch kann dies nicht der Ausgangs- talistischen Bedingungen zu leben, ist aber nicht das punkt und schon gar nicht die Motivation für rebellische, Ende unserer lebens- und freiheitsliebenden Existenz anarchistische Herzen sein. Die widerständige Saat oder der Anarchie. wurde und wird auch weiterhin verstreut, das Streben Sie werden sich auch unter diesen widerlichen nach einer anderen, einer komplett anderen Welt sowie Voraussetzungen ihren Weg suchen. die Möglichkeit des direkten Angriffs haben hier wohl Und sie werden ihren Weg finden. So oder so. die meisten wahrgenommen. Was damit passiert, was andere Menschen damit machen, kann nicht in meinen Es sollen sich alle herzlichst umarmt fühlen, die sich noch in anderen Händen liegen. Die Frage, die uns zu im Laufe dieser Kämpfe in den letzten Jahren dazu betreffen hat, ist, wo und wie wir diese Samen der Re- entschieden haben, das Weite zu suchen. |8|
Wenn Betonwüsten intelligent werden Smarte Kontrolle und die Technisierung der Stadt November 2017 - Deutschland Die Art und Weise wie sich München in den letzten Jah- muss die Kontrolle über die Bürger - die Gestressten ren veränderte, hinterlässt Spuren: Mit aller Härte wer- und Konsumierenden - bewahrt werden und somit auch den Arme und unpassende Teile der Gesellschaft mit die Überwachung, Vermessung und Steuerung von de- schnell steigenden Mieten aus der Stadt verjagt, wäh- ren Alltagsleben intensiviert und ausgeweitet werden. rend ein neues Luxusbauprojekt auf das andere folgt. Das Ausmaß der Umstrukturierung geht weit über ein- Nachdem jeder Winkel dieses Planeten, jeder Mensch, zelne Bauprojekte hinaus und der Begriff der Gentrifi- jeder Rohstoff und jede Spezies in die Verwertungslogik zierung erfasst nur einen Teilaspekt. Denn mit dem Zu- der Ökonomie integriert wurde und schließlich jeder zug von immer mehr Reichen geht das Schaffen neuer jeden als Konkurrenz im Rennen um Profit betrachtet, Industrie- und Wirtschaftszweige, die Vergrößerung der werden Stück für Stück immer neuere Sphären zur Ka- Polizei- und Justizkapazitäten als auch der Ausbau der pitalanhäufung geöffnet: So soll jeder gesellschaftliche Transport- und Telekommunikationsinfratruktur einher. Lebensbereich einer Effizienzsteigerung unterzogen Allerdings verläuft diese militarisierte Restrukturierung werden, indem durch die flächendeckende Installierung der Metropole nicht unbeantwortet: Vandalismus und von Internet, Chips und Informationstechnologien eine Brandstiftungen an Autos und Büros von Immobilien- noch „perfektere“ Organisation des Alltags ermöglicht firmen, Baustellen und Baufirmen ereignen sich immer werden soll. Ein Markt, der nicht nur für den Verkauf häufiger und ebenso scheint sich die Wut an den neuen von Abermillionen „smarter“ Geräte geöffnet wurde, Luxusbauten der Reichen und von Zeit zu Zeit an den sondern vor allem Profite durch die Speicherung, Aus- sie bewachenden Security- und Polizeiautos zu entladen. wertung und Verarbeitung all der Abermillionen Daten Während neue Lackschichten auf frisch geputzten Hoch- jedes Bürgers erzielt. Denn die „Smartifizierung“ des glanzfassaden glänzen, Zeitungen auf Preisgeld-Hetz- Lebens ist bereits in jeden Bereich des Lebens einge- jagd nach Brandstiftern gehen und Bagger auf die letz- drungen: „Intelligente“ Technologien werden nicht nur ten Freiflächen der Stadt rollen, versucht der vor einigen in der Arbeit und im Privatgebrauch eingesetzt, sondern Monaten publizierte folgende Text in diesem Terrain die auch im Kontext einer immer flexibleren Mobilität, in Frage aufzuwerfen, welche Motoren hinter dieser Um- jeder Sphäre der Kommunikation und auch im Bereich strukturierung stecken und in welche Richtung sich die- der Energieversorgung. Der ganze gesellschaftliche und se bewegt. Die wuchernde Techno-Industrie rekrutiert vor allem städtische Raum wird ein Feld indem pausen- immer mehr Yuppies und weist den Ausgeschlossenen los Geräte und Chips sich durch W-Lan in Verbindung den Platz eins isolierten, kenntnislosen, funktionieren- setzen und pausenlos Daten sammeln und diese zuse- den Zahnrads in der Maschine der urbanen Ökonomie hends auch automatisiert auswerten und verwenden. zu. Anstatt nur zu erraten, welche Möglichkeiten der Das Internet der Dinge und die sogenannte künstliche Revolte uns in den kommenden Szenarien der Macht Intelligenz erhalten Einzug in die Stadt - in den Straßen- verbleiben, sollten wir im hier und jetzt umso deutlicher verkehr, den Supermarkt und das Zuhause, in Ampeln, sein, wen und was es anzugreifen gilt. Straßenlaternen, Kassen, Kameras und Kühlschränke. *** Urban, green und smart Immer höher, schneller, besser… Der Mensch verkommt zu einer umherirrenden Daten- schleuder, dessen Ausdünstungen und Bedienungswün- ... der Kapitalismus strebt nach ständiger Profitsteige- sche möglichst überall vermerkt und effektiv verwer- rung und muss ständig seine Funktionsweisen optimie- tet werden. Angeblich soll alles praktischer werden, ren und neue Absatzmärkte erschließen. Gleichzeitig schließlich müssen wir nichts mehr selbst tun, außer |9|
unser Smartphone bedienen und alles mittels Apps or- mit ein. Außerdem sollen überall intelligente Straßen- ganisieren. Der Verkauf als auch die Datengewinnung laternen installiert werden, die nur dann leuchten, wenn durch Geräte, die sich durchgehend automatisch mit sich auch Menschen nähern, und zusätzlich auch noch anderen Geräten verbinden, und die Datenauswertung die passierenden Menschen belauschen, mittels W-Lan mittels aktueller Software aus den Büros von IT-Spe- (ihre IP- Adresse) identifizieren und eventuell auch mit zialisten, bilden die Grundlage für den neugewonnenen Kameras ausgestattet sind. Dieses neue W-Lan-Netz Reichtum einiger weniger IT-Firmen. Es etabliert sich ist die Basis der SmartCity. Darüber hinaus sollen in ein neuer Lebensstil, eine neue, „selbstverständlich“ diesen Vierteln (und Stück für Stück auch in der rest- daherkommende moderne Organisation des alltägli- lichen Stadt) sogenannte Smart-Meter eingeführt wer- chen Lebens - samt eines gewissen Chic und Styles, den den, welche den Energieverbrauch eines jeden Haushal- sich zu Anfang nur die Reichen leisten können, welcher tes messen und so herausfinden können, wo wie viele sich aber dennoch beständig in der ganzen Gesellschaft Leute wohnen und wann sie welche elektrischen Geräte durchsetzt. In wechselseitiger Wirkung werden die Tei- in welchem Zimmer benutzen. Da heutzutage fast jede le der Stadt, die den Reichen Vorbehalten sind, durch Tätigkeit in Verbindung mit elektronischen Geräten diesen Style geprägt und fördern diesen zugleich. „Ur- steht, kann so theoretisch eine individuelle Dauerüber- ban, green und smart!“ - nennen sich nicht nur die Rei- wachung in Echt-Zeit erfolgen. Es geht also um Bevöl- chen, sondern auch die Stadt als Ganzes, wenn sie um kerungskontrolle in großem Maßstab, welche auch die die neuen IT-Standorte und Tech-Messen buhlt. Überwachung der Straße und das Überblicken und Be- schleunigen der Mobilität mit einschließt. Der omnipräsente Austausch von Daten eröffnet einen recht lückenlosen Einblick in die gesellschaftliche all- Dass dieses Projekt ebenso die umfassende Sanierungen tägliche Langeweile - in die ganzen kleinen Routinen, und die Aufwertung jener Viertel vorsieht, zeigt letzt- Gewöhnlichkeiten und Normen - und das ist es, was endlich, dass es in diesem Projekt der Stadt um eine Ka- Politik und Polizei besonders interessiert. Es zeigt sich pitalinvestition geht, die den Wert des Viertels als auch nicht nur, wer sich ungewöhnlich verhält, die Trends die Ökonomisierung des gesamten Lebens steigern soll. nicht mitspielt oder sich ihnen eventuell bewusst ent- Zudem ein innovatives Experiment, wie weit man bereits ziehen will. Die ganze Bevölkerung bietet ein viel ex- jetzt in der lückenlosen technologischen Kontrolle und akteres Bild ihrer Bewegungen und Verhaltensweisen, Verwaltung der Bevölkerung gehen kann... Die Firmen, weswegen sie auch um einiges effektiver verwaltet die von diesem Projekt profitieren und es entwickeln und von oben herab organisiert werden kann. Denn (SWM, MVG, Siemens, Fraunhofer, TUM, Securitas, schließlich können auf längere Sicht nicht nur bloß die Toshiba...) und diejenigen, die die Machtkonzepte dahin- schwarzen Schafe aussortiert werden, sondern auch ter liefern (IBM, Google, Siemens, Microsoft, Amazon, riesige Menschenmassen kontrolliert und somit indirekt Telekom, Bosch) überschneiden sich nicht nur in ihren gelenkt werden. Indem die erhobenen Daten ständig in Interessen, sondern auch oft in ihrem Standort - Mün- Form von Statistiken verarbeitet werden, wird ein Mit- chen. Schritt für Schritt soll das massive Vorantreiben der tel geschaffen um Millionen von Menschen zu verwal- Smartifizierung die Stadt zu einem neuen SilliconValley ten, zu regulieren und durch permanente Vorbeugung machen, zu einem Versuchslabor und Wirtschaftsmotor. und Prävention auch zu manipulieren und zu lenken. Schon jetzt ist ersichtlich, dass durch diese Prozesse Die Smartifizierung des Alltags zielt nicht nur auf Wirt- nicht nur die städtische Infrastruktur, sondern auch die schaftserfolge für IT-Riesen, sondern auch auf opti- Zusammensetzung der Bewohner nachhaltig verändert mierte Lohnsklaverei, auf Kriminalitätsprävention und werden soll. Die Aufwertungs- und Verdrängungsprozes- reibungsloses Regieren und ein Herrschen und Verwal- se werden rasant beschleunigt, da die attraktiven smar- ten, welches sich in gänzlich unsichtbarem, dezentralen ten Arbeitgeber den Zuzug von Yuppies und reichen und umweltbewusstem Outfit schmückt. IT-lern massiv anheizen. Die Errichtung neuer smarter Yuppie-Viertel und das Darbieten neuer Wohn- und Ar- Zusammen intelligenter? beitskonzepte, die besonders auf eine Flexiblisierung, sprich, auf eine Verschmelzung von Arbeit und Freizeit, Doch werfen wir ein Blick auf das EU-Projekt „Smarter Wohnung und Arbeitsplatz, Kollegen und Freunden und Together“, welches die Konstruktion einer Smart City auch dem Pendeln zwischen unterschiedlichen Städten in bestimmten Quartieren in den Städten Wien, Lyon abzielen, soll ein weiterer Köder sein. Nebenher werden und München vorsieht. Das Projekt konzentriert sich in noch fleißig heimische IT-StartUps von Stadt und Staat München auf die Stadtteile Neuaubing-Westkreuz und mitfinanziert und das In-Szene-Setzen und Etablieren Freiham und betrifft letztendlich 50.000 ansässige und des hippen, trendigen AirbnB-Deliveroo-Smoothie-Li- neu hinzu ziehende Bewohner. Neben der Tatsache, festyles tut das Nötigste um langsam aber nachhaltig dass sich auch dieses Projekt betont umweltfreundlich alle weniger betuchten Städter zu verdrängen und Platz und offen für das Engagement der Bevölkerung gibt, für Neureiche und deren Lofts zu schaffen. So wird letzt- sieht es zum einen die flächendeckende Ausstattung mit endlich nicht nur die Bewohnerstruktur, sondern auch Car-Sharing-Autos, MVG-Rädern vor und soll zudem die vorherrschende Art in der Stadt zu leben, zu wohnen den Kauf digitaler MVG-Tickets fördern - und schließt und zu konsumieren umgekrempelt - in Richtung immer somit beinahe alle Bereiche der Mobilität in der Stadt reicher, immer schicker, immer smarter. |10|
Totale Kontrolle durch das stetige Weiterproduzieren und unhinterfrag- te Weiter-kaufen und -Bauen ist die Macht, die von der Dabei stellt der Stellenwert, den die Technologie in ge- Technologie repräsentiert wird, von je her totalitär, da genwärtigen Herrschaftskonzepten wie der SmartCity sie stets danach strebt in jeden Lebensbereich und in hat, nicht nur einen ökonomischen Faktor oder eine un- jedes Lebewesen einzudringen (und über Leben und ter vielen Kontrollmethoden dar, sondern repräsentiert Tod entscheiden zu können - doch wir müssen nicht auch eine Ideologie, welche die Technologie als All- auf die Nanotechnologie oder Nukleartechnologie zei- heilmittel sieht. Nein, nicht nur als Mittel, sondern als gen, um zu sehen was technologische Totalität bedeu- Selbstzweck, als eine Komponente, der durch ihre om- tet.) So ist das Projekt der SmartCity ein kolossaler nipräsente Einpflanzung auch eine omnipotente Macht Schritt in die Richtung neue Technologien in jedem zukommt. Die Methode der Statistik sieht in jedem noch Aspekt des städtischen Raumes und somit in unserem so kleinen Aspekt Daten, die potentiell erhoben werden Alltag und vor unserer Haustür zu installieren - und könnten, was durch das Vernetzen von Computersys- dieses technologische Netz so noch feiner, noch pro- temen und deren immer größer werdende Rechenkraft fitabler zu weben und uns alle und jede unserer Be- und kleiner werdende physische Größe auch versucht wegungen einzufangen. Gleichzeitig wird bereits jetzt wird. Die Digitalisierung ermöglicht die Einspeisung all der Boden dafür präpariert, das Projekt der SmartCity dieser Daten, die dank Chips und Internet schließlich über die Grenzen eines einzelnen Viertels auszuwei- allem eine zugehörige Nummer zuweisen können. Nach ten, indem die sozialen Auslese- und Säuberungspro- den Ansprüchen der Herrschaft werden diese Daten zesse vorangetrieben werden, um die Unproduktiven, dann mittels Computern ausgewertet, gefiltert, in Sta- Widerspenstigen und delinquenten Störfaktoren zu tistiken gepresst - um schließlich ein exaktes Terrain zu verdrängen und so perfekten Rahmen für ungestörtes zeichnen, innerhalb dessen reguliert, sanktioniert, aus- und nachhaltiges Profitieren vorzubereiten. gelesen und optimiert werden kann. Eine allumfassen- de, sanfte Herrschaft, die Dank der alles erfassenden User oder Störfaktor? Technologien, alles im Blick behält und auf alles je nach Belieben Einfluss ausüben kann - am besten präventiv. Wenn die soziale Kontrolle innerhalb der Stadt einer- seits darauf abzielt jeden technologischen Trend und Die Macht dieser Technologie kristallisiert sich weniger jedes Stadtaufwertungsprojekt widerstandslos durch- in der Person des Technokraten - des Spezialisten, der zusetzen, müssen wir die Möglichkeit wahrnehmen die als einziger das Wissen, die Erlaubnis und letztendlich technologischen Moden und Projekte zu hinterfragen auch das Verantwortungsgefühl dafür hat, die technolo- und kollektiv zu verweigern. Dementsprechend müssen gische Stadt in Stand zu halten und zu verändern - als wir nach Möglichkeiten suchen uns die Straßen anzu- in der Materie der Stadt selbst. Eine Materie, die samt eignen und gemeinsam unkontrollierbar auf diesen zu ihrer Kabel, Antennen, Chips und Netze nicht nur über- bewegen und so mit unserer eigenen Kreativität, Wider- all ist - die also totalitär ist - sondern auch im doppelten spenstigkeit und unseren eigenen - der kapitalistischen Sinne eine diktatorische ist; also eine materielle Dikta- Stadt gegenüber - offensiven Projekten auszufüllen. Sich tur: Einerseits übt sie durch zwar milden, aber unnach- die Straße zurückzunehmen heißt auch die über sie ver- giebigen Zwang einen immerwährenden Druck auf jeden fügenden Kontrollstrukturen und -instrumente anzugrei- Einzelnen aus: Stets verbunden und verpflichtet, emp- fen und die sie ausfüllenden Warenflüsse lahmzulegen. fänglich und folgsam, zuhörend und gehorsam zu sein - Die sich stetig ausbreitenden technologischen Apparate gegenüber dem nächsten Arbeitsauftrag, dem Fahrplan, und die von ihnen organisierte Techno-Gesellschaft ist den News. Durch die lückenlose Selbstoffenbarung gibt nicht nur von ihren herumwuchernden Informationen man alles preis - und macht sich so umso verdächtiger, und Ingenieuren abhängig, sondern auch von ihren Ka- wenn man mal etwas verheimlicht - und gewöhnt sich beln und Antennen, Warnanlagen und Schaltkästen, ih- so an die ständige Präsenz einer Wanze in der Hosen- ren Leitungen und Fahrzeugen. Warum eignen wir uns tasche und sieht einfach darüber hinweg, dass alle je- nicht die Fähigkeit an diese Stadt und ihre lebensfeindli- ner der Bewegungen, Beziehungen und Besprechungen, che Technokratie lahmzulegen, indem wir ihre Systeme die im Netz stattfinden - sprich mittels oder oft schon und Infrastruktur sabotieren? Indem wir im Kleinen wie in Anwesenheit von Geräten - gespeichert, analysiert, im Großen mit ihrer andauernden sozialen Kontrolle und berechnet und vorhergesagt werden können. technologischen Herrschaft brechen und neue Möglich- keiten und Wege erkunden? Indem wir die Bauprojekte Die technologische Materie wird mehr und mehr zum der Stadt angehen, die Straßen unserer Viertel unkon- grundlegenden Mittel des Staates, um seine grundle- trollierbar machen und für einen Kurzschluss innerhalb gende Funktion ausüben zu können: Soziale Kontrolle. der uns umgebenden Maschinengesellschaft sorgen? Die Ausübung von Macht geht weniger von einzelnen Uniformierten aus, sondern von einem so kleinteiligen Gegen die Smart City, gegen die technokratische Stadt und omnipräsenten technologischen Netz an sich, so und ihre Yuppies! dass diejenigen, die es betreiben, mehr die Rolle von Verwaltern einnehmen, als die von Herrschenden. Und Legen wir die soziale Kontrolle lahm! |11|
Worauf warten wir? Tage und Nächte der Revolte gegen die Misere Januar 2018 - Tunesien „Sie haben unsere Revolution gestohlen!“ Dies war das Obwohl es nach dem Fall des Ben Ali Regimes eine erste, was H. zu mir sagte, nach einem Gespräch am Te- Aufeinanderfolge von verschiedenen sich entgegenge- lefon über die Unruhen und die Explosionen der Wut, setzten Regierungen gab, hielten sie alle die Loyalität die sich während der zweiten Januarwoche 2018 durch gegenüber den multinationalen Interessen aufrecht, in ganz Tunesien zogen. Zuerst verstand ich nicht, was die- die das Land seit Kolonialzeiten eingebettet lag und se Aussage beinhaltet. Dann fielen mir die Artikel in den stärkten einen Polizei-Staat, der darauf fokussiert war, Mainstream-Medien über den sich nähernden Jahrestag islamischen Terrorismus zu bekämpfen. Diese Hauptin- der Revolution von 2011 auf. Durch die sehr düstere und teressen rückten nicht nur die Bedürfnisse der Leute in manipulative Logik des Vergleichs, der hauptsächlich den Hintergrund, sondern lieferten auch die Gründe und von westlichen Veröffentlichungen und Politikern be- Werkzeuge, um in der Lage zu sein, jede Handlung von feuert wird, wird Tunesien weiterhin als erfolgreiches Aufruhr und Wut der Bevölkerung zu zerschlagen. Ergebnis des „Arabischen Frühling“ verstanden. In den Wochen des Aufruhrs im Januar 2018 hatte ich die Möglichkeit mit dem Gefährten H. über die Situation In diesem Kontext der Vereinnahmung verstehe ich in seiner Stadt aus seiner Perspektive zu sprechen. Ein nun die Worte meines Freundes. Der Staat und die Versuch, den Kontext zu verstehen, die Lügen zu ent- Medien betrachten den 14. Januar als Jahrestag der mystifizieren und eine Perspektive zu finden. Revolution, der Tag, an dem das Ben Ali Regime zu Fall gebracht wurde. Dies ist ein politisches Datum. Was meinst du mit „Sie haben eure Revolution gestohlen“? Ein Datum, an dem ein präzises politisches Ziel er- reicht wurde, welches sicherlich jeder Macht diente, Der Jahrestag der Revolution ist der 17.Dezember. Poli- die auf den Sturz folgte. Aber für H. ist der Jahrestag tiker beziehen diese Position, [indem sie das Datum des der 17. Dezember, der Tag, an dem sich ein Fruchtver- 14 Januar benutzen(?)], besonders in der Hauptstadt, käufer in Sidi Bouzid, selbst in Brand steckte, nach- und diese Bastarde haben sich darauf festgelegt. Sie dem er von den Bullen schikaniert wurde, der Tag werden es nicht ändern des Aufruhrs, als für viele das Unbekannte begann. Ein Zerreißen der Ketten, als unvorhersehbare und Sie rekuperieren diese Revolution. In den westlichen Me- wilde Revolten sich überall in Tunesien ausbreiteten, dien reden sie über Tunesien als die Erfolgsgeschichte ein Zusammenkommen von Hoffnungen, Verlangen, des „arabischen Frühling“. Dasjenige Land, das auf dem Gründen und Gefühlen, die wild ihre auferlegten Be- Weg zur Demokratie ist, zu internationaler Kollaborati- dingungen verweigerten. Knäste wurden angezündet, on, dafür gepriesen, nicht in einem Zustand des Bürger- Cops wurden angegriffen, Dinge wurden geplündert, kriegs verfallen zu sein. Viertel selbstorganisiert, Leute jedes Alters und je- den Geschlechts nahmen sich die Straßen, nahmen Es stimmt, dass Tunesien nicht auf die Ebene eines Bür- was sie brauchen. Dieses Machtvakuum wurde bald gerkriegs herab sank, wie es in anderen Ländern pas- von neuen machthungrigen Kandidaten gefüllt. Ob- sierte. Tunesien ist nicht auf dem richtigen Weg, aber wohl die Krawalle, die Plünderungen und einige Arten vielleicht kann gesagt werden, dass es besser dran ist, der Selbstorganisation nach dem 14. Januar nicht auf- als andere Länder, wie Libyen und Syrien. Ich mag die- hörten veränderte sich der Charakter der Straßenprä- sen Vergleich nicht, er dient nur dazu, andere Problema- senz ziemlich, als der Kampf um den Thron begann. tiken und Unterdrückung zu verstecken. Dies zeigte sich durch Verteidigung von Eigentum und das Erscheinen von Milizen, die Polizei und Si- Tunesiens Regierung scheint große Angst davor zu ha- cherheitskräfte bekämpften. ben, in eine neue soziale Unruhe zu stürzen. Ich meine, |12|
sie haben ein riesiges Budget für Sicherheitsdienste, und blockierten sie wichtige Kreuzungen und als die Poli- spielen größtenteils mit der Bedrohung des Terrorismus. zei kam, bauten sie Barrikaden, zündeten Reifen an und kämpften gegen die Bullen, indem sie hauptsächlich Dies ist immer noch ein Polizeistaat. Das hat sich nie Steine verwendeten. Dies ging solange weiter bis die verändert. Jetzt können sie es offener zeigen, wegen Bullen sie mit Tränengas erstickten. dem akzeptierten Kampf gegen den Terrorismus. Sie Doch die Kids waren wild. Aber sie gingen hart mit dem haben so viele neue Gesetze verabschiedet und finden Tränengas vor, verletzten Leute damit und töteten sie neue Gründe und Wege Repression gegen die Leute aus- fast. Indem sie 25-30 Granaten die Minute schossen. zuüben. 1% der tunesischen Bevölkerung ist im Knast. Scheiß Bullen. Dies geschah hier vier, fünf Tage lang. Die Knäste quellen über, viele Gefangene warten immer In anderen Städten, wie der Hauptstadt war es anders, noch ohne ein Gerichtsdatum in Aussicht zu haben, zu- es gab mehr Demos, die von linken Gruppen organisiert sammen mit den vielen, die willkürlich von der Polizei wurden. Aber hier im Inland passierte dies. Hier gibt es aufgegriffen wurden und eingesperrt wurden. Nur weil keine Gruppen, die Leute finden können und mit denen ihnen dein Gesicht oder deine Familie nicht gefällt. Du sie sich zusammen organisieren können. kannst Monate lang oder Jahre sitzen ohne Prozess. Die Revolutionäre von 2011 beteiligen sich nicht? Wir haben über die Revolution geredet und darüber wie sich die Dinge verändert oder nicht verändert haben. Die Leute von der Revolution sind nicht auf der Straße, Was meinst du? die Kids sind diejenigen, die etwas riskieren. Es gibt we- nig Austausch zwischen den Generationen. Die Älteren Der Staat hat sich mehr etabliert, sie investieren viel arbeiten wahrscheinlich oder sind gerade erst aus dem Geld in das Ministerium des Inneren, sie wissen bes- Gefängnis gekommen, möglicherweise unterstützen sie ser mit den Protesten umzugehen, sowohl bezüglich der die Kids mit einigen Worten oder praktischen Dingen, präventiven Kontrolle und der Antwort auf den Straßen. aber sie sind in diesen Momenten nicht anwesend. Sie Politisch spielen sie das Spiel, einige Krümel abzuge- wägen ab, was sie verlieren würden und haben Angst ben, z.B. wurden nach einem Protest einige hundert davor, wieder durch Scheiße durch zu müssen. Dinar [Tunesische Währung, 0.35 Euro ist 1 Dinar] an 300 Familien gezahlt. Aber sicherlich gibt es mehr Bul- Aber diejenigen, die während der Revolution ihr Blut len und Militär. Sie haben gerade eben sogar eine Ge- gaben, wurden alle eingesperrt oder kaputt gemacht, haltserhöhung bekommen. oder haben ein Boot nach Europa bestiegen. Die meis- ten, die jetzt von der Revolution profitieren, waren da- Was war der Funken der letzten Tage der Revolte? mals nicht auf der Straße. Die Regierung gibt rein gar nichts an jene, die wirklich kämpfen, sondern eher an Während der letzten sieben Jahre, rund um den Jah- die friedlichen Menschen aus der Nachbarschaft, die restag gab es immer Krawalle. Es ist wie Routine. Die ein paar Unruhen gesehen haben. Leute verängstigen die Regierung, die Regierung gibt einige Krümel ab. Das ist in deiner Stadt passiert, aber du hast mir erzählt dass es in anderen Städten darüber hinausging… Was war dann dieses Jahr anders? In der Stadt Tela haben sie alle Bullen vertrieben. Dort In der Stadt in der ich lebe waren diejenigen, die revol- gibt es wirklich keine Polizei mehr. Es gibt ein paar Mi- tierten alles Jugendliche. Eine neue Generation. Alles litärs, die einige strategische Punkte bewachen, aber Kids aus dem Viertel. Keine älteren Leute, keine Stu- diese Soldaten handeln nicht wirklich gegen die Ein- denten. Brüder, Cousins, Nachbarn, die sich entschei- wohner, dementsprechend werden sie von den Men- den zu gehen und etwas zu machen. Manche von ihnen schen mit anderen Augen betrachtet. Auch während der mit Freiheit in ihrem Herzen, aber andere weil sie nicht Revolution und in den darauf folgenden 2 Jahren gab es in den Unterricht gehen wollen. Aber es sind wirklich in dieser Stadt keine Polizei. Das ist eine recht außer- junge Leute, die meisten sind 13,14,15. Ein paar ältere gewöhnliche Situation für dieses Land, denn anderswo schon auch, aber hauptsächlich Jüngere. Während der denken die meisten Leute, dass die Menschen ohne Revolution waren sie vielleicht Acht. Vielleicht haben Polizei anfangen würden, sich ihre Scooter oder sonst sie jemanden in der Familie, der bei der Revolution da- irgendwas zu klauen, aber dort haben sie diese Angst bei war. Aber jetzt, haben sie die jüngsten Revolten in nicht. Die Menschen dort fühlen sich besser… freier die eigenen Hände genommen. und würdevoller ohne die Polizei. Es ist eine Stadt von armen Minenarbeitern, die aber den Willen haben, ihr Was ist in den letzten Tagen passiert? Territorium selbst zu verwalten. Nun, einige ziemlich harte Demos. Vielleicht begann Wie sieht es in anderen Teilen Tunesiens aus? es mit der Tatsache, dass eine Gruppe Jugendlicher vor dem Sitz des Gouverneurs protestierten wollte, er aber Am ersten Tag breiteten sich die Unruhen teilweise keine Zeit für sie hatte oder nicht zuhörte. Und dann überall hin aus, dann erloschen sie an einigen Orten |13|
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